Hörspiel Feature Radiokunst Feature Sanktioniert Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen Autorin: Lea Fauth Regie: Philippe Brühl Redaktion: Wolfgang Schiller Produktion: Deutschlandfunk 2025 Erstsendung: Dienstag, 28.01.2025, 19.15 Uhr Es sprachen: Dirk Müller und die Autorin Technik: Alexander Brennecke Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. (c) - unkorrigiertes Exemplar - Atmo 1 Gitarre/Musik Über hunderttausend Male/ Wird der Lebensgrund zerstört / fliegen Menschen aus der Wohnung/ Was die Mehrheit nicht empört / O-Ton1 Christian Lindner [schreit, auf der Rede bei den Bauernprotesten]: "Es ärgert mich, dass ich vor Ihnen als dem fleißigen Mittelstand über Kürzungen sprechen muss, während auf der anderen Seite in unserem Land Menschen Geld bekommen, fürs Nichtstun! Atmo 2 Gitarre/Musik Sind ja nur'n paar arme Schlucker / und Schmarotzer obendrein / Wozu brauchen die ne Wohnung? Nachts im Schlafsaal ist es fein. // Doch die Seele braucht den Raum... O-Ton2 Lindner (...) Deshalb sparen wir eine Milliarde Euro beim Bürgergeld. Atmo 1 Gitarre/Musik Autorin Es ist ein sonniger Novembertag in Berlin, Prenzlauer Berg. Auf dem Gehweg haben sich ein paar Leute versammelt. Eine Frau singt Lieder, die anderen stellen Kreuze auf. O-Ton 3 Frigga Wendt Es geht um Menschen, die durch die Agenda 2010, also Hartz IV und das verweigerte Menschenrecht auf Existenz zu Tode gekommen sind. Autorin Auf den Kreuzen stehen die Namen und die Geschichten der Verstorbenen. Viele haben sich das Leben genommen, manche sind durch Krankheit in der Obdachlosigkeit umgekommen. O-Ton 4 Daniel Das ist ne Art Mahnwache, Erinnerung. So lange man an Menschen denkt, sind sie noch da. Autorin Mit dem Bürgergeld wollte die Ampelregierung die Situation für Arbeitslose zunächst verbessern. Hartz IV sollte Vergangenheit werden. Doch die versprochene "Erhöhung" der Gelder war gerade mal ein Inflationsausgleich. Dann wurden Sanktionen wieder härter. O-Ton 5 Hubertus Heil (rtl Interview) Und wenn jemand chronisch nicht zu Terminen kommt, dann gibt es Leistungseinschränkungen und das ist auch in Ordnung so. Autorin 2019 entschied das Bundesverfassungsgericht, dass maximal Sanktionen von 30 Prozent verhängt werden dürfen. Dem zum Trotz beschloss der Bundestag Anfang 2024, dass Leistungen bis auf Miete und Heizung wieder komplett gestrichen werden dürfen, wenn jemand im Jobcenter nicht kooperiert. Union und FDP fordern noch mehr Kürzungen und zügigere Sanktionsmöglichkeiten. O-Ton 6 Friedrich Merz (im ZDF-Moma-Interview) "Übrigens auch das Wort ‚Bürgergeld' suggeriert: Ja, hier gibt es so eine Art leistungsloses Einkommen, oder ein bedingungsloses Grundeinkommen (...) Es setzt die falschen Anreize." O-Ton 7 Carsten Linnemann (im ZDF-heute-Nachrichten) "Das Bürgergeld gehört in dieser Form abgeschafft" Autorin Welche menschlichen Schicksale entstehen durch diese neue Härte? Wer sind diese sogenannten "Totalverweigerer", über die nun wieder so viel geredet wird? Beatrice K. war eine von ihnen. Ihre Geschichte zeigt, was mit einem Menschen passiert, wenn ihm immer mehr von seinem Existenzminimum genommen wird. Béatrice K. ist 2016 fast daran zugrunde gegangen. Sprecher Sanktioniert. Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen - Ein Feature von Lea Fauth O-Ton 8 Beatrice K. Ich habe mich um nichts kümmern können. Also, ich habe mich wirklich um gar nichts mehr kümmern können, weil ich ja ganz einfach keine Kraft für das Kleinste mehr hatte. Ich habe keine Briefe aufgemacht, ich hab eigentlich nur noch dicht gemacht.. Ich war einfach ganz unten. Autorin Béatrice K. sitzt in ihrem Büro. Hier koordiniert sie Veranstaltungen für ein Theater in Berlin. Heute hat sie einen dicken Aktenordner mitgebracht. Briefe, Unterlagen und Belege von ihr aus dem Jahr 2016 sind darin abgeheftet. Es fällt der 58-Jährigen nicht leicht, über diese Zeit zu sprechen. O-Ton 9 Beatrice K. Man überlebt eigentlich nicht. Also ich bin nicht verhungert, weil es geht immer irgendwie. Man kann auch zur Tafel gehen, zum Beispiel oder so, was aber auch, sage ich mal, nicht so mein Ding war, ..... Dieses Prügeln um so drei Kartoffeln, das hat mich auch fertig gemacht. Autorin Im Jahr 2016 arbeitet Béatrice K. im "Kreuzberger Museum" in Berlin - Sie macht den Job mit Unterbrechungen seit sieben Jahren - im Rahmen einer immer wieder erneuerten Maßnahme vom Jobcenter. O-Ton 10 Béatrice K. Die sind in Rente gegangen, der Museumsleiter hat gewechselt, und dann haben die da aufgeräumt, sag ich mal so. (...) Und in dem Zusammenhang war das auch für mich vorbei. Autorin Weil Béatrice K. trotz ihrer Tätigkeit offiziell als arbeitslos gilt, rutscht sie sofort ins Arbeitslosengeld II - damals auch noch Hartz IV genannt. O-Ton 11 Béatrice K. Und ich hatte vorher schon immer so auch solche Jobs gemacht und so, und war eigentlich immer mit dem Jobcenter ganz gut. Ich habe mich da eigentlich immer sehr kooperativ gefühlt. Autorin Doch dieses Mal sitzt eine neue Vermittlerin vor ihr. O-Ton 12 Béatrice K. Und die hat eigentlich sofort einen Ton angeschlagen, dass sie mit mir gar nicht so weiter reden möchte, dass ich wohl nicht wüsste, wie man da draußen über solche wie mich denken würde, und dass sie jetzt mit mir auch nicht über irgendwas spricht, was ich möchte oder so, sondern hat mich dann in so eine halbjährige Maßnahme vermitteln wollen. Und ich meine, ich war fast 50, und das sollte dann so sein, dass dort.... ja, sollte ich lernen, wie man wirtschaftet, wie man seinen Haushalt führt, wie man sich kleidet, wie man frisch gewaschen zur Arbeit kommt.... also alle solche Sachen. Autorin Beatrice K. empfindet das als Demütigung. Sie möchte Arbeit finden, kein Benimm-Training und weigert sich. Daraufhin werden ihr die Leistungen gekürzt: um 10 Prozent. O-Ton 13 Beatrice K. Das hat mich natürlich getroffen, aber da war ich noch... kampflustig ist übertrieben, aber da habe ich noch gedacht: Na ja. Ich war da beim Anwalt. Ich habe so gedacht: So geht's nicht! (lacht). Vor allem, weil die mich auch so behandelt hat von Anfang an, und ich bin da wirklich gewaschen, gekämmt und guter Dinge hingegangen. Autorin Mit ihrem Einspruch hat Béatrice K. keinen Erfolg. Die Vermittlerin weist ihr aber eine andere Maßnahme zu. O-Ton 14 Beatrice K. Also habe ich gedacht: Ja, gut, Bewerbungstraining, kann man machen, schaden tut's nicht. Dann war das aber so: Dann bin ich halt so ein Mensch, der immer guckt: wo gehe ich da hin? Wer ist das? Autorin Die Firma ist ein sogenannter "Maßnahmeträger". Sie bietet Kurse für Klienten des Jobcenters an. O-Ton 15 Beatrice K. Also, die waren richtig verrufen, ständig insolvent. Und dann gab's so eine Zeitarbeitsfirma, das war der gleiche Geschäftsführer. Weiterhin sollte ich unterschreiben, dass ich erlaube, sich in meinem Namen zu bewerben. Das heißt - und so war es auch gewesen, ich habe mit den Leuten nachher gesprochen aber erst später dann - es ging tatsächlich darum, die Leute, die Bewerbungsunterlagen, für sie passgenau für ihre Zeitarbeitsfirma, praktisch zum Maß an(zu)fertigen: Und dann hatten die auf alles Zugriff und dann in ihre Zeitarbeitpool zu übernehmen. Autorin Ob die Firma die Arbeitslosen tatsächlich an eine Partnerfirma weiter vermittelte und dafür Vermittlungsprämien vom Jobcenter erhielt, lässt sich nicht nachweisen. Ein Blick ins Handelsregister bestätigt aber, dass der damalige Geschäftsführer des Maßnahmeträgers tatsächlich auch Geschäftsführer von mehreren Zeitarbeitsfirmen war. O-Ton 16 Michael Breitkopf Ich nenne die Trägermafia, das ist sie auch, und Jobcenter Mafia, denn das ist sie auch. Dann gibt es ja ein gemeinsames Interesse, nämlich so zu tun, als ob man irgendeine gesellschaftliche Leistung für Erwerbslose erbringt, das ist einfach just for show. Naja! Dieses Pseudo-Arbeitsmarkt-Fördersystem, für das kein Geld mehr da ist, das in Wirklichkeit nur dazu dient, eine halbprofessionelle Trägerlandschaft am Leben zu erhalten. Sollen die noch mal arbeiten gehen, ja, schon schon hast du die Milliarden da. Autorin Michael Breitkopf ist ehemaliger Diakon und seit 15 Jahren Sozialberater im Berliner Stadtteil Friedrichshain. Das Büro liegt an einer laut rauschenden Straße. Breitkopf hilft Menschen, mit den Bürokratie-Abgründen des Jobcenters zurecht zu kommen. Atmo 3 -Klient: Erstmal hab ich das hier bekommen, was ich dir zeigen wollte. (blättern) - M. Breitkopf: Das ist aber jetzt erstmal nur ein Termin. - Klient: Aber, was ich nicht verstehe, Micha: Dreh mal um. Das hier. Ich hab doch alles abgegeben. Den Antrag, die Unterlagen, Kündigung. - M. Breitkopf: Ja, da hat irgendjemand wieder .... - Klient: ... Arbeitsvertrag ... Oder die haben wieder mal Scheiße... - M. Breitkopf: Ja, da hat irgendjemand wieder mal alles angekreuzt, wie immer, und gar nicht geguckt, ob nicht schon alles da ist. Völlig schnuppe. Wenn's da ist, ist's da. Autorin Breitkopf ist mittlerweile Rentner, doch er berät weiterhin ehrenamtlich Bürgergeldempfänger. Auch mit Maßnahmeträgern kennt er sich aus. Breitkopf glaubt, die öffentlichen Gelder würden vor allem ausgegeben, um die Arbeitslosenstatistiken zu schönen. O-Ton 17 Michael Breitkopf Also, es waren völlig sinnlose Maßnahmen, deren Hauptzweck war, das verfügbare Geld auszugeben und damit einen sogenannten Leistungsnachweis intern in den Verwaltungsapparaten zu erbringen. Und gleichzeitig wurden damit die Leute, die an solchen Maßnahmen teilnahmen, als nicht mehr arbeitslos und erwerbslos geführt. Ja, also, es war eine Kosmetik, im Grunde. O-Ton 18 Béatrice K. Und dann hat da so ein Typchen - nenne ich das wirklich - so gestanden und hat von dem großen Erfolg erzählt, den sie haben. (..) So, dann habe ich das hier in die Hände bekommen. [Man hört Papier-Rascheln, sie kramt das Papier heraus]. Autorin Béatrice K. nimmt ein Papier aus ihrem Ordner. Darauf steht, dass die Firma sich in ihrem Namen bei anderen Arbeitgebern bewerben darf. O-Ton 19 Béatrice K. Ich hab das so gesehen und dachte: Nee, also das, das möchte ich aber jetzt nicht unterschreiben, ne. Und dann wurden die richtig wütend, und dann durften wir nicht an dem Tag gehen und wurden dann in die Pause geschickt, nur ich nicht. Ich wurde zum Gespräch geholt. Autorin In Internetforen lassen sich aus den 2010er Jahren ganz ähnliche Berichte finden. Viele erzählen dort, dass sie unter Druck gesetzt worden seien. O-Ton 20 Beatrice K. Ich wurde da wirklich zu so einem Gespräch geholt, wurde versucht, völlig niederzumachen. Und hab dann aber noch so ein paar Fragen gestellt: Ob das denn dann auch so ist, dass man über das halbe Jahr hinaus dann dort eine Arbeit bekommt. - "Ja, Frau K., also so eine wie Sie" - so wurde das dann auch gemacht - "würden wir ja gar nicht vermitteln, Sie passen ja gar nicht zu unseren Geschäftspartnern und so...." Und man wurde dann auch so hingestellt - ja, wie das eben so ist, so'n Arbeitsloser, der halt so arbeitsunwillig ist, ne. Und dann habe ich aber mich weiterhin geweigert, das zu unterschreiben. Und dann haben die halt zu mir gesagt: "Ja, dann können wir mit Ihnen hier aber nichts anfangen." Dachte ich: Gott sei dank (lacht). Ja, nee, das hieß aber dann, dass ich trotzdem kommen kann, kommen muss. Und dann am Computer dort nach Arbeit suchen kann. Alleine. Autorin Wenn die Erzählung stimmt, bekommt die Firma zu diesem Zeitpunkt also öffentliche Gelder dafür, dass eine arbeitslose Frau einen ihrer PCs benutzt. O-Ton 22 Mitarbeiterin Was den Kunden vorgelegt wird, ist eine Datenschutzerklärung, weil die sind ja bei uns Kundinnen, so. Autorin Amelie Stacher arbeitet als Vermittlerin im Jobcenter, in einer deutschen Großstadt. Sie ist keine offizielle Sprecherin der Agentur für Arbeit. Um ihre Identität zu schützen, haben wir ihren Namen geändert. Was Beatrice beschreibt, sieht Amelie Stacher ein weniger dramatisch. O-Ton 23 Mitarbeiterin Wenn ich jetzt aber einen Dritten einschalten muss, brauche ich die Einverständniserklärung, dass der Dritte auf unser Programm zugreifen kann und - also natürlich nicht alle Daten, aber so gewisse Daten dann auch mit abgreifen darf, wie Lebenslauf zum Beispiel, und Stellengesuch oder sowas. Vermutlich war das das, was sie unterschreiben musste. Autorin Auch, dass die Firma sich im Namen der Klientinnen bei anderen Firmen bewirbt, nimmt Amelie Stacher gelassen. O-Ton 24 Mitarbeiterin Und ich vermute mal, dass dieses Probearbeiten so ein Kennenlernen-arbeiten zwischen Arbeitgeber und Kunden sein sollte, um dann zu gucken: Okay, funktioniert das, funktioniert es nicht? Und wenn es funktioniert, gibt es halt einen Arbeitsvertrag. Ist ja per se irgendwie nicht schlecht. Wenn die jetzt aber mit jemand nicht gesprochen wird - und übrigens, Transparenz ist ja ganz groß auf die Fahne geschrieben, ne bei uns - wenn es eben nicht transparent erklärt wird, führt es eben dazu, dass sich Menschen eben ungerecht behandelt fühlen. O-Ton 25 Beatrice K. Wie gesagt, ich habe das alles nicht verstanden. Wie eine Firma, die gerade erst pleite gegangen ist, hier in Berlin im richtig großen Stil einkaufen kann und dann auf die Art praktisch ihre eigene Zeitarbeitsfirma mit Sklaven bestücken kann, weil man darf das ja nicht ablehnen. Wenn die sich für mich bewerben in ihrer eigenen Zeitarbeitsfirma, in ihrem Pool, ich krieg da Stellenangebote, darf ich die nicht ablehnen. Autorin Grundsätzlich seien viele Coachings und Maßnahmen sinnvoll, betonen sowohl Sozialberater Michael Breitkopf als auch Béatrice K selbst. Nur müssten sie eben passen. Tatsächlich sei es aber so, sagt Helena Steinhaus vom Verein "Sanktionsfrei", O-Ton 26 Helena Steinhaus dass eben die Kontingente im Voraus gekauft werden. Also soundso viele Male muss dann eine Maßnahme bei diesem Träger vermittelt werden. Und das Problem, was das mit sich bringt, ist, dass man ja gar nicht unbedingt die Menschen dafür hat. Also man weiß ja nicht, wer da so nächstes Jahr in der Vermittlung auftaucht. Und dann werden teilweise wirklich auch teure Maßnahmen an Leute verscherbelt, die das gar nicht unbedingt brauchen. Autorin Es klingt ein bisschen wie blinde Planwirtschaft aus den 50er Jahren: Es wird auf Staatskosten produziert, doch entweder viel zu viel oder viel zu wenig. O-Ton 27 Helena Steinhaus: Das sind ja auch nicht grundsätzlich schlechte Maßnahmen. Ich will die gar nicht zwangsläufig verteufeln, aber das Problem ist, dass sie eben nicht "on demand" gebucht werden, sondern eben Kontingente im Voraus. Und dadurch können auf jeden Fall, ähm.. viele Missmatches produziert werden, sag ich mal. O-Ton 28 Beatrice K. Sie hat mich da einfach zugewiesen, Punkt. (...)Das Ding, man kann da jederzeit raus, aber nur, wenn man in den ersten Arbeitsmarkt kommt, so. Autorin Als Beatrice K. ihre Maßnahme beginnt, wird sie zwar nicht mehr als arbeitslos gelistet - offiziell liegt sie also dem Staat nicht mehr "auf der Tasche". Trotzdem fließen Steuergelder, um diese vermeintliche Beschäftigung zu bezahlen. Jährlich gibt die Agentur für Arbeit rund 1 Milliarde Euro für die Programme aus. In einem Werbevideo des Maßnahmeträgers heißt es: Atmo 4 Werbevideo Mikro Partner Wir begleiten Sie durch den gesamten Bewerbungsprozess, damit Sie sich selbstbewusst präsentieren können und am Ende als Gewinner oder Gewinnerin dastehen. Autorin Béatrice K. wird am Ende dieser Maßnahme als Verliererin dastehen. Dabei gibt sie sich anfangs noch einen Ruck. O-Ton 29 Beatrice K. Da habe ich mir irgendwie einen Block gekauft und dachte: Ach, Du gehst da jetzt hin, machst das beste draus und schreibst es auf. .. Da hat mich das ein bisschen versöhnt. Das macht ja auch ein bisschen Spaß. Autorin Sie setzt sich zum Schreiben in ein Café. O-Ton 30 Beatrice K. Und dann hat jemand mir unterm Tresen, ... hat mir jemand die Tasche weg geklaut, so. Jetzt hatte ich aber weder'n Ausweis, keine Bankkarte - ich hatte nichts mehr. Für die Fahrkarte brauchte man einen Ausweis. Ich hatte praktisch auch kein Geld mehr, ich hatte keine Bankkarte mehr. Und dann wurde das immer schlimmer. Ich brauchte ja einen neuen Ausweis, und der kostet natürlich. Autorin Beatrice K. kann jetzt Öffentliche Verkehrsmittel nicht mehr benutzen, da das Geld für normale Fahrkarten nicht reicht. Sie stellt einen Antrag beim Jobcenter für einen neuen Fahrausweis, kann sich in der Zwischenzeit jedoch nicht fortbewegen - auch nicht zum Bewerbungstraining. Wegen der Fehlzeiten wird sie auf 20, dann auf 30 Prozent sanktioniert. Die Vermittlerin im Jobcenter hat kein Verständnis für ihre Situation. O-Ton 31 Beatrice K. Erstens hat die da angefangen, fast jeden Tag mich anzurufen, um mir irgendwas mitzuteilen, (...). Und dann hat sie angefangen, mir zur gleichen Zeit fast täglich ungefähr 15 bis 20 Stellenanzeigen zu schicken, und es war immer bundesweit, es war nichts in Berlin! Das war der Moment, wo, wo ich durchgedreht bin. O-Ton 32 Helena Steinhaus Angeblich werden ja Sanktionen verhängt, um Menschen in den Arbeitsmarkt zu integrieren, also als Motivation, um die Leute zu erreichen. Ganz interessant, dass man das mit Strafe macht bei Sozialleistungen. Das würde man in der Erziehung nicht machen, in der Wirtschaft auch nicht. Da arbeitet man immer mit positiven Anreizen. Aber hier, wo schon alles verloren scheint, da bestraft man jetzt nochmal ein bisschen [lacht]. Autorin Der Verein Sanktionsfrei, für den Helena Steinhaus hier spricht, unterstützt Menschen wie Béatrice K. Spendengelder werden an Sanktionierte überwiesen, um die fehlenden Beträge auszugleichen. Der Verein hat auch eine Langzeitstudie zur Auswirkung von Sanktionen durchgeführt. O-Ton 33 Helena Steinhaus Häufig werden vermittelte Jobs wieder abgebrochen, die unter dem Druck von Sanktionen aufgenommen wurden, das heißt, er produziert einen erhöhten Verwaltungsaufwand. Nach kurzer Zeit sind die Menschen wieder im Jobcenter. Und es ist sogar auch nachgewiesen, im Rahmen dieser Studien, dass Menschen, die bereits sanktioniert wurden, dass es für die weniger wahrscheinlich ist, eine Arbeit aufzunehmen. O-Ton 34 Mitarbeiterin Es bringt halt nichts. Es ist wirklich so. Diejenigen, die eben, die wirklich schwarzarbeiten und die einfach nur wollen, dass man deren Krankenkasse bezahlt (...). Bei denen fällt es gar nicht auf, dass die Miete nicht bezahlt wird. Aber das ist so ein marginaler Wert. Die sind so wenige. Und der Rest, der ist tatsächlich dann entweder nicht in der Lage oder hat es einfach vercheckt oder hat verschlafen. Und natürlich könnte man jetzt sagen: "Hey, Steuergelder! Du hast verschlafen" - aber ich kann ihm halt auch nichts anbieten. Es ist es ja auch nicht so, dass ich irgendwie dasitze und fünf Arbeitgeber hinter mir hocken, die dann sagen: "Du, ab morgen biste drin", so. Autorin In Deutschland gibt es akuten Fachkräftemangel. Trotzdem wollen die wenigsten Arbeitgeber Menschen einstellen, die zum Beispiel erhebliche psychische Probleme haben, körperlich nicht mehr fit sind. Oder die, so wie Béatrice K., lange als arbeitslos geführt werden. Amelie Stacher, die Mitarbeiterin vom Jobcenter, hat selbst nur sehr selten Sanktionen verhängt. Aber sie weiß auch von Kollegen zu berichten, die anders sind. O-Ton 35 Mitarbeiterin (...) Also, ich hab dafür keine Studien (lacht), ich kann das jetzt nicht belegen, aber klar bleibt sowas hängen, wenn du in ner Schulung sitzt und jemand mit zitternden Händen dasitzt und sagt: "Ich möchte meine Sanktionen wieder haben, weil meine Autorität geht flöten", und ich dann sage: "Hey, du bist eine Arbeitsvermittlerin mit Beratungsaufgaben, so! Berate! [lacht] Hol den Kunden ab". Na, es ist doch so! Autorin Faktisch haben die Vermittler große Macht über die Klienten. Was tun, wenn jemand diese Macht missbraucht? Auf eine Anfrage des Deutschlandfunks schreibt die Agentur für Arbeit: Sprecher Kundinnen und Kunden steht es selbstverständlich offen, im Rahmen eines Widerspruchsverfahrens die Rechtmäßigkeit einer ausgesprochenen Minderung prüfen zu lassen. O-Ton 36 Mitarbeiterin Was viele eben gerne unter den Tisch fallen lassen, ist eben, dass du eine Sanktion auch zurückzunehmen hast, wenn die Mitwirkungspflichten nachgeholt wurden. Und das machen eben sehr viele nicht, weil die sagen, "naja, (...), da muss er ja erst mal sich einen Anwalt holen (...) und dann sehen wir mal weiter". Autorin Doch die meisten Menschen in Not sind nicht mehr in der Lage, sich zu wehren. Für viele gibt es auch sprachliche Barrieren. Einen Mechanismus, der Machtmissbrauch verhindert, gibt es zudem nicht. O-Ton 37 Beatrice K. Die hat mich fertig gemacht. Ich habe immer den Briefkasten aufgemacht und hatte da 10 bis 15 Briefe drin. Es war ja auch nichts auf mich zugeschnitten, wir hatten ja nie geredet. Es war völlig wirres Zeug. Und da hätte ich mich ja überall bewerben müssen. Und da hat das irgendwie angefangen, dass ich... ja, auch schon echt verwirrt wurde. Und ein bisschen krank wurde... Und da, zwischen den Briefen, war dann wohl mal ne Einladung, die hab ich aber übersehen, ich hab die auch gar nicht mehr wirklich aufgemacht. Und dann hatte ich diese Einladung verpasst. Zack, war ich 40 Prozent sanktioniert. O-Ton 38 Helena Steinhaus Und letztendlich die Zusammenfassung ist: Die Menschen verlieren das Vertrauen zum Sachbearbeiter, zur Behörde, sie ziehen sich zurück, sie geraten in noch größere finanzielle Not, natürlich, damit auch stärker in Isolation und Stigmatisierung, verlieren Kontakte. Und ganz real sieht es natürlich auch so aus, dass sie einfach zu wenig Essen haben, weil ohnehin das Bürgergeld zu niedrig ist, und viele schon damit kämpfen, überhaupt sich einigermaßen gut zu ernähren. O-Ton 39 Beatrice K. Ich war wirklich nur noch apathisch, ne. (...) Also, meine Schwester hat mir geholfen, aber ich habe mich sehr verschuldet, weil ich zum Beispiel Rechnungen nicht begleichen konnte. Und ich hatte auch keine, ehrlich gesagt, keine Kraft mehr dazu. Ich habe mich um nichts kümmern können. Man ist wirklich an so einem Punkt, wo man so jeglichen Lebensmut verliert und Sinn verliert. Autorin In dieser Situation verpasst Béatrice eine weitere Einladung zu einem Termin im Jobcenter. O-Ton 40 Beatrice K. Und dann habe ich gesagt: Ich habe diese Einladung nicht bekommen. Kann man ja mal so sagen. Hat sie so zur Kenntnis genommen. Dann hat sie mir diese ganzen Briefe, die sie mir immer geschickt hat, mit der Pin-AG per Einschreiben geschickt. (...) Ich musste dann also sozusagen fast täglich zur PIN-AG gehen, das ist für mich wirklich ne halbe Stunde Fußweg - hin und zurück, ne Stunde. Autorin In dem großen Aktenordner sind die vielen gelben Umschläge abgeheftet. Eine Flut an Warnfarbe. O-Ton 41 Beatrice K. Dann habe ich mich krankschreiben lassen, und war dann auch krank. Also, ich muss mal ganz klar sagen, ich war wirklich depressiv, mir ging's wirklich dreckig, ich hab mich nicht mehr konzentrieren können. (...) Gott sei dank hat das auch meine Ärztin erkannt und auch dann mich entsprechend krankgeschrieben. Und das lief so drei Monate tatsächlich, oder vier Monate sogar. (...) Und das Perfide war noch, dass sich die Maßnahme jeweils - also wenn man sich jetzt krankschreiben ließ - hat sich die Maßnahme dementsprechend verlängert. Autorin Einmal ist Béatrice K. mit ihrer Folgekrankschreibung um einen Tag zu spät. Die Sanktion wird erneut verschärft: 60 Prozent. O-Ton 42 Béatrice K. Und dann hat meine Ärztin, hat mir noch so Atteste geschrieben und alles. Dass sie das bezeugt, dass ich da nicht fähig war. Genau, und es war wirklich, es ging um einen Tag. Autorin Doch es bleibt bei 60 Prozent Sanktionen. Nach dem Bezahlen der Miete bleiben Béatrice monatlich nur noch 124,66 Euro für Strom, Gas, Internet und sonstige Lebenshaltungskosten. Um alles bezahlen zu können, muss Béatrice K. ein Darlehen beim Jobcenter aufnehmen. Solche Darlehen werden - immerhin ohne Zinsen - "bei unabweisbarem Bedarf" und "zur Vermeidung einer akuten Notsituation" vergeben. Doch auch das bedeutet für Béatrice K. hohen Aufwand: Sie muss Anträge stellen, Beweise einreichen - und verschuldet sich weiter. Vieles hat sie längst nicht mehr im Griff. O-Ton 43 Beatrice K. Dann klopfte es eines Tages. Und da stand vor der Tür ein Schlüsseldienst mit der Gerichtsvollzieherin und der Gasag, um mir das Gas abzustellen. ... also ja, da hätte ich mich natürlich kümmern müssen. Es ging um 120 Euro. Die habe ich nicht, und ich habe auch halt nichts mehr aufgemacht. Jeder normale Mensch würde... das sehen die natürlich auch so: Dann leiht man sich mal eben was vom Kumpel, das lässt man nicht so weit kommen. Aber in dem Fall lässt man es so weit kommen, weil man gar nicht mehr- man blickt ja gar nicht mehr durch, wer was wo von einem will. Man fühlt sich ja nur noch angegriffen, man kann ja nichts mehr machen. Autorin Das einzige, was Béatrice K. zu diesem Zeitpunkt noch bleibt, ist ihre Wohnung. O-Ton 44 Beatrice K. Ich hätte in die Obdachlosigkeit... na klar. Ich hätte auch irre werden können, ich hätte auch durchdrehen können, ich hätte alles können.... Autorin Am 5. November 2019 urteilt das Bundesverfassungsgericht: Die Sanktionen der Jobcenter sind teilweise verfassungswidrig. Es muss ein Existenzminimum garantiert werden - alles andere ist mit dem Grundgesetz nicht vereinbar. 2024 verabschiedet die Ampel-Regierung mit Unterstützung von CDU/CSU jedoch ein neues Gesetz: Jobcenter dürfen wieder Komplettsanktionierungen verhängen. Ausgenommen von den Streichungen sind lediglich Miete, Heizung und Krankenversicherung. Die Komplettsanktionierung ist außerdem auf zwei Monate begrenzt. Doch was ist mit Strom? Mit Essen? Arbeitsminister Hubertus Heil von der SPD beschreibt das im September im RTL-Interview so: O-Ton 45 Hubertus Heil (im RTL-Interview) Nochmal: Es geht nicht darum, alle unter Generalverdacht zu stellen, zu faul zu sein, das wäre unfair. Aber klar ist auch, es gibt Mitwirkungspflichten. (..) Was mir besonders wichtig war, war ein Zeichen zu setzen gegen Sozialmissbrauch. Autorin Ein merkwürdigen Spagat: Einerseits hält Hubertus Heil Gegenreden zur CDU und betont, dass es "Totalverweigerer" kaum gebe. Andererseits setzt er als Arbeitsminister der Ampelregierung 2024 immer härtere Maßnahmen gegen Bürgergeldempfänger um. In der Opposition will einzig die Linkspartei das Bürgergeld erhöhen. Die AfD und Sahra Wagenknecht fordern härtere Sanktionen, wie auch die CDU/CSU. O-Ton 46 Carsten Linnemann (bei Pressekonferenz zu Agenda 2030) "Und wir wollen für Totalverweigerer einen neuen Passus einführen. Nämlich, wir gehen davon aus, dass Totalverweigerer keine Unterstützungsleistung benötigen." Autorin Das sagt CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann bei einer Pressekonferenz am 18. März 2024. Neun Tage später wird die zweimonatige Komplettsanktionierung bei Ablehnung eines Jobs im Bundesrat final beschlossen. Öffentlich fordern vor allem CDU und FDP härtere Sanktionen. SPD und Grüne und halten vermeintlich dagegen. In Wirklichkeit haben sich alle vier Parteien 2024 zwei Mal gemeinsam auf drastische Verschärfungen beim Bürgergeld geeinigt. Sie machen also gemeinsam eine Politik, bei der die Situation für Bürgergeldempfänger immer schlechter wird. Darauf angesprochen, dass es die neuen Komplettsanktionen doch schon gibt, sagt Linnemann im ZDF-Interview: O-Ton 47 Carsten Linnemann Wir wollen das für immer machen, nicht für zwei Monate. Autorin Im Wahlkampf fordern Union und FDP darüber hinaus eine Arbeitspflicht für Bürgergeldempfänger. Politiker nennen immer wieder die Zahl von 1,7 Millionen Arbeitslosen, die eigentlich arbeiten könnten. Doch das stimmt so nicht. Viele von diesen 1,7 Millionen sind Aufstocker, können wegen Kinderbetreuung nicht jeden Job annehmen oder haben schlicht nicht die Ausbildung, die für die freien Stellen gefordert werden. Sowohl Sozialberater als auch die Agentur für Arbeit sagen, dass es so etwas wie "Totalverweigerer" in verschwindend geringer Zahl gibt - wenn überhaupt. O-Ton 48 Mitarbeiterin Aber ganz wenige, die wirklich da sitzen und sagen: Du, ich komme mit dem Geld zurecht, alles ist gut, ich habe mir ein schönes Leben aufgebaut, wie kommen wir uns nicht in die Quere? [lacht] Kann ich also, in zehn Jahren... krieg ich noch nicht mal eine Handvoll mit. Autorin Doch selbst wenn es solche Jobverweigerung gäbe: Ist es mit dem Grundgesetz vereinbar, einem Menschen Essen und Strom zu entziehen? Selbst Gefängnisinsassen werden diese grundlegenden Dinge nicht entzogen. Helena Steinhaus vom Verein Sanktionsfrei O-Ton 49 Helena Steinhaus Wenn man sich auf unsere Verfassung bezieht dann geht das nicht. Dann hat jeder Mensch das Recht auf ein Existenzminimum. Autorin Eine Klage gab es allerdings noch nicht, geschweige denn ein Gerichtsurteil. Bemerkenswert ist: In der Praxis wird die neue Gesetzgebung offenbar nicht einmal umgesetzt. Die Agentur für Arbeit konnte keine Zahlen dazu nennen, betont aber: Sprecher: "Der weit überwiegende Teil der leistungsberechtigten Personen arbeitet aktiv mit und ist daher nicht von Leistungsminderungen betroffen. Die von Ihnen genannte "Komplettsanktionierung" ist entsprechend noch seltener und damit wirklich eine Ausnahme für sehr wenige Kundinnen und Kunden." O-Ton 50 Mitarbeiterin Die Rechtsgrundlage ändert sich so schnell, dass man da gar nicht hinterherkommt. Also rein theoretisch hätte ich diese Änderung noch mitkriegen müssen, habe ich aber nicht, und habe davon wirklich in der Zeitung gelesen. Wie und woran das jetzt gekoppelt wird, ob das nur Meldeversäumnisse sind oder Vermittlungsvorschläge oder Verweigerung von Arbeitsaufnahme oder Verweigerung von irgendwelchen Maßnahmen - kann ich nichts zu sagen, wird aber wieder nichts bringen. [lacht]. O-Ton 51 Michael Breitkopf Also, mir sind diese Sanktionstotalitäten noch nicht untergekommen. Autorin Der ehemalige Diakon Michael Breitkopf O-Ton 51 Michael Breitkopf Und ich weiß, auch aus der Beraterszene, mit der ich natürlich vernetzt bin, nichts derartiges bekannt. Mein Eindruck ist: Das mag Gesetzeslage sein, hat aber die wirkliche Welt im Jobcenter-Alltag nicht erreicht, bis jetzt. O-Ton 52 Mitarbeiterin Ich glaube, das ist Stimmungsmache. So: "Guck mal so, wir gehen jetzt auf die Bürgergeldempfänger los, so also, wir machen da jetzt, was." [lacht]. O-Ton 53 Michael Breitkopf Das ist was für den Bundestagswahlkampf. Im Grunde ist es einfach nur Unsinn. O-Ton 54 Helena Steinhaus Also von vornherein ist klar, dass die Total-Sanktionen nicht häufig angewendet werden können, weil es eben eine relativ strikte Konstruktion ist, und trotzdem ist es natürlich ein Riesenproblem. Weil, sobald solche Gesetze erlassen werden, können sie ja auch weiterentwickelt werden, sag ich mal, oder falsch angewendet werden, und außerdem, eigentlich: So absurd ist es nicht, es anzuwenden, weil man ja auch als Totalverweigerer gilt, wenn man nur einmal einen Job abgelehnt hat. Das heißt eigentlich, beim zweiten Mal kann mir jemand ein Jobangebot unterbreiten, wenn ich das ablehne - aus verschiedenen Gründen, das können ja wirklich 1000 Gründe sein - dann wird also für zwei Monate das Existenzminimum gestrichen. Abgesehen von der Miete und den Gaskosten, damit eben keine Obdachlosigkeit entsteht. Atmo 5 Gedenkveranstaltung, Stimmen, Gitarrenklänge Autorin Obdachlosigkeit entsteht bei Bürgergeldempfängern aber trotzdem. Denn in manchen Fällen wird das Geld gar nicht erst ausgezahlt. So ging es auch Martina, die bei der Berliner Gedenkveranstaltung ihre Lieder vorträgt. Atmo 6 Gitarre und Gesang Martina H. (singt) Doch die Seele stirbt zuerst / Und der Körper folgt ihr nach / Doch die Seele wollte leben/ Was geschah, dass sie zerbrach? Autorin Die Menschen, die in Berlin "der Toten der Agenda 2010" gedenken, betrachten sich selbst als Überlebende. Manche von ihnen sind wohnungslos, die meisten waren es schon einmal. So wie Martina, Daniel und Gisela. Sie sprechen von "kalten Sanktionen". Das bedeutet für sie: Sämtliche Leistungen werden eingestellt, weil das Jobcenter glaubt, es bestehe überhaupt kein Anspruch auf Bürgergeld. O-Ton 55 Martina Beim Absprechen der Leistungen habe ich noch nicht mal ein Schriftstück in der Hand, wo mir was verweigert wird. Autorin Martina O-Ton 55 Martina Dann ist die Beweislast bei mir, dass ich aber anspruchsberechtigt gewesen wäre und dass etwas unterlassen worden ist. O-Ton 56 Daniel So Art kalte Repression, so kalter Entzug, könnte man sagen. Autorin Daniel O-Ton 56 Daniel Hätten sie jetzt die Miete ausgeglichen, ... fristlose Kündigung wäre ad acta gewesen. Und das hätte mich über die Pandemie geholfen. Ich bin kurz vor der Pandemie zwangsgeräumt worden. Bin dann in ein Wohnheim rein, 7,5 Quadratmeter. Und war jetzt vier Jahre drin. Und das war Körperverletzung in höchster Art und Weise, seelisch. Meine Depressionen wurden immer, immer schlimmer. Hatte in der Zeit in dem Sinne unterbewusst einen Suizid versuch gehabt, definitiv. Aber nicht bewusst, da war ich unter Alkohol. O-Ton 57 Gisela Da war ich ne ganze Zeit nicht krankenversichert. Ich konnte nicht zum Zahnarzt gehen. Was dringend notwendig gewesen wäre. Autorin Gisela O-Ton 57 Gisela Das war schon krass. Mit Zahnschmerzen dann rumlaufen, und dann immer Schmerzmittel, damit man überlebt, irgendwie. Autorin Die Agentur für Arbeit erklärt gegenüber dem Deutschlandfunk, dass ihr solche Fälle nicht bekannt seien. Helena Steinhaus vom Verein Sanktionsfrei hat da andere Erfahrungen. O-Ton 58 Helena Steinhaus: Ein ganz aktueller Fall: Eine Mutter hat einen Minijob angenommen, und das Jobcenter versagt vorsorglich alle Leistungen - (...) obwohl ja der Anspruch auf Bürgergeld überhaupt nicht erlischt. Die Frau muss jetzt Unterlagen einreichen, die Unterlagen kommen aber erst in drei Wochen, und so lange steht sie mit nichts da, obwohl sie ein Kind hat und eigentlich klar ist, dass man mit einem Minijob ja gar nicht so viel verdienen kann. Solche Sachen. Das klingt so, als wäre das nur ein absurder Einzelfall, aber das sind so viele Fälle, die einfach nicht passieren dürfen, die wir dann ausgleichen. Autorin Manche Betroffene warten Monate lang. Wenn kein Geld für die Miete da ist, kommt irgendwann die Räumungsklage. Auch Gisela hat auf diese Art ihre Wohnung verloren. O-Ton 59 Gisela Ich hab meinen Nachbarn erzählt, dass ich zwangsgeräumt werde, niemand hat mir geglaubt: "In Deutschland passiert so was nicht." Es stimmte. Die Nachbarin kam während der Räumung dazu. War komplett entgeistert, hat mir noch geholfen, paar Sachen einzupacken, in'n Koffer zu schütten. Die wollte das, was in den Schubladen war, noch schön einräumen. Hab ich gesagt: Die geben mir keine zehn Minuten, die schmeißen mich raus. Schütt' rein in den Koffer und nimm raus, was noch geht. Und ja gut, sie hat mir geholfen... ich bin ... zusammengebrochen. [weint] O-Ton 60 Daniel Und es kann eben jeden treffen. Das ist eben das Problem. Die meisten Menschen denken immer: "Ja, mir geht's ja gut. Ach, der war beim Jobcenter, naja, das ist ja sowieso ein Fauler" - Nee, muss nicht sein! O-Ton 61 Martina Ich hab dann wieder keine Krankenversicherung, ich bin aber chronisch krank, ich brauch dann regelmäßig Ärzte und manchmal auch n'kleenen Krankhausaufenthalt. Und dann wusste ich: Im deutschen Staat ist die einzige Möglichkeit, an ne Krankenversicherung ranzukommen, ist die Heirat. Dann hab ich holter-die-polter, innerhalb von zehn Tagen: Das war mein frisch gebackener Partner, den ich nicht habe überprüfen können, ob er wirklich zuverlässig ist... Und der Mann hat sich als gewalttätig herausgestellt, relativ bald. Und dann musste ich doch, um mein Leben zu retten, in die Wohnungslosigkeit flüchten. Autorin Erst zehn Jahre später erstreitet Martina vor Gericht, dass die Streichung der Sozialleistungen unrechtmäßig war. Rückwirkend hat sie aber kein Geld bekommen. Heute ist sie 60 Jahre alt. O-Ton 62 Martina Woher krieg ich genug Geld um die Fahrt von A nach B? Da muss man sich wahrscheinlich verschulden, privat. All solche Entscheidungen im Notbereich muss man treffen. Und ich hab dann 18 Jahre abgezahlt an meinen privaten Verschuldungen. Und seit 2023 erst bin ich endlich wieder schuldenfrei. Autorin Mit der Musik und ihren selbst geschriebenen Liedern habe sie sich am Leben gehalten, sagt Martina. Atmo 7 Gitarre/Musik Über hunderttausend Male/ Wird der Lebensgrund zerstört / fliegen Menschen aus der Wohnung/ Was die Mehrheit nicht empört / Sind ja nur'n paar arme Schlucker / und Schmarotzer obendrein / Wozu brauchen die ne Wohnung? Nachts im Schlafsaal ist es fein. // Doch die Seele braucht den Raum... Autorin Manche Betroffene unterstellen den Vermittlern im Amt Absicht. Sozialberater Michael Breitkopf und Jobcenter-Mitarbeiterin Amelie Stacher sprechen von Überlastung. O-Ton 63 Michael Breitkopf Während ich früher im Wesentlichen den Attacken der Jobcenter möglichst intelligent und kompetent begegnen musste, habe ich seit zwei, drei Jahren genau das umgedrehte Problem. Egal, was man in diesen Jobcenter Corpus rein schmeißt, als Anliegen, Antrag oder sonst irgendwas: Da liegt's gut. O-Ton 64 Mitarbeiterin Der eigentliche Brennpunkt, wo wirklich Leute irgendwie reihenweise rennen und die Stellen nicht nachbesetzt werden können, warum auch immer, ist wirklich die Leistungsabteilung. Weil die sind wirklich komplett überlastet. Die haben super komplizierte Berechnungsvorgänge. (...) Autorin Im Fall von Béatrice K. mangelt es allerdings nicht an Kapazitäten. Die Vermittlerin schickt weiter täglich Briefe und setzt ihre seelisch kranke Klientin immer stärker unter Druck. O-Ton 65 Béatrice K. Im Nachhinein stelle ich mir fast vor, dass die auch da irgendwo von oben da gemobbt wurde .... oder irgendwas, also so, die hat das, glaube ich, nach unten einfach weiter getreten. So kommt mir das im Nachhinein vor. Autorin Hoch verschuldet und depressiv hört Béatrice K. es eines Tages an der Tür klopfen. Doch der Tag, an dem bei Béatrice K. das Gas abgestellt wird, bringt auch eine überraschende Wendung. O-Ton 66 Beatrice K. Diese Gerichtsvollzieherin, die war unheimlich nett, tatsächlich, und die hat das irgendwie geschnallt, dass es mir echt nicht gut geht. Die hat zu mir gesagt, dass es da in der Nähe gleich um die Ecke so eine Sozialstelle gäbe, und ich soll da doch bitte mal hingehen... Und das wurde trotzdem natürlich abgestellt, alles, das ist ja klar. Autorin Bis heute zahlt Beatrice K. die Schulden für diese nicht bezahlte Gasrechnung aus dem Jahr 2016 ab. Aus 120 Euro wurden ruch Inkassoaufträge am Ende 1.200 Euro. Trotzdem war der Hinweis der Gerichtsvollzieherin ein Ausweg für Beatrice K. O-Ton 67 Beatrice K. Da bin ich dann dahingegangen zu dieser Beratungsstelle und hab dann auch endlich mal geweint, tatsächlich, einfach einen Heulkrampf bekommen, und ja.... und dann hat sie mir geraten, ich soll in die Tagesklinik gehen, ins Urbankrankenhaus, so. Dann hat das Klinikum, das habe ich hier auch, (blättert), hat dann praktisch dem Jobcenter geschrieben, dass ich so krank bin, dass diese Sanktionen für mich eine Härte bedeuten. "Wieso?" Also das war für mich eine richtige Farce (...) nachdem man mich total krank gemacht hat, wurde dann gesagt: "Och Mensch, wenn wir gewusst hätten, dass Sie so krank sind, dann hätten wir das ja alles gar nicht .... (lacht)... So wurde das praktisch hingestellt, ja! Autorin Béatrice K. erhält wieder ihre Leistungen. Rückwirkend wird ihr jedoch nichts erstattet. Der Weg aus der massiven Verschuldung ist lang. Und eine Arbeit zu finden, ist nach dem traumatisierenden Erlebnis noch schwieriger als zuvor. O-Ton 68 Beatrice K. Im ersten Arbeitsmarkt habe ich jetzt nicht mehr mich bemüht, muss ich ganz klar sagen, ich bin jetzt 58. Aber ich hab es wirklich noch gerade so geschafft, Gott sei dank, in dieses solidarische Grundeinkommen-Programm zu kommen, und bin jetzt überglücklich. Also, das ist das beste, was mir je...., was mir passieren konnte, und es ist perfekt. Autorin Das "Solidarische Grundeinkommen" ist ein Pilotprojekt vom Land Berlin. Es ist kein bedingungsloses Grundeinkommen, sondern an eine Beschäftigung gekoppelt, die nach Mindestlohn bezahlt wird. Die Teilnehmenden können im öffentlichen Dienst oder bei Trägern arbeiten. Sie werden dafür vom Land Berlin bezahlt, nicht vom Arbeitgeber. Tausend Probanden nehmen aktuell an dem fünfjährigen Programm teil - Béatrice K. ist eine davon. Es ist bereits ihr viertes Jahr. O-Ton 69 Beatrice K. Ja, also, ich habe ganz lange Zeit da im Theater gearbeitet. (...) Und habe jetzt nochmal gewechselt die Stelle hier ins Büro, mach jetzt hier so Veranstaltungsbetreuung, sowas. Und ist einfach super, und vor allen Dingen, es sind eben genau diese paar Hundert Euro mehr, die das Leben in ganz, ganz andere Dimensionen hieven, ganz ehrlich, ne. Es geht einfach darum... dass man nicht am 15. pleite ist, dass man sich n Paar Schuhe kauft. Das ist ja nicht viel Geld. Ich bin ja jetzt keine Großverdienerin, ich bekomme den Mindesttariflohn und ich habe keine Geldsorgen mehr. Autorin 30 Stunden die Woche arbeitet Béatrice K. Wenn das Programm ausläuft, könnte sie vom Land Berlin weiter beschäftigt werden. O-Ton 70 Beatrice K. In jedem Fall, glaube ich, sind diese Sanktionen immer eine Abwärtsspirale... Also ich glaube nicht, dass sie jemanden, der die Kraft hätte, dazu bringen, dass er sich jetzt großartig bemüht, weil er hat keinen Druck (..). Aber die Menschen, die die Kraft nicht haben oder vielleicht die Möglichkeit nicht, oder nicht wissen, wie sie das machen können - in die Abwärtsspirale reindrücken, die wirklich bis zum Selbstmord, wahrscheinlich geht. Sprecher Sanktioniert. Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen Atmo 8 Gitarre/Martina H. Armes Land der verkauften Würde Verlogenheit zeichnet dein Gesicht Wirtschaftsfreundlich und menschenfeindlich Die Suizide erfasst man nicht Den Tod vom Amt erfasst man nicht Sprecher Von Lea Fauth. Es sprachen Dirk Müller und die Autorin Ton: Alexander Brennecke Regie Philippe Brühl Redaktion Wolfgang Schiller Eine Produktion des Deutschlandfunks 2025 24