Hörspiel Feature Radiokunst Das Feature Zehn Milligramm Arbeitswut Über Risiken und Nebenwirkungen der Gehirnoptimierung Autorin: Agnes Steinbauer Regie: Ulrike Bajohr Redaktion: Ulrike Bajohr, Wolfgang Schiller Produktion: Deutschlandfunk 2010 Erstsendung: Freitag, 20.08.2010, 19.15 Uhr Wiederholung: Dienstag, 18.07.2023, 19.15 Uhr Es sprachen: Marietta Bürger, Sigrid Burkholder und Jochen Langner. Ton und Technik: Hendrik Manook und Petra Pelloth Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. (c) - unkorrigiertes Exemplar - (M 1: Space Patrol Return, digibema 288163, von Anfang ) 01 0-Ton (Heuser) ...wenn es eine Substanz gäbe, die dazu führen würde, dass ich sehr schnell, zum Beispiel chinesisch lernen könnte - was ich gerne könnte - hätte ich überhaupt kein Problem, das sofort einzunehmen... 02 0-Ton (Metzinger) ...an sich ist an Wachheit und Konzentrationsfähigkeit nichts Böses und es ist auch nicht so, dass unser Geist ein Geschenk wäre, das uns verpflichtet, nicht an diesem Geschenk herumzubasteln.... 03 0-Ton (Passig)... ich glaube, es wäre eine bessere Welt, in der man nicht nur zu Tchibo gehen könnte und sich eine beliebige Menge Kaffee kaufen könnte, sondern auch in die Apotheke und sich da beliebige Mengen Ritalin oder Modafinil kaufen... M1 weg, bei max. 0´56`16 Ansage: Zehn Milligramm Arbeitswut - Über Risiken und Nebenwirkungen der Gehirnoptimierung. Ein Feature von Agnes Steinbauer Musik zurück auf 48",unter Text bis 1`10, evt. doppeln Sprecherin: Die unendlichen Weiten des menschlichen Geistes ausschöpfen, Sprecher: ein "Superhirn" für sich arbeiten lassen, Sprecherin: das gleichzeitig komplizierte Rechenaufgaben erledigt, Fremdsprachen lernt und Unmengen Prüfungsstoff speichert. Ein uralter Menschheitstraum, den heute eine neue Hoffnung nährt: "Neuro-Enhancement" . Sprecher: Die Verbesserung geistiger Leistungsfähigkeit - Sprecherin: - nennen es die einen. Nichts als "Hirndoping" ist es für die anderen. Musik weg In beiden Fällen greifen gesunde Menschen zu Psychopharmaka, um ihren Geist zu "optimieren" - ein Trend, der in Deutschland an Bedeutung gewinnt... 05a 0-Ton/Studentin mit verfremdeter Stimme: Während des Abiturs hatte ich das ausprobiert, weil es so war, dass ich einen Lernrhythmus hatte, dass ich bis in die Nacht gelernt hatte und dann meistens bis in den Tag hinein geschlafen habe und wenn dann morgens um neun eine Prüfung ist, dass ich mir dann nicht zugetraut habe, dass ich morgens wirklich fit bin und mit zuviel Kaffee einfach zu nervös war und dass ich einfach 'mal was anderes ausprobieren wollte und mir davon erhofft habe, wach zu sein, konzentriert zu sein, einfach leistungsfähiger zu sein... Sprecherin: Die junge Frau, die das erzählt, ist Mitte zwanzig und studiert an einer deutschen Universität Biologie. Über ihre Erfahrungen mit den "smart drugs", mit denen sie "Hirndoping" betrieben hat, berichtet sie lieber anonym. Sie hat illegale Amphetamine geschnupft. M1a , Teppich aus 48" bis 54/1`01 bis 1´04, gleichz. mit Sprecher Sprecher: Amphetamine beeinflussen im Gehirn die Neurotransmitter - also Botenstoffe, die Wachheit, Konzentration und Aufmerksamkeit steuern. Vor allem in den USA verschreiben Ärzte Amphetamine zur Behandlung der Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS). Wegen Suchtgefahr werden sie hierzulande kaum noch als Medikamente eingesetzt. In der Drogenszene sind sie - in unterschiedlicher chemischer Zusammensetzung - bekannt : Sprecherin: Ice, Crystal, Speed, Pepp oder Ecstacy. (Musik weg) Sprecherin: Auch die Studentin nutzte sie nicht als Partydroge. Sie bereitete sich mit Amphetaminen auf Prüfungen vor - mit ganz konkreten Erwartungen... 06a 0-Ton (Stimme verfremden):...einfach viel Stoff in 'ner relativ kurzen Zeit lernen zu können, dadurch, dass ich weniger schlafe, dass ich die Nacht durchlerne, dass ich - man kennt das ja - viel anstaut und man probiert dann in zwei Tagen noch viel Stoff zu lernen für die Prüfung am nächsten Tag und dass ich mir davon erhofft hatte, dass ich davon konzentrationsfähiger bleibe über viele Stunden hinweg und dass ich mir das Gelernte viel besser einprägen kann... Sprecherin: Davon träumen immer mehr Menschen. Wie viele versuchen, diesen Traum mittels Medikamenten zu verwirklichen - darüber gibt es in Deutschland noch keine verlässlichen Zahlen. Sprecher: Das Thema Neuro-Enhancement oder kognitives Enhancement wird aber für viele Wissenschaftler immer wichtiger. Sprecherin: Der Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universitätsmedizin Mainz, Professor Klaus Lieb, hat gerade eine erste Untersuchung dazu abgeschlossen. Zusammen mit dem Mediziner Andreas Franke befragte er in seiner "Mainzer Studie" tausend Berufsschüler und Schüler der gymnasialen Oberstufe sowie 500 Studierende der höheren Semester aus den Bereichen Medizin, Pharmazie und Betriebswirtschaft, wie sie es mit Substanzen zur geistigen Leistungssteigerung halten: 07 0-Ton (Lieb): Wir haben gefunden, dass die Häufigkeit, mit der Schüler und Studierende Substanzen wie Amphetamine, Methylphenidat und Modafinil eingenommen haben, zur geistigen Leistungssteigerung bei etwa vier Prozent liegt. Das ist eine Zahl, die erst 'mal nicht besonders hoch klingt. Wir haben zum Beispiel in den USA häufigere Einnahmen. Das reicht so zwischen acht bis zu zwanzig Prozent, die Schätzungen. Und trotzdem haben wir hier einen Trend... Sprecherin: Zu einem ähnlichen Resultat kamen Freiburger Medizinstudenten. In ihrer Fachschaftszeitschrift "Appendix" veröffentlichten sie die Ergebnisse einer Online-Befragung, die sie von Januar bis Mai 2010 unter 412 Kommilitonen durchgeführt hatten. Knapp vier Prozent gaben an, vor Prüfungen regelmäßig Enhancement-Substanzen zu benutzen. M2 Voices, Noices, Underground, 0 bis 5", digibema 288170 Sprecher: Dass viele Schüler und Studierende den Verlockungen von "Hirndoping" nicht abgeneigt sind, geht aus der "Mainzer Studie" klar hervor. Sprecherin: Ein Ergebnis überraschte Klaus Lieb besonders: 08 0-Ton: ...wir hatten ja gefragt: Wie hoch ist Ihre Bereitschaft, solche Substanzen einzunehmen? Und da haben 80 Prozent der Schüler und Studierenden gesagt: Wenn Substanzen sicher sind, wenn sie keine Nebenwirkungen haben, dann bin ich auch bereit, solche Substanzen einzunehmen, um im Prüfungsstress mithalten zu können... 09a 0-Ton (Studentin/verfremden) Die Konzentrationsspanne, die Aufmerksamkeitsspanne ist auf jeden Fall sehr viel länger. Man ist bei der Sache. Man lernt und man lässt sich nicht so leicht ablenken. Man will nicht irgendwelche Dinge machen, die man ja oft macht beim Lernen. Viele fangen an zu essen, die Fenster zu putzen oder aufzuräumen. So 'was passiert dann eben nicht. Man bleibt dann sitzen und lernt das dann eben auch... M 1b Zäsur 1`04 bis 1`10 Sprecherin: Psychopharmaka als "Nothelfer" in allen Lebenslagen? Als Antriebsmittel, endlich den Keller auszumisten oder die Wohnung durchzuputzen? Sprecher: Enhancement-Konsumenten berichten von diesen erfreulichen Effekten. M2 Voices, Noices, Underground, 0 bis 5" Sprecherin: Lästige Alltagspflichten verlieren durch Ritalin ihren Schrecken - davon ist die Berliner Schriftstellerin Kathrin Passig überzeugt. Die Einkommensteuererklärung oder die Deadline für Artikel und Bücher gehören für sie zu den vielen "Grausamkeiten", die ein freiberufliches Leben erschüttern. 10 0-Ton (Passig): Meine normale Arbeitsweise ohne Ritalinhilfe sieht so aus, dass ich eher eine Woche brauche, um einen kurzen Text zu schreiben, weil ich zwischendrin immer vom Hundertsten ins Tausendste gerate und dringend immer 'mal wieder andere Dinge im Internet nachlesen muss oder 'was ganz anderes tun, was alles, nur nicht das, was jetzt gerade dringend nötig wäre und das beschleunigt sich alles unter Ritalin auf sehr angenehme Weise und ich kann dann tatsächlich in einem Nachmittag den Text 'runterschreiben, den ich schreiben müsste und dann den Rest der Zeit ohne schlechtes Gewissen mit 'was anderem zubringen... Sprecherin: Die "Ingeborg-Bachmann-Preisträgerin" und Ko-Autorin des Buches "Dinge geregelt kriegen - ohne einen Funken Selbstdisziplin" bekennt sich zum "Hirndoping" mit Ritalin. Sprecher: Sie bekommt dieses Medikament gegen Narkolepsie, das ist eine neurologische Krankheit, bei der der Schlaf-Wachrhythmus gestört ist. Sprecherin: Ritalin bewahrt sie vor plötzlichen Einschlaf-Attacken, mit denen Narkoleptiker zu kämpfen haben, hat für sie aber auch noch andere Vorteile: 11 0-Ton (Passig): Es macht einfach sehr tatendurstig und arbeitswillig...Stellen Sie sich einfach vor, Sie trinken die dreifache Espresso-Menge, die sie üblicherweise trinken, dann werden Sie sich ungefähr so fühlen, wie ich unter Ritalin, nur dass Ritalin ein bisschen angenehmer ist, zumindest für mich. Ich spüre bei Kaffee dann immer eher die lästigen Nebenwirkungen und nicht die hilfreichen und dieses Verhältnis verschiebt sich bei Ritalin ein wenig zu Gunsten der hilfreichen. Sprecher: Medikamente wie Ritalin oder Modafinil sind rezeptpflichtig. Sprecherin: Illegal werden sie übers Internet bezogen - oder auf dem Schulhof angeboten. M1a , Teppich aus 48" bis 54/1`01 bis 1´04, gleichz. mit Sprecher Sprecher: Neben Amphetaminen, Betablockern gegen Bluthochdruck, Anti-Depressiva oder Alzheimer-Medikamenten gehören Ritalin und Modafinil zu den gebräuchlichsten "Neuro-Enhancern". Ritalin unterliegt seit 1971 dem Betäubungsmittelgesetz. Sein Wirkstoff Methylphenidat wurde 1944 erstmals synthetisch hergestellt und gehört zu den amphetamin-ähnlichen Substanzen. Der Markenname "Ritalin" leitet sich von "Marguerite" - kurz "Rita" ab. So hieß die Ehefrau des Ritalin-Erfinders Leandro Panizzon - einem Angestellten der schweizerischen Firma Ciba, heute Novartis. In Selbstversuchen mit Methylphenidat erzielte Rita damals Spitzenleistungen beim Tennis. (M1a weg) Sprecherin: Auch heute ist es offenbar für Selbstversuche gut - wenn auch eher für geistige als für physische Leistungsschübe. In der Online- Ausgabe der Schweizer Zeitung "Der Bund" beschrieb die Autorin Birgit Schmid am 14.8.2009 http://www.derbund.ch/leben/gesellschaft/10-Milligramm-Arbeitswut/story/13976846 ihre erste Begegnung mit den "smart drugs": Zitatorin: Mittwochmorgen, neun Uhr, ich schlucke die ersten zehn Milligramm Arbeitswut und Selbstdisziplin. In den nächsten Minuten wird der Wirkstoff Methylphenidat die Wiederaufnahme des Neurotransmitters Dopamin in meinen Nervenzellen hemmen. Nach zirka Dreiviertelstunden spüre ich den Energie-Boost in Kopf und Körper. Das Herz schlägt kräftig. Es stellt sich eine Art Hochgefühl ein, die ersten zwei Stunden ansteigend, eine leicht euphorisierende Wirkung... Es fällt mir beim Schreiben viel leichter, Entscheidungen zu treffen. Die Worte vermehren sich ungebremst... 12 0-Ton (Passig): Normalerweise ist es so, dass ich eine halbe Tablette einnehme, das sind fünf Milligramm Ritalin und mir dann vornehme, jetzt erst mal gemütlich das Internet durchzulesen und später irgendwann mit der Arbeit anzufangen und das ist dann ganz oft so, dass ich mich schon sehr kurze Zeit später dabei ertappe, dass ich - ohne es eigentlich zu merken - mit der Arbeit anfange und schon mitten drin stecke, also diese ganzen Hindernisse, die sich immer zwischen einem und der Arbeit, die man ja eigentlich gerne tun möchte - ich hab ja nen Beruf, den ich sehr mag, ich schreibe gerne - diese Hindernisse, die sich dann trotzdem zwischen einem selbst und dem Anfangen auftürmen, die räumt Ritalin sehr angenehm aus dem Weg... M1c Zäsur ab ca. 1`07 bis 1`16 Sprecherin: ... Augen auf und durch - ein Grundgefühl, das Neuro-Enhancement-Konsumenten eint. Wenn bei ihnen der "Flow" einsetzt, leistet ihr Gehirn ganze Arbeit. Sprecher: Es schüttet verstärkt Substanzen aus, die das zentrale Nervensystem aktivieren. Sprecherin: Erhöhte Konzentration von "Neurotransmittern am synaptischen Spalt" nennt das der Psychiater. Klaus Lieb: 13 0-Ton (Lieb): ...die Nervenzellen kommunizieren über Botenstoffe miteinander. Die setzen zum Beispiel den Botenstoff Dopamin oder Noradrenalin frei und der wird dann von der nächsten Zelle aufgenommen und die Zelle wird dann dadurch aktiviert, und das kann zu einer Verbesserung von Wachheit, Konzentration, Aufmerksamkeit führen, das passiert dadurch, dass diese Substanzen an bestimmte Bindungsstellen binden und dann verhindern, dass die Botenstoffe wieder in die Zelle zurück aufgenommen werden, also die stehen zwischen den Zellen vermehrt zur Kommunikation zur Verfügung... M2 Voices, Noices, Underground, 54", immer wieder unter Text bis Zäsur Zitatorin: Ich möchte aufspringen und mich bewegen, wenn mir die Arbeit am Computer nicht verlockender erscheinen würde. Erst als es nach zwei Stunden an der Bürotür klopft, schrecke ich auf. Meine Gesichtshaut spannt, ich muss regungslos auf den Monitor gestarrt haben, habe mich geistig verzahnt mit dem Text...Am Mittag habe ich leider eine Verpflichtung und muss meine wunderbare Arbeit verlassen. Während des Stehlunches mache ich intensiven Smalltalk. 14 0-Ton (Passig): Ich hab das Gefühl, dass man an meiner Twitter Timeline sehr gut den Ritalin-Füllstand ablesen kann, ich werde einfach allgemein mitteilungs- und meinungsfreudiger 15a 0-Ton (Studentin/Stimme verfremden): Es ist oft so, dass Sie sehr kommunikativ sind, den anderen oft auch gar nicht aussprechen lassen, plötzlich große Ideen haben, die Welt verändern wollen, dass es auf einen nüchternen Menschen irgendwo auch ein bisschen nervig wirkt, diese Art... Zitatorin: Abends ist es noch immer so, als zöge ein Magnet all meine Gedanken an. Als ich das Nachtessen einkaufen gehe, kreise ich nicht drei Stunden lang um die Regale, unentschieden, ob ich Tomaten oder Gurken kaufen soll. Ich weiß plötzlich klar, was ich will. Überhaupt kein Kochtalent, probiere ich zum ersten Mal seit Langem etwas Neues aus. Ein Psychiater hat mal erzählt, wie er einem Patienten während dessen Abschlussprüfung Ritalin verschrieb; zum ersten Mal gelang dem Bäckerlehrling der Tortenboden, endlich fiel der Teig nicht mehr auseinander. Die Pille macht fähiger. Selbstbewusst... M2 weg Sprecherin: Brainpower statt Flowerpower? Sprecher: Jede Zeit hat ihre Drogen. Sprecherin: Die Hippies der 60er und 70er Jahre hatten noch das gute alte "Haschisch in den Taschen", die Punks der 80er und 90er gingen mit Alkohol, LSD oder Heroin auf Entspannungs-Trip - ganz anders als die Smart-Drug-Konsumenten von heute. Sie suchen weder das Vergessen noch das Vergnügen. Sprecher: Sie wollen leistungsfähiger sein. M2 Voices, Noices, Underground, 0 bis 5" Sprecherin: In diesem Zusammenhang grassieren viele falsche Vorstellungen über die tatsächlichen Möglichkeiten einer chemischen Gehirnstimulation. In eine Intelligenzbestie verwandelt man sich dadurch nicht, erklärt die Psychiatrie-Professorin Isabella Heuser: 16 0-Ton (Heuser): Wir haben noch keine Substanz entdeckt, die Menschen klüger macht, kreativer macht oder leichter lernen lässt, das gibt es nicht...das Einzige, was wir bisher haben, zum Beispiel mit dem Modafinil, ist eine Substanz, die dazu führt, dass die Aufmerksamkeit über längere Zeit aufrecht erhalten werden kann... Sprecherin: Die Direktorin der Klinik und Hochschulambulanz für Psychiatrie und Psychotherapie der Berliner Charité gehört zu den sieben Wissenschaftlern, die im Herbst letzten Jahres Aufsehen erregten mit ihrem Sprecher: "Memorandum" zu Chancen und Risiken von Neuro-Enhancement Sprecherin: Das Papier fasst die Ergebnisse von drei Jahren interdisziplinärer Forschungsarbeit zusammen und löste heftige Diskussionen aus. Der Grund: Die beteiligten Wissenschaftler, aus den Bereichen Medizin, Psychotherapie, Philosophie, Neuroethik und Rechtswissenschaften, plädierten einhellig für die Möglichkeit zum "optimierten Geist" und für eine Liberalisierung der Debatte : M2 Voices, Noices, Underground, erste 11" wdh., unter Text bis in 017 Sprecher: "Wir vertreten die Ansicht, dass es keine überzeugenden grundsätzlichen Einwände gegen eine pharmazeutische Verbesserung des Gehirns oder der Psyche gibt. Vielmehr sehen wir im pharmazeutischen Neuro-Enhancement die Fortsetzung eines zum Menschen gehörenden geistigen Optimierungsstrebens mit anderen Mitteln..." 17 0-Ton (Heuser): Ich glaube, es ist ein Wunsch des Menschen, sich zu verbessern und in dieser Zeit, wo es auf die geistige Leistungsfähigkeit und Kreativität ankommt, also auf unsere Geisteskraft- wir sind alles Kopfmenschen geworden und nicht mehr Muskelmenschen - ist es ganz wichtig, dass man zumindest erwägt, dass es gute, nebenwirkungsarme Substanzen gibt, die diese geistige Leistungsfähigkeit verbessern... Sprecherin: Das "Memorandum" liest sich wie die deutsche Antwort auf eine Veröffentlichung in der renommierten US-amerikanischen Wissenschaftszeitschrift "Nature" vom Dezember 2008, die die Debatte ins Rollen brachte. Sprecher: "Auf dem Weg zur verantwortungsvollen Nutzung von Neuro-Enhancement-Produkten durch Gesunde" Sprecherin: Unter diesem Titel plädierte Henry Greely, Rechtsprofessor an der Stanford Law School, mit sechs Kollegen aus den Bereichen Neuroethik, Psychologie, Medizin und Philosophie für die liberalere Handhabung von Psychopharmaka zur Optimierung des Gehirns. M2 Voices, Noices, Underground, erste 11", verkürzt, unter Text Sprecher: "Die Gesellschaft muss auf die wachsende Nachfrage nach kognitiver Verbesserung reagieren...Vor allem muss man aufhören, diesen Begriff als "schmutziges Wort" zu verteufeln..." M2 weg Sprecherin: Hauptargumente der Wissenschaftler: Sprecher: Diese Mittel sind zeitgemäß und nicht mehr aufzuhalten, weil die Menschen sie wollen. Sprecherin: Untersuchungen an amerikanischen Universitäten hätten, so "Nature", belegt, dass durchschnittlich sieben Prozent der Studierenden Gehirnstimulanzien benutzen. Vereinzelt seien es sogar bis zu 25 Prozent gewesen. Für die Autoren des "Memorandums" in Deutschland gibt es ebenfalls... Sprecher: Zitat: "...Gute Gründe, das offenbar heute schon vorhandene Bedürfnis nach pharmakologischer Unterstützung der Psyche zu enttabuisieren..." Sprecherin: Auch hierzulande seien Neuro-Enhancement-Substanzen im Kommen, argumentieren die Wissenschaftler und stellen klar: M2 Voices, Noices, Underground, 5 bis 11", verkürzt, unter Text Sprecher: Das Ziel, den Geist zu verbessern, ist an sich "keineswegs dubios". M2 weg Sprecherin: Es dürfe deshalb nicht als "Hirndoping" vorverurteilt werden, weil damit eine falsche Parallele zum Betrug im Leistungssport gezogen würde. Es gelte nun, die Risiken zu erforschen und solche Mittel so sicher wie möglich zu machen: 18 0-Ton (Heuser): Es sollten solche Substanzen versucht werden zu entwickeln, von den Pharmafirmen, nicht finanziell unterstützt von der Gesellschaft, nicht von Steuergeldern, sondern von der Industrie. Es muss aber gleichzeitig jetzt schon eine intensive Diskussion darüber erfolgen, wie wir das regeln wollen, wie weit wir als Gesellschaft bereit sind, so etwas zu akzeptieren... Sprecherin: In der Fachwelt hat die Diskussion darüber schon begonnen - teilweise sehr kontrovers. Die Hauptbedenken, die auch das "Memorandum" zur Sprache bringt, sind ethische Einwände: Sprecher: "Widernatürlichkeit", Gefährdung der Authentizität, soziale Auswirkungen durch Wettbewerbsnachteile - Sprecherin: und nicht zuletzt: unübersehbare gesundheitliche Folgen. M2 Besonders Suchtexperten haben Bedenken. Zwar sind in deutschen Suchtkrankenhäusern "Hirndoping"-Opfer bis jetzt relativ selten. Für Professor Götz Mundle, den ärztlichen Direktor der Oberbergkliniken, ist das aber kein Grund zur Entwarnung: 19 0-Ton: Wir haben schon Patienten behandelt, die wegen einer Ritalinabhängigkeit in die Klinik kamen: Am Anfang einmalig, dann kam es zu einer Dosissteigerung, dann kam es zu einer "Toleranz-Entwicklung", das heißt, sie haben immer mehr gebraucht, um die Leistungserwartungen hinzubekommen. Dann kam es zu den Persönlichkeitsveränderungen. Die Emotionalität ist verschwunden, die Aggressivität hat zugenommen. Die Impulskontrolle war vermindert. Das heißt, die Menschen hatten öfters Ausbrüche, konnten nicht mehr zusammenarbeiten, in der Beziehung gab es Schwierigkeiten, häufig Streitereien... Sprecher: Bevor es soweit kommt, muss einiges passiert sein. M2 Sprecherin: Betroffen ist der gestresste Manager, der zweimal monatlich nach Brasilien fliegt. Er greift zur Wachmacher-Pille, damit er - trotz Jetlags - wichtige Meetings erfolgreich bestreitet. Überlastetes Klinikpersonal steht Doppelschichten im Krankenhaus am besten gehirngedopt durch, oder: Der unerledigte Bürokram, dem nach Feierabend Tribut zu zollen ist - mit "Hirndoping" lässt sich eine Sechzig- bis Achtzig-Stunden-Woche scheinbar locker wegstecken. 20 0-Ton (Mundle): Der typische Fall sind Menschen, die sehr engagiert sind, die leistungsbereit sind, fitte Menschen im Berufsleben, die an sich erfolgreich sind, Familie haben, Karriere machen, lebendig sind - und die eine hohe Erwartung an sich haben und die mehr und mehr Aufgaben auf sich nehmen und dann merken, sie stoßen an Ihre Grenzen... 21 0-Ton (Lieb): ...wenn Sie nur an die Emails denken und an die Dinge, die jeden Tag im Multitasking gemacht werden. Da sehe ich eine große Problematik, dass manche dann an ihre Grenzen kommen und merken: Jetzt kann ich das nicht mehr bewältigen und dann, wenn alles Mehrarbeiten nicht mehr hilft, dann so eine Substanz nehmen... Sprecherin: Auch nach Meinung des Psychiaters Klaus Lieb lebt gefährlich, wer nicht rechtzeitig die Bremse zieht. Psychopharmaka könnten - bei längerem Missbrauch - eine verhängnisvolle Spirale von permanenter Überforderung in Gang setzen. Für Lieb ist "Hirndoping" ein Vabanque-Spiel mit unbekanntem Ausgang: 22 0-Ton (Lieb): Man weiß nie, ob jemand süchtig wird, man weiß nie, ob eine psychische Erkrankung ausgelöst wird. Man weiß auch nie, welche Nebenwirkungen jemand hat...es gibt zum Beispiel genetische Veranlagungen, wie hoch der Dopaminspiegel ist, der eine hat mehr Dopamin, der andere weniger Dopamin im Gehirn. Deswegen wirken solche Medikamente auch sehr unterschiedlich. Das heißt, manche merken unter Ritalin oder Amphetamin `ne Verbesserung von Wachheit und andere werden nur furchtbar unruhig... diese Substanzen, die potente Wirkungen am Gehirn haben, die haben natürlich auch Nebenwirkungen: Die können unruhig machen, die können den Blutdruck steigern, die können den Puls steigern und sie können auch gravierende Nebenwirkungen haben. Sie können zum Beispiel psychische Erkrankungen wie Psychosen und Manien auslösen, und das ist auch ein Problem, dass wir viel zu wenig Erfahrung haben, bei Gesunden, weil diese Substanzen sind ja Medikamente und für die Behandlung von Patienten zugelassen, so dass man bei Gesunden viel zu wenig Erfahrung hat. M1a , Teppich aus 48" bis 54/1`01 bis 1´04 unter Text bis Sprecherin: Für wissenschaftlich fundierte Erkenntnisse über die genaue Wirkungsweise von Enhancement-Produkten wären Langzeittests an gesunden Freiwilligen nötig. Sprecher: Untersuchungen, die nicht erlaubt sind. Sprecherin: Ärzte, die ohne Not ein rezeptpflichtiges Medikament wie Ritalin verschreiben, machen sich in den meisten Fällen strafbar. Deshalb beschränken sich die wenigen Untersuchungen weltweit auf die Erfassung von Gebrauch und Verbreitung einschlägiger Medikamente. Sprecher: Die konkretesten Zahlen kommen aus den USA. (M1a weg) Sprecherin: Laut einer Langzeit-Studie der Universität Michigan, die 2006 veröffentlicht wurde, hatten zehn Prozent der befragten Studierenden Erfahrungen mit Amphetaminen, sieben Prozent hatten schon einmal Stimulanzien wie Ritalin benutzt. Bei einer Online-Umfrage der Wissenschaftszeitschrift "Nature" vom April 2008 outeten sich von 1.400 teilnehmenden Lesern 20 Prozent als Neuro-Enhancement-Konsumenten. Sprecher: In Deutschland geben bis jetzt zwei Untersuchungen zumindest einigen Einblick: Sprecherin: Neben der schon zitierten "Mainzer Studie", ist das der Gesundheitsreport der Deutschen Angestellten Krankenkasse (DAK) von 2009. Zum Thema "Doping am Arbeitsplatz" gaben 20 Prozent der teilnehmenden DAK-Mitglieder zwischen zwanzig und fünfzig Jahren an, schon einmal Substanzen zur geistigen Leistungssteigerung eingenommen zu haben oder sie sogar regelmäßig zu nehmen. Sprecher: Wird die 80-Stunden-Woche in ein paar Jahren ganz normal sein? Sprecherin: Der Trend zur Droge befeuert nicht nur die medizinische, sondern auch die gesellschaftspolitische Diskussion. M1a Jakob Hein, Oberarzt an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Charite in Berlin, befürchtet, dass Neuro-Enhancement den Weg in eine schöne neue Arbeitswelt ebnet: 23 0-Ton (Hein): Im Grunde unterstützt es ja die "winner-takes-it-all"-Mentalität, das heißt, es geht nicht darum, dass jemand ordentlich arbeiten kann, sondern dass jemand zehn Prozent länger ordentlich arbeiten kann, es geht nicht darum, dass jemand nicht funktioniert, sondern, dass er noch drei Prozent besser funktioniert - und dann geht es natürlich ganz klar darum, dass er mit den drei oder zehn Prozent mehr einen Wettbewerbsvorteil erzielt, der dazu führt, dass der andere mit nur hundert Prozent in Anführungsstrichen, diesen Wettbewerb verliert...Das ist eine "Der-Gewinner-nimmt-alles-Mentalität", wo man die Leistung dessen, der 96 Prozent bringt, auf Null setzt, und nur die Leistung von demjenigen, der die neuen hundert Prozent bringt, dass man die Leistung von demjenigen dann plötzlich als Norm setzt. Das ist für mich ohne Boden, ohne Ende und führt mit Sicherheit nicht dazu, dass es uns gesellschaftlich besser geht... Sprecher: Was ist eigentlich falsch daran, wenn Menschen mehr Leistung bringen wollen und bereit sind, dafür Risiken auf sich zu nehmen? Sprecherin: Für Ärzte, die täglich mit stressbedingten Suchterkrankungen und psychischen Erschöpfungszuständen zu tun haben, ist das die falsche Frage. 24 0-Ton (Hein): Wie kann ich als Psychiater und Psychotherapeut glauben, dass das ein Nullsummenspiel ist? Das ist doch evident, dass das eine Auswirkung auf die Psyche und die Seele haben wird und warum sollte ich das dann als Psychotherapeut unterstützen?...Die Wahrheit, die wir global doch gerade sehr gut lernen, ob das jetzt ökonomisch ist, ob das ökologisch ist, dass es in Wirklichkeit kein Wachstum gibt, sondern nur Umverteilung, das heißt, wir nehmen etwas und stecken es woanders hin und bei Neuro-Enhancement geht es darum, dass wir irgendwoher etwas nehmen: Das ist in der Regel die Freizeit, das ist Schlaf, das sind so schöne Sachen wie: Einfach mal in die Luft starren und einen Strohhalm zwischen den Lippen in die Sonne starren...und stecken diese Dinge, die nicht abrechenbar sind, hinein in eine Arbeitsleistung, um eine Stunde länger arbeiten zu können... M1a 25 0-Ton (Metzinger): Die Standardfragen in der angewandten Ethik von solchen pharmakologischen Technologien sind, ob es zum Beispiel so etwas geben könnte wie das, was auf englisch "indirect coercion" heißt, das heißt, dass eine Wettbewerbssituation in der Gesellschaft sich verschärft, heißt, ob eine Situation entsteht, in der manche Leute - angenommen so etwas würde für Gesunde freigegeben - sich und ihre Leistungsfähigkeit im Beruf optimieren und dann andere Leute, zu deren Lebensentwurf es nie gehört hat, ihren eigenen Geist mit pharmakologischen Mitteln zu verbessern, sozusagen unter Zugzwang geraten und etwas tun, was sie eigentlich aus freien Stücken nicht getan hätten... Sprecherin: Thomas Metzinger, Philosoph und Leiter des Arbeitsbereiches Neurophilosophie an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz, greift in der Debatte um kognitives Enhancement vor allem die ethisch-sozialen Fragen auf. Für ihn wie für die meisten Kritiker der Gehirnoptimierung ist das schlagkräftigste Gegen-Argument der gesellschaftliche "Zugzwang", der durch Einnahme von solchen Mitteln entstehen könnte. Einen solchen Gruppendruck beschreibt auch der Psychiater Klaus Lieb in seinem neuen Buch "Hirndoping - Warum wir nicht alles schlucken sollten" als "relevantes ethisches Problem" - mit besonders gravierenden Folgen für Kinder und Jugendliche: 26 0-Ton (Lieb): Stellen Sie sich vor, Sie haben eine Tochter, in der 12. Klasse, vor dem Abitur und in der Klasse nehmen von den 30 Schülern 28 Substanzen ein, um ihre Leistungsfähigkeit zu verbessern, dann würde schon auf ihre Tochter, die das nicht will, doch ein erheblicher Druck entstehen... 27 0-Ton (Heuser): Das ist etwas, das mir große Sorgen bereitet, dass dann Menschen, die das nicht wollen, genötigt fühlen, vielleicht indirekt genötigt werden. Von Finanzleuten, die an der Börse arbeiten, weiß ich - ich habe selbst solche Menschen kennen gelernt - die gesagt haben: Sie nehmen zum Beispiel Kokain oder ein anderes Aufputschmittel - davon abgesehen, dass die ständig Kaffee trinken - weil sie müssen nachts aufstehen, weil die Börsen dann in Tokio öffnen, dann müssen sie lange wach bleiben, weil dann erst die Börsen in USA öffnen...die sagen, alle anderen machen das auch so und wenn ich das nicht mache und statt dessen schlafe, dann habe ich ein Problem im Job. Sprecher: Für die Psychiatrieprofessorin Isabella Heuser ist das allerdings kein Grund, Neuro-Enhancement prinzipiell als "Zukunftstechnologie" abzulehnen. Die Diskussionen um Ungleichheiten und drohende soziale Spaltung hält sie für überzogen: 28 0-Ton (Heuser): Die Menschheit hat sich schon immer in einer Leistungsgesellschaft befunden, hat sich schon immer gemessen, es gab schon immer Wettbewerb. Es gab das Streben nach Verbesserung, Vervollkommnung, da sehe ich nicht, dass diese Substanzen das I-Tüpfelchen sind, die das Fass zum Überlaufen bringen, ich glaube, das ist ein evolutionärer Prozess, der den Menschen begleitet. M2 Voices, Noices, Underground, 12"bis 32 unter 0 29 Sprecherin: Bekennende "Hirndoper", bei denen die guten Erfahrungen überwiegen, wie die Schriftstellerin Kathrin Passig, können den Diskussionen um mögliche Ungerechtigkeiten ebenfalls nichts abgewinnen - im Gegenteil: 29 0-Ton (Passig): Ritalin ist nicht Koks, eine Dosis, die ich nehme kostet 17 Cent. Da bleibt auch dem Hartz-IV-Empfänger nichts vorenthalten, und dann - glaube ich - hinkt dieses Gerechtigkeitsargument schon deshalb, weil die Voraussetzungen nicht gerecht verteilt sind. Die Leute sind unterschiedlich intelligent, sie kommen aus unterschiedlich bildungsfreudigen Elternhäusern, es herrscht an allen Ecken und Enden Ungerechtigkeit und die Leute haben ganz unterschiedliche Startbedingungen und gerade Ritalin kann man für weniger kaufen, für welche andere Qualifikation gilt das schon... Sprecherin: Auf ganz ähnliche Argumente ist der Philosoph Thomas Metzinger getroffen, der an der Mainzer Universität auch eine internationale Forschergruppe zum Thema Kognitives Enhancement koordiniert. 30 0-Ton (Metzinger): Ich gebe Ihnen mal ein Beispiel für ein Statement, das ich mal im Nuffield Council for Bioethics in London von einem englischen Philosophen gehört habe. Das ging etwa so: Jetzt schauen wir den Tatsachen ins Angesicht. Es hat 30 bis 40 Jahre sozialdemokratische Bildungspolitik gegeben. Es ist uns nicht gelungen, Arbeiterkinder in die Universitäten zu bekommen, vielleicht geht es so...das heißt, es gibt Leute, die sagen, das Hauptproblem besteht darin, dass die unterprivilegierten Schichten in dieser Gesellschaft auch einen neuen Zugang zu diesen neuen Technologien und Mitteln dazu die eigene Wettbewerbsfähigkeit zu verbessern, bekommen. M2 Voices, Noices, Underground, 32 bis 42, unter 0 30 beginnen, hier als Zäsur weg Sprecherin: Also doch "Schöne neue Welt"? Sprecher: Stellt das "Soma" des 21. Jahrhunderts große Teile der Bevölkerung nicht ruhig, sondern macht sie leistungsfähiger? Sprecherin: Um es ganz klar zu sagen: Dafür gibt es zur Zeit weder rechtliche noch gesellschaftliche Voraussetzungen noch die geeignete "Superpille". Dass sie in einigen Jahrzehnten auf den Markt kommen wird, hält Thomas Metzinger aber für mehr als wahrscheinlich - vor allem aus ökonomischen Gründen: 31 0-Ton (Metzinger): Man muss sehen, dass wenn wir Medikamente freigeben sollten, aus einem kulturellen Konsens heraus - das steht im Augenblick nicht zur Debatte, für Gesunde - dass dann etwas einsetzt, was ich mal als die Bewirtschaftung des gesunden Geistes bezeichnen möchte. Bei Nahrungsmitteln ist es in unserer Gesellschaft ja auch schon so, dass wir mehr produzieren als Menschen brauchen. Deswegen können Umsätze und Profite nur noch erhöht werden, indem zum Beispiel Impulskäufe stimuliert werden, indem man Leute irgendwie dazu bringt, mehr zu konsumieren, als sie eigentlich brauchen. Und in diesem historischen Kontext muss man auch die Pharmaindustrie in diesem Bereich sehen. Es geht darum, die Gesunden als zahlende Kunden für Medikamente zu gewinnen. Das heißt, es geht eigentlich darum, das ist die Grundsatzentscheidung, den gesunden Geist in eine kapitalistische Verwertungslogik mit einzubetten, indem man Bedürfnisse erzeugt, die nichts mit medizinischen Diagnosen im eigentlichen Sinne zu tun haben und dann in einer Wettbewerbsgesellschaft, in einer kapitalistischen Gesellschaft, das Ziel verfolgt, dass auch der gesunde Geist etwas ist, was mit Produkten verbessert werden kann, was in eine profitorientierte Verwertungslogik letztlich eingebunden werden kann - das ist die Grundentscheidung: Ob wir das überhaupt wollen, den gesunden Geist verbessern... Sprecherin: Seinen ethischen Bedenken zum Trotz gehört Thomas Metzinger in der Debatte zu den Pragmatikern. Aus emotionsgeladenen Pro- und Contra-Diskussionen hält er sich heraus. Für ihn steht zwar fest, dass es jetzt für eine Liberalisierung von "gehirnoptimierenden Drogen" zu früh wäre. Sprecher: Das hindert ihn aber nicht, über zukünftige Möglichkeiten nachzudenken: 32 0-Ton: Natürlich kann man sich viele Situationen vorstellen, in denen die gesamte Gesellschaft davon profitieren würde, wenn einzelne Zugang zu solchen Substanzen hätten. Denken Sie mal an Langstrecken-Piloten, denken Sie mal an Scharfschützen in Spezialeinheiten bei der Terrorabwehr, denken Sie mal an Finanzminister in Krisensituationen, die Nächte durch verhandeln müssen und Entscheidungen treffen müssen, die Millionen betreffen... Es gibt punktuell ganz bestimmt viele Bereiche, in denen Spezialisten unter Umständen einen Nutzen für die Allgemeinheit erwirtschaften könnten, indem sie vorübergehend ihren Geist optimieren... Sprecher: Im militärischen Bereich ist das schon Jahrzehnte üblich. Sprecherin: Dabei kann es aber auch zu Fehleinschätzungen kommen. Klaus Lieb schildert in seinem Buch einen Zwischenfall, der sich 2002 In Afghanistan zutrug. M2 Voices, Noices, Underground,, unter Text Zwei amerikanische Piloten töteten in einem "friendly fire" vier kanadische Soldaten. Danach gaben die Amerikaner an, das Amphetamin-Präparat Dexedrin eingenommen zu haben. Ihre Verteidiger vertraten im späteren Prozess die Auffassung, die Piloten könnten wegen der Amphetamin-Einnahme nicht für ihre Handlungen verantwortlich gemacht werden, die Amphetamine hätten die Integrität der Soldaten gestört. M2 weg Sprecher: Auch ohne derart fatale Folgen: "Hirndoping" hält nicht immer, was es verspricht. Sprecherin: So musste die Biologiestudentin feststellen, dass die Amphetamine, die sie zur Prüfungsvorbereitung eingenommen hatte, das eigentliche Ziel verfehlten: 33a 0-Ton (Stundentin/verfremdete Stimme): Während dem Lernen war ich sehr optimistisch. Und habe mir gedacht, dass ich wirklich alles verstanden habe, habe mir teilweise nicht mal Notizen gemacht, weil ich mir sehr, sehr sicher war, alles verstanden zu haben und einen Überblick zu haben, was sich letztendlich als Trugschluss erwiesen hat, dass ich in der Prüfung gesessen habe und gesehen hab eine Frage, den Abschnitt hatte ich mir vorher im Buch wirklich ganz genau durchgelesen und später konnte ich mich an nichts mehr erinnern... Sprecherin: Die offensichtlich wechselhafte, unberechenbare Wirkung von Substanzen, mit denen heute kognitives Enhancement betrieben wird, könnte in vielen Bereichen großen Schaden anrichten. Sprecher: Was, wenn ein "enhancter" Chirurg vorschnelle Entscheidungen im Operationssaal träfe? Sprecherin: Oder wenn ein Autofahrer mittels Wachmacher-Pille nicht nur konzentrationsfähiger wäre, sondern auch seine Fahrfähigkeiten überschätzte? M1a Sprecherin: Im Zusammenhang mit der Optimierung des Geistes gibt es nicht nur viele ungeklärte Fragen, sondern auch die unterschiedlichsten Gedankenspiele Sprecher: Werden Menschen durch Psychopharmaka nicht nur leistungsfähiger, sondern auch weiser? Sprecherin: Thomas Metzinger könnte sich verschiedene Szenarien vorstellen: 34 0-Ton: Richtig interessant - auch aus philosophischer Perspektive interessant - wäre es natürlich, wenn wir so etwas wie altruistisches Verhalten nachweislich optimieren könnten, wenn es nicht nur cognitiv enhancement gäbe, sondern so etwas wie moral enhancement, das heißt, wenn Leute ihre moralische Einsichtsfähigkeit verbessern könnten... Sprecherin: Abgesehen davon, dass so etwas aus heutiger Sicht komplette Science Fiction ist, verweist die Neuro-Enhancement-Debatte noch auf einen weiteren wichtigen Punkt - auf die Frage, inwieweit Psychopharmaka die Persönlichkeit verändern. 35 0-Ton (Metzinger): Persönlichkeitsveränderungen kleineren oder größeren Ausmaßes werden die Folge der Einnahme solcher Substanzen sein - und das ist ja auch erwünscht. Man darf nicht zu naiv an diese Frage herangehen. Eine Depression zu haben, beruflich nicht erfolgreich zu sein, führt auch zu einer Persönlichkeitsveränderung, Parkinson führt auch zu einer Persönlichkeitsveränderung, eine Aufmerksamkeitsstörung über lange Zeit zu haben, alt zu werden, eine beginnende senile Demenz - alle diese Dinge führen auch zu einer Persönlichkeitsveränderung. Jeder von uns ändert seine Persönlichkeit ständig über sein Leben hinweg - durch traurige Erfahrungen, durch Trennungen, durch berufliche Niederlagen. Es geht eher darum, welche Persönlichkeitsveränderungen wollen wir und welche Risiken sind wir bereit, in Kauf zu nehmen und in diesem speziellen Bereich ist es einfach so, dass wir kein Wissen darüber haben. Es ist historisch neu... M1a , Teppich aus 48" bis 54/1`01 bis 1´04, gleichz. mit Sprecher Sprecherin: Eine Gesellschaft, in der der menschliche Geist rezeptfrei und risikoarm "optimiert" werden kann Sprecher: - für die einen ist das die Zukunft. Sprecherin: Für die anderen eine Horrorvision. M1a weg Klar ist aber heute schon: Sollte tatsächlich in einigen Jahrzehnten die "Superpille" auf den Markt kommen, würde das große gesellschaftliche Veränderungen nach sich ziehen - Es würde etwa die Definition von Krankheit und Gesundheit verändern und die Rolle der Ärzte, warnt der Psychiater Jakob Hein: 36 0-Ton (Hein): Mein Arbeitgeber bezahlt mich für die Behandlung von Krankheiten, die Erforschung von Krankheiten und die Lehre von Studierenden. Die Verabreichung von Medikamenten an Gesunde ist definitiv wider meinen Arbeitsvertrag gerichtet. Wenn man jetzt den Pharmamarkt für Gesunde aufknackt, dann sollte man sich nicht wundern, dass Forschungsmittel wesentlich in Arzneimittel für Gesunde investiert werden ... SprecherIn:... "Schöne neue Welt" für die Pharmaindustrie, die sich - wären Enhancement-Präparate frei erhältlich - den riesigen Markt der Gesunden erschließen könnte. Sprecher: Noch ist es nicht soweit! Sprecherin: Es gibt körpereigne Energiequellen, die - wenn man sie richtig nutzt - risikofrei und ohne Nebenwirkungen geistige Leistungsfähigkeit garantieren. So empfiehlt der Suchtexperte Götz Mundle: 37 0-Ton: ...Methoden der Achtsamkeit, zur Stille zu kommen, mal nach innen zu hören: Was sind meine Entfaltungspotentiale, wo sind meine Stärken, wo kann ich noch wachsen,... das sind ganz einfache schlichte Methoden: Fünf Minuten Stille am Tag, meditative Übungen, wir haben so viele Ressourcen in uns, die sollten wir erst einmal nutzen, bevor wir auf Stoffe von außen zugreifen... Sprecher: ...und sollten wir das doch tun wollen, Sprecherin: dann vielleicht lieber mit Substanzen, die schon seit ein paar Jahrhunderten erprobt sind: 0-Ton (Lieb): Kaffeetrinken ist eine gute Alternative. Kaffee ist vergleichbar wirksam mit Amphetamin und Ritalin, drei, vier Tassen am Tag sind kein Problem...das andere ist natürlich, ne gute Zeitplanung zu machen, wenn Sie lernen und sich auf Prüfungen vorbereiten, macht es keinen Sinn, wenn Sie drei Tage vorher anfangen und dann Amphetamine nehmen, um durchlernen zu können - M1 von Anfang bis 1`27 dann macht es doch vielmehr Sinn, rechtzeitig zu lernen, sich gut vorzubereiten und dann insbesondere auch für einen guten Schlaf zu sorgen...Ruhepausen, sind einfach wichtige Dinge, da brauchen Sie kein Hirndoping, wenn Sie diese berücksichtigen und in ihr Leben mit einplanen... Absage: Zehn Milligramm Arbeitswut - Über Risiken und Nebenwirkungen der Gehirnoptimierung. von Agnes Steinbauer Es sprachen: Marietta Bürger, Sigrid Burkholder und Jochen Langner. Ton und Technik: Hendrik Manook und Petra Pelloth Redaktion und Regie: Ulrike Bajohr M1 weg Eine Produktion des Deutschlandfunks 2010 2