Hörspiel Feature Radiokunst Das Feature Verkehrswende in der Autostadt Von VW-Arbeitern, die keine Autos mehr bauen wollen Autoren: Matthias Becker und Gerhard Klas Regie: Eva Solloch Redaktion: Christiane Habermalz Produktion: Deutschlandfunk 2024 Erstsendung: Dienstag 08. Oktober 2024, 19.15 Uhr Es sprachen: Gerhard Klas und Claudia Mischke Ton und Technik: Thomas Widdig und Christoph Schumacher Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. (c) - unkorrigiertes Exemplar - Atmo Autofahrt OT Lars Hirsekorn Du, der Kollege, den ich nachher abhole, der hat nicht gewusst, dass ich ein Auto habe. Der hat mich vorhin völlig irritiert gefragt: Wie, du hast ein Auto? Ich sach: Natürlich hab ich ein Auto! Ich brauch doch ein Auto, sonst komm ich doch hier gar nicht weg. Weil ich halt, wenn es geht, immer nur mit dem Rad fahre ... So, das ist schon Didderse hier ... Das hier, ah, jetzt bin ich schon, ich fahr hier kurz ran und halte einmal kurz (Blinker, Motor geht aus) Also, hier der Sportplatz, wo die Kinder jetzt hier Fußball spielen, hier sind wir jetzt auch morgen auf dem Spielplatz mit meiner Kinderfeuerwehr. Atmo Spielplatz OT Lars Hirsekorn Für mich ist ein Auto immer noch ein praktisches Fortbewegungsmittel. War ein echter Fortschritt der Menschheit, gar keine Frage, tolle Sache, aber: Es geht nicht mehr! Es ist ökologisch nicht vertretbar. Atmo Straße Wolfsburg, Musik Ansage Verkehrswende in der Autostadt. Von VW-Arbeitern, die keine Autos mehr bauen wollen. Ein Feature von Matthias Becker und Gerhard Klas. Erzähler Das Herz des VW-Konzerns schlägt in Wolfsburg. Von weitem zu sehen sind die hohen Schornsteine des Heizkraftwerks, die in den Himmel ragen. Auf einer Wand prangt das berühmte Logo des Konzerns. Das Wolfsburger Stammwerk gehört zu den zehn größten Fabriken der Welt, 60.000 Menschen arbeiten hier, 870 000 Fahrzeuge im Jahr können vom Band laufen. Wolfsburg ist VW und VW ist Wolfsburg. Doch seit einiger Zeit sind hier auch andere Töne zu hören. OT Thomas, Busfahrer Wolfsburg Lasst uns gemeinsam dafür kämpfen, dass unsere Arbeit als Busfahrer nicht nur als Dienstleistung, sondern auch als wichtiger Beitrag zum Klimaschutz anerkannt wird. Wolfsburg soll nicht nur für seine Autos bekannt sein, sondern auch für seinen Einsatz für eine nachhaltige Zukunft. Erzähler Auf einem Platz am Wolfsburger Bahnhof protestieren städtische Busfahrer und Umweltaktivisten gemeinsam für mehr öffentlichen Nahverkehr. "Wir fahren zusammen" heißt die Initiative von Ver.di und Fridays for Future, die am 1. März 2024 in vielen Städten streikt und demonstriert. Auch in der Autostadt Wolfsburg. OT Moderation So, jetzt haben wir noch einen Kollegen von VW. Lars Hirsekorn. Kennt ihr vielleicht schon. Unser Promi. Erzähler Ein Mann in Jeans, Anfang 50, nimmt das Mikrofon. OT Hirsekorn Ich arbeite seit 1994 bei Volkswagen in Braunschweig und bin seit zwei Jahren jetzt Mitglied im Betriebsrat bei Volkswagen. Und ja wurde gebeten, hier auch etwas zu sagen. Als Leiter einer Kinderfeuerwehr kämpfe ich tatsächlich auch für die Zukunft meiner mittlerweile 30 Leasing-Kinder, äh, damit die in eine gute Zukunft haben und natürlich auch für den Rest des Planeten. Wir führen im Konzern dazu viele Debatten, und auch einige hundert Unterschriften sind zusammengekommen. Ich wünsche euch, dass euer Kampf erfolgreich sein wird für das Leben unserer Kinder, für die Zukunft des Planeten. Ihr seid es wert. Atmo Kundgebung Erzähler Lars Hirsekorn ist nicht der einzige VW-Mitarbeiter auf der Kundgebung. Eine Handvoll Kollegen aus Wolfsburg sind ebenfalls gekommen. Auch Thorsten Donnermeier, ein IG Metall-Vertrauensmann aus Kassel, ist angereist. OT Thorsten Donnermeier Wir stehen hier in Wolfsburg. Wolfsburg, die VW-Stadt, und deshalb sollten wir uns alle gemeinsam klar werden: nachhaltige, zukunftsfeste Arbeitsplätze gibt es nur mit nachhaltigen Produkten. Noch sind wir wenige, die so denken. Aber der Kreis vergrößert sich ständig. Musik Erzähler: Lars Hirsekorn und Thorsten Donnermeier sind VW-Arbeiter, die keine Autos mehr bauen wollen - weder Verbrenner noch Elektro-Autos. Sie haben eine andere Vision. OT Hirsekorn In Wolfsburg stehen riesige Hallen leer im Moment, wo ich sage: Hey Leute, investiert in neue, in sinnvolle Produkte! OT Hirsekorn Also wir können Metall, wir können Elektro, wir können Kunststoff. All das sind die Sachen, mit denen wir Autos produzieren. Und all das ist auch in der Straßenbahn drin oder im Zug. Da spricht überhaupt nichts dagegen meiner Meinung nach. Erzähler: VW als Hersteller von Straßenbahnen - kann man das Undenkbare denken in der Autostadt Wolfsburg? Atmo Werbespot VW Vater zu Tochter: Sind wir bereit? Ja. Sprecherin: Auf dem Weg zur CO²neutralen Mobilität für alle, der neue ID.4. 100 Prozent SUV, 100 Prozent elektrisch. ... Volkswagen. Atmo Presswerk Zwickau Erzähler Das Vorzeigewerk für die elektromobile Zukunft des Konzerns steht in Zwickau. Der letzte Verbrenner rollte dort 2020 vom Band. Nachdem der Konzern die Energiewende lange verschlafen hatte, setzt VW nun alles auf eine Karte: Das Elektro-Auto. Doch der Absatz schwächelt. OT Edig Klare Antwort auf Ihre Frage: war kein Fehler, war genau der richtige Schritt für die Mannschaft hier in Zwickau. Erzähler Thomas Edig, Personalchef bei VW Sachsen OT Edig Eine hochqualifizierte Mannschaft, in einem hochautomatisierten Werk, jeden Tag 1500 Fahrzeuge. Wir können uns bei Volkswagen nicht vorstellen, dass es nicht fliegt. Musik Erzähler 1,2 Milliarden Euro hat VW ausgegeben, um das Werk in Zwickau für Elektrofahrzeuge umzurüsten. Genauer: Elektro SUVs. Die Arbeiter wurden neu geschult - "elektrisiert", sagt der Pressesprecher Christian Sommer. Nicht nur technisch, sondern auch mit Rätseln und Quiz-Aufgaben in einem Schulungsvideo. Ein junges Mädchen, projiziert auf einen großen Bildschirm, gratuliert den VW-Arbeitern, wenn sie alle Fragen richtig beantwortet haben. OT VW Schulungsvideo Glückwunsch, ihr habt alle Rätsel gelöst. Ihr habt viel entdeckt. Aber jetzt verrate ich euch ein kleines Geheimnis: Den Schlüssel zum Erfolg habt ihr die ganze Zeit bei euch getragen. Und zwar in euren Köpfen und in euren Herzen. Ihr könnt eine Welt bauen, in der ich groß werden will. Eine Welt für mich und auch für eure Kinder. Wir zählen auf euch. Erzähler Aber wie ökologisch nachhaltig sind die E-Autos tatsächlich? Lässt sich der Klimawandel mit einer reinen Antriebswende aufhalten? VW-Manager Thomas Edig sagt: OT Edig Ja, mit ökologisch wertvollem Strom ist es überhaupt kein Problem. Wir brauchen dazu Strom, und zwar idealerweise sauberen Strom in großen Mengen und zu einem vernünftigen, leistbaren Preis. Atmo Presswerk Erzähler Im Presswerk in Zwickau donnert Metall auf Metall. Sechs schwere hydraulische Pressköpfe fahren auf und nieder, biegen und drücken Aluminium und Stahlblech in Form: zu Türen, Kühlerhauben, anderen Karosserieteilen. Zusammen mit Andreas Rittrich, dem Leiter des Presswerks, gehen wir durch die riesige Werkshalle. OT Rittrich / Becker (Becker) Wie viel produziert ihr im Moment? (Rittrich) Also zwischen 5 und 10 000 Teilen am Tag. Über drei Schichten. Erzähler An nur einem Tag kann die Anlage 225 Tonnen Stahl und Aluminium verarbeiten. OT Becker / Rittrich (Becker) Wie ist Automatisierungsgrad hier? Kann man das so sagen? (Rittrich) Das, was wir hier sehen, was wirklich von Hand gemacht ist, ist die Qualitätskontrolle. Das ist das einzige. Alles andere ist automatisiert. Also ich sag mal über 90 Prozent Automatisierungsgrad. Das ist für so eine Anlage schon sehr gut. Erzähler Maschinen ersetzen Arbeiter. Roboter legen das Metall zurecht, verformen es, schleppen es weiter. Acht junge Männer kontrollieren, ob die Teile gelungen sind oder fehlerhaft. N - I - O sagen sie bei VW: "Nicht In Ordnung". Mit einer Art Schleifpapier gehen die Mitarbeiter über die Oberflächen und suchen nach kleinen Rissen und Unebenheiten. Am Ende des Fließbands angekommen, wandern die guten Teile weiter in die Montage. Die schlechten fallen in einen brusthohen Container. OT Rittrich Was hier reinfällt, das ist das, was die Mitarbeiter da vorne festgestellt haben, wenn hier Oberflächenbeschädigungen sind, dann wird dort vorne an der Schnur gezogen und dann automatisch das Teil, was NIO ist, aussortiert ... (metallisches Geschepper) Wir haben eine Entsorgungsfirma, das wird wieder eingeschmolzen, das heißt es geht zu dem Stahllieferanten wieder zurück. Erzähler Seit 2022 macht der E-Autobauer Tesla in Berlin-Grünheide VW in Zwickau Konkurrenz. Andreas Rittrich sieht es gelassen. OT Rittrich / Becker (Rittrich) Natürlich muss ich das mit einer gewissen Anzahl von Ausschuss schaffen. Das heißt, Tesla liegt aktuell immer noch bei zirka bei 50 Prozent Ausschuss. Die Gusswerkzeuge an sich haben eine Haltbarkeit von zirka 15 000 Einheiten. Dann ist das Werkzeug nicht mehr verwendbar, und das muss man natürlich alles mit betrachten. (Becker) 50 Prozent Ausschuss! Das ist doch eine irrsinnige Ressourcenverschwendung! (Rittrich) Na ja, das Material wird wieder eingeschmolzen. (Becker) Aber die Energie! (Rittrich) Die Energie ist dann weg. Erzähler Ob Verbrenner oder E-Auto, die Produktion verschlingt gewaltige Mengen an Ressourcen. Uwe Kunstmann, Mitglied der Gewerkschaft IG Metall und Betriebsratsvorsitzender von VW Zwickau, weicht dem Thema nicht aus. OT Uwe Kunstmann Ich sag ja immer, wir verkaufen rund zehn Millionen Autos. Da wiegt so ein Auto zwischen zwei Tonnen bis drei Tonnen. Sagen wir 2,5 Tonnen. Das heißt, wir entziehen dem Erdball 25 Millionen Tonnen an Rohstoffen. Das ist ja alles endlich. Wir haben nur diese eine Erde, und es ist ja richtig, dass man dahingehend jetzt die ganzen Industriezweige ausrichtet. Atmo Werbespot VW Vater zu Tochter: Sind wir bereit? Ja. (Musik, Sprecherin:) Auf dem Weg zur CO²neutralen Mobilität für alle, der neue ID.4. 100 Prozent SUV, 100 Prozent elektrisch. Musik Erzähler In eine ehrliche Ökobilanz gehört nicht nur die Energie, die ein Fahrzeug zum Fahren verbraucht, sondern auch die für die Produktion und Entsorgung. Um leistungsstarke Antriebsbatterien herzustellen, ist viel Energie notwendig. Elektroautos starten deshalb mit einem "Rucksack" an CO2-Emmissionen. Die Batterien machen sie außerdem schwerer als Verbrenner gleicher Größe und Ausstattung. Der Automobilarbeiter Lars Hirsekorn kennt das aus eigener Anschauung. OT Hirsekorn Und wesentlich schwerer heißt einfach, du brauchst ein ganz anderes Fahrwerk. Und das ist das, was wir in Braunschweig beispielsweise sehen. Wir bauen ja Fahrwerke. Wenn du zweieinhalb Tonnen mit 160 auf der Autobahn zum Stehen bringen willst, dann brauchst du andere Bremsen, dann brauchst du andere Reifen, dann brauchst du andere Dämpfer-Systeme. Erzähler Uwe Kunstmann, Betriebsrat bei VW Zwickau, betont dagegen, dass E-Autos weniger Treibhausgase pro Kilometer freisetzen. OT Uwe Kunstmann Das Thema Klimawandel, der ist ja nicht wegleugnenbar. Das mit dem Rucksack, (...) es ist ja jetzt schon so, die Vergleiche gibt's ja, wann ist eigentlich ein Auto CO2-neutral, wenn man den ganzen Lebenszyklus betrachtet, und da ist ja trotzdem das Elektroauto das beste Fahrzeug. Erzähler Die meisten Untersuchungen kommen tatsächlich zum Ergebnis, dass sie weniger Treibhausgase verursachen als Verbrenner: eine Ersparnis zwischen einem und zwei Dritteln. Lars Hirsekorn findet das immer noch zu hoch: OT Hirsekorn Natürlich wird gegebenenfalls am Ende ein Batteriefahrzeug positiv im CO2-Ausstoß sein gegenüber einem Verbrenner. Das ist gut möglich. Trotzdem ist der CO2-Ausstoß in Produktion und Betrieb einfach so hoch meiner Meinung nach, dass wir ihn uns nicht leisten können. Das kann so nix werden! Erzähler Unter den Beschäftigten der Automobilindustrie finden sich drei unterschiedliche Haltungen: diejenigen, die wie bisher Verbrenner herstellen wollen, den Klimawandel abtun. Diejenigen, die auf Erfolg durch Elektromobilität setzen - und schließlich solche, die weder das eine, noch das andere bauen wollen, sondern Lastenräder, Wärmepumpen oder Straßenbahnen. OT Rosswog Ja, warum eigentlich nicht? Was ist, wenn VW Straßenbahnen baut statt Autos? Erzähler Tobi Rosswog ist für die Verkehrswende ausgerechnet nach Wolfsburg gezogen. Der Klimaaktivist ist von Kindesbeinen gewöhnt, gegen Widerstände anzukämpfen. OT Rosswog Also ich hab halt ein Holzbeinchen sozusagen, also eine Karbonschiene, die mir überhaupt erst möglich macht zu gehen. Also ich habe bei der Geburt ein großes Geschenk gehabt in Form eines ein Kilo schweren Tumors, der wegoperiert werden musste und die Ärztinnen haben damals gesagt dieser Junge wird niemals laufen lernen können. Das wird ein Rollstuhlfahrer-Kind. Ich habe aber glücklicherweise Eltern gefunden, die gesagt haben: doch, mit dem gemeinsam machen wir das irgendwie und stecken da ganz viel Energie rein. Und das war der ganz wichtige Impuls in meinem Leben rückblickend: wir müssen das Unmögliche wollen, um das Mögliche wahrzumachen, wir dürfen keinen Autoritäten Glauben schenken, ob jetzt in weißen Kitteln oder wie auch immer, die sagen, das klappt doch eh nicht. Das hat noch nie funktioniert. Das ist natürlich keine Garantie dafür, dass immer alles klappt. Aber eben es wenigstens zu versuchen, dafür zu kämpfen. Erzähler Tobi Rosswog ist Vollzeit-Aktivist, er wird von Unterstützern finanziert. Zusammen mit einer Handvoll Mitstreitern mietet er 2022 ein Reihenhaus, mitten in der Autostadt: Amselstraße Nummer 44. Die "Amsel 44" wird zu einem Umweltzentrum, mit Gemeinschaftsküche, Büro, Schlaf- und Versammlungsräumen. Von dort aus organisieren sie Straßenfeste, Diskussionsrunden - und zivilen Ungehorsam. OT Rosswog am 7.3. haben wir einen Autozug gestoppt, dann dem Lokführer gesagt du bist wunderbar, das ist nicht gegen dich. Du hast hier auch Schoki und Tee. Und was du brauchst für die anderthalb Stunden Pause, weil wir wollen auf das 1,5-Grad-Ziel hinweisen mit unserer Aktion Erzähler Die Umweltaktivisten besetzen die Gleise auf dem VW-Werksgelände. OT Rosswog und dann eben ein Riesenbanner 25 Meter lang, vier Meter hoch, runter gehisst von dem Autozug, [..] und darauf abgebildet [..] war eine Straßenbahn. Und so konnten wir die Pressemitteilung raussenden: Die erste Straßenbahn verlässt das Werk, was bundesweit zu großer medialer Öffentlichkeit geführt hat. Musik Zitatorin Wolfsburger Allgemeine Zeitung, 26. 4. 23: "Aktionstag von Amsel 44 in Wolfsburg: CDU wirft Klima-Aktivisten Extremismus vor". Braunschweiger Zeitung, 26. 5. 23: "Polizei-Razzia im Aktionshaus Amsel 44 in Wolfsburg" Erzähler Die "Straßenbahn von VW" kommt bei Politik und Bürgerschaft der Autostadt nicht gut an. Schon als Tobi Rosswog seine erste Demonstration anmeldete, verlangte die Stadtverwaltung schalldichte Stellwände rund um den Ort der Kundgebung. OT Rosswog Ja, protestieren ist auch in Wolfsburg in Ordnung, aber ihr müsst das mit Sicht- und Lärmschutz machen. Also ihr müsst euch eintüten. So nach dem Motto: Protest ist in Ordnung, aber nur im eigenen Keller, wo es kein Mensch mitbekommt. Erzähler Rosswog legt Widerspruch ein - und bekommt Recht. Die Auflagen werden schließlich gerichtlich gekippt. Atmo Erzähler Kurz darauf treffen sich Tobi Rosswog und Lars Hirsekorn - genannt Hirse - in der Amselstraße 44. OT Rosswog Das war echt ein richtiger Glückstreffer mit Hirse. OT Hirsekorn Als ich das erste Mal gehört habe, da sind Leute nach Wolfsburg gekommen, die machen was zu dem Thema, war das für mich ein großes Geschenk. Das überaus charmant an den Menschen hier aus der Amsel, dass sie nicht gekommen sind und gesagt haben: Leute, das ist alles totale Scheiße was ihr hier macht, wir müssen die Fabrik einreißen und hier alles irgendwie dem Erdboden gleichmachen. Sondern im Gegenteil, dass sie sich hingestellt haben und gesagt haben: Hey Leute, was ihr baut ist ja gut und schön, aber es hat keine Zukunft. Und wenn wir dieses Werk, eure Arbeitskräfte, euren Verstand, die Manpower, was auch immer irgendwie sinnvoll weiterhin nutzen wollen, dann müssen wir jetzt anfangen zu überlegen, was wollen wir hier in Zukunft produzieren. Erzähler Lars Hirsekorn hatte früher mit Umweltschutz wenig am Hut. OT Hirsekorn Mich hat es nie interessiert, was das Produkt anrichtet. Was das Auto draußen anrichtet. Das Auto war für mich ein praktisches Fortbewegungsmittel - ist in Ordnung. Die Arbeitsbedingungen und der Lohn, das war für mich immer der Kern meiner politischen Auseinandersetzung. Erzähler Zum Nachdenken brachte ihn erst die Jugendbewegung Fridays for Future. OT Hirsekorn Kann man auf die Persönlichkeit zuschreiben: Greta Thunberg irgendwie, die mit ihren Reden mich so beeindruckt hat, dass ich angefangen habe, mich damit zu beschäftigen. 2017, 2018, wo ich gesagt habe, okay, wir können nicht so weiter machen. Wir müssen definitiv was ändern, wir können nicht einfach weiter Autos produzieren, Und diese Erkenntnis ist halt bei mir zumindest da und wenn ich sagen will, ich will der zukünftigen Generationen noch ins Auge gucken und sagen will: "Wir haben Fehler gemacht, und wir haben aber auch was besser gemacht", dann muss ich mich jetzt bewegen. Ich hab dann die erste Rede dazu auf der Betriebsversammlung in Braunschweig gehalten, dass wir so nicht mehr weiter machen können, dass wir uns was anderes überlegen müssen als Autos. Dass quasi insgesamt klar sein muss, dass wir weniger Autos fahren und Autos produzieren wie bisher. Und wenn wir nicht mehr so viele Autos produzieren wie bisher, heißt das natürlich auch, dass wir nicht mehr so viel Arbeit haben wie bisher am Standort und dass wir uns was Neues überlegen müssen. Gegebenenfalls auch Arbeitszeitreduzierung, aber auch andere Produkte ... Erzähler Das Erstaunliche: Die Mitarbeiter in der vollbesetzen Versammlungshalle reagieren anders, als er erwartet hat. OT Hirsekorn Da habe ich mich schon darauf eingestellt, dass es das erste Mal wird, dass ich Buhrufe kriege auf einer Betriebsversammlung. Da war ich sehr unsicher, weil ich so viel Applaus bekommen habe, dass ich nicht genau wusste, wie ist sie jetzt verstanden worden. Deswegen habe ich die noch mal einem Freund zugeschickt und gesagt "Du, lies die mal durch, bitte, kann man die missverstehen?" Statt mir zu antworten, hat er dann geschrieben: "Ich hab sie ins Netz gestellt!" Und darüber habe ich dann halt schnell überregionale Bekanntheit erworben. Erzähler 2022 wird Hirsekorn, der VW-Mann, der keine Autos mehr bauen will, sogar in den Betriebsrat gewählt. OT Hirsekorn Du hast natürlich genug Kollegen, die sagen, ist mir doch scheißegal. Geht die Welt halt zugrunde. Hauptsache, ich hab meinen Arbeitsplatz ... Atmo VW Werbung aus den USA "Diesel - it's no longer a dirty word" Erzähler Lange Zeit setzte VW unbeirrbar auf die Verbrenner-Technologie. Noch vor gut einem Jahrzehnt vermarktete der Konzern seine Fahrzeuge in den USA als "Clean Diesel". 2015 führte der Skandal um manipulierte Abgaswerte aller Welt vor Augen, dass das Versprechen eines umweltfreundlichen Verbrennungsmotors unhaltbar war. VW vollzog eine Kehrtwende. Der damalige Vorstandschef Herbert Diess erklärte: OT Herbert Diess Die Bekämpfung des Klimawandels ist eine Jahrhundertaufgabe. Für den Straßenverkehr gilt: Nur mit Elektromobilität können wir die CO2-Emmissionen in den nächsten zehn Jahren signifikant senken. Unser Ziel: Weltmarktführer im Bereich der Elektrofahrzeuge zu werden. Musik OT Tunnelschänke (Tobi:) Jetzt gehen wir zum Bruno in die Tunnelschänke... Zwischen Hauptbahnhof und Tor 17. (Hirsekorn:) Schau da, rote Karte für die AfD. Atmo Erzähler Nicht nur bekennende AfD-Mitglieder, auch unter 18-jährige haben keinen Zutritt in die Wolfsburger Tunnelschänke am Werkstor 17. Nach Schichtende zieht es VW-Arbeiter oft in die Raucherkneipe, für ein Feierabendbier oder einen kleinen Imbiss. Spielautomaten hängen an der Wand. Atmo Erzähler Lars Hirsekorn, Tobias Rosswog und Thorsten Donnermeier fragen Bruno, den Wirt, nach der Stimmung im Werk. OT Bruno Wie soll man sagen, nicht gut. Es wird geschimpft. Über die Führung natürlich. Scheiß E-Autos, das sagen sie fast alle. Erzähler Vor mehr als vierzig Jahren kam Bruno wie so viele Italiener nach Wolfsburg, um in der boomenden Autoindustrie zu arbeiten. Zehn Jahre lang war er in der Härterei, wo Stahlteile durch Erhitzen und schnelles Abkühlen widerstandsfähiger gemacht werden. OT Bruno Ich habe es nicht schlecht gehabt, da drinne, muss ich sagen. Wir waren eine gute Team. Das war wichtig. Haben da drinne sogar gefeiert, ich habe Braten gemacht, ich habe gekocht für alle. (Lacht) War schön, schöne Zeit. Aber ich wollte nicht, das war mein Leben, mein Job: Gastronomie. Ich bin 72, tue immer noch, will nicht zu Hause bleiben. Atmo Erzähler Seine Kinder arbeiten heute ebenfalls bei VW, wie die meisten Wolfsburger. Aber seit den 70er Jahren hat sich vieles verändert: damals gab es keine strukturelle Krise der Autoproduktion. Als Ende 2023 der Absatz für E-Autos einbrach, beschloss VW das größte Sparprogramm seiner Geschichte: Insgesamt zehn Milliarden Euro sollten eingespart werden, unter anderem bei Arbeits- und Personalkosten. Aber ohne Werksschließungen und betriebsbedingte Kündigungen, hieß es damals. OT Tobi, Bruno, Lars (Tobi) Ekelhaft, diese internationale Konkurrenz und immer wieder sich (Bruno) ja, Konkurrenz unter sich. Von Abteilung zu Abteilung. (Hirsekorn): Hier in Wolfsburg geht gerade ein Bereich nach dem anderen an die Group Services raus irgendwie, Hälfte des Lohns. Und ja, es ist schwierig, da wirklich eine Solidarität unter den Leuten hinzukriegen. Weil der Großteil meines Betriebsrates sagt ja auch: Wir wollen günstiger werden, wir müssen ja sozusagen hier die Produktionskosten so niedrig halten. Erzähler Knapp zehn Millionen Autos im Jahr verkauft VW. Einen von sieben PKW weltweit. Noch. Atmo Presswerk / Produktionshalle OT Kunstmann Im Moment ist die Auslastung hier am Fahrzeugwerk Zwickau natürlich nur bei zwei Drittel der Produktion. Erzähler sagt Betriebsrat Uwe Kunstmann. VW verkauft weniger E-Autos als erhofft. Die Konsequenz: Zuschläge fallen weg. Befristete Mitarbeiter werden entlassen. OT Kunstmann Als ich so vor ungefähr fünf, sechs Wochen mal dahinten in der Montagehalle war, hat mich eine befristete Kollegin angesprochen und hat halt nur aus ihrem Umfeld berichtet und hat gesagt "Hier, Uwe, mir macht das gerade ein Stück weit Angst". Es ist jetzt schon eine Stimmung, die auch sehr bedrückend ist, weil halt die die Bestellungen im Moment fehlen. Und natürlich aber auch, wie geht die Perspektive? Wie geht's weiter? Atmo Sachsen-Sofa Erzähler Crimmitschau, eine Kleinstadt in unmittelbarer Nähe des VW-Werks Zwickau, 8.April 2024. Schon eine halbe Stunde vor Beginn sitzen die Besucher im Theatersaal der Gemeinde und warten auf den Beginn einer Podiumsdiskussion über Antriebswende und Arbeitsplatzabbau. OT Sachsen-Sofa, Moderatorin Guten Abend. Herzlich willkommen beim heutigen Sachsen-Sofa hier in Crimmitschau. Erzähler Veranstalter sind die Katholische Akademie und die Evangelische Akademie Sachsen. Vor dem Gebäude stehen zwei Einsatzwagen der Polizei, für den Fall etwaiger Störversuche. Der Moderator Daniel Heinze bemüht sich, die Debatte in Gang zu bringen. OT Sachsen-Sofa / Moderator Daniel Heinze Ein Zwickauer Politiker hat es neulich so zusammengefasst: Wenn VW einen Schnupfen hat, kriegt Zwickau Grippe. Und man könnte ergänzen: die ganze Region, die kränkelt mit. Welche Auswirkungen hat die Mobilitätswende bei VW und anderswo? Wie kann das klappen, Arbeitsplätze erhalten und gleichzeitig die Mobilität der Zukunft gestalten? "E-Autos da, Arbeitsplätze weg?" Das ist das Thema hier heute Abend. Erzähler Auf der Bühne: der Bürgermeister der Stadt, der VW-Manager Thomas Edig und der damalige sächsische Wirtschaftsminister Martin Dulig, SPD. Er spricht von Schwarzmalerei. OT Dulig Mich ärgert dieser Titel. Mir geht das Niedergangsgerede richtig auf den Keks! Wenn wir genau wollen, dass die Arbeitsplätze in Zwickau in Gefahr kommen, sollen wir genau weiter so reden, sollen wir weiter so reden wie schlimm das alles ist. Die Kolleginnen und Kollegen - weil ich den Kollegen Betriebsratvorsitzenden hier sehe - die machen sich schon Sorgen. Nur: Welche Signale der Zuversicht geben wir ihnen denn? Erzähler Neben ihm auf dem Podium sitzt VW-Manager Thomas Edig. Er spricht viel über die neuen Wettbewerber aus China. Dem VW-Konzern fehle ein günstiges Modell, um gegen die chinesische Konkurrenz zu bestehen. Ein "Volks-Elektro-Wagen". OT Edig und Moderator (Edig) Die Autos kommen 2026 (Moderator) Also in zwei Jahren? (Edig) Das kann ich Ihnen versichern. (Moderator) Und die werden dann auch in Zwickau gebaut? (Edig) Äh, wir arbeiten sozusagen an der gesamten Produktzuordnung ... Das kann ich heute nicht zusichern, auf dieser Bühne. (Moderator) Okay. Musik Zitatorin Handelsblatt, 19. Januar 2024: "Elektromobilität: Wie BMW, Mercedes und VW jetzt um ihre Zukunft kämpfen. Die Welt, 11. Juni 2024: "Europa verliert den Kampf ums E-Auto" Atmo Erzähler Wolfsburg, Werkstor 17, unweit des Hauptbahnhofs. Auf der anderen Seite des Mittellandkanals steht das Stammwerk des Autokonzerns. Die Samstags-Frühschicht ist vorbei, die meisten VW-Arbeiter sind schon gegangen. Nur ein paar tauchen aus dem Tunnel auf, der unter dem Kanal verläuft. Ein Vater wird von seiner Familie abgeholt. OT Moin, moin, schönen Tag Dir noch. Danke gleichfalls, schönes Wochenende. Das wünsche ich Dir ebenso. Erzähler Zusammen mit dem Aktivisten Tobias Rosswog und dem VW-Arbeiter Thorsten Donnermeier aus Kassel stehen wir vor dem Eingang zur Fabrik. Sie haben das Betriebsfahrzeug des Umweltzentrums dabei: ein elektrisches Lastenfahrrad. Die beiden sprechen die Vorbeigehenden an. Die meisten gehen weiter. Aber nicht alle. OT Tobias Roswogg und VW-Arbeiter (Tobi) Habt ihr auch Bock, bald solche Fahrräder bei euch zu produzieren? (Claudio) Nö. (Tobi) Warum nicht? (Claudio) Ja, wir kriegen ja schon die Elektroautos nicht weg. Erzähler Claudio lässt sich auf ein Gespräch ein. Aber seinen Nachnamen will er nicht nennen. OT (Tobi) Wie lange malochst Du da schon? (Claudio)Schon zwölf Jahre jetzt. Ich würde am besten mit dem Zug oder dem Bus kommen, aber ich habe nicht die Möglichkeit. Ich komme aus Helmstedt. (Tobi:) Das ist ja ein Wahnsinn über Öffentliche zu erreichen. (Claudio:) Erst nach Braunschweig, dann von Braunschweig nach Wolfsburg. (Tobi:) Deswegen müssen wir den ÖPNV ausbauen. Deswegen sagen wir: VW steht für Verkehrswende. Was hältst du davon? Busse, Waren-, Lastenräder, alles Mögliche können wir bauen. (Claudio) Können wir bauen, ja. (04:10) (Thorsten:) Was machst Du genau da? (Claudio:) Karrosseriebau. Da sind die Anlagen, die Roboter, und die schweißen die Karossen zusammen und ich beaufsichtige das und bediene das. (Thorsten:) Könntest Du Dir vorstellen, dass die Robis statt so eine Karosse z.B. eine Tür von der Straßenbahn auch hinkriegen würden? (Claudio:) Das könnte man hinkriegen, glaube ich. Atmo Tunnelschänke Erzähler In der nahe gelegenen Tunnelschänke: Tobi Rosswog drückt Bruno einen Packen Flugblätter in die Hand, in denen zur Solidarität mit den Beschäftigten eines italienischen Automobilzulieferers aufgerufen wird. OT (Tobi an Bruno:) Hast du das damals mitbekommen in Florenz, mit dem GKN-Werk? (Bruno:) Nein, nein. (26:02) (Tobi:) Das ist ganz interessant, weil in Florenz ein GKN Werk von heute auf morgen geschlossen hat, 400 Kolleg*innen... (Bruno:) Das passiert in Italien in die letzte Jahre (Tobi:) ...immer wieder, genau. Aber das Spannende ist jetzt, dass die Kolleg*innen am Montag wieder gekommen sind und gesagt haben: Die Fabrik gehört jetzt uns. Und eine dauerhafte Betriebsversammlung machen und anfangen Dinge zu produzieren. Nicht mehr Achswellen für Ferrari und Maserati, sondern jetzt Lastenräder, Solaranlagen. (Bruno:) Etwas ähnliches passiert in Kampanien, Neapel. Musik Erzähler Das GKN-Werk in der Toskana ist ein großer Automobilzulieferer. Seit 2022 ist es von den Arbeitern besetzt. Es ist das Vorzeigeprojekt der Verkehrswende-Bewegung. Die Beschäftigten wollen den Betrieb als Genossenschaft weiterführen. Tobi Rosswog, Thorsten Donnermeier und Lars Hirsekorn kommen auf weitere Beispiele für Konversion in der Automobilindustrie zu sprechen. Während der Corona-Pandemie ging das sogar ziemlich schnell. Verschiedene Autokonzerne konnten plötzlich Beatmungsgeräte produzieren. OT Hirsekorn, Donnermeier, Rosswog (Tobi & Hirsekorn durcheinander:) Seat in Spanien hat tatsächlich Beatmungsgeräte produziert. Thorsten: GM in den USA auch. (Tobi:) Seat ist ja sogar eine Tochter von VW, das macht es nochmal interessanter, dass das ja auch geht. GM war jetzt einer der Großen. (Hirsekorn): Das ist ja sozusagen nur der Beweis, dass Du irgendwelche Abteilungen durchaus auf was anderes irgendwie relativ zügig umstellen kannst - (Tobi:) Wenn du es willst Musik Zitatorin Wolfsburger Allgemeine Zeitung, 9.8. 23: "Aktivisten besetzen Gewerkschaftshaus der IG-Metall". ND - Der Tag, 10. 8. 23: "In Wolfsburg kämpfen VW und IG Metall mit Klimaaktivisten". Erzähler Im August 2023 besetzen Tobi Rosswog und andere Klimaaktivisten die Geschäftsstelle der IG Metall in Wolfsburg. Ein Jahr lang hatten sie versucht, die Gewerkschaftsführung zu einer öffentlichen Debatte zu bewegen. OT Rosswog Es kam kein Termin zustande. Mal wieder dieses Gefühl, von verarscht zu werden, hingehalten werden. Die wollen gar nicht. Und tun nur so. Und dann dachten wir: ok, dann gehen wir halt mal rein und es ist ein öffentliches Foyer auch mehr oder weniger, ist ja so ein halboffener Ort, also von daher ist es auch nicht das mensch da irgendwelche Türen aufknackt oder so ein Quatsch, sondern ist eine Drehtür, da geht man schon halt rein. Da hatten wir halt auch, so paar Plakate dabei, dann drin im Foyer also angeheftet. Ein paar Leute sind aufs Dach gestiegen, haben irgendwelche Transpis runter gehalten. Atmo Straße, Treppenhaus Erzähler Ein knappes Jahr nach der Besetzung, an der auch Tobi Rosswog beteiligt war, stehen wir mit Steffen Schmid, dem Pressesprecher der Wolfsburger IG Metall, vor dem Gewerkschaftshaus in der Innenstadt. Musik Erzähler Die IG Metall Wolfsburg ist einer der mächtigsten Bezirke der Gewerkschaft. Sie hat fast so viele Mitglieder wie die Stadt Einwohner. IG Metall und die Betriebsräte des VW-Werks in Wolfsburg setzen ebenso wie der Konzernvorstand auf E-Autos. Lange war die Bereitschaft der Gewerkschaft, sich mit dem Konzern auf Konflikte einzulassen, nicht besonders ausgeprägt: Jahrzehntelang wurde bei VW nicht gestreikt. Stattdessen gab es zwischenzeitlich Vergnügungsreisen für ausgewählte IG-Metall-Betriebsräte, finanziert aus der Konzernkasse. Atmo Moin Kollegen, Moin OT Jo, jetzt sind wir im dritten. Hier ist mein Büro und das von Herrn Diesterheft. OT Diesterheft Also erstmal wird das Herz bleiben, nämlich die Produktion von Fahrzeugen. Daran wird sich, glaube ich, in absehbarer Zeit nichts verändern, weil die Mobilität darauf ausgerichtet ist. Erzähler Matthias Diesterheft ist einer der drei Geschäftsführer der Gewerkschaft in Wolfsburg. Die Idee, statt Autos Straßenbahnen zu bauen, könne man ja gerne intern diskutieren, sagt er. Eines müsse jedoch klar sein: OT Diesterheft Es gibt vier Räder, da kann man unterschiedliche Dinge darauf bauen, ob man sagt, es wird ein Zweisitzer, Viersitzer, Sechssitzer bis hin zum Bus, um halt die Mobilität der Menschen aufrechtzuerhalten. Erzähler Eine öffentliche Diskussion über die Zukunft des VW-Werks lehnt die Gewerkschaft in Wolfsburg ab. Sie hält an den E-Autos fest, trotz fragwürdiger Klimabilanz, trotz chinesischer Konkurrenz. Ebenso wie die Aktionäre. Lars Hirsekorn, selber langjähriges IG-Metall-Mitglied, ist damit nicht zufrieden. OT Hirsekorn Da müsste die IG Metall mehr tun. Die Gewerkschaften hätten die Möglichkeit, sehr, sehr viel inhaltlich zu bewegen, wenn sie sich trauen würden. Musik OT Oliver Blume Sehr geehrte Aktionärinnen und Aktionäre, sehr geehrte Damen und Herren des Aufsichtsrats, liebe Kolleginnen und Kollegen, herzlich willkommen zur Hauptversammlung der Volkswagen AG 2024. Erzähler Oliver Blume, der VW-Vorstandsvorsitzende, 29. Mai 2024, auf der Aktionärsversammlung. OT Oliver Blume Nachhaltigkeit ist im Volkswagen Konzern unser zentrales Wertegerüst für verantwortliches Handeln. Erzähler Der Vorstandschef verbreit Optimismus unter den Anlegern, so wie es üblich ist. OT Blume Wir sehen in der Elektro-Mobilität die Zukunft der Automobilindustrie. Der Schwerpunkt unserer Investitionen ist darauf ausgerichtet. Atmo Alternative JHV, VW-Werkstor Wolfsburg Ost Erzähler Die VW-Aktionärsversammlung findet 2024 nur virtuell statt. Einige Dutzend Beschäftigte und Umweltaktivisten treffen sich am Wolfsburger Werkstor Ost zu einer alternativen Jahreshauptversammlung. Mit dabei: Lars Hirsekorn, Thorsten Donnermeier und auch Tobi Rosswog. Über die Vereinigung der Kritischen Aktionäre hat er Rederecht auf der digitalen Versammlung erhalten. Er spricht zu den Anlegern per Videocall. OT Tobias Rosswog / Thorsten Donnermeier Einen wunderschönen guten Tag, liebe Aktionär*innen und lieber Herr Pötsch. Da mir wichtig ist, dass auch Arbeiter*innen zu Wort kommen, habe ich Thorsten mitgebracht: VW-Arbeiter, vor 40 Jahren angefangen. Hallo, mein Name ist Thorsten. Wir sind dazu in der Lage, Produkte zu fertigen, die allen Menschen dienen und keinem Menschen schaden. Unser Leben und Überleben als Menschen ist wichtiger als wie Profite für Herrn Piech, Porsche und Katar. ... Musik Erzähler Ferdinand Porsche und Anton Piech ließen 1938 das Wolfsburger Stammwerk im Auftrag von Adolf-Hitler errichten. Bis heute halten ihre Familien gut die Hälfte der VW-Aktien. Unbeeindruckt von der Absatzkrise der E-Autos beschließen die Aktionäre eine deutliche Erhöhung der Dividende gegenüber dem Vorjahr: 4,5 Milliarden Euro. Weniger als ein halbes Jahr später, am 2. September 2024, folgt dann eine schockierende Nachricht: Der Sparkurs wird ausgeweitet. Die seit 30 Jahren bestehende Beschäftigungssicherung wird aufgekündigt. Konkret bedeutet das: betriebsbedingte Kündigungen, sogar Werksschließungen sind möglich. Der Grund: weitere fünf Milliarden Euro müssten eingespart werden. OT Mitarbeiter vor dem Werktor, Pfeifkonzert Das Vertrauen ist weg, wir haben die Schnauze voll, und es wird Zeit, dass was passiert. Erzähler Im Zwickauer VW-Werk sind die Mitarbeiter empört. Der Standort könnte geschlossen werden. OT Mitarbeiter vor dem Werktor, Pfeifkonzert Und eigentlich müsste der Vorstand wegen der Sachen, die sie machen, zurücktreten. Weil sie haben versagt und wir sollen jetzt die Rechnung bezahlen. Erzähler Die Verkehrswende-Aktivisten fühlen sich bestätigt. So wie Thorsten Donnermeier. Er kritisiert nicht nur das Management, sondern auch den Vorstand der IG Metall und die Betriebsratsspitze. OT Donnermeier Also es fällt uns auf die Füße ein Stückweit und auf den Kopf mächtig, dass man in der Vergangenheit sich keine Gedanken um das Ende der automobilen Produktion und um zukunftsfähige Produktionen Gedanken gemacht hat. Erzähler Aber Donnermeier sagt auch: Jetzt erst recht! Und die Angst mache viele VW-Arbeiter empfänglicher für neue Ideen. OT Donnermeier Und da kommt man natürlich im Moment auch ein großes Stück näher auch mit Kollegen in eine Diskussion über den Bau von öffentlichen Verkehrsmitteln. Atmo Werbespot VW Sind wir bereit? Ja. Atmo Foyer in der Autostadt Erzähler Die sogenannte "Autostadt" liegt am Rande des Werksgeländes und ist für die Öffentlichkeit zugänglich: Ein riesiger VW-Themen- und Freizeitpark. Die Käufer können hier ihr Auto abholen, einschließlich Hotelübernachtung mitsamt der Familie auf dem Gelände. Ihnen wird eine Zeremonie geboten: der fabrikneue PKW schwebt aus einem 20-stöckigen gläsernen Autoturm hinab ins Kundencenter, wo die Käufer ihn in Empfang nehmen dürfen. Hier ist die Welt des motorisierten Individualverkehrs noch in Ordnung. Wolfsburger können für 36 Euro im Jahr eine Jahreskarte erwerben, Events und Restaurants besuchen und vor allem die neuesten Errungenschaften der Technik bewundern: Im Foyer steht ein Auto, das fliegen kann - Prototyp einer Personendrohne. Kleine Kinder sitzen auf den Fahrersitzen von Miniaturautos mit Wolfsburger Kennzeichen. Sie halten ein Lenkrad in der Hand, haben einen Bildschirm vor sich und drücken aufs Gaspedal. Die frühkindliche Konditionierung funktioniert. Atmo Feuerwehrhaus (Tor rattert nach oben) Unwetterwarnung. Mit allem Drum und Dran. Erzähler Lars Hirsekorn öffnet das Rolltor des Feuerwehrhauses in Diddersee, seinem Heimatdorf. Er packt die Sachen für seine Kinderfeuerwehr zusammen. OT Hirsekorn Ich kann mit dem Feuerwesen in Deutschland mich durchaus anfreunden. Es hat ja schon so was von gegenseitiger Hilfe. Alle packen halt mit an. Das ist eigentlich schon so ein schöner Gedanken, sozusagen. Erzähler Hirsekorn denkt manchmal daran, die Betriebsratsarbeit aufzugeben. Die vielen Sorgen der Kolleginnen und Kollegen, die an ihn herangetragen werden, der politische Kampf, die Überzeugungsarbeit, das Rennen gegen Wände - das alles zerrt an ihm. OT Hirsekorn Da wo ich am ehesten was abknapsen könnte - in Anführungsstrichen - wäre dann die Kinderfeuerwehr. Das ist aber das, was mir am meisten Kraft gibt. Atmo Sportplatz Erzähler Nach und nach trudeln die Kinder auf dem Sportplatz ein. Es ist ein trüber Nachmittag. Über das Fußballfeld läuft ein Storch. Ein paar der Kinder rennen hin und versuchen, ihn zu einzufangen. Für eine Geburtstagsfeier studiert Lars Hirsekorn mit den Kindern ein Lied ein. Atmo (Kinderstimmen, Hirsekorn) Das Lied heißt All You Need is Love. Das kriegen wir hin! (Song setzt ein) Absage: Verkehrswende in der Autostadt - Von VW-Arbeitern, die keine Autos mehr bauen wollen. Ein Feature von Matthias Becker und Gerhard Klas. Es sprachen: Gerhard Klas und Claudia Mischke Ton und Technik: Thomas Widdig und Christoph Schumacher Regie: Eva Solloch Redaktion: Christiane Habermalz Produktion: Deutschlandfunk 2024 Dieses Feature wurde gefördert aus Mitteln der Stiftung Menschenwürde und Arbeitswelt. 0 20 29