Hörspiel Feature Radiokunst Das Feature Ihr seid ausgewiesen! Die "Polenaktion" in Leipzig am 28. Oktober 1938. Autorin: Ute Lieschke Regie: Dörte Fiedler Redaktion: Christiane Habermalz Produktion: Deutschlandfunk 2023 Erstsendung: Dienstag, 24.10.2023, 19.15 Uhr Ton: Martin Eichberg Es sprachen: Rike Schuberty Toni Jessen Ute Lubosch Gregor Höppner und Martin Engler Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. (c) - unkorrigiertes Exemplar - Atmo 1 Jüdische Gemeinde Leipzig Oh ist das schwer, also wirklich massives Holz. Das ist die sogenannte Mitgliederkartei, die wurde 1935 angelegt. O-Ton 2 Ellen Halpern, verh. Bardach Am 28. Oktober 38 kam die Polizei zu uns und sie sagten uns, wir sollen ein kleines Köfferchen packen, wir würden ausgesiedelt nach Polen. Atmo 3 Jüdische Gemeinde Leipzig Ellen ... Halpern, Ellen Ruth, geboren 26.9.1927 in Leipzig, polnische Staatsangehörigkeit ... Maja, Miriam ... Schapira, Miriam Edith, geboren 3.7.1924 in Leipzig, polnische Staatsangehörigkeit ... O-Ton 4 Miriam Schapira, verh. Ron Und dann hat er gesagt: "Wo sind denn deine Eltern?" Na, die schlafen noch. Da mache ich das Licht an, meine Eltern gucken so ganz verwundert und sagen: "Was ist denn passiert?" -"Stehen Sie mal schnell auf. Sie gehen jetzt nach Polen!" Sprecher Ihr seid ausgewiesen! - Die "Polenaktion" in Leipzig am 28. Oktober 1938. Ein Feature von Ute Lieschke Atmo 5 Besucherprogramm Good Morning. I am the mayor of Leipzig. We welcome... Glocken First we take the photo, ... Erzählerin Jüdische Woche im Juni 2023 in Leipzig. Aufstellen zum Gruppenfoto vor der Alten Handelsbörse beim "Besucherprogramm für ehemalige Leipziger". Anfang der 1990er Jahre hat die Stadt erstmals jüdische Überlebende in ihre Geburtsstadt eingeladen. Einige von ihnen sprachen zum ersten Mal seit fünfzig Jahren wieder deutsch. Heute sind es die Kinder und Enkel aus Israel, England und den USA, die sich auf die Spuren ihrer Mütter und Großväter begeben. In den Straßen des Waldstraßenviertels, an den Gräbern auf dem Alten und dem Neuen jüdischen Friedhof oder auf einer Stadtführung durch das ehemalige Pelzviertel am Brühl. Atmo 5.2 Besucherprogramm Ok, Everybody looks there. - Alle mal gucken - Recht freundlich. Smile, smile, look at the lovely backside of Goethe. Lachen .... Thank you! Erzählerin Überlebende gibt es keine mehr im Leipziger Besucherprogramm. Vor wenigen Monaten ist Leipzigs Ehrenbürgerin Channa Gildoni mit 99 Jahren verstorben. Sie war eine der letzten. Doch ihre und die Geschichten anderer haben überlebt. Ellen Halpern, Miriam Schapira, Thea Gersten und Helga Dresner. Sie erzählen vom jähen Ende der Kindheit am 28. Oktober 1938 in Leipzig: Atmo 6 Jüdische Gemeinde Leipzig Dresner ... Dresner, Helga, geboren 9.2.1923 in Leipzig, polnische Staatsangehörigkeit Zitat Helga D. Mein Vater war Pole und meine Mutter war deutsche Jüdin, die Polin wurde, das heißt, sie hatte einen polnischen Paß. Auch wir Kinder hatten einen polnischen Pass. Mein Vater wurde telefonisch von nichtjüdischen Freunden mitten in der Nacht gewarnt, dass auch er geholt werden würde. Erzählerin Die sogenannte "Polenaktion" am 28. Oktober 1938 war die erste Massenabschiebung der Nationalsozialisten, in einer Zeit, als diplomatische Beziehungen zwischen Polen und Deutschland noch existierten. Sie war eine Art Generalprobe für spätere Deportationen. Deutschlandweit wurden 17.000 polnische Juden ausgewiesen, darunter der spätere Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki. Und sie hatte politische Folgen: Als Vergeltung für das Leid, das man seiner Familie zugefügt hatte, erschoss der 17-jährige Herschel Grynszpan den deutschen Botschaftsrat in Paris. Dieses Attentat sollte zwei Wochen später den Nationalsozialisten als Anlass für die Reichspogromnacht dienen. Atmo 7 Villa Ury, Bernd Karwen Wir betreten nun das ehemalige Generalkonsulat der Republik Polen, das bis zum Kriegsausbruch 1939 als solches diente. Der Teppich ist sicher neu. Aber auch damals wird er elegant gewesen sein Rot mit französischen Lilien. Erzählerin In Leipzig lebten damals besonders viele Jüdinnen und Juden mit polnischer Staatsangehörigkeit. Doch während in anderen deutschen Städten die Abschiebung fast reibungslos vonstatten ging, verlief die Aktion in Leipzig weniger erfolgreich als gedacht. Das lag vor allem an einem Mann: Dem polnischen Generalkonsul Feliks Chiczewski, der hier seine Amtsgeschäfte ausübte: Atmo 8 Villa Ury, Bernd Karwen Kommen durch einen Flur in die repräsentativen Räume, wo sich hier Sofas und wohl gedeckte Tische befinden. Parkett, Teppich und feine Polstersessel. Erzählerin Bernd Karwen vom Polnischen Institut Leipzig führt mich durch die Villa Ury im Leipziger Musikviertel. Heute ist sie ein Gästehaus. Die herrschaftliche Villa wurde nach ihren früheren jüdischen Besitzern benannt, die in Leipzig das Warenhaus Ury als erstes großes Kaufhaus der Stadt gegründet hatten. 1938 wurden hier im polnischen Generalkonsulat Reisepässe verlängert, Geburtsurkunden und Sterbeurkunden ausgestellt, polnischen Staatsbürgern ihre Rechte erklärt. Atmo 9 Villa Ury, Hausmeister Sie können sich auch in den Wintergarten setzen, wenn sie wollen... Erzählerin Es gibt ein Foto, wo sich genau diesem Wintergarten Frauen, Kinder und auch junge Männer zusammendrängen. Die meisten liegen dicht hintereinander, erschöpft, verängstigt. Andere sitzen, die kleinen Kinder auf dem Schoss. Atmo 10 Schulmuseum, Lautsprecher: Und als ich 6 Jahre alt war, wurde ich in die 41. Volksschule eingeschult ... Da bin ich auch nun nicht in die Carlebachschule mit dem Gefühl gegangen, dass ich jetzt erlöst bin von irgendwelchen Dingen, die mir da passiert sind oder noch passieren könnten.... Erzählerin Der Raum der Carlebachschule im Leipziger Schulmuseum. Ein Ort voller Geschichten. Offen zugänglich oder auch versteckt im Archiv. Lautsprecher Atmo-...war normales Schulleben, der Unterricht war gut, in meiner Erinnerung war er gut Atmo 11 Filmaufnahme Da ist ein Film drin? - Ja- Und wie lange läuft der? - 60 Minuten ... Erzählerin Die damalige Direktorin des Schulmuseums Elke Urban nahm Thea Gersten und andere ehemalige Leipziger Anfang der 2000er mit der Filmkamera auf. Sie alle erzählen von ihrer Schulzeit in der Carlebachschule, denn staatliche Schulen durften jüdische Kinder 1938 nicht mehr besuchen. Das Gebäude der Höheren Israelitischen Schule steht heute noch in der Gustav-Adolf-Straße. Atmo 12 Carlebach-Haus, Schritte O-Ton 13 Thea Gersten Das war das erste Mal seit fast 62 Jahren, dass ich die Schultreppe wieder hinaufgegangen bin, die Treppe, die Außentreppe zum Schulgebäude, ist noch genau dieselbe, wie sie war. Und als ich dann die Vordertür zur Schule aufmachte, da sah ich den Boden, der gekachelt ist, mit Sternen, also dem jüdischen Stern. Und da dachte ich ja, das ist ja noch genau, wie es war, als ich ein Schulkind war. Und dann auch die Treppe hinauf zum ersten Stock, heute sieht es etwas anders aus, aber ich hätte mich noch genau in mein Klassenzimmer finden können. Atmo 14 Schulmuseum, Kinderlärm Erzählerin Thea Gersten und Ellen Halpern, Miriam Schapira und Helga Dresner. 1938 waren sie alle Teenager und besuchten die Carlebachschule in der Gustav-Adolf-Straße. Wie auch Manfred Samson, damals 14 Jahre alt. O-Ton 15 Schlomo Samson Hallo ... Sprechen Sie langsam und deutlich, denn ich bin schon nicht der jüngste. Erzählerin Kurz vor seinem 100. Geburtstag kann ich mit Schlomo Samson, wie er heute heißt, telefonieren. O-Ton 16 Schlomo Samson Ich bin geboren als Manfred Samson am 2. Dezember 2023. Mein Vater, der kam aus Lodz, und er war aus einem frommen jüdischen Haus und die konnten unmöglich in das polnische Militär gehen. Da sind sie, bevor sie sich stellen mussten, gefahren nach Deutschland, ich rede jetzt von 1920, Deutschland hatte damals einen wunderbaren Namen in Polen und sehr viele jüdische Jungs aus religiösen Häusern sind gekommen nach Deutschland. Und Leipzig hatte da einen großen Anteil dran, weil es ist im östlichen Teil von Deutschland. Und in Leipzig gab es eine große Gemeinde von polnischen Juden. Erzählerin 1938 lebten in Leipzig noch etwa 3.500 polnische Juden. Seit Ende des 19. Jahrhunderts waren sie in die Handelsstadt gezogen. Als Kaufleute oder Pelzhändler kannten einige Leipzig bereits von der jährlichen Mustermesse. Durch harte Arbeit konnten sie sich hier ein besseres Leben aufbauen. Manch einer war bereits als Kind nach Leipzig gekommen. So erzählte es auch Ellen Halpern, verheiratete Bardach, in den 1990er Jahren der Shoa Foundation: O-Ton 17 Ellen Halpern Mein Vater ist in Galizien geboren und mit seinen Eltern als zweijähriger Junge nach Leipzig eingewandert. Mein Leben in Leipzig war sehr gut, ich war das einzige Kind und mein Vater hatte ein Möbelgeschäft zusammen mit seinem Bruder. O-Ton 18 Schlomo Samson Mein Vater, zuerst hat er gearbeitet bei Trikotagenfirmen und später bei Weinfirmen. Und hatte ein Auto, zuerst einen Opel und dann einen Chevrolet. Das waren noch Autos, die man mit einer Kurbel angefangen, mit einer Kurbel, ja. Auch im Winter zum Beispiel hat man ein besonderes Autoofen hereingestellt in das Auto, damit es nicht kalt ist. Erzählerin Helga Dresner, verheiratete Ehlert, erzählte der Soziologin Robin Ostow aus ihrer Kindheit: Zitat Helga Dresner Mein Vater war Pelzhändler und hatte zwei Geschäfte, eins am Brühl und eins in der Reichsstraße. Da er gelernter Kürschnermeister war, hatte er auch eine eigene Kürschnerei. Atmo 19 Straßenlärm Wir sind jetzt auf dem Brühl, nahe des Hauptbahnhofs. Erzählerin Der Historiker Steffen Held zeigt in die Höhe. Da steht tatsächlich auf dem Dach eines herrschaftlichen Geschäftshauses ein lebensgroßer Eisbär! Die Tierskulptur ist eine stolze Werbung für die damals weltweit bekannte Pelzstadt Leipzig. Fast 700 Pelzgeschäfte gab es hier einstmals am Brühl. O-Ton 20 Steffen Held Hier spielten eben jüdische Händler eine wichtige Rolle, die also ihre Geschäftsverbindungen vor allem aus Osteuropa aus dem Russischen Reich, aus Galizien mitbrachten, die während der Messen in Leipzig waren, die dann ihre Firmen hier gründeten, Ende des neunzehnten Jahrhunderts, und die dann eben dazu beitrugen, dass Leipzig dieses Synonym annahm - Welt-Pelzhandelsstadt zu sein. Erzählerin Dresner & Co", so hieß das Geschäft von Helgas Vater. "Pelzhandel Gersten: En gros et en detail" das von Theas Eltern: O-Ton 21 Thea Gersten Meine Eltern hatten ein Pelzgeschäft. Fell und auch fertige Konfektion und Herren- und Kleiderkonfektion haben sie angefertigt. Damals trugen Männer noch Mäntel mit Pelzkragen, und so haben wir das auch für die Herrn gemacht. Und Muffe für Frauen. Das gibt's heute auch nicht mehr, glaube ich. Weil es waren damals sehr, sehr kalte Winter. Und im Rosental auf dem Teich sind wir als Kinder Schlittschuhlaufen gegangen. Zitat Helga Dresner Als Ausländer trafen die Gesetze, die die Nazis erlassen hatten, auf meinen Vater nicht in dem Maße zu wie auf Deutsche. Erzählerin Die Hand darüber hielt Feliks Chiczewski. Der Polnische Konsul, selbst kein Jude, setzte sich mit seinen Befugnissen ein, wo er konnte. Regelmäßig schickte er Berichte an die polnische Botschaft in Berlin. Zitat F. Chiczewski Gegenwärtig zwingt die Partei jüdische Läden, sich durch das Ankleben spezieller gelber Zettel mit der Aufschrift "Jüdisches Geschäft" zu identifizieren. Die jeweilige Intervention des Konsulats hat erreicht, dass bislang die polnischen Juden von dieser Kennzeichnung ausgenommen werden. Erzählerin Die Republik Polen war zu der Zeit noch relativ jung, erst 1918 war sie als eigenständiger Staat gegründet worden. Die Eltern, die aus Galizien kamen, hatten ihre österreichisch-ungarischen Papiere gegen einen polnischen Pass getauscht. Und Theas Vater, der aus Russisch-Polen kam, erhielt ebenfalls einen polnischen Pass, später die ganze Familie. Nur Manfred Samsons Familiengeschichte ist etwas anders. Sein Vater flüchtete vor dem polnischen Militär, so wurde er staatenlos. Atmo 22 Brodyer Synagoge, Gesang und Gebete Erzählerin Das Aufeinandertreffen von zugewanderten polnischen Juden und der Gemeinde der eingesessenen deutschen Juden war nicht konfliktfrei. Die deutschen, meist liberalen Juden waren assimilierter und weitestgehend unsichtbar im Leipziger Stadtbild. Sie gingen in den "Tempel", wie die Synagoge in der Gottschedstraße genannt wurde. Dort gab es eine Orgel, und Frauen durften im Chor mitsingen. Die polnischen, mehrheitlich orthodoxen Juden besuchten die große EZ-Chaim Synagoge. Auch der Vater von Schlomo Samson ging dorthin, wo ein Gottesdienst stattfand, wie er ihn aus der Familientradition kannte. Atmo 23 Brodyer Synagoge, Gesang und Gebete O-Ton 24 Schlomo Samson Ich habe sogar im Chor gesungen. Ich war Sopran. Die Jungens waren Sopran und Alt und die Männer waren Tenor und Bass. Und der Chor, der hat gestanden oben über der Heiligen Lade in der zweiten Etage. Es gibt sogar ein Bild von der Synagoge vom Chor, wo man mich noch sieht. Erzählerin Im März 1938 schließt sich Österreich dem Deutschen Reich an. Feliks Chiczewski gibt die Leipziger Stimmung nach Berlin weiter: Zitat F. Chiczewski Die Nachrichten über den kürzlich erfolgten Umsturz in Österreich und den Einmarsch deutscher Truppen wurden in ganz Sachsen und in Leipzig in allen Schichten begeistert aufgenommen ... Erzählerin Polen befürchtet daraufhin eine Rückkehr tausender mittelloser polnischer Juden aus Österreich, die aus Angst vor Verfolgung das Deutsche Reich verlassen wollen. Im März 1938 beschließt die polnische Regierung in Warschau deshalb ein Gesetz: Alle Polen, die länger als fünf Jahre im Ausland gelebt haben, sollen ihre Staatsangehörigkeit verlieren. Bernd Karwen versucht eine Erklärung: O-Ton 25 Bernd Karwen Die Tendenz generell war, man reist aus Polen eher aus, aufgrund von Armut, man sucht sein Glück woanders, sei es in den USA oder in Europa, tendenziell im Westen. Und jetzt stand die Perspektive im Raum: Es könnte sein, dass all jene, die im Deutschen Reich leben, nach Polen kommen und sie kommen mittellos, weil es gab ja fortschreitende Enteignungen. Man hätte also eine Gruppe von mittellosen Menschen, die zum Teil kein Polnisch mehr sprechen, in Polen integrieren müssen. Erzählerin Anfang Oktober 1938 setzt die Regierung in Warschau das Gesetz per Erlass in Kraft: Jeder polnische Staatsbürger, der im Ausland lebt, muss seinen Pass bis zum 30. Oktober 1938 durch einen Prüfvermerk erneuern lassen. Ansonsten verliert er seine polnische Staatsangehörigkeit. Feliks Chiczewski schickt ein warnendes Schreiben an seine Botschaft in Berlin: Zitat F. Chiczewski Der Krieg, den die nationalistische Partei den Juden erklärt hat, ist erbarmungslos und muss mit der völligen Vernichtung der Juden enden ... Immer mehr jüdische Handelsbetriebe gehen in deutsche Hände über. Erzählerin Nachdem Verhandlungen zwischen dem Deutschen Reich und Polen ins Leere laufen, beginnt die deutschlandweite Polenaktion. Der Oktober-Erlass aus Warschau bietet für die Nationalsozialisten einen willkommenen Anlass, gezielt gegen die von ihnen verhassten "Ostjuden" vorgehen zu können. Am 27. Oktober 1938 verschickt SS-Führer Heinrich Himmler ein Blitztelegramm an alle Polizeidienststellen und die Gestapo. Zitat Behörde An den Polizeipräsidenten Leipzig: Unter Einsatz aller Kräfte und Zurückstellung anderer Aufgaben, alle polnischen Juden, die im Besitz gültiger Pässe sind, sofort unter Aushändigung formularmäßiger Aufenthaltsverbote in Abschiebehaft zu nehmen und unverzüglich nach der polnischen Grenze im Sammeltransport abzuschieben. O-Ton 26 Miriam Schapira Am 28. Oktober, schon winterlich, nicht. Um 7 Uhr morgens war es noch sehr dunkel, hat es bei uns geklingelt. Ich war zufällig schon fertig für die Schule. Ich habe gemeint, die Zilli kommt mich abholen und habe gesagt Zilly, ich mach dir sofort auf. Erzählerin Miriam Schapira und ihre Familie sind völlig ahnungslos, wie sie Anfang der 1990er dem Journalisten Holger Jackisch erzählt. O-Ton 27 Miriam Schapira Ich mache die Tür auch. Da stehen zwei Polizisten draußen, und die sagen: "Ihr seid ausgewiesen. Ihr geht nach Polen!" Also, aus heiterem Himmel. Wir haben auch nicht mal zuhause davon gesprochen, dass wir einen polnischen Pass hatten. Und dann hat er gesagt: "Wo sind denn deine Eltern?" Na, die schlafen noch. "Na, wo ist denn das Schlafzimmer?" Sag ich, was, Sie wollen in das Schlafzimmer? Jaja. Mach mal auf, schnell. Das war da finster. "Wo ist das Licht, mach das Licht an!" Da mache ich das Licht an, meine Eltern gucken so ganz verwundet: "Was ist denn passiert?" "Stehen Sie mal schnell auf. Sie gehen jetzt nach Polen!" Zitat Behörde Ausweisungsbefehl: Aufgrund der Ausländerpolizeiverordnung vom 22.8.1938 verbiete ich Ihnen hiermit den Aufenthalt im Reichsgebiet. Sie haben das Reichsgebiet sofort zu verlassen. Ich verbiete Ihnen, ohne Erlaubnis dahin wieder zurückzukehren ... O-Ton 28 Miriam Schapira Und da sagt mein Vater "Das muss doch ein Irrtum sein. Ich habe ja nichts verbrochen." Und meine Mutter kam ganz verstört raus und hat gesagt: "Was heißt, wir gehen nach Polen, was soll ich denn mitnehmen?" Und da sagt er "Ja, gar nichts, sie gehen ja in ein Kulturland!". Also, ich werde es nicht vergessen. Diese Ironie. Erzählerin 1.652 Aufenthaltsverbote erstellt die Stadt, nicht alle kann sie zustellen. Die Zahl entspricht den registrierten Haushalten, wichtig ist der männliche Hauptverdiener. Ellen Halpern ist damals 11 Jahre. O-Ton 29 Ellen Halpern Am 28. Oktober 38 kam die Polizei zu uns und sie sagten uns, wir sollen ein kleines Köfferchen packen, wir würden ausgesiedelt nach Polen, zu meiner Mutter haben sie gesagt, sie könnte in Deutschland bleiben. Sie war geboren evangelisch und die ist übergetreten zum Judentum. Daraufhin sagte meine Mutter: "Nein, ich gehe dahin, wo mein Mann und mein Kind hingehen". Erzählerin Im Gegensatz zu anderen Städten wird die Aktion in Leipzig nicht von der Gestapo abgewickelt, sondern von der Polizei. So gibt es auch Beamte, die Mitleid zeigten. Einer, der wegsieht beim Einpacken, damit die Familie Eider einen größeren Koffer und Wertsachen mitnehmen kann. Ein anderer, der eine kranke Mutter mit ihren vier Kindern nicht wegschickt und auf den Ausweisungsbefehl schreibt: "nicht angetroffen". Miriam Schapira und ihre Familie jedoch werden von den Beamten mitgenommen und zu einer Sammelstelle gebracht. O-Ton 30 Miriam Schapira Wir kamen in die Schule, in die jüdische Schule in der Aula, und da saßen die Leute schon auf dem Boden und alle waren verzweifelt. Was wird sein? Erzählerin Der Schock, plötzlich alles zurücklassen zu müssen, bringt Vater Schapira Herzrasen und Luftnot. Ein Arzt wird gerufen, die Familie auseinandergerissen. O-Ton 31 Miriam Schapira Jede halbe Stunde kam ein Autobus und hat die Leute zur Bahn befördert. Und da sind wir aufgestiegen von der Gustav-Adolf-Straße bis zum Hauptbahnhof. Wo hat man uns abgeladen? Hinten, wo die Waren wahrscheinlich verladen werden, nicht am Eingang vom Hauptbahnhof. Und da stand alle zehn Meter, ein Soldat mit aufgepflanztem Bajonett, damit diese "Verbrecher" nicht davonlaufen. Atmo 32 Bahnhof, Durchsagen Erzählerin Der Leipziger Bahnhof hat sich seit 1938 kaum verändert. Sicherlich war das Gedränge größer und der Lärm viel stärker: Zischende Dampfloks, Rufer, die die Gleiswechsel durchsagen, Gepäckträger, die schwere Koffer schleppen. Am 28. Oktober ist es das erste Mal, dass die Deutsche Reichsbahn Sonderzüge einsetzt, um Juden zu transportieren, erzählt der Historiker Steffen Held. O-Ton 33 Steffen Held Man hat also in den frühen Morgenstunden drei Bahnsteige komplett abgesperrt. Die Polizei hat sie abgesperrt. Hat dann diese Sonderzüge vorbereitet und die Sonderzüge eingesetzt. Es waren keine Güterwagen, definitiv nicht. Es waren Personenzüge, aber es waren höchstwahrscheinlich Wagen dritter Klasse. Erzählerin Der erste Zug fährt um 9 Uhr. Atmo 34 Pfiff Zitat Behörde 371 Erwachsene, 17 Kinder im Alter von 4-10 Jahren, 22 Kinder unter 4 Jahren. Erzählerin Die jüdischen Gemeindemitglieder ohne polnische Wurzeln helfen, wo sie können. Noch sind sie selbst nicht betroffen. Ahnen sie, dass dies nur der Auftakt ist? Martin Alterthum, damals Mitarbeiter des jüdischen Sozialamts, beschreibt, wie er gemeinsam mit den beiden Gemeinderabbinern auf den Bahnhof eilt und die Einrichtung eines Hilfsdienstes einfordert. Seine Erinnerungen liegen in der israelischen Gedenkstätte Yad Vashem. Zitat M. Alterthum Unterwegs begegneten wir schon den Polizeiautos, die in ununterbrochener Folge zum Bahnhof fuhren. Bei unserer Ankunft war der erste Transportzug bereits abgefahren, der nächste stand bereit. Vollgestopft mit verzweifelten Menschen, von denen wir ja fast einen jeden kannten, nur mit dem allernotwendigsten Gepäck ausgestattet, ein herzzerreißender Anblick. Allmählich kamen weitere Menschen aus der Gemeinde, jeder wollte helfen. Vom frühen Morgen bis in die späte Nacht hinein waren unsere Frauen beschäftigt, Suppen und Sandwiches zuzubereiten, die Kinder zu betreuen und jede nur mögliche Hilfe zu leisten. Man arbeitet unter Einsatz der letzten Kraft, denn ein Zug folgte dem anderen, nicht nur aus Leipzig, sondern auch aus vielen anderen Orten. Erzählerin Es fehlt an Geld. Jeder darf nur 10 Reichsmark mitnehmen, keinen Pfennig mehr, aber nicht einmal dies hatten viele der aus dem Schlaf Geschreckten am Morgen einstecken können. Die Jüdische Gemeinde stellt in aller Eile einen Scheck über 10.000 Reichsmark aus, und wenig später stellt das Bankhaus Kroch die Summe in 5-Mark Münzen in Säcken bereit. All das lindert das Leid zumindest etwas. Atmo 34 Pfiff Zitat Behörde Abfahrt 10.55 Uhr: 423 Erwachsene, 25 Kinder von 4 bis 10 Jahren, 23 Kinder unter 4 Jahren O-Ton 35 Miriam Schapira Und da ist meine Mutter hingegangen und hat gesagt: Herr Kommandant, gucken Sie mal an, mein Mann ist im Krankenhaus. Und ich kann mich nicht mal erinnern. Ich bin als dreijähriges Kind hergekommen. Meine Kinder sind hier geboren. Was sollen wir in Polen? Sie machen uns unglücklich. Und dann hat er uns angeguckt und hat gesagt: Sprecht ihr polnisch? Da haben wir beide wie aus einem Mund gesagt: Nee, nur Sächsisch. Und dann hat er den Polizisten gerufen, hat gesagt: "Na, führen Sie mal die Leute durch die Sperre, die gehen nachhause." Inzwischen kam der Zug an, und die Leute wurden noch reingetrieben in den Zug und meine Frau Ehrenkranz mit dem Nachthemd. Ich sehe sie vor mir, wie sie dann hineingestupst worden ist in den Zug. Und der Polizist hat uns durch die Sperre geführt und hat die ganze Zeit gesagt, ach, das ist wohl ein Irrtum, ihr seid wohl Deutsche. Atmo 34 Pfiff Zitat Behörde Abfahrt 12.32 Uhr: 356 Erwachsene, 19 Kinder im Alter von 4-10 Jahren, 27 Kinder unter 4 Jahren Erzählerin Auch ein Visum in ein Drittland in Aussicht zu haben rettet einige Familien vor der Abschiebung. Noch geht es nur um Vertreibung. Jeder Jude, der das Land verlässt, ist den Nationalsozialisten recht. Auch Familie Kalter, die in die Schweiz emigrieren will, darf den Bahnhof mit ihrem zwei Monate alten Säugling wieder verlassen. Doch sicher ist sie noch nicht. Noch auf dem Bahnhof hört sie von einem rettenden Ort, wo sie bis zum Ende der Polenaktion Zuflucht suchen kann: Der Villa Ury. Atmo 36 Ehemal. polnisches Konsulat, Bernd Karwen Man könnte sich vorstellen, dass gleich ein konsularisch-diplomatischer Empfang in diesen Räumen stattfindet weiße Wände und schöne Leuchter, große Fenster... Erzählerin Von hier telefoniert der polnische Generalkonsul Feliks Chiczewski bereits seit den frühen Morgenstunden. Möglicherweise hatte er auch schon Kunde aus Halle, wo die Polenaktion bereits am 27. Oktober abends begann. Zuerst ruft er den Polizeipräsidenten an, er solle wenigstens Frauen, Kinder und Alte verschonen. Als das keinen Erfolg hat, entscheidet er, allen Hilfesuchenden im Konsulat Asyl zu gewähren. Die Rettungsmöglichkeit verbreitet sich im Laufe des Vormittags wie ein Lauffeuer, durchs Telefon, über Mundpropaganda oder durch Taxifahrer. Auch Familie Dresner erfährt davon. Zitat Helga D. Mein Vater wurde telefonisch von nichtjüdischen Freunden mitten in der Nacht gewarnt, dass auch er geholt werden würde. Wir wissen bis heute nicht, wer es war. Mein Vater hat sich versteckt. Er hat sich zwei Nächte im Rosenthal, in diesem großen Park, versteckt. Meine Mutter und wir beiden Kinder haben uns ein Taxi genommen und sind ins Polnische Konsulat gefahren unter der Annahme, das ist Exterritorialgebiet, wir sind dort geschützt, was wir auch waren. Atmo 37 Ehemal. polnisches Konsulat, Bernd Karwen ..sehr große, wunderbar runde Fenster mit Blick auf das damalige Reichsgericht. Noch ein Stückchen weiter stand das alte Gewandhaus. Zum Rathaus war es nicht weit. Also ich kann mir eigentlich nicht vorstellen, dass hier drin 500 Menschen sind. Das wäre ja schon ziemlich viel ... Zitat Helga D. Wir waren fast zwei Tage im Konsulat. Meine Mutter erlitt einen Schwächeanfall, und der polnische Generalkonsul ordnete an, dass sie in der oberen Etage, die seine Privaträume beherbergte, in einen Ruheraum kam und sich jemand um sie kümmerte. Die unteren Räume, die Eingangshalle und das Souterrain waren von Hunderten verängstigten polnischen Juden bevölkert. Sie weinten, waren total ratlos, wussten überhaupt nicht, was sie machen sollten. Zitat F. Chiczweski Deren Zahl stieg im Laufe des Tages auf 1000 an ...Der ganze große Garten, alles Ausgänge, Treppenflure, Wartehallen, Keller und ein Teil der Privatwohnung eines Mitarbeiters und des Hausmeisters waren mit Flüchtlingen überfüllt. Die Nacht vom Freitag auf Samstag verbrachten alle im Konsulat. Innerhalb des Gebäudes schliefen Frauen und Kinder, die Männer jedoch im Garten unter freiem Himmel. Es gab viele Kranke, die aus Angst vor polizeilichen Konsequenzen nicht wagten, das Konsulat zu verlassen, vor dem übrigens von Zeit zu Zeit Polizei patrouillierte. Zitat Helga D. Ich erinnere mich, dass ich ein grünes Kleid getragen habe. Aber ich war damals nicht so entsetzt, wie ich es heute bin, wo ich das mit dem Abstand und mit der Weisheit des Alters sehe. Ich war ein Backfisch, ein Flapper. Ich habe mit den Augen des Teenagers gesehen, und wie gesagt, meine Eltern haben alle politischen Dinge in der Nazizeit von uns ferngehalten. Wir waren ziemlich unbedarft, mein Bruder und ich. Aber die Situation im Konsulat hat uns die Augen etwas geöffnet. Wir waren dort zwei Tage, und in der Nacht hat der Konsul im Garten Stroh auslegen lassen, damit die Leute dort campieren konnten. Es waren so viele, es war kein Platz für sie im Garten nicht und auch nicht in den Räumen. Also mußte man draußen in der Kälte campieren. Ich konnte auf einem Campingbett in einem großen Saal im Keller nächtigen. Von Schlaf war keine Rede, weil alles weinte und ratlos war. Erzählerin Dennoch, wer es in die Botschaft geschafft hatte, war erst einmal in Sicherheit. Am Bahnhof gelang es unterdessen einem Arzt der jüdischen Gemeinde, zumindest Alte und Kranke für transportunfähig zu erklären. Martin Alterthum erinnert sich: Zitat M. Alterthum Die Nacht brach herein und noch immer kamen neue Züge an. Dabei spielten sich unbeschreibliche Szenen ab. Zwei "Damen", offenbar Parteifunktionärinnen und den "besseren" Ständen angehörig, gaben ihrer Begeisterung besonderen Ausdruck: sie umfassten sich und tanzten mitten auf dem Bahnsteig, wobei sie antisemitische Schlager sangen. Mutig und mit allen Anzeichen tiefer Erregung herrschte Frau Nemann den Schupo-Oberst an: "Werfen Sie doch diese Frauenzimmer aus dem Bahnhof heraus." Wir zitterten vor den Folgen, aber der Offizier, der sich offenbar noch ein Gefühl für Ehre und Menschlichkeit bewahrt hatte, sah sie nur sprachlos an und kommandierte, zu den Tänzerinnen gewandt, mit einer keinen Widerspruch duldenden Stimme: "Meine Damen, verlassen Sie sofort den Bahnsteig!" Erzählerin Ellen Halpern und ihre Eltern erfuhren nicht rechtzeitig von der Zuflucht in der Villa Ury. Atmo 38 Ellen Halpern Und wir wurden zum Bahnhof gefahren. Dort war ein spezieller Zug eingesetzt. Vor den Türen standen, ich kann jetzt nicht sagen, ob SS oder Wehrmacht, das weiß ich nicht, mit übergezogenem Gewehr, und wir wurden in den Zug verfrachtet und fuhren dann bis Beuthen. Atmo 34 Pfiff Zitat Behörde Abfahrt 20.02 Uhr: 344 Erwachsene, 38 Kinder im Alter von 4-10 Jahren, 25 Kinder unter 4 Jahren Atmo 39 Fahrender Zug Zitat Behörde Aus dem Regierungsbezirk Leipzig: 1.598 Personen ausgewiesen. Erzählerin Die ‚Erfolgsquote' von Leipzig ist in den Augen der Gestapo im Vergleich zu anderen Städten desaströs. Gerade einmal 50% der polnischen Juden wurden abgeschoben. Die politische Führung macht die Leipziger Polizei für die mangelhafte Umsetzung verantwortlich, erzählt Historiker Steffen Held. O-Ton 40 Steffen Held Definitiv. An dem Fall von Leipzig hat die Polizei versagt. Und da konnte man schön sagen: Das kann nur die Gestapo. Zitat Behörde Die Aktion ist im Allgemeinen - von einem Todesfall, Ohnmachtsanfällen und Nervenzusammenbrüchen abgesehen - reibungslos und ohne größeres Aufsehen erfolgt. O-Ton 41 Steffen Held Also es gab tatsächlich auch ein Todesopfer. Nämlich Fanny Chaja Mann. 78 Jahre alt. Sie saß, mit ihrem Mann wurde sie verhaftet, saß im Zug. Und hatte dort einen Kreislaufkollaps und ist dort gestorben, noch im Zug. Atmo 39 Fahrender Zug Erzählerin Die Züge dritter Klasse sind unbeheizt. So beschreibt es zumindest Marcel Reich-Ranicki, der von Berlin ausgewiesen wurde. Während der Fahrt bis nach Polen liest er in einem Balzac-Roman - das Einzige, was er auf die Schnelle mitnehmen konnte. Im Gegensatz zu Berlin, wo vorwiegend erwachsene Männer abgeschoben werden, muss es in den Zügen aus Leipzig dramatischer zugegangen sein. Die 11-jährige Ellen und ihre Eltern gelangen nach stundenlanger Fahrt nach Beuthen, einer schlesischen Stadt an der damaligen Grenze. Doch auch bei den völlig überrumpelten polnischen Grenzbeamten waren sie nicht willkommen. O-Ton 43 Ellen Halpern In Beuthen hat uns dann wieder, ich weiß nicht, was das war, Wehrmacht oder Waffen-SS, ich war ein Kind und konnte diese Sachen nicht auseinanderhalten, wurden wir in Empfang genommen. Die Deutschen die uns dort erwartet hatten, sagten: So, ihr Juden, jetzt führen wir euch in den Wald und erschießen euch. Und wir gingen tatsächlich durch den Wald, es war schon fast dunkel und sie führten uns zum Niemandsland und ließen uns dort einfach stehen. Wir wollten über die Grenze gehen und die Polen ließen uns nicht herein und schossen in die Luft und wir blieben also in diesem Stück Niemandsland. Atmo 44 Regen O-Ton 45 Ellen Halpern Ich weiß nicht, wieviele in unserem Transport waren, ich schätze so ungefähr 150-200. Wir standen die ganze Nacht im Niemandsland, es hat geregnet, kein Mensch war da ... Am frühen Morgen gegen 6 Uhr machten die Polen die Schranken auf und ließen uns nach Polen herein. Meine Mutter war sehr deprimiert und hat auch damals, wie wir schon auf polnischem Gebiet waren, einen Nervenzusammenbruch bekommen. Also sie hat das alles sehr, sehr mitgenommen. Ich habe das so hingenommen, habe das wahrscheinlich alles nicht richtig verstanden, ich war zu jung, ich war knapp elf. Erzählerin Auch an den Grenzübergängen herrscht in den langen Schlangen Chaos und Verzweiflung. Einige berichten von ungültigen Pässen, andere davon, dass die Kinder nicht eingetragen waren, wieder andere, dass Polen mit dem Andrang überfordert war und seine Grenzen schloss. Am 29. Oktober gibt es schließlich erste diplomatische Gespräche über den Verbleib der Flüchtlinge. Das könnte der Grund sein, warum an diesem Tag ein Zug nach Leipzig zurückkehrt, darin 166 Leipziger und polnische Juden aus anderen Städten. Der Regen hängt damals sowohl über Beuthen als auch über Leipzig. Während Ellen Halpern mit ihrer Familie in Schlamm und Kälte im Niemandsland ausharren muss, erleben die Menschen im Konsulat zumindest etwas Menschlichkeit. Zitat F. Cziczweski Am nächsten Morgen, einem Samstag, wurden, weil es die ganze Nacht geregnet hatte, im Garten drei große Zelte aufgestellt, in denen 300 Personen Schutz fanden. Unter den Ausgewiesenen spielten sich herzzerreißende Szenen ab, Kinder weinten und jammerten. Erzählerin In seinem Bericht an die polnische Botschaft in Berlin weicht Chiczewski von seinem sonst eher nüchternen Amtsstil ab, die Schicksale haben ihn mitgenommen. Die Zelte hatte das Warenhaus Ury gespendet. Zitat Helga D. Am Tage haben Schaulustige vor dem Konsulat gestanden und interessiert auf die weinenden und klagenden Juden geschaut. Ich glaube, daß sie auch Schmähungen gerufen haben. Wir konnten zwei oder drei Tage später wieder nach Hause gehen." Erzählerin Die Polizeibehörde der Stadt ist in Erklärungsnot. Der Polizeipräsident versucht, sich nach dem Misserfolg reinzuwaschen und alle Schuld auf das Konsulat abzuwälzen. Zitat Behörde Die Rolle, die der polnische Generalkonsul Feliks Chiczweski gespielt hat, ist eine eigenartige. Nach den hiesigen Feststellungen sind im Grundstück des polnischen Konsulats 1.296 Personen eingetroffen und dort bis zum 29. Oktober geblieben. Das polnische Konsulat hat offenbar die irrige Ansicht vertreten, das Konsulatsgrundstück sei exterritorialer Boden. Erzählerin Hatte Feliks Chiczewski seine Kompetenzen überschritten? Zumindest griff die Polizei nicht ein. Nach Protesten des polnischen Außenministeriums wird die Polenaktion nach zwei Tagen für abgeschlossen erklärt. Es folgen keine weiteren Übergriffe. Zitat F. Cziczweski Die Juden hielten sich etwa 40 Stunden auf dem Gelände des Konsulats auf. Am Samstagabend gegen 19 Uhr erlangte ich die Zustimmung des Polizeipräsidenten von Leipzig, dass sie in ihre Wohnungen zurückkehren dürften. Erzählerin Über 1.500 Leipziger jedoch stehen nun in Polen. Was tun, mit einem kleinen Koffer in der Hand - wenn er nicht in der schrecklichen Nacht schon verloren gegangen war - und mit gerade einmal 10 Reichsmark in der Tasche? Wie viele andere auch versucht Familie Halpern weiterzufahren, um bei Verwandten oder Bekannten unterzukommen. Zusätzlich vermittelten jüdische Sonderkomitees Unterkünfte. O-Ton 47 Ellen Halpern Ja, jetzt wussten wir nicht wohin. Dann sagte mein Vater: Wir werden nach Krakau fahren. Und dann stiegen wir um in den Zug nach Krakau und unterwegs, auf den Stationen, blieb der Zug stehen und die polnischen Juden, die von dieser Aktion erfahren haben, die haben etwas Kolossales geleistet. Die sind an die Stationen gekommen, mit Kleidung, mit Essen, mit Kinderwagen, mit Wolldecken, weil sie wussten, dass wir mit fast Nichts ausgewiesen wurden. Atmo 48 Eichmannprozess Sendel Grynszpan (Jiddisch) 8 Uhr kam rein ein Poliziant. Sie werden kommen auf den 11. Revier mit die Pässe. Sie brauchen gar nichts mitzunehmen, sie kommen gleich zurück. Erzählerin Unter den insgesamt 17.000 aus dem Großdeutschen Reich ausgewiesenen polnischen Juden befinden sich auch die Eltern von Herschel Grynszpan und seine Geschwister. Im Eichmannprozess in Israel erzählt Sendel Grynspan, wie die Familie in Hannover aus dem Bett geholt wurde. Atmo 49 Sendel Grynszpan Meine Tochter, meine Frau und ich. Erzählerin Ihr Sohn Herschel Grynszpan, der in Frankreich lebt, ist entsetzt, was man seiner Familie angetan hat. Er besorgt sich eine Pistole, geht am 7. November in die deutsche Botschaft in Paris und schießt auf den deutschen Diplomaten Ernst von Rath. Zwei Tage stirbt dieser. Ein willkommener Vorwand für die Nazis um am 9. November 1938 zu landesweiten Pogromen gegen die Juden aufzurufen. Thea Gersten erinnert sich. O-Ton 50 Thea Gersten In der Reichspogromnacht wurde unsere Schule fast völlig zerstört. Also Scheiben wurden eingeschlagen, die Bänke wurden umgedreht und oder zerhauen teilweise. Die Klassenzimmer, wir konnten sie nicht weiter benutzen. Erzählerin Die Synagogen brennen. Das Geschäft der Familie Gersten wird verwüstet. In der Wohnung der Familie Samson alles kurz und kleingeschlagen. Feliks Chiczewski versucht noch einmal seine Staatsbürger zu schützen, wo er kann. Ein zweites Mal öffnet er sein Konsulat und gewährt wieder 1.000 polnischen Juden Zuflucht. Darunter Familie Dresner und auch Familie Schapira, die sich vor SA-Truppen retten muss. O-Ton 51 Myriam Schapira Und da sind wir wieder durch die Gustav-Adolf-Straße durch den Hinterausgang rausgelaufen. Und die netten Nachbarn vom zweiten Stock im Nebenhaus haben geschrien, "Ihr Juden, geht mal ins Rote Meer." Dann haben wir wieder ein Taxi angehalten, und da haben wir Glück gehabt. Und er hat gesagt kommen Sie rein, diese verfluchten Verbrecher, diese Verbrecher und hat geschimpft. Wohin fahren wir denn? Sagt er, ich werde sie fahren, ich weiß wohin. Wir fahren aufs polnische Konsulat. Der polnische Konsul hat das Konsulat geöffnet, und wer reinkommt, dem darf nichts angetan werden. Und wir sind rein, natürlich im Konsulat war kein Platz, aber die hatten einen ganz riesengroßen Garten und wie wir dann reingekommen sind im Garten, da waren viele Leute und Verletzte. Ungefähr um sechs oder so, gegen Abend kam der Konsul raus und hat in den Lautsprecher gesprochen und hat gesagt, also diese Aktion wäre eingestellt, und die Leute brauchen keine Angst zu haben. Jeder kann nach Hause gehen. Erzählerin Noch einmal gerettet - vorerst. Für alle Familien gibt es jetzt nur noch ein Ziel: Raus aus Deutschland. Es bleibt ein knappes Jahr, bis Deutschland am 1.9.1939 Polen überfällt. Danach sind die Wege versperrt. Doch anders als die nach Polen abgeschobenen Menschen, haben sie noch etwas mehr Zeit und die Mittel, um ihre Emigration oder Flucht zu organisieren. Für die Ausgewiesenen ist das, ohne Geld und in einem fremden Land, ungleich schwieriger. Viele bleiben monatelang im Flüchtlingslager an der Grenze in Zbaszyn unter menschenunwürdigen Bedingungen. Die allermeisten von ihnen werden ab 1942 in die Vernichtungslager deportiert. Ellen Halpern hat es erst einmal besser, setzt in Krakau die Schule fort, findet eine Freundin und lernt durch sie polnisch. Ihre Mutter versucht, mit einer kleinen Pension etwas Geld zu verdienen. O-Ton 52 Ellen Halpern 1942 mussten alle Juden die Städte verlassen, mein Vater auch, mein Vater ging in eine kleine Ortschaft die hieß Jasienica Rosielna. Und dann wurden sie zusammengenommen von der SS und im Wald erschossen. Ich habe einen Brief, den hat mein Vater an meine Mutter geschrieben und hat sich in dem Brief verabschiedet. Erzählerin Später muss auch Ellen als sogenannte Halbjüdin fliehen und versteckt werden. Sie kommt mit einer fremden Familie in die Slowakei. Lebt unter falschem Namen als Zahnarzthelferin und wird als inzwischen 17-jährige verraten. O-Ton 53 Ellen Halpern Ich wurde dann aufgerufen und kam in den Raum, wo der Gestapo-Mann war, der hat zu mir gesagt: Also du hast gesagt, du bist also Halbjüdin, wie bist du denn erzogen worden? Und da habe ich gelogen und habe gesagt, ich bin als Christin erzogen worden. Da hat er zu mir gesagt, wenn du als Christin erzogen bist, dann kannst du mir sicherlich das Vater Unser aufsagen? Ich kannte das nicht und konnte das nicht, und kriegte von ihm nur zwei sehr starke Ohrfeigen. Und war ich damit gut bedient, denn ich wurde nicht zusammengeschlagen. Erzählerin Vom Gefängnis aus geht es in verschlossenen roten Waggons nach Auschwitz. Ellen überlebt das Vernichtungslager. Kurz vor Ende des Krieges wird sie zuerst nach Bergen-Belsen transportiert, dann nach Salzwedel, um in einer Munitionsfabrik zu arbeiten. Dort wird sie befreit. Auch ihre Mutter überlebt als Nichtjüdin in Polen. In Leipzig folgt im Mai 1939 eine zweite Polenaktion. Wie 300 weitere Leipziger erhalten Familie Gersten und Familie Dresner zum zweiten Mal einen Ausweisungsbefehl. Diesmal bleiben mehrere Wochen Zeit, um die Wohnung aufzulösen und die Geschäfte weit unter dem Wert zu veräußern. Auch ein Teil der bereits im Oktober ausgewiesenen Geschäftsleute werden auf Druck der nichtjüdischen Pelzhändler, Kaufleute und Wohnungseigentümer noch einmal nach Deutschland zurückgelassen, um offene Rechnungen zu begleichen. Kurz bevor die Eltern Dresner nach Polen abgeschoben werden, setzten sie Helga und ihren Bruder in den rettenden Kindertransport nach England. Zitat Helga D. Anscheinend hatte mein Vater eine Idee, wie unsicher das Leben in Polen für uns alle gewesen wäre, da keiner von uns, außer ihm, polnisch sprach... Der Abschied von den Eltern war schwer. Ich hatte eine innere Ahnung, ich würde sie nie wiedersehen. Ich war so aufgeregt, dass ich auf dem Bahnsteig des Leipziger Hauptbahnhofs stürzte und mir das Knie aufschlug. Meine Mutter weinte, mein Vater weinte, die Oma Cohn, die Mutter meiner Mutter, weinte, und wir stiegen in das Abteil, wo schon Dutzende jüdische Kinder aus Leipzig saßen. Wir sind nach England gefahren ...Diese Briten haben uns das Leben gerettet. Erzählerin Miriam Schapira rettet sich mit ihrer Familie nach Frankreich zu Verwandten. Sie überleben versteckt die nachfolgende Besetzung Frankreichs und gehen später nach Israel. Thea Gersten kann mit ihrer Mutter nach England emigrieren, nachdem der Bruder mit dem Kindertransport allein ausgereist ist. Vater Chaim Lazar Gersten schafft es nicht mehr aus Warschau wegzukommen. Er wird aus dem Warschauer Ghetto nach Ausschwitz deportiert und ermordet. Familie Samson bleibt als Staatenlose nur die gefährliche Flucht. In letzter Minute kann Schlomo im November 1938 mit einem befristeten Kinderausweis mit der Eisenbahn zu seinem geflüchteten Vater nach Holland ausreisen. Mutter und Bruder kommen später mit Hilfe von Schleusern über Holland nach Belgien. Später überlebt die ganze Familie das Konzentrationslager von Westerbork. Schlomo Samson auch Bergen-Belsen. Heute lebt er in einem Kibbuz in Israel. Nach Leipzig ist er mehrmals gekommen. O-Ton 54 Schlomo Samson Ich würde gern noch nach Leipzig fahren, aber in meinem Alter über 99 ..., im Augenblick habe ich noch keine Pläne, aber man kann nie wissen. Erzählerin Und Feliks Chiczewski? Viel ist nicht bekannt über den Mann, der als einziger Konsularbeamter in Deutschland während der "Polenaktion" Juden vor der Abschiebung rettete. Und so zumindest einigen von ihnen das Überleben ermöglichte. O-Ton 55 Bernd Karwen Mit Ausbruch des Zweiten Weltkriegs im September 39 endet eben auch seine Mission hier. D.h. er verlässt Leipzig. Und Feliks Chiczewski hat sich dann um die Polen in Frankreich gekümmert. Die Exilregierung geht dann aber relativ schnell weiter nach London. Wir wissen, dass er auch nach dem Krieg in Frankreich gelebt hat und dann 1972 dort gestorben ist. Erzählerin Einige Überlebende sind später noch einmal an den Ort ihrer Zuflucht zurückgekehrt. Seit 2000 hängt an der Villa Ury eine Tafel. Es ist nach 62 Jahren die erste Ehrung, die Feliks Chiczewski offiziell erfuhr. Atmo 56 Bernd Karwen, Tafel Villa Ury In diesem Haus, in der Villa Ury, befand sich bis 1939 das Generalkonsulat der Republik Polen. Der Generalkonsul Feliks Chiczewski gewährte hier während der "Polenaktion" vom 28. - 29. 10. 1938 etwa 1300 Polnischen Juden vor ihrer Zwangsaussiedlung aus Deutschland Schutz. Absage: Ihr seid ausgewiesen! Die "Polenaktion" in Leipzig am 28. Oktober 1938. Ein Feature von Ute Lieschke Es sprachen: Rike Schuberty, Toni Jessen, Ute Lubosch, Gregor Höppner und Martin Engler Regie: Dörte Fiedler Ton: Martin Eichberg Redaktion: Christiane Habermalz Eine Produktion des Deutschlandfunk 2023. 26