Hörspiel Feature Radiokunst Feature Die 40 Tage von Ossola Besuch in einer vergessenen Partisanenrepublik Autor: Mirko Schwanitz Regie: Beatrix Ackers Redaktion: Karin Beindorff, Wolfgang Schiller Produktion: Deutschlandfunk 2016 Erstsendung: Dienstag, 06.09.2016, 19.15 Uhr Wiederholung: Dienstag, 03.09.2024, 19.15 Uhr Es sprachen: Hüseyin Michael Cirpici, Jochen Stern, Walter Gontermann und Susanne Barth. Ton und Technik: Christoph Rieseberg und Oliver Dannert Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. (c) - unkorrigiertes Exemplar - 01 MUSIK Modena City Ramblers, "I Rebelli della Montagna" 02 O-TON-COLLAGE Luigi Forvanna (O-Töne miteinander verblenden) SPRECHER 1 (Mi chiamo Forvanna Luigi ....) Ich heiße Luigi Forvanna, wurde 1929 geboren. Wir befinden uns hier nahe am Lago Maggiore ... Das ganze Ossola-Tal ist umschlossen von hohen und schroffen Bergen. Ich habe mich schon sehr früh den Partisanen angeschlossen und als Kurier gearbeitet (o fatto un po di staffetta) ... 03 O-TON-COLLAGE Antonio Piero Ragozza SPRECHER 2 (e guerillero partigiano el come pesce nell aqua...) Der Partisan ist wie ein Fisch im Wasser. Und das Wasser, das ist die Bevölkerung. Sie gab den Partisanen den entscheidenden Rückhalt. (... le populatione locali) MUSIK Ansage Die 40 Tage von Ossola - Besuch in einer vergessenen Partisanenrepublik. Ein Feature von Mirko Schwanitz MUSIK 04 O-TON-COLLAGE Giovanni Zaretti SPRECHER 1 (Mi chiamo Zarretti Giovanni.... ) Ich heiße Giovanni Zaretti. Ich wurde am 6. September 1921 geboren. Ich war Verbündeter der Deutschen, als Italien am 8. September 1943 kapitulierte. Die Deutschen nahmen viele italienischen Soldaten gefangen und schickten sie in die Konzentrationslager. Mir ist es gelungen zu fliehen. Mit meinem Onkel gründete ich die erste Partisanengruppe auf einer Alm oberhalb von Villadossola.( ero mio zio il commandante dell primo gruppo que siera formato in un alpeggio a pena sopra Villadossola) 05 O-TON-COLLAGE Franco Sgrena SPRECHER 2 (Io sono Sgrena Franco...) Ich bin Franco Sgrena. Ich wurde1926 geboren. In unserem Ort befand sich (1944) die deutsche Kommandantur für das ganze Ossola-Tal. Als ich den Einberufungsbefehl von Mussolini bekam, schloss ich mich den Partisanen an. (io nome so presentato son stato perque ... son andato partigian) 09 ATMO Zikaden / Schritte / Stimmen 10 O-TON Tim Shaw (deutsch) Wir sind im Nationalpark Val Grande. In der Nähe vom Lago Maggiore. Wir sind hier an der Alpe Ompio. Da geht eine Straße bis auf etwa 1000 Höhenmeter hinauf, bietet einen der bequemen Zugänge in den Nationalpark hinein ... (unterblenden) ERZÄHLER Tim Shaw ist ein schmaler, durchtrainierter Mann. Seit acht Jahren führt er immer wieder Wanderer durch die "letzte Wildnis Italiens" und damit mitten hinein in ein weitgehend unbekanntes Kapitel des Zweiten Weltkrieges, hinein in das Gebiet der einstigen Partisanenrepublik Ossola. Sie schrieb Geschichte, obwohl sie nur 40 Tage existierte. Tim Shaw weist auf eine Infotafel am Eingang des Nationalparks. Darauf das Porträt einer Frau... 11 ATMO Zikaden 12 O-TON Tim Shaw (deutsch - unter Erzähler hervorblenden) Das war eine Partisanin. Die Teresa Binda ist, wie viele andere Partisanen auch, vor den Verfolgungen der Nazis geflohen durch das Val Grande hindurch. Und man hat Wege nach den Partisanen benannt und zwar nach den Fluchtwegen der Partisanen... ERZÄHLER Auf dem Teresa-Binda-Pfad begibt sich Tim Shaw mit seiner Wandergruppe in eine Geschichte, deren Anfänge im Jahr 1943 liegen. Am 3. September waren britische Truppen auf Sizilien gelandet, der italienische König hatte daraufhin die Seiten gewechselt und den seit 20 Jahren herrschenden "Duce", Benito Mussolini, verhaften lassen. Fünf Tage später, am Abend des 8. September 1943, wandte sich der neue Regierungschef, Marschall Badoglio, in einer Rundfunkrede an das italienische Volk: 13 Hist. O-TON Rundfunkrede Pietro Badoglio zur Kapitulation Italiens (DRA) SPRECHER 2 (Ankündigung durch Rundfunksprecher: " ...siamo la registratione ... del caso del governo o exellenze maresciallo Pietro Badoglio: Beginn der Rede Badoglios: ...italiano! Riconosciuta la instabilita .....) Die italienische Regierung hat die Unmöglichkeit der Fortsetzung des ungleichen Kampfes gegen die Übermacht des Gegners erkannt. In dem Versuch, Unheil von der Nation abzuwenden, hat sich die Regierung mit der Bitte um einen Waffenstillstand an General Eisenhower gewandt. ... Alle feindlichen Handlungen seitens der italienischen Streitkräfte gegen die angloamerikanischen Streitkräfte sind einzustellen. (... reattirando ... tutti gli attachi ...si altro all provenienza Atmosphärengeräusche) 14 O-TON Giovanni Zaretti SPRECHER 1 (e quindi con la arrivistitio naturalmente io ero a Napoli....) Die Nachricht von der Kapitulation erreichte mich im Hafen von Neapel. / Ich frage meinen Vorgesetzten, ob uns die Deutschen davonkommen lassen würden. Aber dem war nicht so. Die Deutschen nahmen die bis dahin mit ihnen verbündeten italienischen Soldaten gefangen und schickten sie in die Konzentrationslager oder zur Zwangsarbeit. (quello que rastrellavano li mandavano in Germania nell campi di concentramento, no... ) ERZÄHLER Giovanni Zarretti, italienischer Soldat aus dem Ossola-Tal, war 1943 gerade 23 Jahre alt. 15 O-TON Giovanni Zaretti SPRECHER 1 (sono comunque come ero con in commando dell regimento ....) Es ist mir gelungen zu fliehen und nach Hause in meine Heimatstadt zu kommen - nach Villadossola. (i sono reuscito a d'arrivare al mio al paese dove sononato a Villadossola) ERZÄHLER 13 000 Offiziere und 400 000 Soldaten nahm die deutsche Wehrmacht gefangen. 186 000 wurden in die Konzentrationslager oder in die Zwangsarbeit deportiert. Viele aber konnten fliehen wie Giovanni Zaretti, machten sich auf in ihre Heimatdörfer. Oft hunderte Kilometer, zu Fuß. 16 Hist. O-TON Deutsche Wochenschau September 1943 (Bundesfilmarchiv) Durch blitzartiges Zuschlagen hat die deutsche Wehrmacht die Erfüllung, der von Badoglio unterzeichneten Kapitulationsbedingungen unmöglich gemacht. Viele große Städte in Italien wurden von deutschen Truppen besetzt .... 17 O-TON Giovanni Zaretti SPRECHER 1 (Io sono reuscito d'arrivare a casa....) Mir war es gelungen, nach Hause zu kommen. Und in dem Bewusstsein, dass etwas passieren muss, habe ich dann angefangen mit den Leuten über den Krieg zu diskutieren und Gruppen von Männern zu bilden, die reif dafür waren Partisanen zu werden. / Zuerst einmal Waffen besorgen, die Leute informieren. Ich zum Beispiel informierte die zurückgekehrten Soldaten: Hört mal, geht nicht zum Bürgermeisteramt und meldet dort, dass ihr wieder hier seid. Aber das war ein Problem, denn Brot und Fleisch waren rationiert. Und nur wer sich meldete, bekam eine Lebensmittelkarte. Und nur wer eine Lebensmittelkarte hatte, bekam etwas zu essen. (...no andate i municipio adire que siete ritornati a casa e a fare perque si all pane deserato, la carne deseratae era tutto...se non aveva, se non avevi la carni non mangiari) ERZÄHLER Mussolini war inzwischen von deutschen Fallschirmjägern befreit worden und sprach über den Sender München zum italienischen Volk. 18 Hist. O-TON Mussolini Rede im Sender München (DRA) SPRECHER 2 (Beginn kann untergeblendet werden: "La steta el moviemento si silupi si no aliventare irresistibile nostri po squati sono i sequendi:..." Ab hier frei stehen lassen: "...Primo: Reprendere la armi! A gianco a la Germania....") Erstens: Wir werden die Waffen wieder aufnehmen an der Seite Deutschlands, Japans und der anderen Alliierten. Nur mit Blut können wir unsere Schande wieder gut machen. Zweitens: Wir müssen unsere Streitkräfte und Milizen neu organisieren. Drittens: Alle Verräter müssen beseitigt werden (...Terzo: Eliminari traditori! Ab hier unter- und ausblenden! ...In particular modo ....) 19 O-TON Giovanni Zaretti SPRECHER 1 (Io detto: Ragazzi, se andati al municipio qua date que I tedesci... ) Ich warnte die Jungs, sagte, ich kenne die Deutschen, weiß wie sie arbeiten, wenn ihr zum Bürgermeisteramt geht, werdet ihr sofort verhaftet. / Dann habe ich mit meinem Onkel das erste Befreiungskomitee gegründet / Mein Onkel wurde der Kommandeur der ersten Partisanengruppe, die sich oberhalb von Villadossola auf einer Alm aufhielt. (...practicamente da vevo constituito io i con mio zio. I anchi no era mio zioil comandante il primo gruppo que sierra format in un alpeggio a pena sopra Villadossola) 20 O-TON Luigi Forvanna SPRECHER 1 (Mi chiamo Forvanna Luigi, sono nato a mille novecento ventinove e giovenissima quel tempo ... lavorati partigiani.... ) Ich bin Luigi Forvanna, bin 1929 geboren und habe mich schon in jungen Jahren den Partisanen angeschlossen. Zuerst habe ich als Meldeläufer gearbeitet, später als Kurier. 05 / 00:02:04 Meine Mutter war eine einfache Hausfrau, mein Vater Elektriker. Er hatte seine Arbeit verloren, weil er Sozialist war. Wir waren damals vier Kinder, und ich will nicht erzählen, wie oft wir gehungert haben. Wenn du kein faschistisches Parteibuch hattest, hattest du auch keine Arbeit. Und wenn du keine Arbeit hattest, konntest du auch nichts essen. Um Kanonen zu bauen, mussten die Leute ihre Zäune abgeben. Sie verlangten die Ringe der Frauen, um den Krieg zu bezahlen. So war das bei den Faschisten - entweder du bist mit uns oder du bist gegen uns. (...practicalmente: te de rique al no per sino per ferri canoni... cancelate de ringere di ferro, ano fato le fedi de la donne, de a no port... le fedi, de... la guerra, aqui tempo che era no fascisti qui ne no e fascisti...) 21 ATMO Zikaden / Schritte ERZÄHLER Operierten in dem Gebiet zwischen Laggo Maggiore und den Grenzen zu den Schweizer Kantonen Wallis und Tessin zu diesem Zeitpunkt nur wenige und zudem schlecht ausgerüstete Partisanengruppen, bildeten sich im Ossola-Tal jetzt in kurzer Zeit zahlreiche Befreiungskomitees wie das von Villadossola. Aus manch einem, der zuvor Soldat Mussolinis war, wurde nun ein Partisan, der für die Befreiung Italiens vom Faschismus kämpfte, Fabriken stilllegte, Stromleitungen kappte, Züge entgleisen ließ. Zu jener Zeit waren die meisten Partisanen aber noch schlecht oder gar nicht bewaffnet, erzählt Tim Shaw seiner Wandergruppe. 22 O-TON Tim Shaw (deutsch) STE-026 / 0:00:17 Wir haben die offiziellen Wanderwege verlassen, sind zur Alpe Casarolo auf 1220 Meter, mitten im Nirgendwo sozusagen. 0:00:56 Hier gibt es einen großen Unterschied zu allen anderen ehemaligen Bauernhöfen im Val Grande: nämlich diese Gedenktafel, die in den Ruinen herausblitzt. ERZÄHLER Die goldene Tafel wurde vor Jahren vom Verband der italienischen Partisanen angebracht. Auf ihr verblassen langsam die Namen von mehr als 20 Männern. Die damals von den Brüdern Andrealotti bewirtschaftete Alp liegt abseits. Tim Shaw zieht ein Foto aus der Tasche. Es zeigt die beiden Bauern mit ihrem Hirtenjungen vor dem heute verfallenen Stall. Davor posieren zwei junge Partisanen in kurzen Hosen. 23 O-TON Tim Shaw (deutsch)STE-026 / 00:00:56 ff Eine Gruppe von Partisanen hat gedacht, hier sind wir in Sicherheit. 00:01:41 Und diese Gruppe war komplett unbewaffnet. Sie waren gerade in dem Bauernhaus beim Polenta-Zubereiten, als eine Gruppe italienischer Milizen vorbeikam, also Faschisten, die auf der Suche waren nach Partisanenverbänden. Als die Partisanen bemerkt haben, dass da jemand kommt, sind sie rausgestürzt in Panik und wurden einer nach dem anderen erschossen. Es gab einige Verwundete und dann kam der deutsche SS-Verband und hat auch noch die Verwundeten erschossen. ERZÄHLER Auch die beiden Bauern wurden umgebracht - nicht erschossen, sondern auf dem Weg zur Alp La Piana erschlagen. Mit äußerster Brutalität gingen die Nazis nicht nur hier, sondern in ganz Norditalien gegen den Widerstand vor. 24 Hist. O-TON Deutsche Wochenschau September 1944 (Bundesfilmarchiv) ...Bandenbekämpfung im Grenzgebiet. Ein mit Flak bestückter improvisierter Panzerzug fährt zum Einsatz in das Bandengebiet. Auf eine im Gebirge erkannte Bandenkolonne wird das Feuer eröffnet ... am Ende des O-Tons - Geschützdonner (ausblenden) ERZÄHLER Doch auch das berüchtigte "Rastrellamento", jene "Auskämmungsaktionen", bei denen deutsche Spezialeinheiten die Seitentäler systematisch bis zu den Grenzübergängen zur Schweiz durchsuchten, konnten nicht verhindern, dass sich die Machtverhältnisse im Ossola-Tal zugunsten der Partisanen veränderten. Auch im kleinen Weiler Tappia, oberhalb von Villadossola. 25 O-TON Ugo Scrittori Genehmigung liegt schriftl. vor SPRECHER 1 (Noi abbiamo certa tappia. Perque? Tappia e visuara cusiotana ...bellisima controllari tetdesci que sinistra, destra...,Quattro rastrellamento e era un cosa... ) Warum Tappia? Weil wir von hier aus eine sehr gute Sicht hatten und die Deutschen sehr gut kontrollieren konnten. Bei Säuberungsaktionen mussten wir uns in Acht nehmen. Aber sonst war es eher so, dass nicht die Deutschen uns, sondern wir die Deutschen kontrollierten - und zwar auf Schritt und Tritt. Aber wir führten den Krieg natürlich nicht nur mit dem Feldstecher. Gegen abend stiegen wir hinunter, um die Bahnlinien zu unterbrechen oder zu sprengen. ... Also zwischen Villadossola und der Hauptstadt des Tals, Domodossola, oder Richtung Novara konnten die Züge in dieser Zeit eigentlich nie verkehren. (...al treno civisavi a qui stationi qua date dal punto fermata perque treno no po passare. Qui di tra Villa - Domo e per andare Novarra e treno ... ne partire) ERZÄHLER Ugo Scrittori alias Comandante Mirco ist der Onkel von Giovanni Zaretti. 1989 beschrieb er in "Dynamit am Simplon" dem Dokumentarfilmer Werner Schweizer die Situation im Ossola-Tal 1944. Im Film steht der im ganzen Tal legendäre Partisanenführer vor der heute geschlossenen Kirche von Tappia. Damals das Hauptquartier seiner Brigade. 26 O-TON Ugo Scrittori (italienisch) SPRECHER 1 (Qui, ...altre tedesci, qui non tutti ... scapare perque tra volta ... e quindi rivardassi come scarpare ...) Wenn die Deutschen kamen, konnten wir nicht immer fliehen. Manchmal kamen sie ganz plötzlich. Da entdeckten wir dort oben ein Loch, das zu einem Hohlraum unter dem Kirchendach führte und da verkrochen wir uns. Die Deutschen haben dieses Loch nie entdeckt. Jedoch hatten sie oft Spürhunde dabei. Gegen deren Nasen schützen wir uns, in dem wir unsere Schuhe mit Kuhscheiße beschmierten. Aber wir schmierten damit auch alle Wände voll, so dass die Hunde uns nie riechen konnten. Das war eine unserer Geheimwaffen. (...della bocca... tutti gori cosi e cane portiro sentiero sono e cosi noi la nostra e po secreta qua questa....) ERZÄHLER Am 8. September 1944 griffen die Partisanen dann gleichzeitig mehrere Stützpunkte der Faschisten im Ossola-Tal an. 27 O-TON Franco Sgrena (italienisch) SPRECHER 2 (A Masera chera il presidio tedesco in piuge el commando tedesco dell tutto Ossola....) In unserem Ort, in Masera, befand sich das deutsche Oberkommando. Der Kommandeur dort war ein schon älterer Offizier, ein Österreicher. Er wusste, dass wir Partisanen waren. Aber er ließ uns nie verfolgen. Als es dann zur Befreiung des Ossola-Tals kam, wollte er eigentlich bei uns bleiben. Aber er hatte Angst vor den Deutschen. Deshalb haben wir ihn dann sicher in die Schweiz geleitet. (No e stato a reso a noi, e noi e .... perque era pero se come avevo per una ... de repressa de tedesci se fato portiro de Svizzera.) ERZÄHLER Franco Sgrena war damals 18 Jahre alt. Auch er hatte den Einberufungsbefehl zu den Faschisten verweigert und sich den Partisanen angeschlossen. Nach der Erstürmung des Oberkommandos in seiner Heimatstadt und Waffenstillstandsverhandlungen in Croppo di Trontano zog die Wehrmacht ihre Truppen aus dem Tal ab und Sgrena mit der Partisanenbrigade Piave in Domodossola ein. 28 O-TON Franco Sgrena (italienisch) SPRECHER 2 (Al entra Domodossola e un posto di blocco di partigani della Valtoce. Alla mattina della liberazione noi che presentiamo camion che ... presidio a Masera... ) An der Straße nach Domodossola gab es einen Posten einer anderen Partisanenbrigade und am Montag der Befreiung wurden wir dort zunächst nicht durchgelassen, weil wir mit einem erbeuteten deutschen LKW angefahren kamen. Aber auch, weil wir nicht direkt an der Befreiung von Domodossola beteiligt waren. Nach ein paar Diskussionen durften wir dann schließlich doch in Domodossola einziehen. (chi fato passare, chi fato passare, do per iamo ... senzo, e alla fine ... stress, pero noi chi siam fermante sono giornato Domodossola) ERZÄHLER Am 10. September 1944 war das Ossola und mit ihm die Hauptstadt des Tales befreit. 29 ATMO Zikaden / Schritte ERZÄHLER Es ist heiß, als Tim Shaws geschichtsinteressierte Wandergruppe den Monte Faié erreicht, dort erwartet sie schon der Historiker Antonio Piero Ragozza . 1320 Meter hoch ist der Monte Faié. Von kaum einem anderen Berg lässt sich das Gebiet der einstigen Partisanenrepublik Ossola besser überblicken. Vom Nordufer des Lago Maggiore gehen die Blicke hinüber zur Bergkette des Anzasca-Tales. 30 O-TON Antonio Piero Ragozza SPRECHER 2 (Allora primo di tutto perque che la linea internationale dell sempione quel con lega nord el sud della europa traversola svizzera...) 04 / 00:08:03 Erst einmal verläuft durch das Ossola-Tal eine durch den Schweizer Simplon-Tunnel verlaufende international wichtige Verkehrsachse, die den Norden Europas mit dem Süden Europas verbindet. Dann gab es damals im Ossola-Tal Schwerindustrie, auch kriegswichtige Betriebe und es gibt hier wichtige Wasserkraftwerke, 00:08:49 deren Stromproduktion für ganz Norditalien wichtig war - für Städte wie Novarra, Mailand, sogar für Genua. Wenn man hier die Stromleitungen kappte, konnte man die Kriegsindustrie der faschistischen Republik (von Saló) empfindlich stören. (....interrumpenda questa produzzione vene venta rota anque la produzzione industriae soto nellaria di occupatione della republicca sociale.) ERZÄHLER Für viele im Tal, sagt Antonio Piero Ragozza, kam die Freiheit plötzlich und die Ausrufung einer Partisanen-Republik ziemlich unerwartet. Lina Argo war damals 8 Jahre alt. ATMO Zikaden unter O-Ton ausblenden 31 O-TON Lina Argo SPRECHERIN (Mio papa era un confinato politico e dera partigiano. Quando, quando Ossola e stata liberate e una festa grandissima. Io era casa ritornatio mio Papa a montagna. ...) STE-050 / 00:02:20 Mein Vater war ein politischer Verfolgter, und er war bei den Partisanen. 2:23 Eines Tages kam er aus den Bergen zurück. Er war in Hochstimmung und sagte, kommt, jetzt gehen wir hinaus auf den Platz und feiern. Wir sind befreit! Zum ersten Mal sagte er zu meiner Mutter: Suche dem Mädchen ein paar schöne rote Haarbändchen heraus. Und meine Mutter erkannte ich kaum wieder. Sie war eigentlich eine sehr reservierte Frau. Aber an diesem Tag umarmte sie auf der Straße wildfremde Menschen. 00:04:00 Wissen Sie, bei uns zuhause herrschte immer große Angst. Eine ständige Anspannung, wenn wir die Stiefel der Deutschen hörten. An diesem Tag verstand ich, dass diese Angst vorbei war. 00:05:01 Ich ging mit auf den Platz, und obwohl ich noch ein Kind war, begriff ich, dass das unser Fest war. Das Fest der Leute von Domodossola. (...peso, peso, mi ratolta si .. che .. in piazza, abbiamo contrato multe gente, multo persone e abbiamo capito tera a nostra festa pera la festa di Domodossola) 32 MUSIK Modena City Ramblers, "I Rebelli della Montagna". Unter Lina Argo das Ende des Lieds hervorblenden, etwas frei stehenlassen, 33 ATMO Zikaden / Wald / Schritte im Laub ERZÄHLER Die Wandergruppe ist inzwischen auf dem Weg zum tiefsten Punkt des Val Grande, läuft vorbei an Resten alter Seilbahnen, mit denen hier früher Holz transportiert wurde. Ein paar Hausdächer schimmern durchs Grün, das sich zu einer Wiese weitet - die Alp La Piana ist erreicht. Hier befand sich der Stab der Partisanenbrigade "Val Dossola", geführt von einem anderen legendären Partisanenkommandeur, dem Holzingenieur Dionigi Superti. Steil aufragende Bergwände vermitteln das Gefühl, in einer Falle zu sitzen. Doch die Partisanen müssen sich hier lange Zeit sicher gefühlt haben. Was geschah, als das Ossola-Tal befreit war, wird der Historiker Antonio Piero Ragozza gefragt. 34 ATMO Zikaden / Flussrauschen / Kuckuck in der Ferne 35 O-TON Antonio Piero Ragozza (italienisch) SPRECHER 2 (In Ossola della Svizzera arriva no personaggi di relievo livello nationale e durata una quarantina di giorni ma lavoro di fato la giunta provisorio de governo que stata un governo civilie...) In diesem Moment kamen aus dem Exil in der Schweiz wichtige Persönlichkeiten. Sie organisierten sofort eine zivile Regierung und arbeiteten so, als wäre das jetzt tatsächlich schon die Befreiung Italiens. Sie arbeiteten, als werde diese Republik auf ewig Bestand haben. ERZÄHLER Es gab in Italien während des Zweiten Weltkrieges etwa 19 von Faschisten befreite Gebiete. Doch während in den anderen befreiten Zonen die Partisanen eine Art Militärbesatzung installierten, war der von La Piana aus operierende Partisanenkommandeur Dionigi Superti überzeugt, dass man die Macht einer zivilen Regierung übertragen sollte. Noch am Vortag des Waffenstillstandsabkommens in Croppo di Trontano hatte er sich deshalb per Kurier an den in die Schweiz geflohenen früheren Krankenhausdirektor von Domodossola, den Sozialisten Ettore Tibaldi gewandt und ihn gebeten, aus dem Exil zurückzukehren. Am 11. September, jenem Tag, dessen freudige Stimmung Lina Argo bis heute nicht vergessen hat, verkündete Ettore Tibaldi vom Rathaus in Domodossola die Gründung einer Provisorischen Regierung. (...per cambiare futuro perque ragazzi que futuro e on paese e a lavorato propio come con un orizonte come seno, come de vesso durare siempre) 36 Hist. O-TON Ettore Tibaldi (Schweizer Phonothek - 01) SPRECHER 1 (Subito primo acto del governo cercare di ciriciamare elementi dell emigratione Svizzera, ...ministro Malvestiti, expresidente il primo presidente della constituente, Terracini. Elemenit technici...) Die Regierung hatte als eine ihrer ersten Maßnahmen alle wichtigen Leute aus dem Schweizer Exil zurückgerufen. Sie sollten nun helfen, die neue Republik mit über 80 000 Einwohnern zu verwalten. Von Beginn ihres Wirkens an stand die Regierung von Ossola unter mächtigem Druck. Dennoch, wer die Ereignisse rückblickend betrachtet, wird feststellen, dass eine Menge der Gesetze, die wir erließen, weit über das Ossola-Tal hinauswirkten. Ich nenne nur die Reorganisation der Schulen, des Gesundheitswesens, das Steuersystem. Liest man die heute in Italien geltende Verfassung, dann ist unbestreitbar, dass viele Dinge von der Republik Ossola vorweggenommen wurden.(multi di quelli que sono, le institution italiana, nate dalle essiczenia ... della constituente e serite nella constitutione italiana ero tutte state, anticipatedell governo dell Ossola.) 37 ATMO Zikaden / Flussrauschen / Kuckuck in der Ferne ERZÄHLER Anders als in den übrigen von Partisanen befreiten Gebieten, in denen die Kommunisten dominierten, die Garribaldi-Formationen die Macht übernahmen, waren in der Regierung der Republik Ossola von Beginn an alle politischen Strömungen vertreten. 38 O-TON Piero Antonio Ragozza (italienisch) SPRECHER 2 (E quiche un esperimento di democrazia dove partecchio per no persone di .. vallori prinicipi diversi...) 04 / 00:05:07 Hier gab es ein Demokratieexperiment, an dem Menschen mit verschiedenen Werten, Prinzipien und Ideen teilnahmen. Menschen, die ganz verschiedenen Parteien angehörten und diese Republik zu einer Generalprobe für ein künftiges befreites Nachkriegsitalien machten. (persone que partengo no partiti diversi e fano na proba generale di quello ...di stato democratico italiano dell doppo guerra.) ERZÄHLER Tatsächlich war die Regierung der Republik Ossola ein Spiegelbild der damals vorhandenen antifaschistischen Gruppierungen. Sie bestand aus je zwei Sozialisten, Kommunisten und Christdemokraten sowie einem Vertreter der radikaldemokratischen Aktionspartei und einem Liberalen. Mit Gisella Florianini, verantwortlich für das Ressort Soziales und Massenorganisationen wurde erstmals auch eine Frau als Ministerin berufen - 3 Jahre vor Einführung des Frauenwahlrechts in Italien. 39 O-TON Antonio Piero Ragozza (italienisch) SPRECHER 2 (Sicuramente la prima cosa (Geräusch: Stuhl wird über Steinfußboden geschoben - ist nicht rauszuschneiden!) il fato ... della lendere dell luce doppo tante anni i di buio per i bello lo scuramento belllico il fato di potera andare in piazza, di sentiere... )12 / 00:00:37 Man durfte endlich wieder das Licht anschalten, nach so vielen Jahren der Finsternis, weil ja zuvor wegen befürchteter Luftangriffe ständig der Verdunklungsbefehl galt. Es gab keine Ausgangssperren mehr, man konnte einfach auf die Plätze gehen konnte und feiern. Es war wirklich ein neues Leben, das Einzug hielt. Es gab plötzlich wieder viele Zeitungen, nachdem es bis dahin nur eine einheitliche Propagandapresse gegeben hatte, Zeitungen mit verschiedenen Meinungen. Das war das Schöne dieser Demokratie. (...durante la republica dell Ossola sono stati publicati tante giornale el cunera no anche propio un contrapositione allora ma era propio bello dell democrazia.) ATMO Zikaden / Flussrauschen / Kuckuck in der Ferne ausblenden 41 O-TON Giovanni Zarretti (italienisch) SPRECHER 1 (Io mi sono a rabbiato una volta qui a Omegna con un commandante partigiano, no que di si qua darte que i nostor di amici sono i tedesci.... ) 13 Ich ärgerte mich einmal über einen Partisanenkommandeur in der Stadt Omegna. Er erklärte mir, dass die Deutschen unsere Feinde sind und nicht die Italiener. Ich stritt mit ihm, sagte: Die Schwarzhemden, also unsere italienischen Faschisten seien doch oft noch schlimmer als die Deutschen. Die seien zwar die Okkupanten, aber die italienischen Faschisten würden ihre Befehle ausführen. Dennoch gab es von unserer Seite keine Racheakte. Wir richteten oberhalb von Domodossola lediglich ein Internierungslager ein. Da wurde während dieser 40 Tage der Freiheit nicht eine Leiche rausgetragen. Wir haben niemanden erschossen. Nicht einen einzigen! (fati prisoneri i fascistii ne quaranta giorni cosi dettidi liberta da quell campo no ne uscito un caravere, va bene, no ne abbiamo fucilato ne anche uno.) 42 ATMO Wald / Vögel 43 O-TON Antonio Piero Ragozza (italienisch) SPRECHER 2 (Allora, le persone que sono state cadurate cera o fascisti o compromesi con fascisma con arresti, prima al tenuti al teatri Domodossola e poi a deportati a Drugogno preso un la colonia estiva) 12 / 00:02:29 Die Personen, die mit den Faschisten kollaborierten wurden festgenommen und zunächst im Theater von Domodossola festgehalten, dannach in ein Internierungslager gebracht. Anders als in anderen befreiten Gebieten, gab es hier in der Ossola-Republik keine Repressalien gegenüber den Faschisten. Ein Mailänder Anwalt, Ezio Vigorelli, hatte das Mandat als Justizminister übernommen und ein normales Gericht installiert, kein Kriegsgericht. Und obwohl die Faschisten im Val Grande zwei seiner Söhne getötet hatten, hat er ohne Rachegefühl gearbeitet. Er sagte, die Bedingungen um in Ruhe Recht zu sprechen, sind nicht gegeben. Also werde ich nur Akten anlegen. Was zu tun ist werden wir entscheiden, wenn der Krieg zu Ende ist, wenn wieder Freiheit, Demokratie und Ruhe herrschen. (io istruisco tutti casi, studio tutti casi face falsicolli fini al guerra desidere i mo con safari, quando que sera la liberta la democrazia e la tranquillita.) ERZÄHLER Andere Probleme konnte die neue Regierung wesentlich schwerer lösen. 44 O-TON Tim Shaw (deutsch) Hier sieht man jetzt gut: da drüben steht ein Haus mitten im Wald. Man fragt sich jetzt: warum hat man hier ein Haus mitten im Wald gebaut? Aber der Wald war früher nicht da. Das war ja terrassierte Landschaft, damit man etwas anbauen konnte. Man hat hier Roggen angebaut, Wein, Kastanien. Die Leute haben ja von Kastanien gelebt früher - das Brot der Armen, aus dem Kastanienmehl Brot gebacken... ERZÄHLER Doch damit ließen sich nicht über 82 000 Menschen ernähren, denn so viele Einwohner zählte die Republik Ossola. Die Faschisten hatten das Tal von Süden her von jedem Warenverkehr abgeschnitten. Um mehr über diesen Teil der Geschichte zu erfahren, steigt die Wandergruppe aus den Bergen ins pittoreske Städtchen Malesco ab. 45 ATMO STE-007/ab 05:07 Centovalli-Bahn / Schienengeräusche ERZÄHLER Von Malesco aus geht es mit der Centovalli-Bahn in die Hauptstadt der ehemaligen Partisanenrepublik - nach Domodossola. ATMO Centovalli-Bahn überblenden in 46 ATMO STE-046 Begrüßung, div. Stimmen unter Erzähler blenden ERZÄHLER Im Rathaus empfängt Ratssekretär Salvo Jacopino die Gäste und führt sie zum Balkon. An der Wand hängt ein Gemälde. Es zeigt Domodossola im Jahr 1690. Schon damals ein kleines Städtchen, um das in Pentagon-Form die Stadtmauern verlaufen. 48 O-TON Salvo Jacopino (italienisch) STE-048 / 00:04:07 SPRECHER 2 (unter Erzähler hervorblenden: ...Jetzt gehen wir auf den Balkon des Rathauses. Er war wichtig, weil er sich für Ansprachen an die Massen eignete...." ( Adesso cha faciamo sul balkone, el balkone al quello qui prestavano naturalmente d'accordo ... le foile a parlare dell altro ... - Ab hier frei stehen lassen) (Balkontür wird aufgeschlossen - Con troppo tempo ne bello. Avevo altro nome, adesso se chiama piazza Republica dell'Osolla. Pero due cosi diversi....) . Leider ist das Wetter heute nicht so gut. Der Platz hatte früher einen anderen Namen. Heute heißt er Platz der Republik Ossola. Zwei Dinge sind wichtig. Hier unten hatten sich damals die Partisanen aufgestellt. Aber die wichtigen Reden wurden dann von Balkonen auf dem Marktplatz gehalten, nicht von hier aus. (Verkehrsgeräusche, unter Erzähler ausblenden) ERZÄHLER Ein altes Foto zeigt den Platz mit sepiafarbener Patina überzogen und den gegenüberliegenden, heute zum UNESCO-Weltkulturerbe zählenden Kalvarienberg. Auf dem Bild stehen die Partisanen mit dem Rücken zum Berg. Stolz aufgereiht schauen sie zum Balkon empor. Hinter ihnen winken festlich gekleidete Menschen, die meisten lachen. Vom Balkon führt Salvo Jakopino in einen großen Saal. 50 O-TON Salvo Jakopino (italienisch) STE-047/ 00:22:04 SPRECHER 2 (Actualmente la sede de consilio communale della citta de Domodossola. La sala storica per la resistenza e locale de stato debito suto in sala sstorica e ricordo punto de esperienza della republica partigiana dell'Ossola...) Das hier ist unser Ratssaal, aber zugleich auch der historische Saal des Widerstandes. Ein Raum, der an die Erfahrung der Republik Ossola erinnert. 00:01:05 In der Kriegsgeschichte Italiens ist die Geschichte der Republik Ossola eine der wichtigsten und außergewöhnlichsten. Um die Entscheidungen zu treffen, die damals notwendig waren, hat sich die Regierung der Partisanenrepublik hier versammelt. (republica partigiana era tutta la zona che constante di tutta la Ossola fina ... Ornavasso questa era la sede di governo i questa sala ... la giunta durante il periodo republica partigiana.) ERZÄHLER Der Ratssaal von Domodossola ist der einzige in Italien, der heute gleichzeitig Museum und Ort der aktuellen Politik ist. Vieles unterscheidet ihn von anderen Ratssälen im Land. 51 O-TON Salvo Jacopino (italienisch) STE-047 00:02:34 SPRECHER 2 (una particularita in quanta sala consiliare, le sali di consilii communale devonavere tutte le fidge dell presidente della republica in carica in tutte de sale di italia) Dieser Ratssaal ist etwas ganz Besonderes. Normalerweise muss in jedem italienischen Ratssaal das Porträt des aktuellen italienischen Präsidenten hängen. Allein Domodossola ist es erlaubt, das an Stelle dieses Porträts bis heute das Bild von Ettore Tibaldi, dem Präsidenten der Republik Ossola, hängt. 00:04:44 Unser Stadtrat tagt auch nicht an einem normalen Besprechungstisch. Der Bürgermeister und die Abgeordneten haben stets den Blick auf die historischen Entscheidungen der Regierung der Republik Ossola. Sie befinden sich unter der auf dem Tisch liegenden Glasplatte. Und so haben alle Ratsmitglieder diese Dokumente immer vor sich und damit eine ganz besondere Beziehung mit der Geschichte von vor 70 Jahren, das ist schon etwas ganz Außergewöhnliches. Auch an den Wänden sehen sie Vitrinen in denen die Ereignisse der damaligen Zeit dargestellt sind. (Che chi sono de adesso a no siempre questo rapporto con la storia di settanta ani fa molto, molto particulare. Poi a ilati chi sono de paneli ceri construisti no po cun della vicendere dell periodo) ERZÄHLER Die vergilbten Papiere und Fotos vermitteln einen Eindruck davon, mit welcher Energie die Regierung von Ettore Tibaldi sich bereits in den ersten Tagen der Partisanenrepublik an die Organisation eines zivilen Lebens machte. Da liegt der Regierungsbeschluss über die sofortige Reorganisation der Gewerkschaften, die Entnazifizierung der Schulbücher, die Einrichtung einer eigenen Steuerbehörde, ein Abkommen mit der Schweiz über die Lieferung von Lebensmitteln. 14 Tage nach Ausrufung der Republik trafen die ersten 48 Tonnen Gemüse, 30 Tonnen Käse und Zucker, 12 000 Marmeladenbüchsen und 600 Tonnen Kartoffeln ein. 52 O-TON Ettore Tibaldi (Schweizer Phonothek - 02) SPRECHER 1 (Non posso di venticare l'arrivo delle patate. No ero vamo la fame e on quello patate abbiamo po tuto so disfare de minimi della populatione...) Ich kann niemals vergessen, wie die Kartoffeln angekommen sind. Wir hatten solchen Hunger und mit diesen Kartoffeln konnten wir den ärgsten Hunger der Bevölkerung lindern, aber vor allem konnten wir unsere Soldaten, unsere Partisanen ernähren, die seit Tagen nichts gegessen hatten. Wir hatten keine Milch für unsere Kinder. Das war eines der größten und schmerzhaftesten Probleme am Anfang unserer Regierung. (E un altro ricordo e vami bambini senza latte, bambini senza assistenza e founo dei problemi piu acuti, e piu dolorosi que sera posto a linizio della nostro governo) ERZÄHLER Der 1968 verstorbene Präsident der Republik Ossola, Ettore Tibaldi erinnerte sich an diese schwierigen Tage in einem Interview zum 40. Jahrestag der Gründung der Republik. Weil die Nahrungsmittel nicht ausreichten, verhandelte er mit der Schweiz auch über die Aufnahme von hungernden Kindern aus dem Ossola-Tal. An den Wänden des Ratsaales von Domodossola kann man Bilder dieser Aktion sehen. Eines zeigt einen Zug voller Kinder, die den Betrachter aus den Abteilen heraus anschauen. Die einen ängstlich, die anderen in Erwartung eines großen Abenteuers. 53 O-TON Claudio Barone (italienisch) STE-049 SPRECHER 2 Als die Deutschen verjagt und das Ossola-Tal befreit wurde, war allen irgendwie klar, dass die Deutschen zurückkommen würden. Sie hatten ja Flugblätter abgeworfen, auf denen sie ankündigten, dass sie die Ossola-Republik zurückerobern und alles niederbrennen würden. Die Bevölkerung hatte Angst. Auch deshalb sollten die Kinder gehen. Und wir Kinder wollten auch in die Schweiz, weil wir begriffen hatten, dass es gefährlich war zu bleiben. Dabei hatten wir nicht einmal eine Idee, wo die Schweiz überhaupt war. Wir wussten nur, dass sie irgendwo hinter den Bergen (wörtl. wird gesagt: dort in der Richtung) lag. ERZÄHLER Claudio Barone war eines dieser Kinder, damals gerade einmal elf. Im gleichen Zug wie er saß der 12jährige Giuseppe Maglio. 54 O-TON Giuseppe Maglio (italienisch) STE-043 / 00:20:44 SPRECHER 1 (Al piedi aveva mogli soccoli. Tip soccoli holandaise, no. Al meno io. Dilegno, dilegno. Pero ero no fati und poco me casta scarpa qui no non solo la base...) Ich trug damals Holzschuhe. Sie wissen schon, die sahen aus, wie diese Holländerpantinen. Mein Vater nagelte mir einfach ein Stück Fahrradschlauch unter die Absätze, damit sie nicht so klapperten. Dann brachten sie uns ins Rosmini-Gymnasium, eine Mädchenschule. (Samo dati a punto collegio feminile (Achtung Stimme bleibt oben...) 55 O-TON Claudio Barrone (italienisch) STE-049 / 0:08:29 SPRECHER 2 (A fato de cartelini de cartone qua ve vamo penso figli que amaretti ... punto de altre....) Dort bekamen wir kleine Schilder aus Karton, Identifikationsnummern, die uns an Fäden um den Hals gehängt wurden. Und konnten wir in der Schule auch noch einmal Mittag essen. Es gab Brot. Das war das erste Mal nach 40 Tagen, dass ich Brot zu Gesicht bekam. (quere no quaranta giorni que no nove di vamo piu pane.) 56 O-TON Giuseppe Maglio (italienisch) STE-43 / 00:22:10 SPRECHER 1 E stato na cosa interessante quando se passato soto tunel del Sempione. Perque la prima volta ... sono io.... la galeria Das war eine interessante Sache, als wir durch den Simplon-fuhren. So etwas hatte ich vorher noch nie erlebt - 20 Kilometer Tunnel. Es war für uns Kinder eher ein Abenteuer. Aber wir wussten dass es uns in der Schweiz gut gehen würde und unsere Familien wussten das auch. Ich bin dan wirklich in einer sehr guten Familie aufgenommen worden ( ...e famiglia anche sa per ... bene po ... son capito molto bena una famiglia ce poi de dico) 57 O-TON Claudio Barrone (italienisch) STE-049 / 00:13:18 SPRECHER 2 (si vu ascudento di treno, treno pienu, un chaos, que bambini che un quattro ani, quattordici ani, tante croce russine ... ) Wir fahren also mit dem Zug. Der Zug: voll! Ein Chaos! Lauter Kinder im Alter von vier bis 14 Jahren. Und einer Menge Schwestern vom Roten Kreuz. Im Simplontunnel haben sie kleine Schokoladentäfelchen ausgeteilt. Das war das erste Mal, dass ich in meinem Leben Schokolade aß. (face de tunel dell Sempione son passate e distribuire choccolatin, prima volta qui se mangiare chioccolato) ERZÄHLER Claudio Barone und Giuseppe Maglio war zwei von 2500 Kindern, die in der Schweiz Zuflucht und Pflegeeltern fanden. Doch sie alle mussten länger als geplant bei ihren Gastfamilien bleiben. Denn 19 Tage nach der Ausrufung der Republik gab es erste Signale, dass sich die Faschisten auf die Rückeroberung des Gebietes vorbereiteten. Noch hoffte die Regierung der Republik auf die Unterstützung der Alliierten. 58 O-TON 1 Ettore Tibaldi (Schweizer Phonothek 03) SPRECHER (Governo e formatione di creare possibilita dilanche di armi, possibilita di attara di apparetti e construire module campi di aviatione, due campi de vessione....) Wir hatten alles vorbereitet, Möglichkeiten um Waffen abzuwerfen. Auch zwei Flugplätze waren errichtet worden zwei herrliche Flugplätze! Einen in der Ebene von Domodossola. Genau an dem Platz, an dem einst das erste Flugzeug landete, dass das Simplon-Massiv überflogen hatte. Im Vigezzo-Tal hatten wir sogar noch einen Flugplatz für größere Maschinen gebaut. Doch die Hilfe kam nicht. Während wir krampfhaft auf Munition warteten, hatte sich der Feind gut vorbereitet. Wir erwarteten diese Gegenoffensive. Aber wir wussten, sie konnte nur durch eine reguläre Armee gestoppt werden, unsere Partisanen waren dazu nicht in der Lage. Deshalb hatten wir die Alliierten weder um Geld noch um Männer gebeten. Männer hatten wir mehr als genug. Was wir aber brauchten war Technik, schwere Waffen, Munition und Kleidung. Denn es schon früh sehr kalt geworden Und unsere Partisanen trugen alle noch kurze Hosen, hatten zum Teil keine Schuhe und auf den Bergen lag schon der erste Schnee. (A vamo piesto semplissemente, la usiglio di teccnici, armi pesanti, munitioni, vestiti, ...inverno, un inverno gessi umpriava redissimo. Le formation di partigani era tutti in pantaloni corti, senza scarpe. La neve già era caduta in montagne) 59 O-TON Antonio Piero Ragozza (italienisch) SPRECHER (Initialmente servizio secreti alliati ave no dato l'illussione o tenere na zona libera per portera ... barcare anque unita militaria aviotransportate....) 19 / Die Geheimdienste der Alliierten hatten den Partisanen noch vor der Befreiung des Ossola-Tales tatsächlich Hoffnung gemacht, dass man sie unterstützen und Truppen einfliegen lassen würde. Doch als das Tal dann wirklich befreit war, hatte sich auf dem Kriegsschauplatz in Europa vieles verändert. Als er gefragt wurde, sagte später einmal ein alliierter Geheimdienstoffizier namens McCaffrey, dass das Ossola plötzlich nur noch ein winziger Stecknadelkopf auf der Karte war, der nichts mehr zählte. (e quando ia testato questa cosa adetto mai fondo l'Ossola nell contesto delle Europa una capocchia di spillo per una continiente) 60 O-TON Giovanni Zaretti (italienisch) SPRECHER 1 (Infatima cha vessero non dico paraca cudeato de ... armati. Ma un po di mitre qualque cassette di munitione.... ) Wenn sie mit dem Fallschirm wenigstens - also ich sage nicht Kaviar - aber etwas zum Essen oder ein paar Kisten Munition abgeworfen hätten. Aber die Leute, die Hunger hatten, bekamen nichts! Nicht mal einen Bonbon! (e poi la gente que aveva fame, neinte, ne anche una caramelle) ERZÄHLER Am 09. Oktober 1944 begannen die Deutschen ins Tal vorzurücken Als die erste Verteidigungslinie der Partisanen nachgab, brach in der Bevölkerung Panik aus. Die provisorische Regierung beorderte alle verfügbaren Waggons und Lokomotiven nach Domodossola, um die Bevölkerung zu evakuieren. Während der Kämpfe in der Republik Ossola nahm die Schweiz in nur wenigen Tagen 35 000 Menschen auf. Dass für diese logistische Operation überhaupt noch Zeit blieb, war nur der heftigen Gegenwehr der Partisanen zu verdanken. Doch ohne Unterstützung der Alliierten war die Republik Ossola nicht länger zu halten. 62 Hist. O-TON Deutsche Wochenschau September 1944 (Bundesfilmarchiv) Die sich wehrenden Reste der Banditen werden im Nahkampf niedermacht. Hinter großen Felsbrocken haben sie ihre letzte Zuflucht gesucht. Nun da ihnen der Weg abgeschnitten ist, nehmen sie die Hände hoch und ergeben sich. 63 ATMO Wanderschritte auf Kies / Zikaden / Fluss in der Ferne ERZÄHLER Zum Abschluss der Wanderung durch die einstige Partisanenrepublik ist Tim Shaw mit seiner Gruppe von Domodossola zur Alp Corte Bué aufgebrochen. Es geht zurück auf Pfad, dessen Name heute an Teresa Binda erinnert. Wie sie flohen damals tausende Partisanen durchs Val Grande Richtung Schweiz. 64 O-TON Tim Shaw (deutsch) Jetzt sind wir auf dem Weg, den die Partisanen genommen haben zum Fliehen und auch die Nazis, um die Partisanen zu verfolgen. Wir kommen jetzt an den obersten Ruinen der Corte Bue an. Wir sind noch im Buchenwald. Das sind die allerobersten Bauernhäuser von damals, das waren vermutlich ein Stall und ein kleines Lagerhaus. Mittlerweile aber alles komplett verfallen. Die Partisanen haben sich erst einmal versteckt auf der Corte Bue un die Nazis sind nachgekommen. 65 ATMO Schritte / Zikaden / Flussrauschen (etwas näher) ERZÄHLER Wie mag es damals gewesen sein? Teresa Binda in einer Kolonne von 300 Partisanen. Es ist kalt, ein eisiger Schneeregen fällt aus einem grauen Himmel. Er bedeckt das Laub, das noch wenige Tage zuvor alle Spuren verschluckt hätte. Die Partisanen haben noch ihre Sommeruniformen an. Sie sind müde, hungrig und ausgelaugt. Die Munition geht zur Neige. Und zwischen der Schweiz und ihnen liegt der im Schneeregen gefährlich anschwellende Rio Val Grande. Dahinter unüberwindbar wirkende Berge. 66 O-TON Tim Shaw (deutsch) Als die Nazis dann zu nahe dran waren, sind die Partisanen weitergezogen zur Corte Velina, die man da drüben sieht. Und die Nazis sind hier durchgezogen. Die sind jetzt allerdings nicht nur so durchgezogen, sondern sie haben natürlich alles verwüstet. Sie wollten den Partisanen keine Rückzugsmöglichkeit mehr bieten und haben deshalb alles niedergebrannt. Und hier sieht man eben nach wie vor diese Brandspuren Dieser Brand ist nicht zufällig entstanden - das war die SS. ERZÄHLER 40 Tage konnten die Partisanen die Republik Ossola halten. Von den Alliierten im Stich gelassen, brach sie unter den massiven Schlägen faschistischer Truppen zusammen. 68 O-TON Gerri Sergio (italienisch) STE-039 SPRECHER 1 (Tanto vero que. Quando noi doppo se condo siamo status confitino, e siamo retornati sul le montagne.... ) So ist es gewesen. Wir wurden geschlagen und mussten wieder in die Berge. Der faschistische Beamter aus Novara, der hierher kam, hat damals Mussolini angerufen und ihm gesagt: Duce, wir haben das Ossola zurückerobert. Jetzt müssen wir auch die Ossolaner zurückerobern. (weint) (abbiamo requoncista dell Ossola averso de requoncista dell ossolani, abbiamo requoncista dell Ossola, adesso (weint) dell ossolani... ERZÄHLER Gerri Sergio war damals 17. So alt, wie die Schüler in den Schulen des Tals, denen er heute von damals berichtet. 69 O-TON Antonio Piero Ragozza (italienisch) SPRECHER 2 (La differenza fra l'esperienza ossolane e le altre ... per a giuni coningienti a no giestito la ministratione lokale ... ) Im Gegensatz zum Experiment in Ossola hielt man die zivile Verwaltung in den andere befreiten Gebieten für völlig nebensächlich. Die Bedeutung der Republik Ossolas hat vor allem mit jenen Persönlichkeiten zu tun, die damals aus dem Exil in der Schweiz nach Italien zurückkehrten. Persönlichkeiten, die nach dem Krieg eine wichtige Rolle beim Aufbau Italiens und in der verfassungsebenden Versammlung spielen sollten. Das hier war also der erste Versuchder Demokratieversuch, an dem Personen mit völlig verschiedenen Ideen, Werten und Prinzipien teilnahmen. Personen, die verschiedenen Parteien angehörten. Die Ossola-Republik war eine Generalprobe dafür, wie ein zukünftiges demokratisches Nachkriegsitalien aussehen würde (... e fano proba generaledi quello general dostatodemocratico italiano dell doppo guerra.) ERZÄHLER Fast fünf Tage war die Wandergruppe mit Tim Shaw und dem Historiker Antonio Piero Ragozza in den Bergen des Val Grande unterwegs. Nun steigt sie wieder hinab. An der Alpe Ompio, kurz vor dem Ausgangspunkt ihrer Wanderung kehrt sie auf eine Jause ein. Von einer Tafel an der Wand schaut von einem Foto der Partisanenkommandeur Dionigi Superti herüber. Die Wanderer erheben ihre Gläser - auf ihn und die mutigen Männer und Frauen der Partisanenrepublik Ossola. MUSIK ABSAGE: Die 40 Tage von Ossola - Besuch in einer vergessenen Partisanenrepublik Ein Feature von Mirko Schwanitz Sie hörten eine Produktion des Deutschlandfunks 2016. Es sprachen: Hüseyin Michael Cirpici, Jochen Stern, Walter Gontermann und Susanne Barth. Ton und Technik: Christoph Rieseberg und Oliver Dannert Regie: Beatrix Ackers Redaktion: Karin Beindorff 28