Hörspiel Feature Radiokunst Das Feature Zersetzung 2.0 Opfer von DDR-Unrecht werden zweimal bestraft Autorin: Alexa Hennings Regie: Claudia Kattanek Redaktion: Wolfgang Schiller Produktion: Deutschlandfunk 2024 Erstsendung:Dienstag, 30.04.2024, 19.15 Uhr Es sprachen: Nicole Kersten, Daniel Berger und Justine Hauer Ton und Technik Lukas Fehling und Rafaela Gräff Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. (c) - unkorrigiertes Exemplar - Musik Wutanfall (Punkband 80er) (Sänger buchstabieren auf Musik) We-U-Te-A-En-Eff-A-El--El - 1. O-Ton Man wird immer poröser, man ist eigentlich immer in einem Dauerstress. Man ist immer in Dauerangst. Und man ist sich bewusst: Die sehen alles, was du machst, die wissen alles, was du willst. Das durchzustehen oder zu überleben, ist beileibe nicht so einfach. Musik Punkband ...Wutanfall! darauf Sprecher Zersetzung 2.0. Opfer von DDR-Unrecht werden zweimal bestraft. Feature von Alexa Hennings. 2. O-Ton Begrüßung Loukidis, Lotz 0.10 So, geht mal hoch, wollt ihr noch einen Kaffee?- Tür klappt ... darauf Sprecherin Schwerin im Januar 2024. Karl Lotz trifft sich mit Rechtsanwalt Wolfgang Loukidis. Der pensionierte Anwalt hilft unentgeltlich. Die Rente des heute 77jährigen ehemaligen DEFA-Regisseurs Karl Lotz ist knapp. Dass dies so ist, hat etwas mit seiner Geschichte zu tun. Mit Behinderung im Beruf, Zurücksetzung, Diskreditierung, Verunsicherung. "Zersetzung" nannte das die Staatssicherheit. Sie sah in ihm eine "feindlich-negative Person" und legte einen sogenannten "Operativen Vorgang" über ihn an. Geräuschakzent Sprecher Der Nachwuchsregisseur Lotz wird mit folgenden Zielstellungen bearbeitet: Erarbeitung offizieller Beweise für die Begehung von Verbrechen. 3. O-Ton Lotz 0.30 Ich war durch Zufall 1968 in Prag und habe gesehen, wie die Russen da kamen. Und da war für mich Schluss mit diesem System, mit diesem Staat. Ich wusste dann, wenn du die Grenzen überschreitest, kommen die Panzer. Diese Erfahrung war ja da. Das heißt, natürlich empfand ich mich auch als Gegner oder einfach als - ein sozialistischer Mensch, das war ich nicht. Sprecher Aufdeckung begünstigender Umstände für Feindtätigkeit im Schwerpunktbereich Regie/Dramaturgie des VEB DEFA-Studio für Spielfilme. 4. O-Ton Lotz 0.58 Ich habe für meinen ersten Spielfilm einen Trick angewandt, und zwar habe ich dem Autor - er hat das Geld bekommen und ich habe das Drehbuch geschrieben. Und damit hatte ich totale Freiheit. Natürlich wurde der Film dann nicht angenommen, weil er zu rebellisch war. Der Hauptdarsteller, ein kleiner Knabe, hat sehr viel rebelliert. Es gab eine Premiere, und die Kinder sind ausgerastet vor Freude, so ein rebellisches Kind zu erleben. Und daraufhin wurde der Film nicht gezeigt. Aber das ZDF hat diesen Film gekauft und gesendet, die DDR hat Westgeld verdient und ich durfte ein paar Jahre nicht arbeiten als Regisseur. Sprecher Schaffung von Voraussetzungen, den Verdächtigen zu isolieren. 5. O-Ton Lotz 0.40 Die haben ein Jahr mit mir nicht gesprochen. Das ist eine Katastrophe gewesen, ich bin fast verrückt geworden. Weil, in dem Beruf keine Kontakte zu haben, das ist ja tödlich. Sprechverbot galt nur für die, die man brauchte, um was zu realisieren. Das heißt, der Kraftfahrer hat mir natürlich guten Tag gesagt. Aber die wichtigen Leute, die Redakteure, die hatten dieses Verbot eingehalten. Du bist verrückt geworden, du hast gedacht, das liegt an dir! Ich war kurz davor, hinzuschmeißen. Sprecherin 16 Spitzel - im Stasi-Jargon IM für "Inoffizielle Mitarbeiter" - waren auf Karl Lotz angesetzt. Die meisten waren Kollegen und Freunde. Seine Stasi-Akte wuchs auf 250 Seiten an, sein Familien- und Privatleben wurde observiert. 6. O-Ton Lotz/Loukidis 0.15 Mein IM, der hat sich rangemacht und wollte rauskriegen, ob ich schwul bin, da hat der mich angebaggert. Sprecherin Einen Familienvater der Homosexualität - in Anführungszeichen - zu "überführen" birgt das Potential, ihn gefügig zu machen und zu erpressen. Deshalb erforschte die Stasi gezielt auch die sexuellen Neigungen. Geräuschakzent Sprecher Inzwischen wurde deutlich, dass L. eine verfestigte politisch-negative Position eingenommen hat, auf deren Grundlage er Versuche unternimmt, seine Möglichkeiten als Regisseur zu missbrauchen und Filme zu inszenieren, die sich im negativen Sinne kritisch mit unserer Gegenwart auseinandersetzen. 7. O-Ton Lotz 0.20 Das war ja eine Maßnahme der Kollegen und der IMs, die mich bearbeitet haben: Diskreditierung, Zerstörung der Karriere. Immer zu sagen: Das, was du gemacht hast, war Scheiße. Das hatte schon eine schlimme Wirkung. Das war schon Zersetzung. Sprecherin Fünf Jahre lang durfte Karl Lotz, der sein Diplom an der Filmhochschule Potsdam-Babelsberg gemacht hatte, nicht als Regisseur arbeiten und wurde - bei halbiertem Gehalt - als Hilfskraft eingesetzt. Das wirkt sich heute auf seine Rente aus. Immerhin - seit 2019 können Opfer von Zersetzungsmaßnahmen des Staatssicherheitsdienstes der DDR eine einmalige Entschädigung von 1500 Euro beantragen. Dazu müssen sie eine sogenannte verwaltungsrechtliche Rehabilitierung erreichen. Zuständig sind, je nach Bundesland, verschiedene Behörden, im Falle von Karl Lotz ist es das Verwaltungsgericht Potsdam. Er bekam eine Ablehnung. Dagegen will Karl Lotz mit Hilfe von Rechtsanwalt Wolfgang Loukidis nun vorgehen. 8. O-Ton Loukidis /Lotz 0.40 Es ist jetzt so: Wir machen die Klagebegründung. Das geht dann zum Gericht und ich sag immer: Drei bis fünf Jahre - lacht / Warum lachst du da? - lachen - Das ist ja auch, wo ich sage, dass das Durchkämpfen oder das Streiten durch Gerichte die schlechteste Möglichkeit ist, Gerechtigkeit herzustellen. Ich habe ja noch andere Verfahren, ich streite mich da schon Jahre. Und das ist auch noch ein Punkt: Uns läuft die Zeit davon. Die Leute werden ja nicht jünger. Sprecherin Im Fall von Karl Lotz geht es nicht um größere Beträge wie bei anderen Betroffenen, die Wolfgang Loukidis vertritt. Sie waren in der DDR in Haft, hatten Enteignung oder Zwangsaussiedlung zu erleiden. 9. O-Ton Loukidis 0.23 Da habe ich zehn Jahre gekämpft für die Frau. Und die ist dann ein Jahr später gestorben mit 91 und konnte das, was ich ihr erstritten habe, gar nicht mehr genießen. Und darum geht es ja, selbst wenn man von Wiedergutmachung sprechen wollte: Das soll ja den Lebensabend dieser Opfer irgendwie besser gestalten. Dass sie sagen können: Ich fahre mit meiner Familie nochmal nach Karlsbad oder woanders hin fahren, eine Kur oder irgendwas, was es da alles so gibt. Sprecherin Hier geht es um einen Betrag, der wohl kaum für eine Kur in Karlsbad reichen würde: einmalig 1500 Euro für Opfer von Zersetzungsmaßnahmen der Staatssicherheit. 10. O-Ton Loukidis 0.26 Die wesentlichen Ablehnungsgründe stehen hier drin - liest: Für die Anwendung von Zersetzungsmaßnahmen gegen Sie sind im Rahmen des operativen Vorganges keine schriftlichen Pläne und Ergebnisberichte aufgefunden worden - lacht - insoweit sind Zersetzungsmaßnahmen nicht nachweisbar. Also, das ist schon starker Tobak! So, und dann heißt es weiter, dass es keine Herabwürdigung der Person gab und keinen Einfluss auf die Familie. Das steht auch nochmal hier. Sprecherin Das Potsdamer Gericht möchte sich nicht zu dem Fall äußern. Auf die Frage nach genauen Zahlen der Anträge wegen Zersetzungsmaßnahmen seit 2019 gibt die Pressestelle eine schwammige Antwort: Bisher seien in Brandenburg Anträge im "niedrigen zweistelligen Bereich" gestellt worden. Davon positiv entschieden: vier. Geräuschakzent Sprecher Berlin: 97 Anträge, 12 Fälle genehmigt. Sachsen: 161 Anträge, 41 bewilligt. Thüringen: 103 Anträge, 29 positiv beschieden. Sachsen-Anhalt: 161 Anträge, 29 bewilligt. Mecklenburg-Vorpommern: Keine Angaben. Sprecherin Es hagelt Absagen für die Zersetzungsopfer. Für die wenigen, die es überhaupt wagen, einen Antrag zu stellen. Berechtigt dazu wären weit mehr Menschen: Seit 1976 legte die Staatssicherheit 4000 bis 5000 Operative Vorgänge an. Jährlich. 11. O-Ton Loukidis /Lotz 0.45 Ich weiß auch nicht, was in diesen Leuten, die das bearbeiten, vorgeht. Ich weiß es nicht. Und es ist ja so, dass der Gesetzgeber ausdrücklich gesagt hat: Wir wollen eine großzügige Regelung für die Opfer! Und wenn man sich das dann im Detail anschaut, dann wird es richtig mühselig. Und das kann er nicht allein machen, das geht gar nicht. / Für mich ist das Latein. Ich verstehe das nicht. / Wenn du die Erzählung von Herrn Kafka nimmst: Vor dem Gesetz. Kennst du ja. / Nee. / Also ganz kurz: Ein Bauer kommt und bittet um Einlass in das Gesetz. Musik Zitatorin Vor dem Gesetz steht ein Türhüter. Zu diesem Türhüter kommt ein Mann vom Lande und bittet um Eintritt in das Gesetz. Aber der Türhüter sagt, daß er ihm jetzt den Eintritt nicht gewähren könne. Der Mann überlegt und fragt dann, ob er also später werde eintreten dürfen. "Es ist möglich" , sagt der Türhüter, "jetzt aber nicht." Musik Punkband ...schreien...Wutanfall! - abrupt weg - 12.O-Ton Gutjahr 0.25 Zersetzung, das ist eine extreme Art und Weise, Leute zu brechen. Sprecherin Jürgen Gutjahr. Gründer der Leipziger Punkband "Wutanfall". O-Ton weiter Das hat man bei mir über die ganze Zeit versucht, über acht Jahre. Und hat es glücklicherweise nicht geschafft. Ich kenne aber viele Leute, die haben es nicht geschafft. Und viele von denen leben nicht mehr. Musik Punkband, letzte Strophe (evt. darüber den Text von der Zitatorin sprechen lassen, da, wie beim Punk üblich, schlecht verständlich, dazu historische Original-Aufnahme, alternativ zitiert die Sprecherin das dann am Anfang ihres Textes) ...Wir sind die graue Feuerwehr aus der schönen DDR. Wir fachen überall Feuer an. Leipzig brodelt - es geht voran! Sprecherin Leipzig 1981. Jürgen Gutjahr ist Tischlerlehrling, als Punkmusiker nennt er sich Chaos. Die Staatssicherheit sieht in ihm einen Multiplikator in der Szene. Bei der ersten Vernehmung will sie ihn zur Mitarbeit überreden. 13. O-Ton Gutjahr 1.03 Das endete bis zu viermal in der Woche Vorladungen wegen Klärung eines Sachverhalts. Und meine Widerspenstigkeit, meine Verneinung und meine fehlende Mitarbeit hatten zur Folge, dass die Verhöre und Vernehmungen immer physischer wurden. dazwischen spielen mit Musik Wutanfall ...We-U-Te... O-Ton weiter Ich wurde verprügelt, ich wurde oftmals von der Straße weggefangen. Ich wurde weggesperrt, dann immer für längere Zeit. Ohne jeglichen richterlichen Beschluss. Ich war in einer Einzelzelle, ich war in einer Käfigzelle. Und das teilweise über Wochen. Und niemand wusste, wo ich bin. Es gab extreme körperliche Übergriffe. Der schlimmste und traumatische war für mich 1983. Sprecherin Ein Wald bei Leipzig. Ein Auto, drei Stasileute und der junge Mann. Sie haben ihm Handschellen angelegt und einen Stoffsack über den Kopf gezogen. Er liegt am Boden, die Hände vorm Gesicht. Sie prügeln und treten auf ihn ein. dazwischen spielen mit Musik Wutanfall ...A-En-Eff... 14. O-Ton Gutjahr 0.40 Man hat dann die Prügelei unterbrochen und dann mit dem Bein, mit dem Fuß, den Kopf arretiert auf dem Boden, redete irgendwas und ich merkte, wie kaltes Metall mir ans Genick gehalten wurde. Also, es war letztendlich eine Art von Scheinhinrichtung, anders kann man das eigentlich nicht deuten - atmet tief durch... Sprecherin 1984 stellt Jürgen Gutjahr einen Ausreiseantrag. Er bekommt Arbeitsverbot in seinem Beruf, darf Leipzig nicht verlassen, die Innenstadt nicht betreten, sein Ausweis wird eingezogen. Er wird weiter permanent überwacht. 15. O-Ton Gutjahr 0.20 Man fühlte sich, als wenn so eine Decke Teer über einem drüber liegt und man da nicht mehr rauskommt. Die Musik, meine Projekte und die Kreativität haben mich über Wasser gehalten. Sprecherin Erst 1989 darf Jürgen Gutjahr aus der DDR ausreisen. Eine Entschädigung für seine Haftzeit hat er nicht bekommen. 16. O-Ton Gutjahr, Autorin 0.50 Mein großes Problem an dieser Stelle ist letztendlich, dass ich offiziell nie verurteilt wurde, also inhaftiert wurde. Obwohl ich zusammen gerechnet sechs bis neun Monate weggesperrt wurde, ohne, dass ich einem Richter vorgeführt wurde. - Darüber gibt es auch keine Akten? - Natürlich nicht, nein. Das war natürlich auch zu DDR-Recht schon immer illegal, genauso wie die physischen und psychischen Übergriffe. In den ganzen tausenden Seiten von Akten steht nicht einmal was von einem physischen Übergriff und von dem, was mir widerfahren ist. Musik Zitatorin Der Türhüter lacht und sagt: "Wenn es dich so lockt, versuche es doch, trotz meines Verbotes hineinzugehn. Merke aber: Ich bin mächtig. Und ich bin nur der unterste Türhüter. Sprecherin Weil es keine Dokumente zu seiner Haft gibt, wird Jürgen Gutjahr nicht nur die einmalige Haftentschädigung verweigert, die je nach der Länge der Inhaftierung gezahlt wird. Auch die SED-Opferrente bekommt er nicht: Wer aus politischen Gründen inhaftiert war, erhält- soziale Bedürftigkeit vorausgesetzt - monatlich 330 Euro. Bedürftig sind heute viele, fast jeder zweite Betroffene von DDR-Unrecht lebt an der Grenze zur Armutsgefährdung. Gebrochene Erwerbsbiografien wie die von Jürgen Gutjahr sind oft der Grund dafür. Immerhin konnte er die berufliche Rehabilitierung erreichen: Ihm wurden ein paar Rentenpunkte gutgeschrieben für die Zeit seines Berufsverbots in der DDR. Doch die Gesundheit des 59jährigen ist dauerhaft geschädigt: Die Misshandlungen hatten Knochenbrüche und Kopfverletzungen zur Folge, der Dauerstress führte zu einer schweren Hauterkrankung. Seit anderthalb Jahren ist Jürgen Gutjahr in einer Traumabehandlung. Je älter er wird, desto mehr bedrängen ihn die Erlebnisse und Bilder von damals. 17. O-Ton Gutjahr 0.42 Die Leute, die dem System gedient haben, die mich fast umgebracht haben, die sind alle davongekommen. Die kriegen ihre vollen Rentenbezüge, die kriegen alles. Sprecherin Ehemalige Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit erhalten bis heute ihre volle Rente. Lediglich ihre Ansprüche aus dem Sonderversorgungssystem des MfS werden nicht anerkannt. O-Ton Gutjahr weiter Selbst wenn man versucht, da privat jemanden zu verklagen, wird dieser Fall ja nach DDR-Recht behandelt. Was für mich ein Wahnsinn ist, für mein Verständnis von Gerechtigkeit. Von daher gibt es für mich nur diese Art der Rehabilitation. Sprecherin Jürgen Gutjahr meint damit die sogenannte verwaltungsrechtliche Rehabilitierung. Nach dreijähriger Bearbeitungszeit bekam er sie endlich zugesprochen. Das heißt, er wurde offiziell vom Gericht als Opfer von SED-Unrecht anerkannt - dafür reichten tausende Seiten Stasi-Akten dann doch aus. Damit stünde ihm die Einmalzahlung von 1500 Euro zu. Den Antrag dafür hat Jürgen Gutjahr jedoch zurückgezogen, denn wer die Einmalzahlung annimmt, kann mit keinen weiteren Hilfen rechnen. Damit wäre alles Leid ein für allemal abgegolten. Musik Zitatorin "Von Saal zu Saal stehn aber Türhüter, einer mächtiger als der andere. Schon den Anblick des dritten kann nicht einmal ich mehr ertragen." Solche Schwierigkeiten hat der Mann vom Lande nicht erwartet; das Gesetz soll doch jedem und immer zugänglich sein, denkt er. Sprecherin Jürgen Gutjahr will sich nicht mit den 1500 Euro begnügen. Er möchte eine dauerhafte Unterstützung in Form einer kleinen Rente erreichen. Jeder, der die verwaltungsrechtliche Rehabilitierung erlangt hat, kann das beantragen. Der Haken dabei: Er muss beweisen, dass die gesundheitlichen Schäden, unter denen er bis heute leidet, seine Ursache in der politischen Verfolgung zu DDR-Zeiten haben. Doch weder die Tritte der Stiefel gegen den Kopf wurden dokumentiert, die Wunden, die Knochenbrüche. Es gibt keine Arztberichte und keine Protokolle von einem Psychologen - ein Stasi-Opfer konnte damals nicht einfach zum Psychologen gehen. 18. O-Ton Gutjahr 0.30 Ich weiß immer nicht, was die als Beweise fordern. Wie man das vorlegen soll? Das ist einfach nicht möglich. Es war genauso wenig möglich, sich einen Anwalt zu nehmen oder irgendwas in der Richtung. Es ist einfach nur passiert, und man musste es mehr oder weniger ohnmächtig über sich ergehen lassen und versuchen, mit dem ganzen Irrsinn irgendwie umzugehen und da durchzukommen. Sprecherin Irgendwann wird Jürgen Gutjahr aufgefordert werden, sich einer Kommission zu stellen, die seinen Fall entscheidet. Dafür ist das Versorgungsamt des Bundeslandes zuständig, in dem der Betroffene wohnt. Oft ziehen sich diese Verfahren über Jahre hin, medizinische Gutachter werden bestellt. 19. O-Ton Gutjahr 0.50 Das wird sicher für mich ein Problem werden, diesem Gremium glaubhaft zu machen, was nicht in den Akten steht. In den Akten steht viel drin, aber das wirklich Extreme, das richtig Widerwärtige, das steht da natürlich nicht drin. Musik Zitatorin Der Türhüter gibt ihm einen Schemel und läßt ihn seitwärts von der Tür sich niedersetzen. Dort sitzt er Tage und Jahre. Er macht viele Versuche, eingelassen zu werden, und ermüdet den Türhüter durch seine Bitten. 20. O-Ton Gutjahr 0.55 So ein bisschen schleicht sich das Gefühl ein, dass man dem ausgeliefert ist erstmal. Für mich ist primär entscheidend, für meinen Kopf vor allem, für mein Gerechtigkeitsempfinden, dass man mich an der Stelle da wirklich entschädigt. Geräuschakzent Sprecher Ablehnungsquote bei der Anerkennung von verfolgungsbedingten Gesundheitsschäden, Anträge müssen ehemalige DDR-Bürger am heutigen Wohnort stellen: Hamburg: 100 Prozent Sachsen-Anhalt: 94 Prozent Sachsen: 14 Prozent Schleswig-Holstein: 46 Prozent. 21. O-Ton Zupke 1.10 Hier an der Stelle haben wir wirklich die allerschwierigste Situation. Ich sag immer: Das ist das dickste Brett, was wir hier zu bohren haben. Sprecherin Evelyn Zupke, Bundesbeauftragte für die Opfer der SED-Diktatur. O-Ton weiter Das Problem ist, dass die übergroße Zahl der Menschen, die einen Antrag stellen, dass die verfolgungsbedingten Gesundheitsschäden, z.B. Haft, Zersetzung, Jugendwerkhof nicht anerkannt werden, weil sie die Kausalität nachweisen müssen. Sie müssen also nachweisen, dass heutige Gesundheitsschäden von der politischen Repression herkommen. Und diese Kausalität ist ganz oft schwer nachzuweisen. Ein Grund besteht darin, dass diese Gesundheitsschäden oft erst nach Jahren oder Jahrzehnten sichtbar werden oder als solche wahrgenommen werden. Da wissen die Behörden oder die Gerichte nicht, wie sie damit umgehen sollen. Dann sagen sie: Das kann ja gar nicht sein! Das kommt doch aus Ihrer Kindheit oder weil Ihr Vater Ihnen eine runtergehauen hat! Das kommt doch nicht von monatelanger Einzelhaft oder Dunkelhaft! Sprecherin Evelyn Zupke, ehemals Bürgerrechtlerin in der DDR, ist die erste Bundesbeauftragte für die Opfer der SED-Diktatur - der Deutsche Bundestag hat das Amt erst 2021 geschaffen. Von den rund 179 300 Anträge auf berufliche oder verwaltungsrechtliche Rehabilitierung, die seit den 1990er Jahren gestellt wurden, sind mehr als die Hälfte abgelehnt worden. 22. O-Ton Zupke 0.58 Das tut mir so weh, wenn ich sehe, dass die Menschen quasi nochmal durch so viel Leid gehen müssen und ihr Leben - in Freiheit können sie es leben, ja - aber dass sie mit so viel Belastung wieder diese Jahre durchleben müssen. Manchmal möchte ich Menschen sagen: Lass es doch, hör auf. Versuch, dir ein schönes Leben zu machen, du machst dich ja kaputt. Viele Menschen bemühen sich seit Jahrzehnten, das zu ändern, allen voran die Landesbeauftragten. Aber man muss jetzt konstatieren: Mehr als 30 Jahre und es hat sich nicht gebessert! Überhaupt nicht. Also, was heißt das? Das System muss verändert werden. Sprecherin Das System ändern. Evelyn Zupke warb erst kürzlich wieder im Bundestag dafür, nicht zum ersten Mal. Sprecher 24. März 2024, deutscher Bundestag, Drucksache 20/10600. Vorschlag der Bundesbeauftragte für die Opfer der SED-Diktatur. Die aktuellen Forschungsergebnisse zeigen den Zusammenhang zwischen erlebter Repression durch politische Verfolgung und der heutigen gesundheitlichen Schädigung der Betroffenen auf. Für die Politik besteht damit eine belastbare Grundlage, um im Umgang mit den gesundheitlichen Folgeschäden bei SED-Opfern künftig nicht mehr den Nachweis des ursächlichen Zusammenhangs als Entscheidungskriterium zu definieren, sondern beim Vorliegen des Nachweises der erlebten Repression (bspw. politischer Haft) und dem Vorliegen definierter Krankheitsbilder (bspw. Angststörung, Posttraumatische Belastungsstörung) den Zusammenhang regelhaft zu vermuten. Sprecherin Diese Vermutungsregelung gilt schon seit zehn Jahren in der Bundeswehr: Wer in einem Auslandseinsatz war und später an einer psychischen Störung leidet, bei dem wird der Einsatz als Ursache der Erkrankung vermutet und er hat Anspruch auf Entschädigung. So sollte es auch bei den Betroffenen von SED-Unrecht sein. 23. O-Ton Zupke 0.32 Dafür kämpfe ich. Es ist natürlich zuerst für die Betroffenen, aber es bedeutet auch einen erheblichen Bürokratieabbau, wenn man das schafft. Wenn man sich überlegt, nicht nur die Menschen werden verschlissen, sondern es kostet auch wahnsinnig viel Geld! Aber zunächst geht's darum, den gesetzlichen Rahmen zu ändern, denn nur der wird uns langfristig helfen, den Menschen helfen, dass sie nicht mehr sechs, acht, zehn, zwölf Jahre diese Verfahren durchlaufen müssen! Sprecherin Noch hatte Evelyn Zupke keinen Erfolg mit ihrem Vorschlag. Musik Zitatorin Der Türhüter stellt öfters kleine Verhöre mit ihm an, fragt ihn über seine Heimat aus und nach vielem andern, es sind aber teilnahmslose Fragen, wie sie große Herren stellen, und zum Schlusse sagt er ihm immer wieder, daß er ihn noch nicht einlassen könne. Geräuschakzent Sprecher Koalitionsvertrag 2021 zwischen SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP: Im Einvernehmen mit den Ländern soll die Beantragung und Bewilligung von Hilfen und Leistungen für die Opfer der SED-Diktatur, insbesondere für gesundheitliche Folgeschäden, erleichtert werden. 24. O-Ton Weberling 0.15 Ja, im Koalitionsvertrag steht vieles drin. Sprecherin Johannes Weberling, Rechtsanwalt und Honorarprofessor an der Viadrina-Universität Frankfurt/Oder. O-Ton Aber passiert ist da nichts. Es ist zum Haare raufen. Es sind gute Sachen drin, die aber nicht gemacht werden! Aber die den Menschen helfen würden. Sprecherin Johannes Weberling leitet das Teilprojekt Recht im Forschungsverbund "Landschaft der Verfolgung". Gerade wurden vom Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Forschung die Mittel gestrichen, um das Projekt fortzusetzen. 25. O-Ton Weberling 0.16 Wir haben ja an der Viadrina eine Spezialtagung zu dem Thema gemacht: Die Zersetzung und die Rechtsfolgen, die daraus zu ziehen sind. Vorsichtige Schätzungen, die wir dort hatten: Das sind wahrscheinlich 40-60 000 Menschen, die das beantragen müssten und könnten. Sprecherin Aber nicht einmal eintausend Betroffene von Zersetzung haben seit 2019 den Antrag auf Rehabilitierung gestellt. 26. O-Ton Weberling 0.15 Weil sie abgeschreckt worden sind durch die Fälle, die in der Öffentlichkeit kursierten. Wenn man dann in der Zeitung liest, dass sogar der UOKG-Vorsitzende abgelehnt wird, da steht nicht drin, warum, dann wird jeder natürlich normale Mensch sagen: Nee, mach ich nicht. Sprecherin Dieter Dombrowski aus Berlin ist der Vorsitzende der Union der Opfer von Kommunismus und Gewaltherrschaft, auch er war von Zersetzungsmaßnahmen betroffen. 27. O-Ton Weberling 0.26 In Berlin die Richterin hat die Parameter des SED-Unrechtsregimes offensichtlich nicht ansatzweise verstanden. Dinge, die für Leute, die halbwegs historisch gebildet sind, selbstverständlich sind, die hat sie nicht zugrunde gelegt. Und das ist das Erschreckende dabei. Sprecherin Johannes Weberling will den Fall Dombrowski nun vor das Bundesverwaltungsgericht bringen. Der Jurist hofft bei den Oberen Gerichten, etwas für die SED-Opfer zu erreichen. 28. O-Ton Weberling 0.25 Auch gerade was die Zwangsadoption angeht, was Spezialkinderheime angeht - jedenfalls bei den oberen Gerichtsinstanzen hat sich eine sehr aufarbeitungsfreundliche und opferfreundliche Linie durchgesetzt. Und die Gerichte, die das nicht nachvollziehen wollten, wurden dann von den oberen Instanzen regelrecht zur Raison gebracht und gesagt: Jetzt müsst ihr bitteschön mal den Rechtsstaat akzeptieren, der das so vorsieht. Es hat sich da schon was geändert. Sprecherin Entsprechend dem Stand der Forschung wurden in den vergangenen Jahren immer neue Gruppen von Menschen, die in der DDR Unrecht erlitten hatten, in die Gesetze aufgenommen. So können jetzt auch Schüler, deren Ausbildung aus politischen Gründen behindert wurde, rehabilitiert werden. 29. O-Ton Weberling 0.58 Die SED-Unrechtsbereinigungsgesetze sind, das muss man fairerweise sagen, im Laufe der Jahre deutlich verbessert worden. Auf der einen Seite. Auf der anderen Seite ist eben teilweise die Unrechtsbereinigung nach Kassenlage gemacht worden, und das ist erschreckend. Wenn ich mir jetzt angucke, dass für die Zersetzung - das war die große Errungenschaft des letzten SED-Unrechtsbereinigungsgesetzes - dass man da jetzt eine Einmalzahlung hat. Als symbolische Geste, aber eben auch als wirksame Geste für die Betroffenen von Zersetzungsmaßnahmen. Da gibt es dann aber eine Klein-Klein-Auslegung, die der Bundestag gar nicht gemacht hat. Was natürlich die Personen, die von Zersetzungsmaßnahmen betroffen waren, völlig irritiert und desillusioniert. Der Hintergrund - das haben wir herausgefunden in unserem Projekt: Es gibt keine einzige koordinierte Verwaltungsvorschrift für das Vorgehen in diesen Dingen. Das heißt, jedes Land macht sein Ding alleine. Sprecherin Allein und nach Kassenlage. So kommt es, dass zum Beispiel Geschwister, die heute an unterschiedlichen Orten wohnen, aber in der DDR unter dem gleichen Unrecht gelitten haben - etwa politisch motivierter Kindesentzug - in dem einen Bundesland rehabilitiert werden, in dem anderen nicht. 30. O-Ton Weberling 0.20 Das sollten einfach klare, pragmatische Handlungsempfehlungen sein, die von dem Sachbearbeiter - der ja nicht vom Fach ist, ich werfe das nicht den Menschen persönlich vor, aber dass der einfach eine Orientierung hat, wie er so ein Ding abarbeiten kann. Das muss aber menschen- oder betroffenenfreundlich sein und vor allem muss es unbürokratisch laufen. Musik Zitatorin Der Mann, der sich für seine Reise mit vielem ausgerüstet hat, verwendet alles, und sei es noch so wertvoll, um den Türhüter zu bestechen. Dieser nimmt zwar alles an, aber sagt dabei: "Ich nehme es nur an, damit du nicht glaubst, etwas versäumt zu haben." O-Ton Haase 0.07 Das größte, was ich jetzt gemacht habe. Das hat mich viel Kraft gekostet. Sprecherin Berlin. Beratungsstelle "Gegenwind" für politisch Traumatisierte der SED-Diktatur. Anna Haase, 83 Jahre alt, steht vor einem großformatigen Bild. Es zeigt einen weit verzweigten Kaktus. Überall darauf sind einzelne Wörter verteilt. Sie stehen für Dinge, Situationen, Gefühle. Ganz unten jenes, was Anna Haase schon bewältigt hat, weiter oben die Emotionen, denen sie sich noch jetzt ausgesetzt fühlt. 31. O-Ton Haase 0.12 Besonders hoch in der Nicht-Bearbeitung ist zum Beispiel: Zukunftsängste, Verzweiflung, Misstrauen, Vorsicht, Leid und Skepsis. Sprecherin Anna Haase kommt schon zehn Jahre in die Beratungsstelle "Gegenwind". Nimmt an Gruppengesprächen mit Psychotherapeuten teil, kommt in der Yogagruppe zur Ruhe und kann beim Malen das gestalten, wofür manchmal die Worte fehlen. 32. O-Ton Haase 0.18 Durch die vielen Gespräche, die wir hier geführt haben, habe ich mein Leben relativieren können. Ohne das wäre es gar nicht gegangen. Ich bin allein damit nicht klargekommen. Ich habe mich auch geschämt. dass ich so eine Vita habe, dass ich so ein Schicksal habe. Ich hab mich nicht getraut, mich zu öffnen. Sprecherin Anna Haase hat Bekleidungstechnologie und Slawistik studiert. Ihre Arbeit im Modeinstitut in Berlin findet 1986 abrupt ein Ende. 33. O-Ton Haase 0.32 Als Perestroika und Glasnost waren, da war ich Dolmetscherin für Russisch im Modeinstitut der DDR. Da hat mich der Direktor zum Gespräch bestellt und hat gesagt: Du bist nicht in der Partei, wir gehen bei Perestroika und Glasnost nicht mit und wir wissen ja nicht, was du den sowjetischen Gästen sagst. Wir müssen dich aus dieser exponierten Stellung nehmen. Und das war u.a. mit ein Grund, warum ich einen Ausreiseantrag gestellt habe. Wo ich gesagt habe: Das könnt ihr mit mir nicht machen. Sprecherin Anna Haase wird an die Komische Oper versetzt. Dort hat sie zunächst eine leitende Stellung in der Kostümabteilung. Als sie jedoch dann ihren Ausreiseantrag stellt, wird sie zur Hilfskraft degradiert: 2000 Ballett-Trikots auf Laufmaschen untersuchen, 4000 Karteikarten für Schuhe anlegen. 34. O-Ton Haase 0.24 Und als ich diese Strafarbeiten hinter mir hatte, durfte ich nur noch als Garderoben- und Toilettenfrau arbeiten, mit einem Einkommensverlust von über 500 Mark der DDR im Monat. Aus einer leitenden Position - was denken Sie, wie ich da Spießruten gelaufen bin! Weiter runter kann man ja nicht mehr kommen. Am schlimmsten war es in den Herrentoiletten, wenn ich dann alte Kollegen getroffen habe oder Chefs, die süffisant gelächelt haben: Ach du nun hier? Was machst du denn hier? Das hast du doch gar nicht nötig! Geräuschakzent Sprecher Bekämpfung der Fluchtbewegung durch die Zentrale Koordinierungsgruppe des Ministeriums für Staatssicherheit. Aufgaben: 1. die Organisation und Koordinierung der geheimdienstlichen Aktivitäten zur Zurückdrängung und Bekämpfung der Antragsteller. 35. O-Ton Haase 0.20 Ich bin einem Operativvorgang mit Bestandteil, der hieß Doppelkreuz. Und zwar waren wir in einem kirchlich-oppositionellen Kreis in der Bekenntniskirche in Berlin-Treptow. Dieser Kreis hieß: Frieden, Bewahrung der Schöpfung und Erhaltung der Menschenrechte. Sprecher 2. die umfassende Ausspionierung der Antragsteller einschließlich ihrer Beziehungen in den Westen. 36. O-Ton Haase 0.24 Und da haben wir uns organisiert als Ausreisegruppe 88. Und haben oppositionelle Arbeit in der Kirche gemacht, haben auf unsere Lebenssituation hingewiesen in thematischen Gottesdiensten. Und haben aufmerksam gemacht, wie die Rechtssicherheit ist aufgrund der Schlussakte von Helsinki. Wir hatten nämlich gar keine Rechtssicherheit. Wir haben Glück gehabt, wenn wir nicht ins Gefängnis gekommen sind. Sprecher 3. die Einflußnahme auf Institutionen, Organisationen und Betriebe, die mit Antragstellern konfrontiert waren. 37. O-Ton Haase 0.50 Wir sind immer montags um 18 Uhr in Fünferreihen, untergehakt, Unter den Linden bis zum Brandenburger Tor gelaufen und haben stummen Protest gemacht. Und da kamen LKWs von der Volkspolizei, und die haben uns an Armen und Beinen gegriffen, auf den LKW geworfen und uns zum Polizeipräsidium auf den Alexanderplatz gebracht. Es gab ja so eine Bestimmung im DDR-Strafgesetzbuch: Wenn man nichts verbrochen hatte, durften die einen nicht länger als 24 Stunden festhalten. Und darauf haben wir uns immer berufen und so war das dann auch. Wenn wir nichts gemacht haben, nichts unterschrieben haben, nichts gesagt haben, nur gesagt, dass wir einen Ausreiseantrag geschrieben haben, dann durften wir wieder raus. Sprecherin Erst 1989 darf Anna Haase die DDR verlassen. Ihre Erwerbsbiographie bleibt für immer gebrochen, sie hält sich bis zu ihrer Rente und weit darüber hinaus mit Jobs als Stadtführerin über Wasser. Eine berufliche Rehabilitierung hat sie inzwischen zwar bekommen, aber bis heute wird kein Ausgleich für die Jahre des Berufsverbots in der DDR gezahlt. Mit Hilfe der Beraterinnen von "Gegenwind" ist sie in Widerspruch gegangen. Für ihren Antrag auf Rehabilitierung als Zersetzungsopfer, also die Einmalzahlung von 1500 Euro, den sie 2023 stellte, hat sie bisher noch nicht einmal eine Eingangsbestätigung erhalten. 38. O-Ton Haase 0.08 Ich gehe solange Widerspruch, bis das bearbeitet ist - wenn ich das erlebe. Das werden wir nicht untern Teppich kehren! Musik Zitatorin Während der vielen Jahre beobachtet der Mann den Türhüter fast ununterbrochen. Er vergisst die andern Türhüter, und dieser erste scheint ihm das einzige Hindernis für den Eintritt in das Gesetz. Er verflucht den unglücklichen Zufall, in den ersten Jahren rücksichtslos und laut, später, als er alt wird, brummt er nur noch vor sich hin. 39. O-Ton Haase /Autorin 0.57 Wir haben viel riskiert, als Mut noch zur Wahrheit gehörte. Wir sind zu den Tagesthemen übergegangen, zur Tagesordnung. Und wir sind vergessen. Obwohl wir soviel gewagt haben, dafür, dass es heute so ist, wie es ist! Und das begreift heute keiner, der hier im Amt sitzt. Das ärgert mich sehr. Vor allem die medizinischen Gutachter. Ich habe ja so etwas nicht beantragt, medizinische Folgen. / Aber Sie wissen es von anderen? / Ja, wie die kämpfen. Und wenn sie diesen Kampf geschafft haben, dann werden sie sterbenskrank. Wir haben hier bei Gegenwind mindestens in den letzten Jahren 15 dieser Opfer begraben. Die so gekämpft haben und so verzweifelt waren. Das Schlimmste sind die medizinischen Gutachter, die es immer wieder ablehnen. Als wäre es aus ihrer eigenen Tasche! Musik Zitatorin Und da er in dem jahrelangen Studium des Türhüters auch die Flöhe in seinem Pelzkragen erkannt hat, bittet er auch die Flöhe, ihm zu helfen und den Türhüter umzustimmen. Schließlich wird sein Augenlicht schwach. Wohl aber erkennt er jetzt im Dunkel einen Glanz, der unverlöschlich aus der Türe des Gesetzes bricht. 40. O-Ton Haase 0.30 Ich habe mir viel Gedanken darüber gemacht. Über Aufarbeitung, Verarbeitung, Bearbeitung. Ich kann Ihnen sagen, als Ergebnis meiner Überlegungen ist herausgekommen, dass das nicht geht. Es sitzt wie Mehltau auf unserer Seele. Bei irgendwelchen Gedenktagen, bei irgendwelchen Anlässen, die auch manchmal unmittelbar damit gar nichts zu tun haben, ist es wieder da. Als wäre es gestern gewesen. Und wir werden es mitnehmen als unser Schicksal, als unsere Verletzung, ins Grab. Musik Zitatorin Nun lebt er nicht mehr lange. Vor seinem Tode sammeln sich in seinem Kopfe alle Erfahrungen der ganzen Zeit zu einer Frage, die er bisher an den Türhüter noch nicht gestellt hat. Er winkt ihm zu, da er seinen erstarrenden Körper nicht mehr aufrichten kann. 41. O-Ton Loukidis 0.05 Das ist schon wieder ein dicker Aktenordner, fünf Zentimeter! - klopft darauf - Der ist jetzt schon entstanden. Sprecherin In Schwerin beugen sich Wolfgang Loukidis und Karl Lotz ein weiteres Mal über die Akten. Neue Post vom Verwaltungsgericht Potsdam, die sogenannte Klageerwiderung. 42. O-Ton Loukidis 0.45 Ja. Wir wollen heute die Klageerwiderung vom Land Brandenburg mal durchsprechen. Und was einem sofort ins Auge fällt, dass hier am Anfang über fünf Seiten - fünf Seiten! - Ausführungen sind zu dem Sinn und der - sagen wir - inhaltlichen Ausgestaltung der Kulturpolitik auf dem Gebiet des Filmwesens. Und wenn dann sogar Zitate von Erich Honecker auftauchen, dann darf man schon grübeln. was das hier in dieser Stellungnahme, in dieser Klageerwiderung soll. Sprecherin Die beiden Schweriner können nur mutmaßen: Offenbar, so glauben sie, will das Gericht mit seinen Ausführungen zur Kulturpolitik der DDR auf die Staatsnähe und Parteitreue des DEFA-Filmbetriebs und damit aller seiner Mitarbeiter hinweisen. Geräuschakzent Sprecher Verwaltungsgericht Potsdam, Beschluss. Zersetzungsmaßnahmen gegen den Kläger wie systematische Diskreditierung des öffentlichen Rufes oder die systematische Organisierung beruflicher und gesellschaftlicher Misserfolge zur Untergrabung des Selbstvertrauens liegen nicht vor. Sprecherin Die Zeit des Sprechverbots, der Arbeit als Hilfskraft bei halbem Gehalt, der ständigen Herabsetzung seiner Arbeit durch Kollegen, die sich später als Stasi-Spitzel herausstellten, die tiefe Verunsicherung, die daraus folgte - dass Karl Lotz all das überstanden hat und am Ende nicht "zersetzt" war im Sinne der Stasi, das wird heute gegen ihn verwendet. Er hatte seinen Beruf nicht aufgegeben und keinen Ausreiseantrag gestellt. Die Filme, die er später machte, waren vor allem im Westen auf Festivals erfolgreich. Doch der "lange Arm der Stasi" holte den Regisseur noch nach der Wende ein: Gemeinsam mit seinem Freund und DEFA-Kollegen hatte er eine kleine Filmproduktion gegründet. Als Karl Lotz 1994 seine Stasi-Akte las, musste er erkennen, wer dieser Freund wirklich war: Sein Spitzel. Die Firma ging kaputt. 43. O-Ton Loukidis 0.18 Es ist letztendlich so, dass die Behörde davon ausgeht: Es hat ihm ja nicht geschadet. Es sind ja gar keine Veränderungen, Persönlichkeitsveränderungen eingetreten. Und dabei verkennen sie vollkommen den Inhalt des Gesetzes. Sprecherin Das SED-Unrechtsbereinigungsgesetz sagt: Es kommt auf die Zielrichtung der staatlichen Maßnahme an, nicht auf deren Erfolg. Das sieht auch Rechtsprofessor Johannes Weberling so. 44. O-Ton Weberling /Autorin 0.44 Diese Bestimmung stellt klar: Es ist kein Erfolgsdelikt. Er muss nicht den Erfolg beweisen, sondern er muss beweisen, dass bei ihm Zersetzungsmaßnahmen stattgefunden haben. Das ist bei dem Regisseur definitiv der Fall gewesen. Ob das dann geklappt hat oder nicht geklappt hat, wird hier nicht geprüft. Sondern die Tatsache, dass es diese Maßnahmen gab, die reicht aus. Da braucht man keine Gutachter für. / Eigentlich würde die Tatsache ausreichen, wenn jemand diesen Operativen Vorgang hat? - Ja, natürlich, selbstverständlich. Das reicht vollkommen aus. Musik Zitatorin Der Türhüter muss sich tief zu ihm hinunterneigen, denn der Größenunterschied hat sich sehr zuungunsten des Mannes verändert. "Was willst du denn jetzt noch wissen?" fragt der Türhüter. "Du bist unersättlich." Sprecherin In dem ablehnenden Bescheid benutzt der Gutachter Argumente aus den Akten der Staatssicherheit - und verkennt, dass auch die Genossen unter Erfolgszwang standen und sich selbst gern lobten. Durch ihre "gute operative Arbeit" sei es gelungen, dass der Regisseur Lotz keine "feindlich-negativen Aktivitäten" ausübe, hält der Stasi-Bericht fest. Das Potsdamer Gericht heute übernimmt diese Aussagen und begründet damit seine Ablehnung der Rehabilitierung. Doch "feindliche Aktivitäten" hatte Karl Lotz nie vorgehabt. Es war allein die Paranoia der Staatssicherheit, die ihm das unterstellte und ihn fünf Jahre lang von 16 Spitzeln bis in die Privatsphäre hinein verfolgen ließ und sein Schaffen massiv behinderte - als einen der wenigen künstlerischen Mitarbeiter der DEFA, die nicht Mitglied der SED waren. 45. O-Ton Lotz 0.40 Durch die hervorragende Arbeit der Staatssicherheit wurde ich ein schöner, sozialistischer Regisseur! Dass man das benutzt, um zu sagen, es ist alles Friede, Freude, Eierkuchen und ich bin ja ein guter Sozialist gewesen - dass die das einfach benutzen! Das heißt ja, man findet das gut, was die Stasi da schreibt. Weil man es benutzen kann für - ich weiß ja nicht, warum sie das nicht wollen. Ist ja lächerlich, 1500 Euro für so ein - nicht beschädigtes Leben, aber für ein gebremstes Leben. Ich verstehe nicht, warum die das machen. Sprecherin Karl Lotz wollte Filme machen, die nicht auf der Parteilinie lagen. Das machte ihn zum Zielobjekt der Stasi. Evelyn Zupke, die Bundesbeauftragte für die Opfer der SED-Diktatur, weiß von vielen Fällen, bei denen Gerichte und Behörden die Akten von damals heute gegen die Betroffenen einsetzen, wenn diese Anträge auf Rehabilitierung und Entschädigung stellen. 46. O-Ton Zupke 0.22 Wenn man Entscheidungen in der Demokratie auf den Akten einer Diktatur basiert, dann ist irgend etwas falsch. Es sind ja ganz oft die Menschen, die ja auch für Freiheit, Selbstbestimmung, Meinungsfreiheit gekämpft haben. Ohne diesen Mut würden wir heute nicht hier sitzen und darüber reden. 47. O-Ton Lotz 0.12 Dass ich es geschafft habe, mich nicht brechen zu lassen, das wird jetzt gegen mich gestellt. Das ist doch eine Unverschämtheit des heutigen Gerichtes! 48. O-Ton Loukidis / Lotz 1.17 Das soll eine Behörde sein, die den Opfer helfen soll zu ihrer Rehabilitierung? Aber wenn ich das hier lese, heißt das doch: Das ist der größte Bremsklotz, der verhindern soll, dass die Rehabilitierung erfolgt. Und deshalb ist es meine Meinung und meine Erfahrung, dass bei diesen langwierigen und langjährigen Prozessen die Opfer wieder Opfer werden. Und dass sie auf der Strecke bleiben. Entweder gesundheitlich - ich habe mehrere Mandanten, die sagen, wir machen nicht mehr weiter. / Na ja, klar, ich konnte heute nacht nicht schlafen, weil ich diesen Mist wieder vor mir hatte. Sprecherin Eine Revision gegen den Gerichtsbeschluss ist für die Zersetzungsopfer nicht vorgesehen. Man muss sie mit großem Aufwand beim Bundesverwaltungsgericht beantragen. Wolfgang Loukidis in Schwerin will das nun ebenso tun wie Johannes Weberling in Berlin. Damit wollen die beiden Juristen erreichen, dass es künftig auch für andere Betroffene von SED-Unrecht endlich leichter wird, zu ihrem Recht zu kommen. 49. O-Ton Lotz 0.10 Das muss ich wirklich sagen: Dass so ein Anwalt für Null Pfennig sich dafür einsetzt und kämpft und seine Zeit opfert, das ist schon toll, dass es solche Leute gibt. Zitatorin "Alle streben doch nach dem Gesetz" , sagt der Mann, "wieso kommt es, daß in den vielen Jahren niemand außer mir Einlass verlangt hat?" Der Türhüter erkennt, daß der Mann schon an seinem Ende ist, und um sein vergehendes Gehör noch zu erreichen, brüllt er ihn an: "Hier konnte niemand sonst Einlass erhalten, denn dieser Eingang war nur für dich bestimmt. Ich gehe jetzt und schließe ihn." 50. O-Ton Lotz 0.04 Ich habe ihm gesagt: Vorwärts, wir machen weiter! evt. Punkmusik vom Anfang Wutanfall!... Sprecher Zersetzung 2.0. Opfer von DDR-Unrecht werden zweimal bestraft. Feature von Alexa Hennings mit Ausschnitten aus der Erzählung " Vor dem Gesetz" von Franz Kafka Es sprachen: Nicole Kersten, Daniel Berger und Justine Hauer Ton und Technik Lukas Fehling und Rafaela Gräff Regie Claudia Kattanek Redaktion Wolfgang Schiller Eine Produktion des Deutschlandfunks 2024 2