Hörspiel Feature Radiokunst Das Feature Merkel-Jahre Der unwahrscheinliche Weg der Angela M. Feature-Serie in sechs Teilen von Stephan Detjen und Tom Schimmeck (5/6) - Krise ist immer Regie: Tom Schimmeck Redaktion: Wolfgang Schiller Produktion: Deutschlandfunk 2021 Erstsendung: Dienstag, 03.08.2021, 19.15 Uhr Es sprachen: Annette Burchard und die Autoren Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. (c) - unkorrigiertes Exemplar - Osterhammel (Rede) Räuspern "Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin Dr. Merkel, sehr geehrter Herr Dr. Tauber, verehrte Festversammlung. Bei einem Anlass der Gratulation, des Dankes an die Jubilarin..." Osterhammel "Und dann (lacht) meldete sich die Bundeskanzlerin tatsächlich ohne große Durchstellerei. Ich hatte sie sofort am Telefon. Und sie sagte: ‚Sie lesen wohl ihre SMS auch nicht immer.' Da hab' ich gesagt: ‚Nein, ich konnte nicht, ich hatte gerade Seminar und auch sonst bin ich damit sehr langsam.'" D Jürgen Osterhammel, Professor für Neuere und Neueste Geschichte, Schwerpunkt Globalgeschichte. S Sein dickstes Buch, "Die Verwandlung der Welt", hat über 1500 Seiten. D Angela Merkel möchte im Juli 2014 ihren 60. Geburtstag feiern. S Mit einer Festveranstaltung im Konrad-Adenauer-Haus. Osterhammel "Also, sie hat mich eigentlich nicht gefragt, ob ich das machen wollte, sondern sie hat es als so massiven Wunsch formuliert, dass es alternativlos war." D Zu ihrem 50. hatte der Hirnforscher Wolf Singer über die Selbstorganisation komplexer Systeme gesprochen. de Maizière "...zum Entsetzen vieler..." S Dazu das Hirn einer Schnecke an eine Wand in der Parteizentrale projiziert. Singer "Wenn irgendwann mal in der frühen evolutionären Geschichte etwas sich als tauglich erwiesen hat, dann wird das mit unglaublicher Penetranz durchgehalten..." Osterhammel "...und dann hat sie ganz kurz nur gesagt: ‚Ich wünsche mir zum 60. Geburtstag wieder einen wissenschaftlichen Vortrag. Diesemal hätte ich gerne etwas aus den Geisteswissenschaften.' Sie hat gesagt: ‚Sie sollten darüber sprechen, was so alles aus der Welt heute auf uns eindringt.'" D Am Abend des 17. Juli 2014 warten rund 1.000 Gäste im Atrium des Adenauerhauses auf die Jubilarin. S Osterhammel, der über sich sagt, er habe nie CDU gewählt, steht mit Mitgliedern der Parteispitze im Büro der Vorsitzenden in der 6. Etage. Osterhammel "Nach 10 Minuten kam Frau Baumann kurz herein und sagte: "Das dauert noch etwas, die Kanzlerin lässt sich entschuldigen." Immerhin nach zehn Minuten schon, andere Leute lassen einen länger warten - ohne Entschuldigung." S Nach 20 Minuten schließlich kommt Merkel. Osterhammel "...und sagte, so eher low key, also undramatisch: ‚Also Entschuldigung, ich musste gerade noch Berichte zur Kenntnis nehmen. Über der Ukraine ist ein malaysisches Flugzeug abgestürzt.' Mehr nicht. Das war es dann schon." Funkverkehr, russisch: ukrainische Milizen nach Abschuss von MH17 Obama "Good morning, everybody. Yesterday Malaysian Airlines flight MH17 took off from Amsterdam and was shot down over Ukraine near the Russian border... Merkel "Die Gedanken sind bei den Angehörigen der Opfer. Meine Gedanken, die Gedanken vieler Menschen..." Obama "Evidence indicates that the plane was shot down by surface-to-air-missile, that was launched from..." Merkel "Und hier geht auch vor allem auch um die Verantwortung Russlands für das, was in der Ukraine zur Zeit passiert. Und deshalb von meiner Seite nochmal ein ganz klarer Aufruf dazu, dass der russische Präsident..." Osterhammel (Rede) "Das wirklich Interessante an der heutigen Weltgeschichte ist, dass neue Themen auftauchen, die verschiedene Punkte der Welt zusammenschalten. Die zeigen, wie an Punkt A eine Ursache entsteht, die weit weg eine Wirkung hat." D/S Ansage Merkeljahre - der unwahrscheinliche Weg der Angela M. Podcast-Serie von Stephan Detjen und Tom Schimmeck Folge 5: Krise ist immer Merkel "Ich gehöre zu den eigentlich sehr optimistischen Menschen. Und ich habe immer viel auch nachgedacht über das Bild des Sisyphos - der Mensch, der da immer den Stein den Berg hochrollt. Und dann ist er wieder unten. Und ich habe eigentlich die Geschichte immer so interpretiert, dass das nichts Hoffnungsloses ist, sondern dass sich immer ein Mensch findet, der ihn wieder hochrollt, und das eigentlich immer mit der gleichen Begeisterung macht. Man kann das ja auch sehr fatalistisch interpretieren und sagen: Hat sowieso keinen Zweck." D Angela Merkel wird als Krisenkanzlerin in Erinnerung bleiben: Krieg in der Ukraine, Annexion der Krim, Euro- und Finanzkrise, Flucht- und Migrationskrise, Brexit, Trump. S Und dann, quasi als Finale: Corona. Merkel "Das Virus ist eine demokratische Zumutung." D Als Merkel ins Amt kommt, steht die Welt noch ganz im Zeichen der Terroranschläge in den USA. 9/11 ist gerade vier Jahre her. S Im Frühjahr 2004 gibt es bei Bombenanschlägen in Madrid fast 200 Tote, im Juli 2005 Selbstmordattentate in London - mit 56 Toten und Hunderten Verletzten. D Man hat das als Bedrohung wahrgenommen. Aber noch nicht als Krise in der Art der globalen Brüche und Verwerfungen, die Merkels Kanzlerschaft später prägen werden. Merkel "Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!" S Erste Regierungserklärung Angela Merkels, 30. November 2005 Merkel "Gestatten Sie mir aus aktuellem Anlass zunächst eine Bemerkung. Seit Freitag vergangener Woche werden im Irak eine deutsche Staatsangehörige und ihr irakischer Fahrer vermisst. Nach dem derzeitigen Stand der Erkenntnisse müssen wir davon ausgehen, dass die beiden entführt worden sind..." S Im Kanzleramt an der Willy-Brandt-Straße gehen nur selten alle Lichter aus. Krisen gehören hier zum Grundrauschen. Schwester "Ich wende mich an die Personen, die meine Schwester und ihren Begleiter entführt haben. Susanne ist..." Steinmeier "Bedauerlicherweise ist es uns in der ersten Woche nicht gelungen, mittelbar oder unmittelbar Kontakt zu den Entführern aufzunehmen..." Merkel "Ich bin erstmal erleichtert. Die Details sind, wie sie sind. Wir werden die Freigelassenen hoffentlich bald sehen und auch in Deutschland wiederhaben..." D Der Entführungsfall kurz nach Merkels Amtsantritt endet mit der Freilassung der Geiseln. De Maizière "Naja, wir hatten gerade in der ersten Zeit sehr schwierige Fälle von Entführungen deutscher Staatsbürger. Davon ist vieles gar nicht öffentlich bekannt gewesen." D Doch es gibt andere Fälle. De Maizière "...dann hat sie sich auch Bilder angeschaut von flehentlichen Videos von entführten Geiseln um Befreiung. Oder Enthauptungsvideos, im Lagezentrum. Und das sind schwere Stunden natürlich." D Thomas de Maizière, von 2005 bis 2009 Chef des Bundeskanzleramts. De Maizière "Mit wem teilt man eigentlich solche - Bedenken und Skrupel und ethischen Abwägungen?" S Merkel wird ganz unterschiedliche Krisen erleben. Die Welt - wird sie einmal sagen - scheint aus den Fugen zu geraten. D/S DIALOG Eine der häufigsten Fragen, mit denen ich in den letzten Jahren immer wieder konfrontiert wurde, wenn das Gespräch im Freundes- und Bekanntenkreis auf Merkel kam, war schlicht: Wie hält die Frau das eigentlich durch? Und?... De Maizière "Oft ist es so, dass sie dann ein, zwei Nächte darüber schläft. Schlecht schläft dann übrigens. Und am nächsten Tag kommt sie und sagt: ‚Jetzt hab' ich einen Plan' oder ‚Jetzt weiß ich, was ich will.'" Merkel "Ich kann kurzzeitig mal mit wenig Schlaf aufkommen. Aber, ich habe gewisse kamelartige Fähigkeiten, das heißt: Ich muss dann auch wieder auftanken. Also, ich habe gewisse Speicherfähigkeiten."... Glocke Wallstreet, US TV "The closing bell of the New York Stock Exchange, the main index down over seven percent. Shock and panic evident on the trading floor..." Tagesschau "...es handelt sich dabei offenbar um zwei Atomkraftwerke in der Provinz Fukushima..." Putin (Die Krim ist unsere) US TV "What America is officially calling a Russian invasion..." Draghi "One should act." "...the ECB is ready to do whatever it takes to preserve the Euro." Bericht ARD "Am Morgen wurden bei einem Anschlag im Norden des Landes zwei Soldaten getötet, ein weiterer erlag am Abend seinen schweren..." Merkel "Die Soldaten sind in einem schwierigen Einsatz gefallen... Trump "...a new vision will govern our land." Johnson "And yes! Let us take back control of our borders!" Merkel "Es ist ernst, unverändert ernst. Und nehmen sie es auch weiterhin ernst." D Und trotzdem gibt es immer auch eine Routine des Regierens. De Maizière "Ja, die Kanzlerin kommt früh. Um halb acht, acht." S 16 Jahre Alltag in diesem Betonbau an der Spree, der mit dem riesigen runden Fenster ein wenig an eine überdimensionierte Waschmaschine erinnert. De Maizière "Von der Innen- zu Außenpolitik. Dann kommt so ein aufgeregter Minister, der irgendwas wissen will und man ist aber gedanklich gerade bei einem ganz anderen Thema. Dann kommt der Regierungschef eines kleineren Landes und will irgendwie Hilfe haben. ... Sie müssen also geistig so beweglich sein, dass sie mit Empathie und Zuwendung sich diesen Gesprächen und dem Thema zuwenden, obwohl sie zehn Minuten vorher was vollständig Anderes gemacht haben. Und das ist neben der zeitlichen eine unglaublich spannende natürlich, das macht sie so besonders interessant, aber auch physisch, psychisch anstrengende Arbeit." Steinbrück "Sieben Tage die Woche, 24 Stunden jeden Tag präsent sein zu müssen, mindestens geistig oder intellektuell, auch öffentlich auf der Bühne. Immer damit zu rechnen, dass etwas passiert, wo sie ad-hoc drauf reagieren müssen, und dann möglichst hoch vernünftig und richtig." D Das ist Peer Steinbrück, SPD. Im ersten Kabinett Merkel Finanzminister, 2013 ihr Konkurrent ums Kanzleramt. S Wir treffen ihn in Bonn. Gleich nebenan ragen zwei kreuzförmige Hochhäuser auf, einst Bundesministerien, heute nur noch Zweigstellen der Berliner Zentralen. Detjen Wenn ich da rüberschau, sehe ich durch diesen Garten, in dem wir sitzen, das alte Bundesforschungsministerium, in dem sie gearbeitet haben. Da hat ihre politische Laufbahn, naja, nicht ganz angefangen, aber da war mal wichtige Station. Steinbrück "Das war eine wesentliche Station. Tatsächlich hat sie angefangen etwas weiter den Rhein rauf im damaligen BMBau, dem Bauministerium. Wo ich allerdings eine ziemlich traumatische Erfahrung machte, dass mir eine Festanstellung verwehrt wurde, weil plötzlich zwei in grau gekleidete Beamte des Bundesverfassungsschutzes mir sagten, ich sei ein Sicherheitsrisiko für die Bundesrepublik Deutschland. Worauf ich dann erstmal drei Monate arbeitslos war. S Steinbrück startete mit einem Werkvertrag im Bauministerium. 1974. US TV "It's gonna be one of the watershed days in financial markets history . ... It was a manic Monday... rocked to its foundations... Lehman Brothers, a 158 year-old firm, filed for bankruptcy..." S September 2008 - der Startschuss der Finanzkrise, die Pleite von Lehman Brothers. Viele Banker stehen, einen Pappkarton in Händen, ratlos vor der Zentrale am New Yorker Times Square. Bush / Obama / Steinbrück / "Over the past few weeks many Americans have felt anxiety over their finances and their future." "The news from Wall Street has shaken the people's faith..." "Wir haben es mit einer der größten Finanzkrisen in den letzten Jahrzehnten zu tun." D Im Rückblick vielleicht die tiefste Zäsur in Merkels Kanzlerjahren. Steinbrück "Da gab es erste Indizien, dass eine Unruhe bei den Bürgerinnen und Bürger entstehen könnte nach dem Motto: Ich kriege mein Geld nicht mehr von der Bank. und wir kriegen einzelne Anrufe von Kreditinstituten, dass viele Bürger ihre Konten plündern würden. Und wir kriegen insbesondere, was viel wichtiger war, von der Deutschen Bundesbank Hinweise." Merkel "Wir sagen den Sparerinnen und Sparern, dass ihre Einlagen sicher sind. Auch dafür steht die Bundesregierung ein." Steinbrück "Ja, ich möchte nochmal unterstreichen, dass in der Tat in der gemeinsamen Verantwortung, die wir in der Bundesregierung fühlen, wir dafür Sorge tragen wollen, dass die Sparerinnen und Sparer nicht befürchten müssen, auch nur einen Euro ihrer Einlagen zu verlieren. Steinbrück "Wir wussten beide, was zu sagen war. Wir haben keine Zettel in der Hand gehabt. Beide sind wir in der Lage, Sätze hinzukriegen mit Subjekt, Prädikat, Objekt." S Es gibt kein Drehbuch für das Krisenmanagement der Regierung, keine vorbereiten Notfallpläne in den Schubladen. Steinbrück "Wir hatten kein Mandat. Wir hatten weder einen Beschluss des Deutschen Bundestages, noch hatten wir irgendeine gesetzliche Grundlage. Das heißt: Uns hat jedenfalls in der ganzen Dynamik dieses Tages durchaus auch die Frage beschäftigt: Was passiert eigentlich, wenn es einen Kläger gibt? Dann gibt es auch einen Richter. De Maizière "Da bebt dann nicht der Boden im Kanzleramt. Aber da bebt das Herz. Kann man durch diese Maßnahme einen Zusammenbruch des Finanzsystems verhindern, ja oder nein? Da waren wir dann mit ein paar Leuten im Kanzleramt und mussten das irgendwie hin und her wägen..." S Thomas de Maizière koordiniert das Krisenmanagement. De Maizière "...und hatten auch keine große Ahnung." S Vertritt später Wolfgang Schäuble. Der Finanzminister muss 2010 mehrfach ins Krankenhaus. De Maizière "Ich erinnere mich an eine große Runde, die die Bundeskanzlerin einberufen hat mit den großen Wirtschaftsführen, allen Bankführen und denen, von denen wir glaubten, es sind die klügsten Wissenschaftler. Und sie hat dann auf ihre Weise, wie sie das immer macht - Führen durch Fragen - hat sie gesagt: ‚So, was ist jetzt hier eigentlich geschehen?' Das konnte noch ganz gut erklärt werden. Aber dann war die Frage: ‚Was wird denn jetzt geschehen? Kann mir mal einer sagen: Was ist die Auswirkung der Finanzkrise auf die Realwirtschaft?' Das Ergebnis war, dass hochmögende Leute gesagt haben: Wir wissen es nicht. Wir wissen es nicht." "Naja. Jedenfalls finde ich schon: Diese Prognosen werden mit einer Selbstsicherheit vorgetragen, die mich immer schon erstaunt hat." D Als Merkel in der Finanz- und Eurokrise zur europäischen Zentralfigur wird, hat sie ihre neoliberale Frühphase lange hinter sich gelassen. S Merkel-Rivale Friedrich Merz hat sich schmollend aus der Politik zurückgezogen, tummelt sich in diversen Aufsichtsräten, unter anderem bei Blackrock, dem größten Vermögensverwalter der Welt. Der CDU-Wirtschaftsflügel hat an Einfluss verloren. D Doch immer wieder werden in der Fraktion die Brüche und Frustrationen spürbar. S Die Sehnsucht nach konservativem Profil und ordnungspolitisch klarer Kante. Brok "Nach einer Fraktionssitzung, einer abendlichen Fraktionssitzung, sonntags sogar oder sowas, ging das in der Fraktion wieder drunter und drüber." S Elmar Brok, der CDU-Europapolitiker. Brok "Und dann standen wir mit ein paar Leuten zusammen. Da war der Kauder dabei, sie dabei und ich stand dabei und zwei, drei andere. Und da war die Gefechtslage etwas verworren in der Bundestagsfraktion. Und da hat sie gesagt: ‚An mir wird der Euro nicht scheitern, selbst wenn ich gegen die Mehrheit der eigenen Fraktion entscheiden muss.' Das ist, glaube ich, in meiner Erinnerung ein ganz großes Statement gewesen." D Ein entscheidender Konflikt findet hinter den Kulissen statt. Kauder "Wenn der IWF nicht mehr dabei ist, dann gibt es ein richtiges Problem." Schäuble "Sonst können sie nicht in der Währungsunion bleiben." S Wolfgang Schäuble bedrängt die Kanzlerin im Sommer 2015, einem Ausschluss Griechenlands aus dem Euro zuzustimmen. Zeitweilig. Merkel lehnt ab. Schäuble "Schuldenerlass geht nach europäischem Recht gar nicht. Das ist durch den europäischem Vertrag mit dem Verbot von Bailout ausgeschlossen." "Und jedermann weiß, dass ein Schuldenschnitt mit der Mitgliedschaft in der Währungsunion nicht vereinbar ist. Das ist die Situation." Brok "Schäuble ist auch ein bisschen immer von seiner Machtvorstellungen getrieben: Wie kriege ich was hin, damit Schäuble... Und wenn es dann gekracht hätte, dann wäre er Bundeskanzler gewesen. Das spielte, glaube ich, alles eine Rolle. Schäuble hat selten geführt, sondern er hat immer gut aufgepasst, wie die Stimmungslagen sind. Bis heute." D In Europa gelten Merkel und ihr Finanzminister als erbarmungslose Hardliner, die den ökonomisch blutenden Südeuropäern eine rigorose Austeritätspolitik aufzwingen. Tsipras Griechisch/ Englisch, Mytilene-Demo, 2. Mai 2014. "Go back, Madame Merkel! Go Back, Mr. Schäuble! Go Back, Europe's conservative establishment. Go back, you people from the troika!" S In Griechenland ziehen seit Jahren wütende Menschen mit Plakaten auf die Straßen, auf denen Merkel neben Hitler abgebildet ist. Reporter "Etwa 25000 Demonstranten gehen gegen Merkel auf die Straße. ‚Nein zum 4. Reich", heißt es auf Transparenten, ‚Sie sind nicht willkommen!", "Imperialisten raus!'" D Yannis Varoufakis, Wirtschaftswissenschaftler, später Finanzminister der Syriza-Regierung, fand 2013, man hätte Deutschland ein paar Jahre vorher doch einfach den Mittelfinger zeigen sollen. Varoufakis "My proposal was, that Greece should simply default within the Euro in 2010 and stick the finger to Germany and say: ‚Well, you can now solve the problem by yourself.'" Antrittsbesuch Tsipras Kommando: "Augen rechts!", Kameraklacken, Marschmusik, Rede S Mit Alexis Tsipras aber, dem Chef der neuen Linksregierung in Griechenland, baut Merkel nach 2015 ein persönliches Vertrauensverhältnis auf. In der Flüchtlingskrise kämpfen sie gemeinsam für eine europäische Quotenregelung zur Verteilung von Schutzsuchenden in der EU. Merkel "Ich darf Sie ganz herzlich begrüßen, Alexis Tsipras als Ministerpräsidenten, aber auch seine Delegation..." Juncker "Nein nein nein! Ich hab' immer den Genossen in Deutschland gesagt: ‚Hört doch auf, Frau Merkel als Mutti zu bezeichnen.' Weil jeder liebt seine Mutter. Insofern isdt das kein Schimpfwort. Und auch was als herablassend gedacht war, klang in den Ohren vieler Deutscher äußerst zärtlich. Nein, Mutti hat sie nie gespielt. Das ist auch ein Terminus, der überhaupt nicht zu ihr passt." S Von Jean Claude Juncker wollen wir wissen, wie Merkel dieser aus den Fugen geratenen Welt auf dem Brüsseler Parkett getrotzt hat. Schimmeck "Und wie direkt ist da die Kommunikation? Sagt Angela Merkel dann auch mal ‚Jean-Claude, das kannst du vergessen'?" Juncker "Das hat sie in biografisch schwachen Momenten manchmal gesagt, was aber verständlich ist. Sie hat gesagt ‚Das geht so nicht, wie die Kommission das vorschlägt und so wie du das gerne hättest können wir das nicht machen' - weil weil weil. Das ist Teil der Debatte und das darf man auch nicht persönlich nehmen." Steinbrück "Sie verbreitet nun allerdings auch eine Atmosphäre, in der man sich da durchaus zuhause fühlen kann." D Peer Steinbrück Steinbrück "Anders als in einer Machoart. Man weiß, dass da nicht mit Ellbogen gearbeitet wird. Unbenommen davon ist sie sich über Machttechniken und wie Macht eingesetzt und wahrgenommen wird sehr klar. Aber das macht sie anders als Männer." Juncker "Der Umgang mit ihr im Europäischen Rat und auch sonst war nicht immer einfach. Weil sie hat ja die Dinge vom Ende her gedacht und nicht alle waren auf dem Weg zu dem Buchstaben Z, sondern viele blieben manchmal in der Mitte des Alphabets hängen." Mushaben "Ja, das Besondere ist, dass sie bereit ist zuzugeben, dass sie nicht über alles von vornherein Bescheid weiß. Sie setzt sich dann hin und studiert die Lage." D Joyce Mushaben. Biografin Merkels aus den USA. Mushaben "Also ich weiß, dass sie tatsächlich, als die Finanzkrise ausgebrochen ist, praktisch zwei all-nighters gezogen hat. Sie ist die ganze Nacht aufgeblieben, um diese komplizierten Finanzfragen irgendwie zu begreifen. Und dann, nachdem sie das Problem studiert hat, ist sie sehr daran interessiert, welche Interessen die unterschiedlichen Akteure haben. Das hat man zum Beispiel 2007 in Heiligendamm gesehen. Die hat da Dossiers gelesen über jeden world leader, der da zu Besuch sein sollte, um festzustellen: Aha, mit wem kann ich und wer kann sonst mit wem? Also ihr Verhandlungsstil ist immer: ‚OK, wie bringe ich die Leute zusammen?' und nicht ‚Wie setze ich mich in erster Linie durch?'" Brok "Sie hat einen entscheidenden Punkt als Vorteil: Sie kennt ihre Akten", S sagt Elmar Brok Brok "Sie weiß über Details Bescheid. Und wenn sie so eine Sitzung haben, wo die Leute schlaff in den Sitzen hängen oder Pausen sind - ich hab' das ja auch etliche Male mitgemacht - und dann sitzt man in den Büros rum und wartet bis es wieder weitergeht - ist immer der stark dran, dem im Moment der Diskussion wieder eine Lösung einfällt, weil er die Akten kennt. Der kennt Position A und Position B. Nur wenn man die beiden exakt kennt, kann man ein Lösungsvorschlag C machen. Sie kennt die Fakten." D Als Meisterin des Kompromisses in endlosen Brüsseler Verhandlungsnächten wird Merkel geschätzt. S Doch eine europäische Visionärin ist sie nicht. Steinbrück "Ich mache ihr massiv zum Vorwurf,..." D Peer Steinbrück Steinbrück "...dass sie in einer äußerst schwierigen Lage von Europa, nicht erst seit gestern, sondern seit vorgestern, nach den Avancen, die Präsident Macron machte mit seiner Rede in Athen, mit seiner Rede in Paris an der Sorbonne, mit einer Rede bei der Aachener Karlspreis-Verleihung, mehrere Versuche gemacht hat, eine deutsch-französische Initiative in Gang zu setzen, die substantiell unbeantwortet blieb von Berlin. Vollständig substantiell unbeantwortet! Das mache ich ihr massiv zum Vorwurf." S Alles aber wird zunehmend überlagert von der neuen Ost-West-Spaltung in Europa. Angela Merkel wird zur Gegenspielerin der illiberalen Demokraten in Polen, Ungarn und im Weißen Haus. Juncker "Manchmal nur, wenn es spitz auf spitz ging, hat sie Themata bemüht, die andere nicht bemühen konnten, weil ihre Vita - das war ja vornehmlich eine westeuropäische Perspektive - (das nicht zuließ). Wenn Orban beispielsweise sagt oder andere Osteuropäer, die Europäische Union wäre wie die Sowjetunion, dann hat sie gesagt: ‚Ich bin in einer Diktatur großgeworden, an der Berliner Mauer hörten alle meine Wege auf, ich verbitte mir diese simplen, unvernünftigen, beleidigen Vergleiche.' Da war sie dann diejenige, die aus dem Osten kann." D Europa bleibt gespalten, sagt Jan-Werner Müller, Politologe an der Princeton University. Merkel sei dafür mitverantwortlich, weil sie mit einer Tradition gebrochen habe. Müller "Nämlich, dass die Christdemokratinnen und Christdemokraten im Grunde den Anspruch, die Europapartei zu sein, die Partei, die dieses Europa nicht nur verwaltet und zusammenhält, wenn's mal Krisen gibt, sondern die das auch wirklich immer weiter pusht, dass das eigentlich aufgegeben worden ist. Und nicht nur das. Sondern, dass man auch - im Falle von Frau Merkel, aber auch Herrn Weber und Herrn Söder und anderen Figuren - ja wirklich mehr als ein Jahrzehnt lang einen ganz eindeutig anti-europäischen Autokraten geduldet hat, nämlich Viktor Orban. Der war ja sehr lange Teil der Europäischen Volkspartei. Immer wieder hieß es: Hier sind die roten Linien. Wenn er sich jetzt darüber hinwegesetzt - dann ist aber Schluss! Und es war eigentlich nie Schluss." S Ihr Verständnis der eigenen Rolle als Krisenkanzlerin formuliert Merkel in einer Rede, in der sie über einen anderen Bundeskanzler spricht. Bach Orgelpräludium (Mitschnitt Trauerfeier für Helmut Schmidt) D November 2015. Staatsakt für den verstorbenen Altkanzler Helmut Schmidt. Die Spitzen des Staates und der Parteien sitzen im Hamburger Michel. Merkel "Die Leistungen dieses Bundeskanzlers zeigten sich in den Krisen, die er zu bewältigen hatte." S Angela Merkel hält die Trauerrede. Merkel "Wir fühlten uns ohnmächtig, voller Sorge um unsere Familie in Hamburg." D 1962, die Sturmflut in Hamburg. Seit einem Jahr ist die Familie Kasner in Templin durch die Mauer von den Verwandten im Westen getrennt. Merkel "...Im Radio konnten wir die Ereignisse verfolgen. Wir nahmen jede Nachricht auf. Helmut Schmidt koordinierte die Rettungsmaßnahmen." D Neben Merkel steht der mit Bundesflagge bedeckte Sarg. Merkel "Wenn Helmut Schmidt überzeugt war, das richtige zu tun, dann tat er es." D Obwohl er rechtlich nicht dazu befugt gewesen sei, habe Schmidt Bundeswehr und NATO-Verbündete zu Hilfe gerufen und dadurch Menschenleben gerettet. S Wir haben ihm vertraut, sagt Merkel. Merkel "Wir haben vertraut, dass er die Lage unter Kontrolle und in den Griff bekommen würde. Damit lebte er vor, dass außergewöhnliche Situationen außergewöhnliche Maßnahmen erfordern und er lebte vor, was es bedeutet, in einer solchen Situation Verantwortung zu übernehmen." Merkel "Außergewöhnliche Ereignisse - und das ist die Pandemie, die uns alle erreicht hat - erfordern außergewöhnliche neue Methoden." D Fünf Jahre später in Brüssel. Ein viertägiger Marathon Gipfel. Merkel "Das war nicht einfach." D Merkel stimmt einer gemeinsamen Schuldenaufnahme der EU-Mitglieder zur Bewältigung der Corona Folgen zu. Merkel "Ich bin sehr erleichtert." D Wenn die Situation es in ihren Augen erfordert, ist sie bereit, eigene Überzeugungen zu korrigieren, Dogmen ihrer Partei über den Haufen zu werfen, Irrtümer einzugestehen und ihre Regierung auf neuen Kurs zu steuern. Auch wenn es eine Kehrtwende ist. Merkel "Ein Fehler muss als Fehler benannt werden und vor allem muss er korrigiert werden." S Im letzten Frühjahr ihrer Amtszeit stoppt Merkel über Nacht die Pläne zu einer Osterruhe wegen der steigenden Corona-Infektionszahlen. Merkel "Das bedaure ich zutiefst und dafür bitte ich alle Bürgerinnen und Bürger um Verzeihung. Dieser Fehler ist einzig und allein mein Fehler. Denn am Ende trage ich für alles die letzte Verantwortung - qua Amt." Bannas "Die Krisen kommen und dann müssen Sie bewältigt werden. Und das ist dann ihr Handwerk gewesen." D Günter Bannas, der ehemalige FAZ-Korrespondent. Bannas "Ich glaube, das war auch ihr Ansatz: In der Politik kommt immer wieder was Neues, immer wieder neue Herausforderungen und die muss ich bewältigen. Also, wenn man so will: Pflichtgefühl. Aber Pflichtgefühl ist... auch eine Haltung. Aber keine politische Zielrichtung." Besuch der Umweltministerin Merkel in Tschernobyl Reporter "Heißt das, wir sind weiter denn je davon entfernt, dass Tschernobyl wie versprochen in absehbarer Zeit vom Netz genommen wird?" Merkel "Nein, das glaube ich nicht. Das ist jetzt zum ersten Mal, dass die Dinge richtig auf den Tisch kommen und dass den Leuten hier bewusst wird, dass dieses Kraftwerk vielleicht nicht mehr ewig arbeitet." Merkel 1998 "Wenn wir aus der Kernenergie ausgestiegen sind, interessiert sich kein Mensch auf dieser Erde mehr dafür, welche klugen Hinweise wir dem Rest der Welt zu geben haben, wie man sich in Fragen der Sicherheit zu verhalten hat. Und deswegen halte ich für den Zeitraum, den ich jetzt überblicke, nicht für sinnvoll." Merkel 2005 "Ich werde es immer für unsinnig halten, technisch sichere Kernkraftwerke, die kein CO2 emittieren, diese Kernkraftwerke abzuschalten! Und sie werden sehen, eines Tages werden die Sozialdemokraten das auch einsehen. Es dauert nur halt immer etwas länger." Merkel, 2009 "Das schließt allerdings die Erkenntnis ein, dass die Kernenergie für eine Übergangszeit als Brückentechnologie ein unverzichtbarer Teil unseres Energiemixes bleibt. (Beifall Buh-Rufe) S Oktober 2010. Merkels schwarz-gelbe Koalition beschließt eine Verlängerung der Laufzeiten von Atomkraftwerken für 10 bis 14 Jahre. D Und kassiert damit den "Atomkonsens", den Rotgrün 2001 mit der Industrie ausgehandelt hatte. S Aus Prinzip. Die Opposition tobt. Trittin "Dass das, was sie heute hier beschließen, ein sehr kurzfristiges Geschenk für vier Unternehmen ist. Es wird keine vier Jahre Bestand haben Gabriel "Sie spalten die Gesellschaft, wo sie schon einig war!" Gysi "Was passiert denn, wenn uns jemals so ein AKW um die Ohren fliegt?" Collage News Fukushima S März 2011. Ein Erdbeben löst einen Tsunami an der Ostküste Japans aus. Im Atomkomplex Fukushima kommt es zum Super-GAU. Merkel bei Deppendorf "Ich kann heute nicht erkennen, dass unsere Kernkraftwerke nicht sicher sind. Sonst müsste ich ja mit meinem Amtseid sie sofort abschalten. Das wäre ja ganz, äh, fatal, wenn ich einfach erklären würde: Die sind nicht sicher. Nach allem, was wir wissen, ist die Sicherheit unserer Kernkraftwerke am heutigen Abend gegeben." D Merkel wirft ein halbes Jahrhundert Atompolitik und einen Glaubenssatz ihrer Partei über den Haufen. Merkel "Fukushima hat meine Haltung zur Kernenergie verändert." Merkel "Die Geschehnisse in Japan, sie sind ein Einschnitt für die Welt. Merkel "...den Menschen in Japan sagen, dass wir in dieser schweren, außergewöhnlich schwierigen Stunde mit unseren Gedanken bei ihnen sind... Merkel "bedeuten diese Ereignisse nicht allein für Japan eine unfassbare Katastrophe, sondern sie sind auch ein Einschnitt für die ganze Welt, für Europa und auch für Deutschland." S In Baden-Württemberg stehen Landtagswahlen an. Die Grünen sitzen der Union im Nacken. Thomas de Maizière erinnert sich: de Maizère "Der erste, der aus der Atomkraft danach aussteigen wollte, war der im Wahlkampf befindliche, bisher glühende Kernkraft Anhänger, der CDU-Ministerpräsident Mappus." Mappus "Wir hatten doch seit dem letzten Wochenende eine andere Situation, in der dieses Thema auch emotional anders diskutiert wird. Und ich war für die Laufzeit-Verlängerung, aus guten Gründen, wie ich finde. Deshalb empfinde ich für mich persönlich eine besondere Verantwortung bei diesem Thema." D Ihre Kritiker werfen Merkel vor, das Land ohne Kompass durch alle Krisen zu steuern, immer nur auf Sicht. S In der eigenen Partei klagen sie: Merkel verscherbelt das konservative Tafelsilber. D Sobald es dem Zeitgeist und ihrem Machterhalt dient. Bannas "Die einen so, die anderen so. Also was konservativ eigentlich ist, außer dass man sagt: "Das waren noch Zeiten, als wir gegen die Roten!' Da ist dann nicht viel mehr, was heißt konservativ?" S Die CDU ist nie eine nur konservative Partei gewesen. D Im Kern ist sie unideologisch, anpassungsfähig, S So wird die CDU unter Merkel die Partei, die die Wehrpflicht abschafft, die Ehe für alle öffnet, aus der Kernenergie aussteigt. Bannas "Und dann hieß es auf einmal: Markenkern der CDU ist nicht die Wehrpflicht, sondern Deutschlands Sicherheit. Und wenn Deutschlands Sicherheit ohne Wehrpflicht garantiert werden kann, kann man auf die Wehrpflicht verzichten. So wie man, wenn Deutschland Energieversorgung gesichert ist, dann kann man auch auf die Kernkraft verzichten." Kaeser "Sie hat die CDU sehr stark, wenn Sie so wollen, nach links geführt in die soziale Komponente der Marktwirtschaft, als gemeinsame Integration verstanden." D Treffen mit Joe Kaeser, bis Anfang 2021 Vorstandschef von Siemens. Ein nüchternes Büro in der Berliner Unternehmensrepräsentanz am Gendarmenmarkt, mit Blick auf die Kuppel des Deutschen Doms. Kaeser "Wir treffen uns natürlich öfter. Sie kommt auch immer wieder mal zu Veranstaltungen im kleinen Kreis. S Viele Wirtschaftsleute, auch in der CDU, sehen den auf Kompromiss, Integration, Konfliktvermeidung angelegten Führungsstil Merkels skeptisch. Kaeser "In einer idealen Welt führt man über ein Team. Und jeder ist dabei und alle fühlen sich gut und haben hoffentlich auch die gleiche Meinung. Aber die Welt ist leider anders. Die Welt ist voll von Interessenskonflikten. Und da ist Führung eben gefragt. Und so ist das im Grunde auch mit der Führung des Landes durch die Bundeskanzlerin zu sehen, dass sie auch die Impulse geben muss. Und wenn eine Partei sich dann gefühlt nach links in die soziale Mitte bewegt, dann hat es natürlich mit der Führung zu tun." Osterhammel "Politischer Pragmatismus heißt natürlich immer auch, dass man sich anpasst, dass man in kurzen und mittleren Zeithorizonten managt." D Jürgen Osterhammel, der Historiker, meint: Politische Führung müsse im 21. Jahrhundert anpassungsfähiger und interaktiver handeln. Osterhammel "Das ist keien Welthistorische Ära gewesen. Deutsche Kanzlerinnen und Kanzler können keine welthistorischen Epochen mehr durch ihr Handeln definieren." DIALOG S/D Erwartungen als politische Journalisten, unser grundoptimistisches Geschichtsbild. Dann die Risse und Beben, die Lehman-Pleite, Brexit, Trump, das Zerfallen von Gewissheiten. Und Merkel als globaler Symbolfigur D Als ich 2012 wieder als Korrespondent nach Berlin kam, glaubte ich, dass ich ein paar Jahre vor mir habe, vielleicht ein oder zwei Legislaturperioden, in denen ich beobachten würde, wie Europa die Krisen, in denen es steckte, irgendwie überwinden würde und dann in einer neuen Verfassung gestärkt daraus hervorgehen würde. S Ich vermute, wir hatten ein grundoptimistisches Geschichtsbild, mit dem wir, vermutlich beide, als fröhliche Kinder der alten Bundesrepublik aufgewachsen sind. Wir glaubten trotz aller Konflikte und Probleme wohl, es geht immer bergauf. Und diese Bundesrepublik, geläutert und runderneuert, wird zu einem womöglich liebenswerten Ganzen. Die Mauer fällt, eine Frau aus dem Osten wird Kanzlerin und das ganze Land eine riesige Erfolgsgeschichte. D Aber dann zeigte sich eben: Das kann auch alles ganz anders weitergehen. Die Ordnung der Welt, die so stabil zu sein schien, bekommt Risse. Die Finanzkrise war sozusagen das erste Beben. Dann die Euro-Krise, die uns vor Augen geführt hat, dass das Zusammenwachsen Europas nicht unumkehrbar ist. Und dann kam 2016 erst der Brexit und dann Trump. S Und bei aller Überraschung man spürt es ja auch. Wir erinnern uns an diese Bilder von Nine-Eleven, wo wir wussten: Jetzt ist die Welt eine andere. An die explodierenden Kraftwerke in Fukushima. Ich war, im September 2008, zufällig in Washington, als Lehman Brothers pleiteging, und erinnere mich an diese Nachrichten und an diese Atmosphäre, an dieses Gefühl, was in der Luft hing: Dass hier gerade etwas passiert, was grundlegende Folgen haben wird, dass sich hier gerade schlagartig etwas verändert, dass hier Gewissheiten zu Bruch gehen. D Und damit entsteht dann sozusagen eine globale Wahrnehmung von Merkel, in der sie über ihre eigentliche Rolle als deutsche Kanzlerin noch mal hinauswächst. Überhöht wird zu einer globalen Symbolfigur. Flugfunk Bannas erzählt vom Kanzlerairbus... Bannas "Bei Frau Merkel wurden die Reisen immer kürzer. Also irgendwie mittwochs, mittags nach Peking fliegen und Freitag zur Tagesschau abends ist man wieder in Berlin. D Günter Bannas Bannas "Dann lief das immer so ab. Also, Journalisten sitzen hinten im Flugzeug, und dann gibt es eine Gesprächsrunde mit der Bundeskanzlerin. Auf dem Hinflug geht es um das Ziel der Reise, also über die Gespräche und ob es da Abkommen gibt, die unterzeichnet werden, worum es geht. Also: Zweck der Reise. Und auf dem Rückflug dann meistens deutsche Innenpolitik. Was ich immer faszinierend fand: Auf dem Hinflug kommt sie dann manchmal mit so einem Kaffeebecher und hatte so einen Eingangssatz: ‚So, ja, nun fliegen wir nach China' ... oder Brasilien. Dann sitzt man da in dieser Kabine in dem Regierungsflugzeug, eng gedrängt. Sie kommt dann immer mit so einer Strickjacke. Ich glaube, dunkelblau. Also, das sind ja vertrauliche Gespräche. Wobei ich mich immer gewundert hat, was an diesen Gesprächen vertraulich sein sollte. Weil vieles kannte man schon. Und sie hat ja dann meistens ungefähr das Gleiche erzählt, wenn sie dann das nachfolgende Hintergrundgespräch mit den Leuten aus der Wirtschaftsdelegation geführt hat. Also Unternehmensführer, Vorstandsvorsitzende." Kaeser "...und dann kommen auf dem Hinflug typischerweise dann die Wirtschaftsvertreter, die da reihum ihr Anliegen vortragen, die sie meistens schon kennen, weil die Dinge ja vorher auch eingereicht werden." D Wirtschaftskapitäne wie Joe Kaeser sitzen bei Auslandsreisen der Kanzlerin regelmäßig mit im Regierungs-Airbus. Kein Unternehmenschef ist so oft mit Merkel gereist wie er. Kaser "In diesem Séparée halt und auch sehr cosy, da sitzt man dann auch schon sehr eng immer, also nicht sehr Covid- tauglich, wenn Sie so wollen. Aber das ist auch ganz in Ordnung so." Trump "I am no longer a fan. I may have to deal with her but you know what: No longer a fan!" D Nach der Flüchtlingskrise 2015 wird sie vor allem außerhalb Europas als Gralshüterin westlicher Werte gefeiert. S "Chancellor of the free world", titelt das amerikanische TIME Magazin Anfang 2016 und kürt Merkel zur "Person des Jahres". Trump "Obviously I should have been picked as the person of the year, right?" S Donald Trump ist just dabei, in den Vorwahlkampf der Republikaner für die Präsidentschaftswahl im Herbst einzusteigen. Trump "But they didn't. And they picked Angela Merkel." D Trumps Wahlkampagne wird zu einem Feldzug gegen alles, wofür Merkel damals in der Welt steht. Trump "They are having riots now in the street and the German people are saying: 'We've had it!'" S Der andere: Die USA - Sehnsuchtsort ihrer Jugend. Für sie ein Versprechen von Freiheit. Die Verheißung einer offenen Gesellschaft. 2009 spricht sie vor beiden Kammern des US-Kongresses. Merkel "Ich habe mich begeistert für den American Dream. Die Möglichkeit, für jeden, Erfolg zu haben, durch eigene Anstrengungen es zu etwas zu bringen. Ich habe mich wie viele andere Teenager auch begeistert für Jeans einer bestimmten Marke, die es in der ehemaligen DDR nicht gab und die mir meine Tante aus dem Westen regelmäßig geschickt hat. Ich habe mich begeistert für die Weite der amerikanischen Landschaft, die den Geist der Freiheit und Unabhängigkeit atmet." GW Bush "I'm now going to feed the chancelor a hamburger...right here, in Crawford, Texas." Merkel "Was für mich als eine Hamburgerin natürlich eine wunderbare Sache ist..." S Für Merkel wird mit der Wahl Trumps ihr Amerika-Ideal erschüttert. Ein Bild, meint Joyce Mushaben, dass ohnehin ein bisschen zu rosa war. Mushaben "Ich würde sagen, sie hat ein typisches Amerikabild. Das kommt dann meistens aus den Filmen und aus dem Fernsehen und zum Teil aus der Werbung auch. Da kann ich sie nicht kritisieren, weil sie genau das wahrgenommen hat, was wir von uns vermittelt haben. Das ist ein Idealbild, das wir gerne verkauft haben." Merkel "Die Zeiten, in denen wir uns auf andere völlig verlassen konnten, die sind ein Stück vorbei." Juncker "In meinen Gesprächen mit Trump war Trump immer sehr Deutschland-unfreundlich und auch Merkel-unfreundlich. Ich habe... D Jean Claude Juncker, ... die Bundeskanzlerin in diesen Gesprächen mit Trump, auch unter vier Augen, immer verteidigt. Aber wenn sie direkt mit ihm beredete, hat sie sich nicht unterkriegen lassen. Sie war nicht zum Einknicken bereit, wenn der amerikanischen Präsidenten redete. Sie hat ihm geantwortet, dort wo starke Antworten des deutschen Bundeskanzlers gefragt waren. Sie war, um das auf eine Vokabel zu bringen, sehr souverän im Umgang mit Trump. D Als Merkel im Frühjahr 2017 im Oval Office sitzt, ist auch Joe Kaeser wieder dabei. Kaeser "Ja natürlich, das war ihr Antrittsbesuch. Im Grunde Und das war schon eine spektakuläre Umgebung. Auch ein spektakulärer Verlauf. (Lacht) Das kann man eigentlich sich gar nicht vorstellen. Eher sowas wie eine Reality-TV-Show D Selbst den hart gesottenen Geschäftsmann packt das kalte Grausen. Kaeser "Und dann saß er da so, wer er halt immer so saß, sichtlich angespannt, - und auf einmal guckt er auf und guckt sie an und sagt: ‚You owe me, you owe me two trillion!' Und ich glaube, jeder dachte - außer ihm vielleicht - er macht jetzt ein Späßchen. Macht er aber nicht. Und wir saßen dann da und ich dachte: Oh my god, das geht ja schon gut los. Und sie war total perplex. Und dann war es so gefühlt eine Ewigkeit, bis einer was sagt. Vielleicht waren es auch nur zehn Sekunden. Aber es fühlte sich an wie eine Ewigkeit. Und ich hätte mir gewünscht, ich wäre irgendwo weg-gebeamt, irgendwo anders hin. Und dann guckte sie so und sagte: ‚Also, ich wüsste jetzt nicht, dass ich eine Rechnung bekommen hätte.' Was ihn natürlich sichtlich noch mehr aufstachelte. Und dann ging das ganze Theater da um diese 2 Milliarden oder 2 Billionen angebliche Schulden. Und dann sagt er - das war einfach wie in einer soap opera - und dann sagt er auch noch: ‚Naja, wenn du jetzt gleich zahlst, dann gebe ich dir einen. deal. So einen Special Deal.' Das war echt furchtbar, das war echt schrecklich." D Zwölfmal ist Angela Merkel in ihren sechzehn Kanzler-Jahren nach China gereist. China, das ist immer mehr zu einem Fixpunkt in Merkels Weltsicht geworden. S Noch bevor er als Festredner bei Merkels 60. Geburtstag auftritt, bekommt auch Jürgen Osterhammel einen unmittelbaren Eindruck von Merkels Blick auf China. Osterhammel "Sie war gerade aus Afghanistan zurückgekommen, am Tag davor. Und hat dort, glaube ich, zum ersten Mal das Wort Krieg in den Mund genommen." D Bei einem Abendessen der Max-Planck-Gesellschaft mit Nobelpreisträgern und der Kanzlerin hält Osterhammel 2010 eine Tischrede. Es geht um Geschichte und das Selbstverständnis Chinas in der Welt. Osterhammel "Und dann hat sie die auch wissenschaftlich sehr treffende Frage gestellt, die in meinem kurzen, eher launigen Vortrag gar nicht angerissen war, die aber nahelag: Warum die Chinesen offenbar im 17. Jahrhundert ein höheres Interesse an Europa gehabt hätten als im 18. Jahrhundert. Wie man ein Interesse am Fremden verlieren kann." S Merkel, sagt uns Osterhammel, habe ein ambivalentes Verhältnis zu China. Faszination einerseits, Furcht andererseits. Einen "skeptischen Realismus". Osterhammel "Und dann hat sie damals noch gesagt, dass China im Prinzip gefährlich sein. Aber fast genauso gefährlich seien die unberechenbaren Republikaner in den USA. Das war 2010. Das war die Tea Party Zeit." S Im September 2019 fliegt Joe Kaeser wieder einmal mit Angela Merkel nach China. Kaeser "Ja, ja, die letzte Reise war Wuhan." S Wenige Wochen bevor die chinesische Millionenstadt wegen der Ausbreitung eines neuartigen Lungenvirus von der Außenwelt abgesperrt wird, hält die Delegation der Kanzlerin auf dem Rückweg zum Flughafen an einer Brücke über den Yangtse und blickt zurück auf die Stadt. Kaeser "Ich kann mich gut erinnern. Ich war vorne am Geländer und ich stand gleich halb links hinter ihr, praktisch Seite an Seite, allerdings natürlich ein Schritt zurück, wie es sich gehört. Und sie drehte sich um und sagte: ‚Schon eine riesige Stadt' Und sagte: ‚Na ja gut, die ist dreimal so groß wie unsere Hauptstadt, mindestens.' Und dann, keine drei Monate später, waren die ersten Anzeichen dieser Epidemie, was dann zu einer Pandemie sich entwickeln sollte. Und ich glaube, dieses Von-der-Brücke-nochmal-auf-die-Stadt-Schauen hat ihr noch mal bewusst gemacht, wie kritisch das ganze Thema sein muss, wenn man eine fast-12-Millionen-Stadt im Grunde abriegelt. Man merkt, das hat sie auch damals in der ersten Welle dieser Pandemie unglaublich geprägt. Diese rigorosere Art auch Dinge einzuleiten, weil sie wusste, das geht nur mit einer rigorosen Art." D/S Absage Merkeljahre Podcast-Serie von Stephan Detjen und Tom Schimmeck Folge 5: Krise ist immer Merkel "Die Krise ist noch längst nicht überwunden." Ton und Regie: Tom Schimmeck Redaktion: Wolfgang Schiller Eine Produktion des Deutschlandfunks 2021. HIER TITEL Seite 12 / 21 MERKELJAHRE Folge 5 Seite 2