Hörspiel Feature Radiokunst Das Feature Strafkolonie der Frauen Politische Gefangene in Belarus erzählen Autorin: Inga Lizengevi? Regie: Inga Lizengevic Redaktion: Wolfgang Schiller Produktion: Deutschlandfunk 2024 Erstsendung: Dienstag, 06.08.2024, 19.15 Uhr Es sprachen: Zeynep Bozbay, Maike Jüttendonk, Franziska Krol, Inka Löwendorf, Ilka Teichmüller und die Autorin Ton und Technik: Jean Szymczak, Tobias Wojahn Langfassung Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. (c) - unkorrigiertes Exemplar - Musik O-Ton 3 Sprecherin 1 O-Ton Anastasia Bulybenka Ich erinnere mich, wie wir manchmal in der Strafkolonie marschierten und ich mir vorstellte, dass ein Helikopter mitten auf dem Platz vor der Kantine landet und uns alle abholt. Ich dachte mir, warum kommt er nicht? Warum werden wir nicht von irgendwelchen Friedenstruppen der Vereinten Nationen befreit? Man ist da, und stumm schreit man: "Wieso bin ich hier? Warum werden wir nicht abgeholt? Und wenn man rauskommt denkt man, wie kann ich die Anderen rausholen? Das tut weh. Musik Ansage Sprecherin 5 Strafkolonie der Frauen. Politische Gefangene in Belarus erzählen Ein Feature von Inga Lizengevi? Musik Performance mit Maria Kalesnikava Autorin: Theaterhaus Stuttgart, Juli 2019. Die Performance "NoVoice NoBody" mit der belarussische Musikerin und Kulturmanagerin Maria Kalesnikava. Maria Kalesnikava: Irgendwie entsteht immer eine Wahl. Autorin: Sie spricht, projiziert auf eine Leinwand. Maria Kalesnikava: ... weil frei zu sein ist immer schwieriger, als alles akzeptieren, was da ist. Für mich ist es der einzige Weg zu existieren. Musik Performance mit Maria Kalesnikava Autorin Ein Jahr später im Sommer 2020 wird sie international bekannt, als sie gemeinsam mit Sviatlana Tsikhanouskaya und Veranika Tsepkala Langzeitmachthaber Aliaksandr Lukashenka bei der Präsidentschaftswahl herausfordert. Musik Performance mit Maria Kalesnikava Autorin: Auf weiteren Leinwänden erscheinen Aufnahmen von Straßenprotesten in Minsk aus dem Jahr 2010. Davor die echte Maria, mit ihrer Flöte, ganz in schwarz. Sie wird von einer Menschengruppe eingekreist. Sie nehmen ihr die Flöte ab, halten ihr den Mund zu. Die Szene wirkt im Nachhinein prophetisch. Gut ein Jahr später wird Maria in Minsk mitten auf der Straße von KGB-Mitarbeitern umzingelt und in einen Minibus gezerrt... Musik O-Ton 4 Sprecherin 1 Anastasia Bulybenka Ich wache also auf, weil ich von sechs Männern geweckt werde. Sie tragen keine Uniformen. Ich öffne die Augen, weil geschrien, gerüttelt und an meiner Decke gezogen wird. Ich öffne die Augen und sehe diese Männer. Autorin: Anastasia Bulybenka ist grade 19 geworden, als sie am 12. November 2020 in Minsk verhaftet wird. O-Ton 4a Sprecherin 1 Dass es sechs sind, habe ich erst später gemerkt. Ein Haufen Männer, beängstigend. In den ersten Sekunden weiß ich nicht weiter. Ich habe nur ein Höschen an, so schlafe ich nun einmal. Ich glaube, in der ersten Sekunde dachte mein Gehirn an etwas ganz anderes. Sie zogen an meiner Decke, sie zogen an der Decke. Sie wollten mein Telefon, doch das lag in der Küche. Musik O-Ton 5 Sprecherin 5 Maria Kalenik: Ich wurde vom Dekanat angerufen, ich müsse dringend vorbeikommen. Autorin: Maria Kalenik. O-Ton 5a Sprecherin 5 Maria Kalenik: Der Grund wurde mir nicht genannt. Ich habe gespürt, dass etwas nicht stimmt, denn die Stimme wirkte sehr nervös. Ich dachte, sie wollen mir die Exmatrikulation androhen. Oder ein "prophylaktisches Gespräch" führen. Als ich rausging, kamen sie direkt auf mich zu. Der eine zeigte mir den Dienstausweis. Sie sagten, wir sind vom KGB. Maria, Sie sind eine Verdächtige. Hier ist der Paragraph. Kommen sie mit, wir werden jetzt die Wohnung durchsuchen. Geben sie mir bitte ihr Handy. Musik O-Ton 6 Sprecherin 3 Alana Gebremariam: Wir sind wach geworden, als an unsere Tür geschlagen wurde, so gegen 8 Uhr in der Früh. Autorin: Alana Gebremariam. O-Ton 6 Sprecherin 3 Alana Gebremariam: Ich wäre nicht aufgestanden, aber mein Freund ist hin, um nachzuschauen. Ich: Was ist los? Er: Sie sind da. Ich: Wer? Er versucht, schnell aufzuräumen... Ich schaffe es gerade noch, eine Hose und ein Oberteil anzuziehen. Da haben sie schon die Tür eingeschlagen. Musik O-Ton 7 Sprecherin 1 Anastasia Bulybenka Ich hatte diese Decke in der Hand, und sie haben es nicht verstanden, bis sie meine nackten Brüste gesehen haben. Dann haben sie aufgehört. Später haben sie mir was zum Anziehen gegeben. Diese ersten zwei oder drei Sekunden habe ich immer wieder im Kopf durchgespielt. Ich hatte immer das gleiche Gefühl, wie wenn alles in dir drin zusammengedrückt wird. Mama war nicht zu Hause. Ich habe überlegt, wie ich ihr ein Zeichen geben könnte. Das ging natürlich nicht. Das Telefon wurde abgeschaltet, anschließend begann die Hausdurchsuchung. Sie meinten, es gehe um Paragraph 342-1, Organisation von Handlungen, die die öffentliche Ordnung grob verletzen. Es ist mir ein Rätsel, wie sie in die Wohnung gekommen sind ohne die Tür aufzubrechen. Musik Autorin: Anastasia Bulybenka wird zusammen mit zehn anderen Studierenden und einer Dozentin verhaftet. Der 12. November 2020 wird im Volksmund als schwarzer Donnerstag bezeichnet. Die damals Festgenommenen gehören zur Protestbewegung gegen die gefälschte Präsidentschaftswahl. Ihnen wird die Organisation der Studierendenproteste vorgeworfen. Zum Zeitpunkt der Festnahme ist die Spitze der Opposition bereits außer Landes oder im Gefängnis, so wie Maria Kalesnikava. In einem Brief berichtet sie über ihre Festnahme. Musik Sprechrin 2 Maria Kalesnikava Vor genau drei Wochen wurde ich im Stadtzentrum von Minsk entführt. (...) Um die Macht der einen Person zu bewahren, geschehen im Zentrum Europas Entführungen, Prügeleien und Morde an denen, die nicht einverstanden sind. Diese Verbrechen geschehen immer anonym und bleiben immer ungestraft. Aber hinter ihnen stehen immer konkrete Menschen aus konkreten Strukturen in konkreten Positionen. Dieses Mal werden ihre Namen bekannt werden. Nach meiner Entführung wurde ich gewaltsam in das Büro von (Innenminister) Karpenkov gezwungen. Er hat geschrien, mich beleidigt und mir gedroht. In seinem Büro fand auch ein "Gespräch" mit zwei anderen Herren (Kazavevich und Pavluchenka) statt. Ihr könnt sie oft auf den Seiten der offiziellen Medien sehen. Sie haben mir ein Ultimatum gestellt: Entweder ich verlasse das Land und mache im Ausland was auch immer, oder ich werde rausgebracht. Lebendig oder zerstückelt. Mir würden die Finger gebrochen. Ich würde für 25 Jahre in den Knast gesperrt, wo ich Hemden für Sicherheitskräfte nähen würde. Musik Autorin: Maria Kalesnikava wird von KGB-Leuten verschleppt und zur ukrainischen Grenze gebracht, lässt sich aber nicht aus dem Land werfen. Stattdessen wird sie zu elf Jahren Strafkolonie verurteilt. In der Strafkolonie wird sie Uniformen für die Sicherheitskräfte nähen. So wie viele andere, die auf ein Ende der Diktatur Lukaschenkas gehofft hatten. Musik O-Ton 9 Sprecherin 1 Anastasia Bulybenka: Ich landete mit zwei gleichaltrigen Studentinnen in einer Zelle. Das KGB-Gefängnis ist rund - daher wird es "Amerikanka" genannt. Die Zellen sind wie Pizzastücke geformt. Unsere Zelle war sehr dreckig. Es gab keine Toilette, nur einen Plastikeimer. Ich denke, das ist Teil des psychologischen Drucks. Zweimal am Tag durfte man den Eimer rausbringen und waschen. Dieser Eimer direkt neben der Futterluke... Und alle 15 Minuten wird durch das Loch in der Tür geschaut. Im KGB-Gefängnis sind die Regeln streng. Die Mitarbeiter rauchen nicht und sprechen auf den Fluren nicht miteinander, sondern pfeifen sich Chiffren zu. Die Atmosphäre ist ein bisschen, wie in einem amerikanischen Film. Musik Autorin: Die Studierenden bleiben fünf Tage beim KGB. Dann werden sie in das U-Haft-Gefängnis in der Valadarskaha-Straße verlegt. O-Ton 10 Sprecherin 1 Anastasia Bulybenka Im Valadarskaha-Gefängnis sieht es eher aus wie in einem Gefängnis in einem billigen russischen Fernsehfilm. Ich komme herein: Es ist völlig verraucht, an den Wänden ein paar Ikonen. Alle Augen sind auf mich gerichtet. Kaum fällt die Tür zu, stürzen alle auf mich los. "Wann wurdest du festgenommen? Was gibt es Neues? Was ist da draußen los?" Ich bin wie gelähmt. Ich habe unsere Geschichte erzählt... Es wurde auch gleich nach Kalesnikava gefragt, ob man weiß, wo sie steckt. Als ich in die Zelle gebracht werde, ist das Licht bereits aus. Auf einer Pritsche sehe ich ein Mädchen mit einem sehr dicken Buch. Sie hat nur noch ein paar Seiten übrig. Ich: Wie lange sitzt du schon? Sie: Sieben Monate. Mein Herz ist fast stehen geblieben. Was für ein Horror! Wie kann man es hier sieben Monate aushalten? Ich bin schockiert. Autorin: Tatsächlich verbringen die Studierenden zwölf Monate in Untersuchungs-Haft, neun davon in der Valadarskaha-Straße. Musik Autorin Maria Kalesnikava befindet sich zu der Zeit in einem anderen Minsker Gefängnis. Sie schreibt: Sprecherin 2 Maria Kalesnikava: Mir geht es gut. Ich stelle Fitnessrekorde auf. 30 Minuten Laufen an der frischen Luft. Jeden Tag. 130 mal Bankdrücken, einmal 70, einmal 60. Damit das klar ist: Vor drei Monaten bin ich fünf Minuten gelaufen, und habe zehn Liegestütze geschafft, das war's. Musik O-Ton 12 Sprecherin 1 Anastasia Bulybenka: Nach fünf Monaten hatte ich das erste Mal Besuch. 45 Minuten mit meiner Mutter. Die Zeit verging wie im Flug. Hinter der Scheibe - das war schwer. Die U-Haft war endlos. Ein Jahr U-Haft. Im Frühjahr dann bekamen wir Akteneinsicht und ich habe die Mitbeschuldigten kennengelernt, auch meinen jetzigen Freund und die anderen. Es war wie ein Jugendtreff. Wir haben die Akten durchgeschaut und gequatscht. Harmloses Zeug. Von wegen, "schaut mal, wie gut ich auf diesem Foto aussehe". Unsere Chats, voll kindisch. Wie wir uns zu den Demos verabreden. Was hat das mit Verbrechen zu tun? Musik Autorin: Im Mai 2021 kommt es zur Anklage gegen die Studierenden. Der Vorwurf: "Aktive Teilnahme an Gruppenhandlungen, die die öffentliche Ordnung grob verletzen". Es ist ein Schauprozess. Die meisten anderen Prozesse gegen die Opposition werden später unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden. O-Ton 13 Sprecherin 1 Anastasia Bulybenka Die Gerichtstermine sind anstrengend. Physisch und emotional. Wir hatten 26 Sitzungen. Es ging um 6 Uhr los. Ausziehen und in die Hocke. Wir werden nackt durchsucht. Gewöhnliche Angeklagte werden das nicht, nicht mal Mörderinnen. Die Kindsmörderin in meiner Zelle musste sich kein einziges Mal vor Gericht ausziehen. Das wurde gemacht, um uns zu demütigen. Die Mädchen mussten auch ihre Slipeinlagen rausnehmen, während der Menstruation. Das war einfach nur Schikane. In den Pausen mussten wir in den sogenannten "Bechern" warten. Das sind so Abstellkammern, ein mal ein Meter groß. Zum Gericht und zurück ging es in Handschellen auf dem Rücken. Musik Autorin: Vor Gericht versammeln als Zeugen hauptsächlich Vertreter der Universitäten. O-Ton 14 Sprecherin 1 Anastasia Bulybenka Mein Dekan kam herein. Er wollte mir nicht in die Augen schauen. Er sagte, er könne mich in keiner Weise beurteilen. Ich bin aufgestanden: "Ich habe eine Danksagung von ihnen, an meine Mutter gerichtet, für die gute Erziehung der Tochter. Wie kann es sein, dass sie nichts über mich sagen können, wo sie das unterschrieben haben?" Autorin: Vor dem Gerichtsgebäude erscheinen Mitstudierende, die den Prozess beobachten wollen. Sie werden jedoch nicht ins Gebäude gelassen, sondern festgenommen. Drinnen werden die Zeugenaussagen der Uni-Mitarbeiter verlesen. O-Ton 14a Sprecherin 1 Anastasia Bulybenka Alle von den KGB-Offizieren aufgenommenen Zeugenaussagen waren wie aus dem Kopierer: Wortwörtlich gleich. Als unsere Anwälte danach fragten, konnte niemand etwas dazu sagen, weil es im KGB-Verhör so läuft: egal was du sagst, sie geben dir am Ende ein ausgedrucktes Blatt, scheinbar deine Aussage, aber anders formuliert. Und das unterschreibst du. Fast alle (...) Zeugen haben unterschrieben. Vor Gericht wollten sie dann ihre Aussagen zurückziehen. In den Aussagen stand, dass die Studierenden die öffentliche Ordnung grob verletzt haben. Auf die Nachfrage der Anwälte, was mit "grob" gemeint sei, konnte niemand antworten. Die Richterin daraufhin: "Wissen Sie, dass es strafbar ist, einen Meineid zu leisten?" Danach bestätigten die Zeugen ihre ursprünglichen Aussagen wieder. Musik Autorin: Nach 26 Verhandlungstagen fällt das Urteil: Einer ist geständig und kommt mit zwei Jahren davon, alle anderen werden zu je zweieinhalb Jahren Haft verurteilt - zweieinhalb Jahre Strafkolonie. O-Ton 15 Sprecherin 1 Anastasia Bulybenka: An gewöhnlichen Verhandlungstagen wurden uns im Käfig die Handschellen abgenommen, aber zur Urteilsverkündung mussten wir mit Handschellen auf dem Rücken aufstehen. Trotzdem habe ich meiner Mutter am Ende noch ein Victory gezeigt. Ich habe dafür die Arme verdreht, so gut es ging. Die blauen Flecken waren später noch eine Weile da, aber ich habe das Victory-Zeichen gemacht, weil ich es wirklich wollte. Außerdem haben wir alle zusammen so eine kleine Performance gemacht. Nach dem Urteilsspruch haben wir alle mit den Handschellen gerasselt. Zuletzt habe ich meiner Mutter noch zugerufen, dass ich sie liebe. Sie meinte später, dass sei nicht meine Stimme gewesen, sondern so ein tierisches Gebrüll. Musik Autorin: Da ein Jahr U-Haft wie eineinhalb Jahre Strafkolonie zählt, hat Anastasia noch eine Reststrafe von einem Jahr. Ende November 2021 wird sie in die Strafkolonie verlegt. O-Ton 16 Sprecherin 1 Anastasia Bulybenka: Zuerst war ich euphorisch, völlig ohne Grund. Meine ersten Briefe klangen, als sei ich frei gekommen... Die Blumen, die Vögel, der Himmel, von der Größe des Himmels wurde mir schwindlig. Die Sterne am ersten Abend. Im Untersuchungs-Gefängnis mussten die Hände beim Gehen immer hinter dem Rücken bleiben. Das ganze Jahr lang musste man mit Händen auf dem Rücken gehen, und mit dem Gesicht zur Wand stehen. Dort habe ich mir das schnell abgewöhnt. Autorin: Trotzdem herrschen strenge Regeln. Wer dagegen verstößt, kommt in Einzelhaft oder für alle sichtbar in einen Käfig. Maria Kalenik - auch sie ist eine der verurteilten Studierenden. O-Ton 17 Sprecherin 5 Maria Kalenik: Es gibt diesen Käfig. Für den Fall eines Vergehens, für die Zeit, bis entschieden ist was mit der Person passiert. Bis zur Klärung - wie sie es nennen. Eine Person kann für eine, zwei, drei Stunden in den Käfig gesteckt werden. Es ist ein Käfig, 1,5 mal 1,5 Meter. Da drin steht ein Mensch. Der Käfig steht draußen. Er wird im Sommer und im Winter eingesetzt. Egal ob es regnet oder schneit. Das gilt als Erziehungsmaßnahme. Musik Autorin: Welche "Erziehungsmaßnahme" zum Einsatz kommt, hängt von den Vollzugsbeamten ab. Die Insassinnen sind deren Willkür ausgeliefert. O-Ton 18 Sprecherin 1 Anastasia Bulybenka: Eine Insassin nimmt Brot aus der Kantine mit. Es wird wohl gemeldet. Es gibt eine Durchsuchung, das Brot wird gefunden. Der junge Vollzugsbeamte lässt die ganze Einheit, 90 Personen, draußen in der prallen Sonne stehen und bringt ihr einen Laib Brot. Ohne Wasser. Er befiehlt ihr, zu essen. Alle müssen dastehen, bis sie komplett aufgegessen hat. Wir anderen 90 müssen dastehen und zusehen, wie sie sich mit diesem Laib Brot quält. O-Ton 19 Sprecherin 5 Volha Filatchenkava: Wenn eine etwas verbotenes getan hat, muss die ganze Einheit darunter leiden. Damit die Einheit dann Druck auf die jeweilige Person ausübt. Autorin: Volha Filatschenkava, die verurteilte Dozentin im Studierendenfall: O-Ton 19a Sprecherin 5 Volha Filatchenkava: Man muss zum Beispiel um einige Gebäudeblocks herumlaufen. Man läuft und läuft und läuft... bei einem schwerwiegenderen Vergehen, muss man dabei noch den Karton mit seinem Hab und Gut tragen... Jede nimmt ihren Karton, und los geht's... solange sie wollen...bis alle umerzogen sind... Autorin: Ein falsch geknöpfter Knopf, ein falsch getragener Schal, die Haare zum falschen Zeitpunkt gewaschen: Das System wirkt. Ernsthafte Regelverletzungen bleiben aus. Musik O-Ton 20 Sprecherin 1 Anastasia Bulybenka: Abgesehen von der Euphorie und der Quarantäne in den ersten zwei Wochen herrscht ein straffer Lebensrhythmus. Und man wird dazu gedrängt, das was einem vorgeworfen wurde doch noch zu gestehen und ein Gnadengesuch zu stellen. Mir wurde immer wieder mit Haftverlängerung gedroht, wenn ich nicht gestehen würde. Andere Mädels haben angefangen, Schuldeingeständnisse abzugeben. Es war schwer. Sie haben mir weisgemacht, jeder, der ein Gnadengesuch schreibt, kommt raus. Wer nicht, eben nicht. Dann hatte ich einen kurzen Besuch von meiner Mutter. Ich habe gesagt, Mama schau, alle kommen raus, nur ich bleibe hier. Alle schreiben Geständnisse, aber ich will das nicht. Musik Autorin: In der Strafkolonie wird gearbeitet: Zweischichtbetrieb in der Näherei, sechs Tage die Woche. O-Ton 22 Sprecherin 1 Anastasia Bulybenka: Wir haben gelbe Namensschilder bekommen. Autorin: Gelb bedeutet "politische Gefangene" - offizielle Bezeichnung: "Neigung zu extremistischer Tätigkeit. O-Ton 23 Sprecherin 1 Anastasia Bulybenka: Das bringt viele Einschränkungen mit sich. Du stehst dann immer in der ersten Reihe, unterwegs zur Kantine oder zur Arbeit. Die Gelben stehen immer vorne. Die Gelben haben täglich zwei zusätzliche Kontrollen. Es gibt zwei reguläre Kontrollen und zwei zusätzliche. Die Politischen sollen untereinander keinen Umgang haben. Ich wurde aus meiner Einheit versetzt, weil ich mich mit einer anderen Politischen unterhalten habe. Wie hätte ich denn nicht mit ihr reden sollen? Wir sind gleich alt, natürlich haben wir zusammen Tee getrunken. Deshalb wurde ich versetzt. In der zweiten Einheit wurden die gewöhnlichen Verurteilten drangsaliert, wenn ich mich mit ihnen unterhalten habe. Sie bekamen dann ihre Briefe nicht ausgehändigt. Anfangs gab es in der Einheit keine anderen "Gelben". Ich war völlig allein. Kalesnikava war in der gleichen Situation: isoliert. Musik Autorin: Als Maria Kalesnikava im Januar 2022 in die Strafkolonie kommt, befindet sich Anastasia bereits eine Weile hier. Wie alle Politischen trägt auch Kalesnikava das gelbe Zeichen und hat viele Einschränkungen. Sie wird im gleichen Gebäude einquartiert wie Anastasia, jedoch in einer anderen Einheit. O-Ton 24 Sprecherin 1 Anastasia Bulybenka: Ich kann mich erinnern, wie sie angekommen ist. Ich habe gesehen, wie sie an diesem ersten Tag zur Fabrik gegangen ist. Als "Gelbe" ging sie vorne. Sie lief so, wie ich sie bei den Demos am Anfang der Kolonne erlebt habe. Die gleiche Energie, der gleiche aufrechte Kopf, ein Lächeln auf den Lippen. Sie lächelte immer, wenn sie zur Fabrik ging. Das hat mich beeindruckt, von innen erwärmt! Später hat sie angefangen, im Hofabschnitt der Einheit Sport zu treiben. Die anderen Mädels haben sich ihr angeschlossen. Sie trägt dieses Licht in sich. Egal, an welchem finsteren schrecklichen Ort sie sich befindet. Sie hat dieses Licht mitgebracht. Musik O-Ton 25 Sprecherin 3 Alana Gebremariam: Wir haben in der gleichen Schicht gearbeitet. Sie näherte sich einen Schritt und nickte mir zu, während sie eine andere ansprach. Wie zufällig. Ich glaube, ihr wurde klar gemacht, wenn du mit Politischen Umgang pflegst, dich unterhältst, werden es die anderen büßen. Also hat sie durch ihr Aussehen und ihre Haltung emotionale Signale ausgesendet, aber nicht gesprochen. Doch über manche Nichtpolitische, die sie mochten, hat sie Grüße an andere geschickt. Mir hat sie über eine mit mir befreundete Nichtpolitische Grüße gesandt, als die an ihr vorbeilief. Da konnte sie ihr etwas zuflüstern. Musik Autorin: Maria Kalesnikava schreibt in einem Brief an ihre Schwester Tatsiana: O-Ton 26 Sprecherin 2 Maria Kalesnikava 05.Februar 2022 Hallo, meine liebe allerbeste Schwester auf der Welt. Wie geht es dir? Welche Neuigkeiten gibt es bei dir und den anderen? Bei mir ist alles in Ordnung, aber ich bin krank geworden. Eine starke Erkältung. Heut bin ich wach geworden und konnte nicht sprechen. Jetzt spreche ich im Bass. Das ist passiert, als wir am Badetag direkt nach der Banja den Schnee vom Gelände räumen mussten. Das Problem ist, dass mir am Tag meiner Anreise mein Schal weggenommen wurde, weil er nur auf einer Seite schwarz und auf der anderen dunkelviolett war. Es ist aber nur schwarzes Tuch erlaubt. Und mir kein neuer Schal ausgegeben wurde - trotz der ständigen Minusgrade, dem Wind und dem Wetter. Morgens um 7:00 und um 16:00 Uhr stehen wir 20 bis 25 Minuten bei der Kontrolle. Ich zusätzlich noch um 10:00 und um 20:00 Uhr. Immer ohne Schal. Stell dir vor. Ich habe einen Antrag gestellt. Ich sage allen Mitarbeitern bei jeder Gelegenheit, dass ich ein Tuch brauche - Zero Reaction. Deswegen bin ich krank, wie auch andere aus der Einheit. Musik Autorin: Alana Gebremariam, auch eine verurteilte Studierende: O-Ton 27 Sprecherin 3 Alana Gebremariam: Maria trug ihren roten Lippenstift und die Vollzugsbeamten bemängelten den "Kalesnikava-Kult", wenn sie so einen Lippenstift bei anderen sahen. Mal dir doch die Lippen grün an, was soll dieses Rot. O-Ton 28 Sprecherin 1 Anastasia Bulybenka Es war schwierig, etwas über Maria zu erfahren. Als sie reinkam, wurden die anderen Politischen aus ihrer Einheit verlegt. Sie blieb als Einzige. Ich habe sie öfter gesehen als andere, weil sich unsere Einheiten auf dem gleichen Hofabschnitt befanden. Sie hat immer gelächelt. Sie hat immer diese Minisignale ausgesendet, sie hat gelächelt. Ich konnte nur einmal kurz mit ihr sprechen. Es gab ein Unwetter in Homel, das Dach ist kaputt gegangen. Für die Zeit der Instandsetzung wurden wir in ihr Gebäude verlegt. So standen wir dann während einer Kontrolle in der gleichen Reihe. Alle wussten, dass man mit ihr nicht sprechen darf. Aber wir standen nah beieinander. Sie hat gesagt, dass sie nicht in den Sportraum darf. Ich habe gesagt, ich auch nicht. Das war unser ganzes Gespräch. Einmal hat sie guten Morgen gesagt, ich ebenso. Ich habe nicht riskiert, mehr mit ihr zu sprechen. Das wäre gefährlich für sie gewesen - für mich auch. Wahrscheinlich hätten sie mich in die Strafzelle gesteckt. Das Übliche. Damit man sich schuldig fühlt. Musik Irgendwie hatte ich ja doch Glück. Zumindest weil ich nicht in die Strafzelle musste. Während ich saß, dachte ich immer noch, wir werden bald freikommen. Ich dachte, wir werden bald gewinnen und alles wird gut. Alles wird sich bald klären. Als Joe Biden im April 2021 die Sanktionen verhängt hat, das war noch vor unserer Gerichtsverhandlung, da war ich überzeugt, dass wir alle bald nach Hause können. Als ich das in der Zeitung gelesen habe, war ich kurz davor, meine Sachen zu packen. Ich habe erst ganz am Ende der Haft begriffen, dass ich die ganze Zeit absitzen werde. Es ging auch um die Amnestie, auf die wir alle hofften. Im März wurden vier Frauen freigelassen - ich kann mich an diesen Abend erinnern. Ich habe Gänsehaut bekommen... wir alle sind mit dem Gedanken durch die Gegend gerannt, so jetzt, jeden Abend je vier, wir werden alle nach und nach rausgelassen... In der Strafkolonie hoffst du immer auf ein Wunder. Musik Autorin: Maria Kalesnikava schreibt derweil einen Brief nach dem anderen. Musik O-Ton 30 Sprecherin 2 Maria Kalesnikava Bei mir ist alles in Ordnung. Weißt du, ich denke ständig darüber nach, wie schnell die Zeit vergeht. Ich bin hier an diesem "seltsamen" Ort der gebrochenen Realität bereits seit fünf Monaten. Fast. Das ist unglaublich. Es fühlt sich an, wie ein paar Wochen. Ich schreibe an Freunde - nahe und entfernte - nach wie vor wöchentlich. Diesen Monat sind es mehr als 130 Briefe. Ich hoffe sehr, dass zumindest irgendjemand - außer Papa und dir - meine Briefe erhält. Musik Autorin: Tatsächlich kommen nur wenige Briefe an. Musik Autorin: Inzwischen erscheinen immer mehr politische Gefangene in der Strafkolonie. O-Ton 31 Sprecherin 1 Anastasia Bulybenka Es gab eine Entwicklung. Wir waren bereits über ein Jahr in Haft, als Frauen dazu kamen, die wegen Kommentaren in sozialen Netzwerken verurteilt wurden. Das kam uns unglaublich vor. Sogar uns, die selbst unrechtmäßig verurteilt waren. Zuerst dachte ich, sie würden uns nicht alles erzählen, sie hätten vielleicht doch an Protesten teilgenommen oder wären als Organisatorinnen im Chat aktiv gewesen... Später haben wir begriffen, dass sie wirklich nur für Kommentare in sozialen Netzwerken saßen. Autorin Im Januar 2021 wird die Kulturmangerin und Filmemacherin Mia Mitkevich verhaftet. Ihr Vergehen: in drei emotionalen Posts in einem sozialen Netzwerk bringt sie ihr Entsetzen über die brutalen Methoden der Sicherheitsorgane zum Ausdruck. Das Urteil: 3 Jahre Strafkolonie wegen "Aufstachelung zu Hass oder Zwietracht". Mia Mitkevich: O-Ton 32 Sprecherin 5 Mia Mitkevich: Mich haben sie vier Monate lang gedrängt, ein Gnadengesuch zu schreiben. Ich musste täglich die ganze Einheit putzen. Irgendwo her gab es Beschwerden über mich. Deshalb musste ich putzen. Das hat immer zwei bis drei Stunden gedauert. Dann die Fernsehzeit - in der Einheit Nr. 9 müssen immer alle dabei sein. Dann Mittagessen, Arbeit in der Fabrik, Putzen. Später, kaum eingeschlafen, werde ich im Bett mit kaltem Wasser übergossen. Oder ich will ins Bett und finde eine benutzte Hygieneeinlage unter der Decke. Ich muss die Bettwäsche waschen. Morgens wache ich auf, meine Stiefel sind voll mit Wasser... und so weiter... Das geschieht auf Anweisung der Vollzugsbeamten. Musik Autorin: Ende Mai schreibt Maria Kalesnikava: O-Ton 33 Sprecherin 2 Maria Kalesnikava 29 Mai 2022 Neulich wurde ich gefragt, ob ich Belarus liebe und warum. Kannst du dir das vorstellen? Ich bin in Schockstarre verfallen, denn ich habe nie darüber nachgedacht, warum und wofür ich Belarus liebe. Das Erste, was mir in den Kopf kam: "Natürlich, sonst wäre ich nicht hier". Aber ich habe über diese Frage den ganzen Tag nachgedacht. Das ist doch so eine einfache Frage! Keiner fragt, ob man Mutter oder Vater liebt. Man liebt sie, weil es sie gibt. Ohne sie wären wir nicht da. Unsere Nächsten, die auf unserem Weg bei uns sind. Belarus liebe ich, weil ich es liebe. Anders kann es nicht sein. Ich vermisse dich sehr und drücke dich ganz doll. Alles wird gut. Ich bin immer bei dir. Ganz nah. Deine Schwester. Autorin: Im September 2022 schreibt sie wieder an ihre Schwester: O-Ton 34 Sprecherin 2 Maria Kalesnikava Die ganze Zeit versuchen diese seltsamen traurigen Menschen ohne Erfolg, mich davon zu überzeugen, dass sich keiner an mich erinnert. Alle hätten mich vergessen. Wenn ich dann freikommen sollte, werde überhaupt niemand der mir wichtig ist, übrig sein. Ich widerspreche nicht. Ich lächele. Ich möchte, dass Ihr, Du, Papa und alle immer lächelt, wenn Ihr an mich denkt. So wie ich täglich lächle. Denn ich weiß, dass die Liebe stärker ist, als die Angst. Die Liebe, das Gute und das Leben an sich werden gewinnen. Ihr sollt alle immer umarmen, auch für mich. Ich liebe euch alle. Das Gute wird sein. Deine Schwester. Autorin: Das Leben in der Strafkolonie wird für Maria Kalesnikava immer schwieriger. Alana Gebremariam: O-Ton 35 Sprecherin 3 Alana Gebremariam: Einmal sind wir uns im Verwaltungsgebäude begegnet. Ich habe Post abgeholt, und sie stand Schlange um einen Vollzugsbeamten zu sprechen. Ich habe mitbekommen, wie sie gestritten haben, sehr heftig. Die Verwaltung hat nach Regelverletzungen gesucht. Es ging wohl damit los, dass eins der Mädels nach ihrer Uhr gefragt hatte. Die wollte sie ihrer Mutter bei einem Videoanruf zeigen, damit die Mutter ihr so eine besorgt. Das war kurz vor der Kontrolle. Die Vollzugsbeamten haben es wohl mitbekommen. Sie haben gesehen, dass diese Frau Marias Uhr hat. Das war gegen die Regeln. Also wurde es nach Oben weitergegeben. Es gab auch Fälle, wo die Kleidung nicht gestimmt hat. Am Badetag darf man abweichende Kleidung tragen, weil die Unform wird gewaschen. Aber ihr wurde vorgeworfen, dass sie nicht die richtige Uniform trägt. Auch das gilt als Regelverletzung. Es gab noch andere an den Haaren herbeigezogene Kleinigkeiten. Am Ende waren es dann vier oder fünf. Es war also klar, sie wird in die Strafzelle verlegt. Musik Autorin: Das geschieht im November 2022. Zur gleichen Zeit werden Anastasia Bulybenka und andere nach zwei Jahren aus der Haft entlassen. O-Ton 36 Sprecherin 1 Anastasia Bulybenka Da war keine Euphorie mehr. Es war ein seltsames Gefühl. Wenn man lange sitzt, bekommt man eine leise Angst vor der Entlassung. Weil sich die Welt verändert hat, und du dich selbst verändert hast. Musik Es war keine Vorfreude, sondern eher beklemmend. Was kommt, wenn ich rausgehe? Wie wird es weitergehen? Soll ich das Land verlassen, oder nicht? Klar, ich war froh, aber es war ein seltsames Gefühl. Kein Gefühl von reinem Glück. Alles schmeckte wahnsinnig gut. Am Abend sind wir essen gegangen, im Zentrum von Homel. Es war so laut. Es war so ungewohnt. Ich bekam Kopfschmerzen vom Lärm der Straße, den Autos. Und alles schmeckte so gut. Das hält bis heute an. Autorin: Für politische Gefangene sind die Regeln nach der Entlassung strenger, als für andere Straftäter. O-Ton 37 Sprecherin 1 Anastasia Bulybenka Nach der Freilassung hat man drei Tage Zeit, um sich bei der Führungsaufsicht zu melden. Dort habe ich erfahren, dass ich mich jeden dritten Tag melden muss. Wenn man arbeitet, nur einmal alle zwei Wochen. Man wird also freigelassen, aber nicht ganz. Die Führungsaufsicht dauert zwei Jahre. Man sitzt zwei Jahre ab, und dann ist man zwei weitere Jahre unter Führungsaufsicht. Obwohl es dem Gesetz nach kein schweres Verbrechen war. Am dritten Tag habe ich ein Ausreiseverbot bekommen. Aber nach all dem wollte ich Belarus verlassen. Ende Dezember kam ein Dokument mit der Begründung für das Ausreiseverbot: "Verurteilung wegen eines Verbrechens". Das würde ja eigentlich bedeuten, dass man im Gefängnis sitzt. Bei der Ankunft in der Strafkolonie haben wir unterschrieben, dass für die Zeit der Haft ein Ausreiseverbot gilt. Bei der Entlassung wird unterschrieben, dass das Ausreiseverbot aufgehoben ist. Es war also ein neues Ausreiseverbot. Ich habe dagegen Einspruch eingelegt. Ich wollte auf keinen Fall illegal ausreisen, ich wollte alle Rechtsmittel ausschöpfen... Musik Autorin: Anastasia gelingt das scheinbar unmögliche - sie gewinnt vor Gericht. Ihr Ausreiseverbot wird aufgehoben. Noch auf der Treppe des Gerichtsgebäudes teilt sie allen mit, dass es geklappt hat. O-Ton 38 Sprecherin 1 Anastasia Bulybenka Ich hatte das Gefühl, etwas ist faul. Ich habe meinem Freund geschrieben, das ist eine Falle. Ich habe allen geschrieben, dass ich vor Gericht gewonnen habe. Dann bin ich kurz in ein Lebensmittelgeschäft, komme raus und höre "Junge Dame". Ich drehe mich um und da steht ein Mann und zeigt mir seinen Dienstausweis. Musik Ich bin fast umgekippt. Er sagt "mitkommen". Ich frage nach dem Grund, obwohl ich verstanden habe, dass es wegen meiner Beschwerde ist. "Wegen Rauchen in der Öffentlichkeit." Er grinst. Ich bin so perplex, dass ich mich frage ob er das ernst meint, oder sich grade über mich lustig macht. Er: "Was soll daran lustig sein? Kommen sie mit." Ich gehe zu diesem Auto und spüre, wie meine Beine vor Schreck taub werden. Sie haben mich umzingelt. Alle in Zivil. Sie fangen an, Späße zu machen. Wir würden in den Wald fahren. Wie weit? So 60 Kilometer. Als wäre ich zu irgendwelchen Perversen ins Auto gestiegen. So genau habe ich ihre Papiere gar nicht angeschaut - ich bin wie gelähmt. Sie sind in Zivil. Sie sehen Beamten zwar ähnlich, aber sie benehmen sich wie Maniaks, die mich aus der Stadt bringen, um mich zu vergewaltigen. Sie versuchen, mir die Mappe mit den Papieren wegzunehmen. Sie fragen etwas. Aber ich habe schon Erfahrung. Ohne Anwalt werde ich gar nichts sagen. Das wiederhole ich immer wieder. Autorin: Der Anruf bei der Anwältin wird nicht gestattet. Stattdessen landet Anastasia auf einer Polizeistation. O-Ton 40 Sprecherin 1 Anastasia Bulybenka Dort wird ein Protokoll wegen unsittlichen Benehmens in der Öffentlichkeit aufgenommen. Ich soll in der Nähe der Polizeistation unsittlich geschimpft haben. Ich fange an zu heulen - welches unsittliche Benehmen? Ich weiß, dass sie zu allem fähig sind, aber so aus heiterem Himmel... davon hatte ich noch nichts gehört. Autorin: Anastasia bekommt 15 Tage Haft. Das Gefängnis kennt sie schon von ihrer Haftstrafe vor zwei Jahren, doch drinnen hat sich manches verändert. O-Ton 41 Sprecherin 1 Anastasia Bulybenka Ich war schon 2020 im Akrestina-Gefängnis. Damals gab es Matratzen. Einmal pro Woche durfte man ein Paket bekommen. Diesmal gibt es nichts. Nackte Metallstreben, keine Bettwäsche. Man schläft mit den Schuhen als Kissen. Keine Hygieneartikel. Kaum Toilettenpapier. Zahnbürsten verboten. Mir wird nicht erlaubt, meine mitzunehmen, obwohl ich eine habe. Kein Shampoo. Gar nichts. Was mich auch schockiert: bis auf mich sitzen fast alle wegen Reposts. Der klassische Fall ist ein Repost in den persönlichen Nachrichten. Ursprünglich dachte ich, man würde für Reposts auf der eigenen Seite verhaftet. Das wäre irgendwie logisch. Im Knast habe ich dann erfahren, Repost bedeutet, dass man in einer persönlichen Nachricht etwas weiterleitet. Eine Frau zum Beispiel hat ihrer Mutter einen Artikel über Polarlichter weitergeleitet. Eine Andere hat eine Nachricht über den neuen Harry Potter Film verschickt. Autorin: Seit Sommer 2021 gelten alle unabhängigen Medien in Belarus als extremistisch. Wer eine Nachricht aus solchen Medien weiterleitet, muss mit Bestrafung rechnen - unabhängig vom Inhalt der Nachricht, auch wenn es um Harry Potter geht. O-Ton 42 Sprecherin 1 Anastasia Bulybenka Die meisten saßen für solche Reposts, und zwar nicht in den Storys oder so, sondern in der persönlichen Kommunikation. Wie man die findet? Eine Frau hat berichtet, sie sei bei der Arbeit durchsucht worden. Ein Büro mit 100 Mitarbeitern. Alle wurden in einer Reihe an die Wand gestellt, und dann wurden die Handys gecheckt. Wer Reposts in der Korrespondenz hatte, wurde mitgenommen. Wird in der Korrespondenz ein Repost gefunden, werden auch die Empfänger durchsucht. Eine furchtbare nicht endende Kette. Autorin: Anastasia soll bald wieder entlassen werden, doch so einfach geht das nicht: O-Ton 43 Sprecherin 1 Anastasia Bulybenka Ich wurde in den 4. Stock des Akrestina-Gefängnisses gebracht. Es war eine Art Klassenzimmer, Bänke. Staatssymbolik, Wappen, Fahne, Infotafeln - wie ein Raum für die ideologische Erziehung in der Schule. Da hat ein Herr im Sakko auf mich gewartet. Er hat sich nicht vorgestellt, obwohl ich ihn gefragt habe. Wozu brauchst du das, war seine Antwort. Dann ging das Gespräch los. Es war seltsam, denn er sprach von sich in der dritten Person: Mich nannte er "Anastasia" und sich selbst "Wir". Wer sind diese "Wir"? Er hat mir Angst gemacht, mit Sprüchen wie "Anastasia hat sich nicht gebessert" "Anastasia ist eine Heimatverräterin", "Anastasia ist eine Schande für das Land", "Anastasia hat nicht aus ihren Fehlern gelernt". Er wollte, dass ich die Hymne singe. Ich konnte sie nicht singen. Ich habe sie rezitiert wie ein Gedicht, und habe dabei Zeilen durcheinandergebracht. Er hat gesagt, ich wäre durchgefallen. "Anastasia kann die Hymne nicht". "Anastasia, nenne den Tag der Fahre, der Hymne und des Wappens der Republik Belarus". Ich wusste gar nicht, dass es so einen Feiertag gibt. Er meinte, wieder durchgefallen, und ich solle noch etwas Zeit zum Nachdenken bekommen. Musik Autorin: Anastasias Haftstrafe wird verlängert. Offizielle Begründung: sie habe bei der Verhaftung Widerstand geleistet und an der Kleidung der Beamten gezerrt. Die nächsten Tage verbringt sie in Erwartung eines weiteren Gesprächs mit dem KGB-Mann. O-Ton 44 Sprecherin 1 Anastasia Bulybenka Die nächsten 15 Tage habe ich alle nach den staatlichen Feiertagen ausgefragt. Ich habe die Daten auswendig gelernt: Tag der Miliz, Tag des KGB, Tag der Armee. Ich wollte vorbereitet sein. Ich wäre auch bereit gewesen die Hymne zu singen, um frei zu kommen. Ich hatte Albträume davon, wie ich ihm die Hymne singe und einen Fehler mache... Am vorletzten Tag hat dieser Mann dann gefragt, ob ich die Hymne gelernt habe. Ich habe es bejaht. Ich habe ohne Nachfrage alle Staatsfeiertage aufgezählt, Monat für Monat. Dann sollte ich den Namen des Ministerpräsidenten nennen. Ich hatte keine Ahnung. Ich dachte, um Gottes Willen, werde ich jetzt noch länger hier bleiben? Dann ging es damit los, dass ich nicht wegfahren darf. "Wir würden dich überall finden." Ich solle bedenken, dass meine Familie noch im Land ist. Musik Ich habe gesagt, ich werde nirgendwo hinfahren. Ich werde nichts sagen. Das alles ist Vergangenheit. Und Tschüss. Am nächsten Tag wurde ich tatsächlich rausgelassen. Ich hatte auch das Gefühl, dass ich freigelassen werde. Autorin: Anfang Juni 2023 ist Anastasia frei. O-Ton 45 Sprecherin 1 Anastasia Bulybenka Ich wurde mit einem Koffer abgeholt. Wir sind direkt zum Bahnhof. Ich hatte eine Wahnsinnsangst. Ich habe wirklich geglaubt, was ich ihm gesagt habe. Mir wird erklärt, es gibt kein Ausreiseverbot, ich kann fahren. Und ich denke, das ist eine Falle. Dass ich an der Grenze festgehalten werde. Am Bahnhof habe ich mich umgezogen. Ich habe ein Käppi aufgesetzt. Unterwegs habe ich mich entschlossen, reichlich zu essen, für den Fall, dass ich festgenommen werde. Ich habe versucht, so viel wie möglich zu essen und zu trinken. Musik Autorin: Anastasia gelingt die Flucht. O-Ton 46 Sprecherin 1 Anastasia Bulybenka Dieses Mal war es Euphorie. Allerdings dauerte die Euphorie nicht lange. Die psychischen Folgen waren schlimm. Zwei Nächte lang konnte ich nicht schlafen. Ich hatte Angst vor dem Einschlafen. Es waren Symptome einer postraumatische Belastungsstörung doch das wusste ich noch nicht. Ich hatte die Vorstellung, ich bin noch im Knast und das sind nur Halluzinationen. Ich dachte, was mit mir passiert, ist nur eine Wahnvorstellung - ein schreckliches Gefühl. Musik Autorin: Maria Kalesnikava geht es einige Monate zuvor ganz ähnlich: Sprecherin 2 Maria Kalesnikava 04.September 2022 Ich fühle mich ganz seltsam, in Erwartung des Zweijahresdatums. Manchmal bekomme ich eine Todesangst. Was ich früher erlebt, doch nicht verarbeitet habe... Seit mehr als zwei Monaten wird mir der Besuch des Psychologen verwehrt. Obwohl mir versprochen wurde, ihn wöchentlich sehen zu dürfen. Das ist sehr seltsam. Menschen, die überhaupt keine Ahnung haben, was mit mir eigentlich passiert ist... Vielleicht ist es kein Unverständnis, sondern Unwissenheit? Sie treffen die dümmsten Entscheidungen. Wenn ich spüre, dass etwas anfängt, wie eine Panikattacke... Ich bin mir nicht sicher, ob es eine ist, aber es fühlt sich so an... Ich lerne selbstständig damit umzugehen. Zum Beispiel ist es ein Fortschritt, dass ich nicht mehr losrennen und schreien möchte, wenn ich einen Minibus oder Vollzugsbeamte sehe. Früher konnte ich mich kaum zügeln. Kannst Du Dir das vorstellen? Meine Atemfrequenz und mein Puls steigen, und ich brauche etwas Zeit um zu mir zu kommen. Was uns nicht umbringt, bringt uns nicht um. Stärker sind wir auch so, stimmt's? Musik Autorin: Anastasia Bulybenka leidet noch immer an den Folgen der Haft. O-Ton 48 Sprecherin 1 Anastasia Bulybenka Nichts hat mir weh getan, ich habe mich einfach nicht real gefühlt. Ich habe versucht, mich zu zwicken. Ich habe es nicht gespürt. Ich empfand weder Kälte noch Hunger. Ich kam mir selbst wie eine Illusion vor. Keiner konnte mich vom Gegenteil überzeugen. Ich habe aufgehört zu schlafen. Ich habe nur selten und nur wenig geschlafen. Ich hatte Angst, dass ich im Knast aufwache. Ich bin spazieren gegangen ohne von irgendwelchen Inspektoren belästigt zu werden, doch ich hatte ein Gefühl der Entfremdung. Die Worte von damals, dass sie mich überall finden würden, die haben ihre Wirkung gehabt. Ich hatte Angst, ich könnte im Kofferraum durch den Wald zurück nach Belarus gebracht werden. Ich war nur eine Stunde von der Grenze entfernt. Diese Angst habe ich immer noch. Im Krankenhaus wurde die PTBS diagnostiziert. Seitdem bin ich in Therapie und nehme Tabletten. Lange hatte ich Albträume. Erst im Winter haben sie nachgelassen. Ich habe jede Nacht von meiner Verhaftung geträumt. Musik Autorin: Auch Alana Gebremariam wird entlassen. Kurz zuvor sieht sie Maria Kalesnikava noch einmal. O-Ton 49 Sprecherin 3 Alana Gebremariam: Ich habe gesehen, wie Maria Kalesnikava aus der Strafzelle geführt wurde. Sie wurde buchstäblich "geführt", zu zweit unter den Armen gehalten. Sie wurde in die Sanitätseinheit gebracht. Sie konnte offensichtlich nicht mehr selbstständig laufen, und sie hielt sich die Seite. Zusammengekrümmt, nicht wie sonst mit geradem Rücken. Ihrer Haltung nach zu urteilen, und weil sie sich sehr langsam bewegte war klar, dass sie starke Schmerzen hat. Angeblich ist sie unter der Dusche umgekippt. Es hieß, sie habe blaue Flecken. Woher, wusste keiner. Wurde sie geschlagen, oder ist sie umgekippt, weil ihr schlecht wurde? Musik Autorin: Mia Mitkevich: O-Ton 50 Sprecherin 5 Mia Mitkevich 09:45 Mia_Mitkevich_ZOOM0269_Tr1.WAV Kalesnikava wurde im Zellentrakt festgehalten, weil allein ihr Blick alles sagte. Es war ihr verboten, mit uns zu reden, aber ihr Blick sagte alles. Sie lief einfach lächelnd rum: Alles wird gut, ich bin bei euch. Haltet durch. Das hat die einfach wütend gemacht. Sie wird in die Strafzelle geworfen, muss leiden, wird gequält, kommt ins Krankenhaus, kommt zurück und ihr Lippenstift ist noch kräftiger. Sie zeigt ihnen mit ihrer ganzen Gestalt, dass sie nichts von ihnen hält. Das bringt sie zur Weißglut. Musik Autorin: Seit November 2022 befindet sich Maria Kalesnikava in der Strafzelle. Ihre Schwester berichtet, was sie über Dritte erfahren konnte: O-Ton 51 Sprecherin 4 Tatsiana Khomich: 32:41 Im November 2022 hat Maria über den Anwalt mitgeteilt, dass sie wohl in Isolationshaft verlegt wird. Angeblich soll sie Mitarbeiter der Administration der Kolonie grob angesprochen und unterbrochen haben. Danach wollte der Anwalt sie wieder besuchen, aber ihm wurde abgesagt. Wir haben verstanden, Maria wird sich wohl noch in Strafzelle befinden. Dann gab es die anonyme Nachricht, dass sich Maria im Krankenhaus für Notfallmedizin in Homel befinde und bereits operiert wurde. Das ist ein ziviles Krankenhaus. Autorin: Der Vater darf Maria später im Krankenhaus kurz besuchen. Ihm wird vorgeführt, dass seine Tochter am Leben ist. O-Ton 52 Sprecherin 4 Tatsiana Khomich: Unser Vater hatte eine Besuchserlaubnis für grade einmal zehn Minuten. Maria hat berichtet, dass es in der Isolationshaft sehr kalt war. Sie konnte nicht schlafen. Um sich aufzuwärmen musste sie sich ständig bewegen. An einem Tag sei sie 15 000 Schritte gelaufen. Sie hatte hohen Blutdruck und verlor einige Tage nacheinander das Bewusstsein. Die Administration habe nicht darauf reagiert. Sie habe über Bauchschmerzen geklagt. Auch darauf gab es zunächst keine Reaktion. Am Ende der Isolationshaft ging es ihr dann so schlecht, dass endlich der Notarzt gerufen wurde. Laut ihrer Auskunft wurde sie im Krankenhaus von den Ärzten gerettet. Sie sei sehr spät eingeliefert worden. Autorin: Vom medizinischen Personal der Klinik sind keine genaueren Informationen zu bekommen. O-Ton 53 Sprecherin 4 Tatsiana Khomich: Wir wissen, dass den Ärzten verboten wurde mit unserem Vater zu reden. Weder Einzelheiten zur OP, noch zur Diagnose konnte er erfahren. Die Ärzte wurden eingeschüchtert, ihnen wurde mit sechs Jahren Gefängnis gedroht, sollten irgendwelche Informationen in die Medien gelangen. Musik Autorin: Nach der Operation wird Maria wieder in die Strafkolonie verlegt. O-Ton 54 Sprecherin 4 Tatsiana Khomich: Am 15 Februar 2023 haben wir den letzten Brief von Maria erhalten. Danach gab es keinen Briefverkehr, Besuche vom Anwalt wurden nicht erlaubt. Die Begründung: sie habe keinen Antrag gestellt. Die fehlende Kommunikation wird damit begründet, dass sie angeblich keinen Kontakt zu uns will. Sie wolle weder schreiben noch anrufen. Wir wissen, dass das unwahr ist. Es ist eine offensichtliche Lüge. Wir wissen nicht in welchem Zustand sie ist: weder psychisch, noch physisch. Die gleiche Situation erleben auch andere politische Gefangene. Die bekanntesten sind Viktor Babaryka, Siarhey Tsikhanovskiy, Mikalay Statkevich... Musik Autorin: Am 15. Februar 2023 schreibt Maria Kalesnikava in ihrem letzten zugestellten Brief: Musik Sprecherin 2 Maria Kalesnikava: Hallo, mein liebster und bester Papa der Welt! Wie geht es dir, und was gibt es für Neuigkeiten? Mir geht es mehr als gut - ich habe deinen Brief und Tanyas Brief bekommen - das ist wirklich sehr cool! Eure Briefe erreichen mich besser als meine euch - also schreibt! Denkt weniger über meine Gesundheit nach und macht euch keine Sorgen. Es gibt keinen Grund zur Sorge, ich bin in Kontakt mit dem Arzt und nehme regelmäßig Medikamente, messe meinen Blutdruck und mache Tests. Ich sende einen riesigen Gruß an alle unsere Lieben, Freunde und Verwandten. Sie alle sind in meinem Herzen. Ich liebe euch so sehr. Passt auf euch auf, so gut ihr könnt! Alles wird gut. Deine Tochter. Musik Sprecherin 5: Strafkolonie der Frauen - Politische Gefangene in Belarus erzählen Ein Feature von Inga Lizengevic Es sprachen: Zeynep Bozbay, Maike Jüttendonk, Franziska Krol, Inka Löwendorf,Ilka Teichmüller und die Autorin Ton und Technik: Jean Szymczak, Tobias Wojahn Regie die Autorin Redaktion Wolfgang Schiller Eine Produktion des Deutschlandfunks 2024 24