Hörspiel Feature Radiokunst Das Feature Hörbild mit Viola Lutz Seiler, der Roman "Kruso" und der Deutschlandfunk Autor: Matthias Sträßner Regie: Claudia Kattanek Redaktion: Barbara Schäfer Produktion: Deutschlandfunk 2015 Erstsendung: Samstag, 03.10.2015, 10.05 - 11.00 Uhr Wiederholung: Dienstag, 31.10.2023, 19.15 - 20.00 Uhr Es sprachen: Hartmut Stanke, Ernst August Schepmann, Sylvia Göldel und Gerd Daaßen Ton und Technik: Ernst Hartmann, Wolfgang Rixius und Angelika Brochhaus Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. (c) - unkorrigiertes Exemplar - Deutschlandfunk-Tagesmitschnitt 28.09.1989 - Collage "0 Uhr. Deutschlandfunk - die Nachrichten...Die Perestroika in der UdSSR kann nach den Worten des sowjetischen Staats- und Parteichefs Gorbatschow nicht länger als Revolution von oben bezeichnet werden. Lutz Seiler im Gespräch "Und da habe ich eben ein paar Tage lang diese 24 Stunden tatsächlich abgehört und quasi mitgeschrieben und habe mich beeiert, was alles über den Sender geht und wie, und wie die teilweise reden und was die sagen und wie sich die Zeit verändert hat. Was da eben so damals wichtig war. Deutschlandfunk-Tagesmitschnitt 28.09.1989 - Collage Bei der Ehrung verdienter Arbeiter, Schriftsteller, Wissenschaftler und Kosmonauten sagte Gorbatschow gestern in Moskau, heute stütze sich die Perestroika auf breite Schichten der Bevölkerung. Die Gesellschaft als Ganzes sei in der UdSSR in Bewegung gekommen. Der sowjetische Staats- und Parteichef fügte hinzu. Einfache Lösungen für enorme Probleme zu versprechen hieße, das Volk zu täuschen. Disziplin sei derzeit mehr denn je notwendig." Lutz Seiler im Gespräch "Also die verschiedensten Sachen, aber eben vor allem auch die Rundfunkrituale, eben "Reiserufe", und auch, wie werden Programme angekündigt uns so. Wie verändern sich die Nachrichten, in welchem Stundenrhythmus, wann kommt was hinzu... Dann habe ich ja einen kompletten Wetterbericht plus Seewetterbericht, glaube ich, drin im Buch und so, und das sind alles aus meiner Sicht wertvolle Texte, weil es ist ein Klangarchiv auch aus dieser Zeit ist, was da abgebildet wird. Also das ist die Hörgeschichte oder so." Deutschlandfunk-Tagesmitschnitt 28.09.1989 - Collage Ansage: Hörbild mit Viola Wie Lutz Seiler in seinem Roman "Kruso" den Deutschlandfunk hört Ein Feature von Matthias Sträßner Sprecher 1, Text aus Lutz Seiler "Kruso" p.109f "Vom Abwasch aus hatte Ed es irgendwann entdeckt - ein Radio, das von Koch-Mike >meine Viola< genannt wurde. Es handelte sich um ein Röhrenradio der Marke Violetta. Lutz Seiler im Gespräch Es heißt Viola, benannt, eigentlich heißt es Violetta, weil diese alten Röhrenradios alle nach Opernfiguren benannt wurden, und Violetta aus La Traviata hat diese Lungenkrankheit, und so ähnlich führt sich dieses Radio auch auf, es krächzt, es hustet, es ist sozusagen kein reines Programm, was dort rüberkommt.... Sprecher 1, Text aus Lutz Seiler "Kruso" p.109f ...Die Drehregler fehlten, und die elfenbeinfarbenen Tasten, die an eine Art Überbiss erinnerten, waren zertrümmert. Derart verstümmelt, empfing Viola nur noch Deutschlandfunk, diesen aber mit einer Unnachgiebigkeit, wie sie Kriegsversehrten nachgesagt wird, die trotz schwerer Verletzung weiter und weiter kämpfen.... Sprecher 2 (Autor): Für Edgar Bendler, genannt Ed, einen Germanistik-Studenten aus Halle mit besonderer Leidenschaft für Georg Trakl, ist der Deutschlandfunk magische Stimme und magisches Auge in einem. Auf Hiddensee findet Ed 1989 Aufnahme in einem VEB- Betriebsferienheim. Es heißt "Zum Klausner" und liegt im Norden der Insel. Sprecher 1, Text aus Lutz Seiler "Kruso" p. 306 und 164f "Wer hier war, hatte das Land verlassen, ohne die Grenzen zu überschreiten". Sprecher 2 (Autor): Im "Klausner" leitet ein gebürtiger Russe, Kruso, oder wie er genau heißt: Alexander Krusowitsch, eine "Kaste" seelisch und politisch Schiffbrüchiger.... Sprecher 1, Text aus Lutz Seiler "Kruso" p. 306 und 164f "eine Art Untergrund zur Anhäufung innerer Freiheit, eine geistige Gemeinschaft, irgendetwas in diesem Sinn; ohne Verletzung der Grenzen, ohne Flucht, ohne Ertrinken... Der Entschluss, auf der Insel zu leben genügte, um voneinander das wichtigste zu wissen, und wirkte wie ein unsichtbares Band. Sprecher 2 (Autor): Um Kruso schart sich eine undurchsichtige Belegschaft von "Esskaas", wie die Saisonkräfte der Insel abgekürzt bezeichnet werden. Zentral wird die Beziehung von Kruso zu Edgar "Ed" Bendler. Dieser wird Krusos "Freitag". Sprecher 1, Text aus Lutz Seiler "Kruso" p.168 "Durch Kruso entstand ein Netz von Kontakten und Aktionen, das den Esskaas behagte, weil es ihre Besonderheit unterstrich und ihnen ein Bewusstsein ihrer Einzigartigkeit verschaffte, jener sonderbaren, schwer zu begreifenden Form legaler Illegalität in einem Land, das sie entweder ausgespuckt und für unbrauchbar erklärt hatte oder dem sie sich schlichtweg nicht mehr zugehörig fühlten. Rimbaud hatte im Falle der Esskaas den Begriff der inneren Emigration angewandt, wobei ein jeder täglich hart arbeiten müsse für sein Bleiberecht." Lutz Seiler im Gespräch "Das ist das Besondere der Spätzeit der DDR, dass es diese Autonomisierungsprozesse gegeben hat, bestimmte Mikromilieus, die sich aus der Gesellschaft aussondern konnten, ...dieses surreale Nebeneinander zwischen Kontrolle und Autonomisierung ist ganz typisch für die DDR, und so was wie auf Hiddensee hat es in dieser Ausprägung auch nur dort gegeben." Deutschlandfunk-Tagesmitschnitt 28.09.1989 - Collage Sprecher 2 (Autor): Christoph Hein, Christa Wolf, Uwe Tellkamp oder Peter Richter - auch diese Autoren verschaffen dem Deutschlandfunk in ihren Büchern einen Auftritt im Zusammenhang mit politischen Ereignissen in der DDR. Sprecherin Zitat Christa Wolf "Zu Hause drückten wir sofort auf den Radioknopf in der Küche und hörten die Nachrichten, die sich - seit die Ungarn die Grenzzäune zu Österreich abgebaut haben und Österreich sich für DDR Bürger geöffnet hat - hauptsächlich mit diesem einen Thema beschäftigen: Der Strom der Flüchtlinge aus der DDR." Sprecher 2 (Autor): Der 27. September: Die Moskauer Zeitung Istwestja hatte 1960 die Schriftsteller der Welt dazu aufgerufen, einen Tag des Jahres, genau zu beschreiben. Christa Wolf folgt diesem Aufruf. Von 1960 bis 2000 hält sie ihre Erinnerungen an den jeweiligen "27. September" fest. So auch 1989. Sprecherin Zitat Christa Wolf: "Otl nahm die vielen Nachrichtenquellen in unserem Haus wahr, das war uns gar nicht aufgefallen, uns ist es selbstverständlich, alle halbe Stunde Nachrichten im zu hören." Sprecher 2 (Autor): Geradezu als Musterschülerin des Radiohörens zeigt sich Christa Wolf bei ihrer Schilderung des 27. September 1989 gegenüber ihren westdeutschen Gästen im mecklenburgischen Woserin, Otl Aicher und seine Frau Inge Aicher-Scholl. Sprecherin Zitat Christa Wolf: "Alle unsere Sinne sind auf Berlin gerichtet, wir konnten unsere Bedrückung und Ratlosigkeit nicht verbergen. Nach dem Abendbrot saßen wir um den Küchentisch, redeten über die Gründe dieses Exodus von DDR- Bürgern, und Otl schlug vor, jeder von uns solle doch einmal versuchen, sein Land von außen zu sehen, und den anderen mitzuteilen, was er da sehe." Sprecher 2 (Autor): Lutz Seiler wählt in seinem Roman "Kruso" den 28. September 1989. Und wie der Schriftsteller Christoph Hein in seiner Erzählung "Der Tangospieler", siedelt er "Kruso" auf Hiddensee und ebenfalls im VEB-Betriebsheim "Zum Klausner" an. Den Deutschlandfunk als Informationsprogramm zu hören, liegt Lutz Seilers Figuren völlig fern. Der Deutschlandfunk ist auch nicht Teil eines Komplotts oder einer Intrige, die denjenigen in Schwierigkeiten bringen kann, der heimlich und verbotenerweise den Sender hört. Deutschlandfunk-Tagesmitschnitt 28.09.1989 - Collage Musik Gitte Henning Sprecher 1, Text aus Lutz Seiler "Kruso" p.109f Die Bespannung des Lautsprecherkastens war verkrustet von uraltem Fett, aus dem grünflackernd die kleine Linse des magischen Auges blinkte. Wie ein Lidstrich im Make-up einer Greisin glänzte darüber das Silber ihres Namenszugs...". Lutz Seiler im Gespräch "Ich komme ja vom Bau, und in unserer Baubude lief immer das Baubudenradio. Also, ich hatte dieses Bild vor Augen, genauso ein altes Röhrenradio, so ein riesiger brauner Kasten mit dem magischen Auge über unserem Brigadier. Der saß immer am Kopfende des Tisches, wir als Bauarbeiter links und rechts, und dieses Radio lief einfach ohne Ende. Auch wenn wir geschlafen haben da am Tisch, um die Pause noch irgendwie zu nutzen oder so, lief dieses Radio. Also ich hatte das Bild dieses Radios, das relativ archaisch mit riesigem Eisengestell unter die Decke geschraubt war und immer an war, immer. Das war eigentlich eine Quelle des Ganzen." Sprecher 2 (Autor) Sendet das Baubudenradio für die Einheit einer Brigade, so sendet auch Viola für eine Mannschaft, die sich nach außen abzirkeln lässt: die Besatzung des "Klausner". Deren historische Vorbilder reichen in Seilers Roman von den 12 Jüngern Jesu, über die Ritter der Tafelrunde bis zur Schiffsbesatzung von Moby Dick. Lutz Seiler im Gespräch "Es gibt so viele groteske wunderbare Szenen, die natürlich für Kruso keine Rolle spielen, aber dass diese Frühstücksrunde an dieser Tafel, mit den zwölf Leuten, das ist schon für mich eine Art Tafelrunde, die eben auch ihre ganz eigenen Ritterlichkeit hat und auch ganz eigenen Regeln folgt. Und eben auch ganz eigene Namen hat, das sind ja auch Ritternamen, wenn man so will, ... Das sind ausgezeichnete und besondere Leute, und die schlagen da ihre ganz eigene Schlacht, nämlich jeden Tag im "Klausner" in der Stoßzeit, wo sie dann irgendwie es schaffen, dieses Schiff vor dem Untergang zu retten, diese Kneipe. Und danach auch genauso erschöpft sind, als wären sie im Kampf gewesen. Deutschlandfunk-Tagesmitschnitt 28.09.1989 - Collage Sprecher 2 (Autor): Zwischen Kruso und Ed gibt es mitunter Streit wegen Viola. Sprecher 1, Text aus Lutz Seiler "Kruso" "Es wäre gut, wenn wir Viola bei Gelegenheit den Saft abdrehen könnten. Sie bringt einfach zu viel Unruhe, zu viel Unsinn ins Haus. Das ganze Festlandgeplapper, das nichts, absolut gar nichts mit uns hier oben zu tun hat, mit uns und unserem Leben..." Lutz Seiler im Gespräch "Ja, also es gibt ganz verschiedene Sachen dazu zu sagen. Das war eine der entscheidenden Entdeckungen für mich bei der Arbeit am Roman, dass ich über dieses Radio, das immerzu und ohne Ende und ohne Unterbrechung in den Raum, in diesen abgeschlossenen Raum des "Klausners" und der Insel hinein spricht, niemanden brauche, keinen Erzähler, keinen Kommentator, auch die Figuren müssen nicht darüber reflektieren, der die Zeitgeschichte erklärt. Wo bin ich jetzt gerade in der Zeitgeschichte? Also ich unterliege da nicht mehr dieser Pflicht, jetzt den Leser mitzunehmen und zu sagen, übrigens, jetzt ist gerade die Flucht über Ungarn oder so." Deutschlandfunk-Tagesmitschnitt 28.09.1989 - Collage Nachrichten: "Bestürzung löste nach Informationen der Nachrichtenagentur AP die Rückkehr von Landsleuten aus, die sich auf das Angebot des Ostberliner Rechtsanwalts (Wolfgang) Vogel hin zum Verlassen der Botschaft entschlossen hatten. Vogel hatte den Flüchtlingen zugesichert, sie würden nach der Rückkehr in die DDR Straffreiheit genießen und innerhalb von 6 Monaten eine Ausreisegenehmigung erhalten. Einer der Flüchtlinge berichtete laut AP, er sei mit dem Omnibus zum Bahnhof von Prag gebracht und dort von der Polizei festgenommen worden. Sein von Vogel ausgestelltes Begleitpapier habe man ihm abgenommen. Er habe den tschechoslowakischen Polizisten entkommen können. Erfolglos waren bisher die Bemühungen des Anwalts, die etwa vierhundert Flüchtlinge in der Botschaft in Warschau zur Rückkehr in die DDR zu bewegen. Heute will Vogel weitere Gespräche mit den Menschen führen." Sprecher 2 (Autor): "Bestürzungen" und polemische Zuspitzungen im heißen Herbst des Jahres 1989 teilen sich der Belegschaft des "Klausner" kaum mit. Zu der von Kruso gepredigten "Inneren Emigration" gehört, dass die Figuren des Romans politische Äußerungen nur wie im Nachhall hören. Für den Leser dagegen sind Nachrichten, Kommentare und Presseschauen des Deutschlandfunks Mittel der Authentizität: DLF O-Ton Hans Modrow "Wenn es Leute bei Ihnen gibt, die meinen, die jetzige Größe der Bundesrepublik ist zwar schön und imponierend, aber wenn das Andere noch dazukommt, dann könnten wir Deutschen vielleicht - und ich sage das so deutlich - Andere an unserem Wesen noch mal genesen lassen...das wird Alles nicht gut sein!" Sprecher 1, Text aus Lutz Seiler "Kruso" p.194f "Das wäre schade, entgegnete Ed vorsichtig. "Immerhin ist Violetta, ich meine Viola, die älteste Bewohnerin des "Klausners", und sie trägt den Namen einer Frau, die ... Ich meine, du weißt, wie in Schuld und Sühne." Deutschlandfunk-Tagesmitschnitt 28.09.1989 - Collage Presseschau: "Es ist aber bezeichnend für die Stimmung in der DDR: Die Menschen, die >wegmachen< wollen, wie es sächsisch so schön wie tragisch heißt, glauben der Führung heute nicht einmal mehr das, was in der Vergangenheit immer eingehalten worden ist, unterstreicht DIE WELT". Sprecher 2 (Autor): Violas Aufgabe ist mit Bezug auf den Leser und mit Bezug auf die handelnden Personen strikt getrennt: Die Informationen, die Viola bringt, sind primär für den Leser. Für Ed und die Besatzung des "Klausner" dagegen zählt weniger die Information, als das Radio- und Programm- Format! Lutz Seiler im Gespräch "Am Anfang habe ich so historische Recherche gemacht, dann dachte ich, nein, diese Viola soll es - alles das, was sie sagt, soll sie auch wirklich gesagt haben, auch wenn das dann über mehrere Tage verteilt wird und unter Umständen die Recherche nur dieses Mitschnitttags war und so weiter. Aber alles, was Viola sagt, also dieses Radio, hat sie auch wirklich gesagt." Deutschlandfunk-Tagesmitschnitt 28.09.1989 - Collage "Und nun das ARD- Nachtkonzert vom Deutschlandfunk. Hierzu begrüßen wir auch alle Hörerinnen und Hörer der uns angeschlossenen Sender." Sprecher 2 (Autor): Auch Violas Musik im Roman lief im Deutschlandfunk an jenem 28. September 1989 - Modest Mussorgskijs "Morgendämmerung an der Moskwa" genauso wie Motetten von Claudio Monteverdi. Deutschlandfunk-Tagesmitschnitt 28.09.1989 - Collage Musik Jimi Hendrix "Little Wing" "..Das war der erste Teil unserer Sendung "Rockzeit". Wir setzen dieses Programm nach den Nachrichten ab 1:05 fort...>es folgt Zeitzeichen, dann Sprecher< 1 Uhr. Deutschlandfunk. Die Nachrichten." Lutz Seiler im Gespräch Wir waren ja Bayern-3-Hörer aufgrund unserer Lage, Thüringen, Ostthüringen. Jeden Morgen lief Bayern 3, und dann eben auch Freitagnachmittag, glaube ich, "Radio Show", Günter Jauch und Thomas Gottschalk haben sich abgelöst. Ich weiß jetzt gar nicht mehr genau, wer zuerst war. Die hatten immer genau eine Hälfe dieser Sendung, und bei der Übergabe wurde dann so rumgefrotzelt. Und man merkte schon, ja, das sind ziemlich unterschiedliche Typen. Damals war noch nicht daran zu denken, was das für Leute - also, dass sie heute so bekannte Medienleute sind, und mein Vater hat da eben oftmals versucht, die Titel aufzunehmen und hat sich wahnsinnig geärgert, weil die waren so verquatscht. Sprecher 1, Text aus Lutz Seiler "Kruso" p.111 "Ed fühlte sich hingezogen zur Monotonie ihrer halbstündlich wiederkehrenden Erzählungen, deren Inhalte tagelang kaum variierten. Am Ende das Wetter, Wasserstände, Windgeschwindigkeiten. Es gab Suchmeldungen und Reiserufe, und auch eine Sturmwarnung brauchte keine besondere Betonung." Sprecher 2 (Autor): "Europa heute", "Tag für Tag", die Morgenandacht mit Pfarrer Thomä aus Darmstadt, das Wetter, die Reiserufe, die "Rockzeit", das ARD-Nachtkonzert, das Journal vor Mitternacht - das gesamte Sendepanorama des Deutschlandfunks tut sich in dem Roman "Kruso" auf. Lutz Seiler im Gespräch Irgendwann habe ich mit einem Freund darüber gesprochen, der Rundfunkerfahrung hatte, und der meinte, Mensch, die Archive, du musst mal gucken, Deutschlandfunk-Archiv //, Und dann habe ich so angefangen zu grasen, ich dachte, oh schön, man ruft in irgendeinem Archiv an und kriegt dann das Material und kann dann damit arbeiten. Und dann habe ich da beim Deutschlandfunk angerufen,// // habe Mails geschrieben, habe mir auch die Seite angeguckt vom Rundfunkarchiv //, // Ich habe irgendwann mitgekriegt, die müssen Mitschnitttage machen. Also sie sind angehalten aus Archivierungsgründen, einen bestimmten Tag komplett mitzuschneiden, die wichtigsten Fernseh- und Rundfunkanstalten. Und einer dieser Mitschnitttage lag genau in der Zeit, die ich brauchte, und das war meines Erachtens der 28.09.// // Und dann, sensationellerweise, // hatte ich innerhalb weniger Wochen den kompletten digitalisierten 28. September '89, den die mir überspielt haben als Datei ins Rundfunkarchiv in Babelsberg, das ist die Zweigstelle vom Deutschen Rundfunkarchiv. Deutschlandfunk-Tagesmitschnitt 28.09.1989 - Collage "Wir beenden das Programm des heutigen Tages mit der Nationalhymne. Um null Uhr melden wir uns dann mit Nachrichten." ("Kruso" p.292 und p.346) Zitat Kruso "Der Abwasch war sauber und aufgeräumt. Das Licht ließ er ausgeschaltet. In der Küche genügte ihm Violas magisches Auge als Lotse. Er war leise, er nahm sich zwei Scheiben Brot und seine Zwiebel und setzte sich auf den Stuhl unter dem Radiokasten. Er war weit entfernt von jener Welt, aus der die Nachrichten stammten. Sein Leben fand nicht mehr in der Gegenwart statt. Er erinnerte sich an das Kofferradio seiner Kindheit, das er bei Familienausflügen auf dem Schoß gehalten hatte, sitzend, im Bollerwagen. Unerklärlicherweise begann er zu zittern, vor Kummer und Glück zugleich, falls das möglich war. Wahrscheinlich nur eine Folge meiner Verletzung, dachte Ed, ein kleiner Riss im Golf von Mexiko. Behutsam kaute er das Brot und knabberte an seiner Zwiebel. Eigentlich hatte er keine Schmerzen mehr, nur ein kleines Stechen im Oberkiefer. "Zum Tagesausklang hören Sie die Nationalhymne."" Text p.292 Sprecher 2 (Autor): Zeitzeichen, Pausenzeichen und Hymne. Die Lautroutine eingeschliffener Stations- und Programmansagen. Das raschelnde Papier der Sprecher. Die Stille überraschend eintretender Pausen. Das Programmschema des Deutschlandfunks bietet 1989 für seine Hörer in "Kruso" besondere akustische "Stützpunkte". Sprecher 1, Text aus Lutz Seiler "Kruso" p. 110 "...Ed beschäftigte der Gedanke, dass das Radio seinen Besitzer überlebt hatte - ohne zu verstummen. Auf gewisse Weise konnte es als die Stimme des alten, ertrunkenen Kochs angesehen werden, die sich seit Jahren ohne Unterlass über die Töpfe des "Klausners" ergoss und seine Speisen überzog mit ihrer endlosen Sendung." Deutschlandfunk-Tagesmitschnitt 28.09.1989 - Collage "Der Wetterbericht." Sprecher 2 (Autor): Es war der Autor Friedrich Christian Delius, der in seiner Dissertation das Thema "Der Held und sein Wetter" im Roman des bürgerlichen Realismus aufgegriffen hat. Deutschlandfunk-Tagesmitschnitt 28.09.1989 - Collage "Die Lage: Auf der Ostseite eines nahezu ortsfesten Hochs über dem Ostatlantik fließt mit einer nordwestlichen Strömung kühle Meeresluft nach Deutschland, darin eingelagerte Störungen gestalten das Wetter der nächsten Tage unbeständig." Sprecher 2 (Autor): Und es war auch Delius, der in seiner Erzählung "Der Spaziergang von Rostock nach Syrakus" die Insel Hiddensee als literarischen Bezugspunkt einer Fluchtgeschichte ausgewählt hat. Delius erzählt die Geschichte einer Flucht, die dem DDR-Bürger Klaus Müller im Jahr 1988 tatsächlich gelungen war. Deutschlandfunk-Tagesmitschnitt 28.09.1989 - Collage "Die Vorhersage: von zeitweiligen gelegentlichen Auflockerungen abgesehen vielfach stark bewölkt und gelegentlich Regen." Sprecher 2 (Autor): Lutz Seilers Held Ed Bendler hört den Wetterbericht aber nicht, um eine Flucht vorzubereiten. Er hört den Wetterbericht als selbstwertiges Ritual. Er konsumiert die Sätze wie Kryptogramme. Sprecher 1, Text aus Lutz Seiler "Kruso" "Vierzig Grad in der Sonne, und ich hatte meine Fenster geschlossen, wegen der Unwetter, vor denen Viola ständig gewarnt hatte. Stündlich kam irgendetwas über Stürme aus Nordwest und Flüchtlinge in den Botschaften, aber niemand hört ihr wirklich zu. Als lägen wir außerhalb der Nachrichten...." Sprecher 2 (Autor): Nicht das Was der Information zählt, sondern das Wie der Ausstrahlung: die Aura des Senders. Statt "Der Held und sein Wetter", müsste es bei Lutz Seilers "Kruso" heißen: "Der Held und sein Wetterbericht". Deutschlandfunk-Tagesmitschnitt 28.09.1989 - Collage "Die weiteren Aussichten: wechselhaft und kühl. Am Alpenrand weitere Dauerniederschläge. Und hier noch eine Meldung des Seewetteramtes Hamburg: Deutsche Nordseeküste Nordwest bis Nord 6." Sprecher 2 (Autor): Ergänzt wurden die Wetterberichte beim Deutschlandfunk 1989 noch durch einen "Reisewetterbericht" am Nachmittag, zwischen den 15-Uhr-55-Reiserufen und den 16-Uhr-Nachrichten. Deutschlandfunk-Tagesmitschnitt 28.09.1989 - Collage "Und nun die Reisewettervorhersage für das Wochenende. Norwegen und Schweden: anfangs aufgeheitert, später stark bewölkt und zeitweise Regen. Am Sonntag wechselnd bewölkt, im Norden Regen, im Süden Schauer; Dänemark: zunächst vielfach heiter, am Sonnabend stark bewölkt und etwas Regen, am Sonntag wieder freundlich. Am Freitag um 13, am Wochenende 15 bis 20 Grad." Sprecher 1, Text aus Lutz Seiler "Kruso" p. 295 "Alexander Krusowitsch, unterwegs im Raum Sehnsucht mit einer großen leuchtenden Verkündigung, amtliches Kennzeichen unbekannt, wird gebeten, sich unverzüglich mit seiner Familie in Verbindung zu setzen. Ich wiederhole..." Lutz Seiler im Gespräch "Die Reiserufe, das ist so ein fantastisches Gelände einfach gewesen. Also, man hört da, jemand fährt von da nach da und soll bitte das und das tun. Oder seine Radmuttern sind nicht angezogen oder so, und dann sieht man im nächsten Moment, wie das Rad wegfliegt. Und was passiert dann mit dem? Deutschlandfunk-Tagesmitschnitt 28.09.1989 - Collage "Deutschlandfunk - Eine Durchsage für Reisende. Jugoslawien. Herr Manfred Müller aus Reichshof/Wildberg, zur Zeit unterwegs mit einem weißen Mercedes-Camping-Bus, amtliches Kennzeichen GM... weiteres unbekannt, wird gebeten, sofort bei Familie Funke anzurufen. Das war eine Durchsage, die wir von der ARD-Reiserufstelle und vom ADAC erhielten. Der nächste Reiseruf morgen um 15:55." Sprecher 2 (Autor): Der Reiseruf trieb, bis das Handy ihm ein Ende setzte, ein doppeltes und paradoxes Spiel mit dem Radio-Hörer. Der Reiseruf als Massenmedium gab einen privaten Namen für ein einziges Mal einer großen Öffentlichkeit preis, lieferte aber andererseits ein Geheimnis und dessen Verschleierung gleich mit. Zudem war die Nennung des aufgerufenen Urlaubsortes häufig die Anrufung einer verlockenden Ferne: es war also "Paradise" und "Paradise Lost". Lutz Seiler im Gespräch Also man hatte sofort so einen Plot, also eine Geschichte im Kopf. Das hatte auch was Fantastisches, also eben die Zeit vor dem Handy. Und die Reiserufe gehören einfach zu den faszinierenden Rundfunkritualen, die es in der Form ja auch immer noch gibt auf eine bestimmte Art und Weise. Deutschlandfunk-Tagesmitschnitt 28.09.1989 - Collage Lutz Seiler im Gespräch "Ed ist ein Mensch, der also...vielleicht ist es...wie soll ich sagen - er ist sehr empfänglich für Geräusche und eben auch für Stimmen. Und meine Vorstellung von der Atmosphäre auf der Insel und der Atmosphäre in diesem "Klausner" war auch von Anfang an eine - also war im Wesentlichen und zuerst eine Geräuschvorstellung. Also das Rauschen des Meeres, das Rauschen der Bäume, und dann um Mitternacht die Nationalhymne, die von unten irgendwie heraufwabert aus dieser Küche, die Treppe hoch, und die Ed dann so mit halbem Ohr mitbekommt, wobei die Qualität schlecht ist, weil dieses Radio auch so Macken hat. Sprecher 1, Text aus Lutz Seiler "Kruso" Es ist sieben Minuten vor Mitternacht. Wie ein Märchen brachte Viola das Programm des kommenden Tages. Der sanfte Bass des Erzählers, zuerst knarrte er nur ein wenig, aber dann schrammte er hörbar am Grund der Dinge entlang. Jedes Wort schien ihm gleichermaßen wertvoll, jeder Satz war mit tauben und zugleich väterlich weichen Lippen gesprochen." Lutz Seiler im Gespräch Aber auch das gehört dann zu dieser besonderen Geräuschblase, dass es sozusagen Fetzen gibt. Aber schon, diese urtümliche Vorstellung von einer Synthese von außen und innen, also dass die Geräusche, die von innen kommen und die Geräusche, die von außen kommen, und irgendwo dort liegt Ed in seinem Bett und hört das alles, und das macht eine ganz besondere Atmosphäre. Man ist eigentlich außerhalb der Welt, aber Viola spricht die Welt auf ihre Weise in diese Blase hinein. Und so funktioniert das eigentlich dann das ganze Buch." Deutschlandfunk-Tagesmitschnitt 28.09.1989 - Collage Lutz Seiler im Gespräch "Am Anfang habe ich gedacht, du möchtest das Radio, und ich hatte schon an die Radiorituale gedacht, ich hatte an die Nationalhymne gedacht, kurz vor zwölf, und an das Sendezeichen, dieses weiche Sendezeichen mit den sieben Tönen, oder was das ist. Das nur noch so eine ganz kleine Melodie macht." Sprecher 2 (Autor) Bis 1968 hatte der Deutschlandfunk explizit auf das Abspielen einer Hymne zum Sendeschluss verzichtet. Sprecher 3, Jahrbuch 1964/65 "Im Blick auf die in den Ostblockstaaten herrschende Überwachungspraxis ist es nicht möglich, Angaben über die Aufnahme der Programminhalte zu machen....Es steht aber fest, daß der Wille, sich umfassend und sachlich informieren zu lassen, fast jedes Risiko in Kauf nimmt. Sprecher 2 (Autor) Stattdessen streute man die eingängige Melodie einer Volksweise ins Programm, deren Text einst Hans-Ferdinand Massmann 1820 unter Verwendung eines Liedes von Paul Gerhardt gedichtet hatte: "Du Land voll Lieb und Leben!" Aber selbst dieser Ersatz einer Hymne wurde für die Ausstrahlung in die DDR noch akustisch gedämpft, wie einer fast entschuldigenden Anmerkung des Senders im Jahrbuch von 1964 zu entnehmen war: Sprecher 3 Jahrbuch 1964/65 "Sache des Deutschlandfunk ist es, dieses Risiko so klein wie möglich zu halten. Er wird es - um nur zwei Beispiele zu nennen - daher weder durch ein durchdringendes Pausenzeichen noch durch das sonst übliche Spielen der Nationalhymne am Schluß eines Sendetages vergrößern." Deutschlandfunk-Tagesmitschnitt 28.09.1989 - Collage Lutz Seiler im Gespräch "Das ist also auch bis in die Technik hinein eigentlich autobiografisch. Mein Vater war schon ein Techniker, also er hat - durch ihn bin ich überhaupt auch, glaube ich, an die Technik herangeführt worden. Wir waren viel in der Garage, wir haben unheimlich viel am Auto gemacht. Und ein Radio spielte auch eine große Rolle. Also alles war sehr bescheiden. 1974 kam der erste Fernseher, die einzige Technik, die wir vorher hatten. Bis dahin war so ein kleines Kofferradio, es war klein, es hatte einen Holzkasten und so eine goldene Blende, aber dann auch noch so ein schwarzes Lederetui und hinten ebenso eine kleine Tür, das hat mich als Kind unheimlich fasziniert, wo zwei Flachbatterien rein kamen, sodass man es auch unterwegs verwenden konnte. Und dies, wenn wir auf dem Bollerwagen dann - wir waren damals noch auf dem Dorf - auf dem Bollerwagen über die Felder gegangen sind, an die Autobahn, weil an der Autobahn konnte man Westwagen sehen, Westautos. Dann war immer dieses Radio dabei, und ich hatte es im Schoß irgendwie. Also das Radio spielte schon immer eine große Rolle, und ich höre selber bis heute unheimlich gern Radio, muss ich sagen." Sprecher 1. Text aus Lutz Seiler "Kruso" "...still, so still, als lauschte nun allein das Haus ins Rauschen, von Kiefern angestimmt und von der Brandung aufgenommen, leise, verhalten, thematisch fortgeführt und variiert von den Becken aus Stein und verstärkt von denen aus Stahl, die unter dem fallenden Wasser wie Trommeln ertönen mit ihrem dunklen Gedröhn, jenes häusliche Geräusch, das Ed einsponn in Wohlsein und Behagen, weil es war wie einmal daheim; das dumpf in die Wanne stürzende Wasser und das Summen des Durchlauferhitzers, gehört von der Stube oder von Kinderzimmer, Freitag 18.00 Uhr, tief im Rauschen. Aber das war nicht der Badetag seiner Kindheit, jener schönste Abend in der Woche, es war einfach: diese Nacht. Angekündigt von den Trommeln der Waschung, denen die Schritte auf der Treppe folgten, selten ein Flüstern, nur leises feines Klappen von Türen, jeder kannte seinen Weg, und auch das zählte für Ed zu den Rätseln. Erst dann, nach und nach, tauchte Viola wieder auf, das "Konzert am Abend" später die Stimme des Nachrichtensprechers, die in der Nacht anders beschaffen war als am Tag, da sie nun auch gegen den Schlaf und die Dunkelheit ansprechen musste, wozu der Mann im Nachrichtenstudio bestimmte Worte hervorhob und andere fast vollständig fallen ließ, dazwischen lange Pausen und die Geräusche von Papier, das umgeblättert wurde, vor und zurück, als ringe der Sprecher verzweifelt um den nächsten Satz oder wählte ihn erst in diesem Moment; ja, er ist allein in dieser Nacht, allein mit seiner Stimme, dachte Ed." Deutschlandfunk-Tagesmitschnitt 28.09.1989 - Collage Sprecher 2 (Autor): Eine herausgehobene Radio-Erinnerung ist im Roman auch der Tod Walter Ulbrichts am 1. August 1973. Die Familie Bendler befindet sich zu diesem Zeitpunkt auf einem "Familienurlaub an der Ostsee, in Göhren auf Rügen", in einem FDGB-Hotel und im Speisesaal ist das Bild Ulbrichts mit einem Trauerflor versehen. Lutz Seiler im Gespräch "Wenn man so einen Text schreibt, dann regiert von Anfang an das Kriterium des Literarischen und alles wird - also es werden Details hinzu erfunden, es werden Details verändert, weil es als Textgewebe funktionieren muss. Man marschiert auch ins Erfinden, bis ins Fantastische hinein. Ein toter Fuchs beginnt zu sprechen und führt dann eigentlich die wichtigsten Gespräche. Und mir selber kommt das nicht weniger wahr vor als das sogenannte selbst Erlebte. Aber dieser Urlaub in Göhren, also dieser einzige Ostseeurlaub, den wir hatten, und dass es diese Zeit war, in der Ulbricht gestorben ist, und dass mein Vater dann da mit dem Radio im Bett unter der Decke gelegen hat, ja, das ist natürlich so gewesen. Das darf man eigentlich nicht sagen als Autor, aber das habe ich so erlebt, sagen wir es so." Sprecher 2 (Autor): Zu Bendlers Erinnerungs-"Beständen" gehören "Zeilen von Jürgen Becker, Friedrich Nietzsche, Gottfried Benn und Peter Huchel. Aber auch die tägliche Ausstrahlung der Nationalhymne, die der Deutschlandfunk von 1975 bis 1991 ohne Text in einer Fassung mit dem Amadeus-Quartett sendete, werden zu "Hymnen an die Nacht". Sie erinnern den Studenten Edgar Bendler an Novalis, der Thema seiner Romantik-Prüfungen gewesen war. Sprecher 1, Text aus Lutz Seiler "Kruso" p. 346f "Die Nationalhymne war unsäglich schön, und wie zur Feier rief sie das Verbotene herbei, den alten, sehnsuchtskranken Text von Deutschland über allem, Musik und Text schienen untrennbar zu sein. Er dachte das Wort: untrennbar. Dr. Z. hatte darüber gesprochen in seinem Seminar. Wie der Dichter August Heinrich Hoffmann von Fallersleben auf einer ehemals englischen Insel gesessen und von dort im hohen Norden (sehnsuchtskrank) auf sein zerrissenes Land geschaut hatte." Sprecher 2 (Autor): Lutz Seilers Roman "Kruso" wird mit der Zeit eine Art "Abschiedssinfonie." Die politischen Ereignisse des Jahres 1989 entfalten eine Eigendynamik, die vor der Insel nicht Halt macht. Die Besatzung des "Klausner" löst sich auf. Am Schluss bleiben Kruso und sein Lieblings-Jünger Ed Bendler zurück. Zu zweit versuchen sie, aus den Luken des VEB-Betriebsheims - den "Herzklappen der Freiheit" (p365) -, die noch in passabler Zahl erscheinenden Touristen zu bedienen. Aber auch in ihrem Verhältnis machen sich zunehmend Gefühle von Entfremdung und Verrat breit. // Und Viola? Sie wird aus Eifersucht von Kruso zum Schweigen gebracht. Sprecher 1, Text aus Lutz Seiler "Kruso" p. 367f "Irgendwann am Abend tauchte Kruso wieder auf, ohne Erklärung und ohne ein Wort der Anerkennung. Er hatte ein großes Bierglas (Typ Butzenglas) in der Hand, das er ansatzlos nach Viola schleuderte, die augenblicklich verstummte. Das Glas fiel nicht zu Boden, weil die braune, fettverkrustete Bespannung des Radios zerriss und Viola es ganz in sich aufnahm. Eine ungute Stimmung trat ein." Sprecher 2 (Autor): Aber nicht nur Viola trägt lebensgefährliche Verwundungen davon, auch Kruso zieht sich, nachdem er längere Zeit spurlos verschwunden war, schwerste Verletzungen zu. Da die zuständige Ärztin die "Toteninsel" längst verlassen hat, sorgt der örtliche Inspektor dafür, dass der gebürtige Russe die Steilküstentreppe hinunter getragen und auf ein russisches Militär-Schiff gebracht wird (416ff). Diese "Heimholung" wird zur Prozession: Sprecher 1, Text aus Lutz Seiler "Kruso" p. 419 "Wie ein Pharao auf seiner letzten Reise schwebte Kruso zwischen den Soldaten, mit den Füßen voran. Bestimmte Abschnitte der Treppe zwangen die Träger, die Platte des Personaltischs ausgesprochen steil zu stellen, als wollten sie dem Meer das Opfer oder dem Opfer das Meer noch einmal zeigen, den Horizont bis Dänemark, das unsichtbar im Nebel schwebte, oder das Wasser der Ostsee, das träge und novemberkalt hinter den Sanddornbüschen stand, von denen die Steilküstentreppe mannshoch überwuchert war. Ja, für einen Moment schien es Ed, als hielten sie der Ostsee einen Heiligen entgegen, einen Märtyrer, dessen Körper sie in einem nächsten Schritt den Fluten anvertrauen würden, zur Besänftigung der Stürme, zur Verwirrung der Patrouillenboote und schließlich: zum Zeichen der Freiheit und zum Beweis, dass sie bereits hier, im Diesseits zu erlangen war und nicht erst auf Møn, Hawaii oder sonstwo - ja, Kruso musste geopfert werden, geopfert für die Zukunft der Insel." Sprecher 2 (Autor): Anders als Kruso schafft es die schwerverletzte Viola mit Hilfe Eds wieder ins Leben zurück: Sprecher 1, Text aus Lutz Seiler "Kruso" p. 434 "Er hatte den nächstbesten Tisch in die Küche gezerrt, einen Stuhl auf die Platte gestellt und das Butzenglas aus dem Radio gezogen. Ein schimmliger Geruch entströmte dem Radiokasten. Es genügte, eine der silbrigen Röhren in ihre alte Stellung zu biegen. Viola kam zu sich - sie funktionierte." Deutschlandfunk-Tagesmitschnitt 28.09.1989 - Collage 20 Uhr, Deutschlandfunk, die Nachrichten. Sprecher 2 (Autor): Viola ist nicht mehr länger nur Informantin des Lesers, am Ende des Romans erschließt sich auch dem Roman-Helden, wie fundamental die politische Lage sich verändert hat. Sprecher 1, Text aus Lutz Seiler "Kruso" p. 434 "Wie der Darsteller eines komplizierten Kabaretts hockte Ed jetzt dort oben. In der Küche des "Klausners", mitten in Koch-Mikes Reich. Eine einsame, komische Figur, aber auch treu und tapfer vielleicht. Eine Weile wusste Ed nicht, ob er begriff. Aber die Stimme Violas war ihm vertraut, und sie half ihm, wieder ruhig zu atmen. Alle Grenzen waren offen. Offen seit Tagen." Deutschlandfunk-Tagesmitschnitt 28.09.1989 - Collage Rockzeit: Grace Slick "Let It Go" >Some people say "Don't go away just stay right here" Some say "If you stay at home you're gonna wind up alone" Now you know you can't go two different ways you can't believe everything you hear And if you always do just what you're told then you've got no mind of your own So if each man has a different plan let 'em go let 'em go...> Absage: Hörbild mit Viola Wie Lutz Seiler in seinem Roman "Kruso" den Deutschlandfunk hört Sie hörten ein Feature von Matthias Sträßner Musik Es sprachen: Hartmut Stanke, Ernst August Schepmann, Sylvia Göldel und Gerd Daaßen Ton und Technik: Ernst Hartmann, Wolfgang Rixius und Angelika Brochhaus Regie: Claudia Kattanek Redaktion: Barbara Schäfer Musik Eine Produktion des Deutschlandfunks 2015. Lutz Seiler im Gespräch Also einer der Ausgangspunkte war einfach das Wort "Deutschlandfunk", also das Wort selber hat einen hohen Reiz, muss ich sagen. Deutschlandfunk, das ist doch irre! Deutschland funkt. Das ist so, das war - also abgesehen davon, dass es natürlich nicht alle Sender überhaupt dafür ausgelegt waren, auch im Osten, gehört zu werden, der Deutschlandfunk aber sehr wohl, der war ja extra dafür erfunden worden, auch den Osten zu informieren. Und es hätte kein anderer Sender sein können, weil ich brauche beim Schreiben immer auch den Klang des Wortes. Im Grunde entscheidet ganz oft der Klang des Wortes, ob dieses Detail in den Roman hinein kommt oder nicht. In der Regel ist es vielleicht umgedreht, aber bei mir ist es genauso. Deutschlandfunk-Tagesmitschnitt 28.09.1989 - Collage Sprecher: "...Auf den Flügeln der Zeit..." / Sounddesign/ 1