Hörspiel Feature Radiokunst Das Feature Straße der Verlorenen Als Berlin geschändet wurde Autor: Karsten Krampitz Regie: Wolfgang Rindfleisch Redaktion: Wolfgang Schiller Produktion: Deutschlandfunk 2023 Erstsendung: Dienstag, 07.11.2023, 19.15 Uhr Es sprachen: Rabbi Joel Berger, Frauke Poolman, Axel Wandtke, Steffen Schorty Scheumann Ton: Christoph Richter Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. (c) - unkorrigiertes Exemplar - Musik "Yankele" Charles Segal Sprecherin: Straße der Verlorenen. Als Berlin geschändet wurde. Ein historisches Feature von Karsten Krampitz Sprecher 1: "Die antisemitische Saat ist aufgegangen", schrieb der sozialdemokratische Vorwärts Tage später in seinem Leitartikel. Sprecher 2: Läden wurden geplündert. Jüdische Händler und Geschäftsleute beraubt und niedergetrampelt. Berlin hat sein Judenpogrom gehabt. Berlin ist geschändet worden. Musikende Sprecher 1: Was genau an jenem 5. November 1923 geschah, der Ablauf des Pogroms in den Straßen nördlich des Alexanderplatzes, dem sogenannten Scheunenviertel, lässt sich heute in den Einzelheiten nicht mehr feststellen. Fest steht, dass mindestens zwei Stunden verstrichen, ehe die Polizei dazu überging, die Gegend zwischen der Münzstraße und Linienstraße abzusperren - vor allem die Grenadierstraße. Noch bis zum nächsten Tag zogen sich die Ausschreitungen hin, bei denen zum ersten Mal in der Polizeigeschichte Berlins - nach amerikanischem Vorbild - Gummiknüppel eingesetzt wurden. Immer wieder hatten sich, wie die Jüdische Rundschau berichtet... Sprecher 2 : ... in der Umgebung des Scheunenviertels viele Tausende angefunden, die auf eine Gelegenheit zum Plündern warteten. Man verfolgt dabei, wie sich immer deutlicher feststellen lässt, die Taktik, die Polizei zu ermüden. 50 bis 60 junge Burschen sammeln sich an einer Straßenecke an und beschäftigen die Sicherheitsbeamten. Im Rücken dieser Trupps wird dann von 12 bis 15 Personen geplündert. Wollen dann die Beamten eingreifen, so versperrt der deckende Haufen den Weg. Sprecher 1: Im Privatnachlass des damaligen preußischen Innenministers Carl Severing finden sich neun Gedächtnisprotokolle von Opfern des Pogroms ... So auch das Protokoll des Händlers David Amster. Sprecher 3 Ich bin seit 1905 in Berlin und betreibe in der Linienstraße 52 ein Trödelgeschäft. Zwischen 6 und 7 Uhr kam ein großer Haufen Menschen vor meine Wohnung. Sie schlugen Türen und Fenster ein und raubten sämtliche Waren und Gegenstände, die sich in meiner Wohnung befanden. Ich hatte den Eindruck, dass es sich um eine vollständig organisierte Plünderung handelte; ein Mann, der anscheinend der Anführer war, leitete die Plünderung. Ich bin durch die Plünderung in schwerste wirtschaftliche Notlage geraten. Klavierakzent Sprecher 1: Protokoll der Witwe Theodora Rosenblüth in Berlin, Hirtenstraße 12a: Sprecherin: Ich bin seit 1907 in Berlin, bin Kriegswitwe. Mein Mann war österreichischer Staatsangehöriger und ist im Kriege gefallen. Ich betreibe in der Hirtenstraße 12a ein Zigarettengeschäft. Am Montag, den 5. November '23 ging ein größerer Haufen durch die Straßen und drang in meinen Laden, zertrümmerte die Fensterscheiben und räumte sämtliche im Laden befindliche Ware aus, sowie die Tageseinnahme. Ich bin durch die Plünderung in schwere wirtschaftliche Notlage geraten. Klavierakzent Sprecher 1: Protokoll des Kaufmanns Adolf Seidner zu Berlin, Linienstr. 248. Sprecher 3: Ich bin seit 1898 in Berlin ansässig. Vom Anfang des Jahres 1915 bis Ende des Krieges habe ich als ungarischer Soldat gedient. Ich bin von Beruf Schneider, betreibe aber jetzt in der Linienstraße 248 ein Garderobengeschäft. Am Montag, den 5. November, zwischen 12 und 1 Uhr sah ich eine große Anzahl von Leuten auf meinen Laden zukommen. Ich ließ sofort die Jalousien herunter, darauf machten sich die Leute mit Stangen an der Jalousie zu schaffen. Nach kurzer Zeit hatten sie die Jalousie gewaltsam geöffnet. Ich hatte eine Waffe bei mir und besitze für diese Waffe den Waffenschein. Nr. 1615, ausgestellt am 25.11.22 vom Polizeipräsidenten, Berlin, Prenzlauer Berg. Als ich sah, dass die Leute meinen Laden plündern wollten, schoss ich dreimal in die Luft und dann erst zielte ich auf einen Mann, den ich auch verwundete. Die Plünderer ließen aber von ihrem Vorhaben nicht ab, drangen vielmehr in den Laden ein und raubten alles, was sich in ihm befand. Ich selbst habe mich in meine im selben Haus gelegene Wohnung zurückgezogen, dorthin sind die Plünderer nicht gekommen. Ich bin durch die Plünderung in schwerste wirtschaftliche Notlage gekommen. Klavierakzent Sprecher 1: Protokoll des Gastwirts Chaim Kornguth, Berlin, Grenadierstraße 14. Sprecher 3 Ich bin seit 35 Jahren in Deutschland und habe meine Wohnung seit 1904 in Berlin. Ich betreibe in dem Haus Grenadierstraße 14 eine Gastwirtschaft. Am Montag, den 5. November 23 gegen halbzwölf Uhr vormittags kam ein Haufen Plünderer auf meine Gastwirtschaft zu, drückte mit Gewalt die Türen ein und nahm sämtliche in der Gastwirtschaft befindlichen Waren fort. Bei der Plünderung sind mir auch 2 Billionen Mark, die Tageseinnahmen, gestohlen worden. Polizeibeamte waren zugegen, haben die Plünderer aber nicht verhindert. Klavierakzent Sprecher 1: In jenen Tagen kam es im ganzen Land zu Hungerprotesten, zu Überfällen auf Bäckereien und Lebensmittelgeschäfte. Doch nur in Berlin hatten die Proteste einen antisemitischen Charakter, vor allem im Scheunenviertel, das seinen Namen daher hat, weil im 17. Jahrhundert jene Bürger Berlins, die vor der Stadt noch Ackerland besaßen, hier ihre Scheunen hatten. Damals hieß die Grenadierstraße noch "Verlorene Straße", weil sie aus Berlin herausführte ins Nichts. Mit Beginn der Weimarer Republik hatte sich diese Straße verwandelt: Für nur wenige Jahre war in dieser Gegend ein ostjüdischer Mikrokosmos entstanden, dessen spirituelles Herz die Grenadierstraße war... O-Ton Anne-Christin Saß Ihre Hauptblüte hat es tatsächlich Anfang der Zwanzigerjahre. Angefangen hat's aber auch schon vor dem Ersten Weltkrieg. Um die Jahrhundertwende sind da die ersten polnischen, russischen Juden hingezogen. Sprecher 1: Die Historikerin Anne-Christin Saß hat viele Jahre über ostjüdische Migranten in Berlin geforscht. O-Ton Anne-Christin Saß Das waren oft Arbeiter, die für Zigarettenfabriken gearbeitet haben. Und das heißt, da hat sich schon so ne kleine Community gebildet. Und als dann nach dem Ersten Weltkrieg und auch mit dem Ersten Weltkrieg 'ne Reihe jüdischer Migranten kommen, dann finden die da so n ersten Zufluchtsort, einen ersten Ankerpunkt. Also wenn man als Migrant in eine neue Stadt kommt, geht man erstmal dahin, wo man weiß, da gibt's vielleicht schon Landsleute. Die sprechen dieselbe Sprache. Die können mir Informationen geben, wie funktioniert das Leben, wo muss ich mich melden. Und das ist das was eben passiert, nach dem Ersten Weltkrieg. Sprecher 1: Hier in der Grenadierstraße ließ Carl Zuckmayer einst den Schuster Voigt seine Uniform kaufen. Beim Händler Krakauer... Sprecher 3 Bei uns in de Grenadierstraße kennse alles haben. Da fragtse keiner wozu... Da schaunse sich an, den Glanz, die Nobless, das Material, das teire Tuch, de seidne Fitterung, den Kragen, de blanken Kneppe - isse nich e Wunder? Ihnen gesagt: es isse Wunder. Wenn die Uniform kennt allein spazierengehn, ohne dass einer drinsteckt - ich sag Ihnen, jeder Soldat wirdse grießen, so echt isse! Sprecher 1: Nach einem im Dritten Reich ermordeten Widerstandskämpfer heißt die Grenadierstraße heute Almstadtstraße. Mit ihren einstigen Bewohnern sind auch sämtliche Spuren des jüdischen Lebens beseitigt worden. Die alten Häuser sind saniert - oder verschwunden. Hinzu kamen Plattenbauten aus der Mitte der Achtzigerjahre. Nichts erinnert mehr daran, dass diese Straße einmal, mit einer Vielzahl kleinerer Betstuben, Talmudschulen und jüdischen Buchhandlungen das Berliner Zentrum der zumeist aus Galizien zugezogenen Ostjuden war oder besser: der misrech-jidn, wie sie sich selbst nannten. O-Ton Anne-Christin Saß ...und so etabliert sich das Ganze. Und dadurch, dass eben dieser Einzugsradius auch größer wird, ähm entwickeln sich eben viele ganz neue kleine Vereine, es gibt landsmannschaftliche Verbindungen. Also aus der einen Region, die Tarnower Juden haben ihre eigene Betstube, die anderen aus Restschow, treffen sich an 'nem anderen Ort. Und das ist eben nicht nur das Religiöse, das ist das eine. Das andere sind eben kleinere Läden, Straßenhandel, der floriert, mit dem man versucht über die Runden zu kommen. Sprecher 1: Hier im Scheunenviertel finde sich alles, was es im östlichen Europa auch gebe, moderne Identitäten und Zugehörigkeiten, ostjüdische Arbeitervereine, Leseklubs und vieles mehr. O-Ton Anne-Christin Saß Und da die Leute so'n ganz begrenzten Raum nur zum Leben haben, spielt sich eben ein großer Teil des Alltagslebens eben auf der Straße ab. Und das macht eben so den Eindruck eines ostjüdischen "Ghettos", in Anführungszeichen gesetzt, aus. Weil: Natürlich diese Zuwanderer sind als Fremde zu erkennen, an ihrer Kleidung, an ihrer Sprache, am Jiddischen. Und das ist ungewohnt, das ist fremd. Und das verstärkt noch mal diesen Eindruck, dass es sozusagen ein osteuropäisch-jüdisch dominiertes Quartier ist. Sprecher 1: Die 1981 verstorbene Bühnenschauspielerin Mischket Liebermann wuchs in der Grenadierstraße auf, in einer orthodox-jüdischen Familie. In ihren Memoiren erinnert sie sich: Sprecherin: Ja, auch in Berlin gab es ein Ghetto. Ein freiwilliges. Lange vor Hitler. Genauer - bis zur Hitlerei. Denn dann gab es die unfreiwilligen. Und die Gaskammern. Das Ghetto lag in der Grenadierstraße und ihrer Umgebung. Zwischen dem Bülowplatz, dem heutigen Luxemburg-Platz, und der Münzstraße. Ausgerechnet in dieser Gegend hatten sich die Ostjuden niedergelassen, die 1914 vor den Kriegswirren aus Galizien geflüchtet waren. Was heißt ausgerechnet. Natürlich hatte das seine guten Gründe. Hier gab es die billigsten Wohnungen und die wenigsten Antisemiten. Einer folgte dem anderen nach. Bald wohnten sie Haus an Haus, Tür an Tür. Im Zusammenrücken glaubten sie Schutz zu finden, und wer weiß, vielleicht auch ein Stückchen Heimat... Musik Nationale hora, Teil 1 vom Album Yikhes - Early Klezmer Recordings 1907-1939 Sprecher 1: Die meisten der im Scheunenviertel lebenden Ostjuden seien arme Schlucker gewesen, schreibt Mischket Liebermann, mit vielen Kindern. Sie hätten sich abgerackert, um die zahlreichen Mäuler irgendwie sattzukriegen... Sprecherin: Das Berliner Ghetto umgaben keine Mauern, und doch war es eine abgeschlossene Welt. Es hatte seine eigenen Gesetze, seine Sitten und Gebräuche. Die orthodoxen Juden wachten darüber, dass sie streng eingehalten wurden. Es gab eine eigene Versorgung. Alles musste ja koscher sein. Die enge Grenadierstraße war voller kleiner Läden: Fleischwaren, Kolonialwaren, Grünkram, zwei Bäckereien, na und die Fischhandlung. Die durfte auf keinen Fall fehlen. Denn was ist ein Schabbat ohne gefüllten Fisch? Eigene Handwerker, Schuster, Schneider, Trödler, Hausierer waren da. Und eine koschere Gaststätte mit einer vorzüglichen Küche. Doch im Mittelpunkt standen die zwei Bethäuser mit ihren beiden Rabbinern, den Vorbetern und den Schlattenschammes, den Synagogendienern. Musikende Sprecher 1: In den 1920er-Jahren war das Scheunenviertel das am dichtesten besiedelte Stadtquartier Berlins. O-Ton Anne-Christin Saß Dadurch, dass es eben schon eine gewisse Infrastruktur gab, da neue Migranten dazukommen, und es 'ne große Wohnungsnot gibt, gleichzeitig noch ist das ein Ort, wo die Leute ankommen, dann aber eben auch so Pensionen und Notübernachtungen eingerichtet werden. Da sind so Übergangsräume, die sich dann eben auch in diesen Kellerwohnungen etablieren. Also grade mit der zunehmenden Wohnungsnot in Berlin, die wir haben, dann aber auch ne extrem schlechte Ausstattung in diesen Wohnungen, also verfallen, nass, feucht, Schimmel. Da will eigentlich keiner wohnen. Und dann ist das eben ein Ort, wo die Migranten eben einen ersten Unterschlupf finden. Sprecher 1: Auf Fotos jener Zeit prägen ostjüdische Männer das Bild des Scheunenviertels. Männer mit langen Bärten und Schläfenlocken, den "pejes". Die Rabbiner unter ihnen sind standesgemäß in seidene Kaftane gekleidet; auch tragen sie breite polnische Hüte aus Satin, wie es der Rabbiner Fischl Schneerson in "Grenadir-Schtrase" beschreibt, in seinem 1935 erschienenen "Roman fun jidischn leben in dajtschland". Im Eingangskapitel erzählt er, in der Übertragung von Alina Bothe. Sprecher 3: Größtenteils waren die Einwanderer kleine Händler, Handwerker, Straßenverkäufer, Lumpensammler, Schnorrer und dergleichen. Einige waren allerdings auch erfolgreiche Geschäftsleute. Während des Krieges waren zudem mehrere wohlhabende chassidische Familien aus Polen und Galizien hinzugekommen. Hier gab es chassidische schuln und stibl. Von den Deutschen, insbesondere von den deutschen Juden, wurde die ganze Gegend bloß "das ostjüdische Viertel" oder auch nur "die Grenadierstraße" genannt. Das wurde in einem solchen Tonfall gesagt, als ob die Menschen, die dort leben, von einem anderen Stern kämen. O-Ton Anne-Christin Saß Ja, also, was ich tatsächlich besonders finde an diesem Roman "Grenadierstraße", ist dass es die Perspektive umkehrt, die wir sonst immer haben: dass eben deutsche Juden, assimilierte, akkulturierte Juden, auf die osteuropäischen Juden schauen und versuchen, authentisches Judentum zu finden, zu sehen. Und Fischl Schneersohn nimmt genau den anderen Blick und hat sozusagen umgedreht diese Perspektive er ja selber... Sprecher1: So manche der gutbürgerlich-assimilierten Juden mit deutscher Staatsbürgerschaft gaben tatsächlich den überwißgend aus Galizien eingewanderten Juden, in ihrer angeblichen Rückständigkeit, eine Mitschuld am wachsenden Antisemitismus, von dem man immer noch hoffte, er wäre nur eine Zeiterscheinung. Davon erzählt auch ein Witz in Fischl Schneersohns Roman Grenadierstraße. Sprecher 3: Ein verliebter Bräutigam stellt fest, dass seine Braut von einem anderen schwanger geworden ist. Ihn erfasst der Zorn. Die Braut versucht ihn zu beruhigen und versichert ihm, dass sie nur ein klitzekleines bisschen schwanger ist. - Die liberalen Juden versuchen Deutschland zu versichern, dass sie nur ein klitzekleines bisschen Juden seien und noch weniger mit der Grenadierstraße am Hut hätten. Sprecher 1: Eine Straße, die, wie Mischket Liebermann erzählt, sich rühmen konnte, eine eigene Diebes- und Hehlerbande zu haben... Sprecherin: Eines Tages wurde bei uns eingebrochen. Das heißt, man brauchte gar nicht einzubrechen, die Wohnungstür stand stets offen. Bei uns war den ganzen Tag ein Kommen und Gehen. Mein Vater war nämlich einer der Rabbiner im Ghetto. Es kränkte ihn sehr, dass man es gewagt hatte, ihn, den Vertreter Gottes auf Erden, zu bestehlen. Er ließ sich den Bandenboss kommen. Jeder wusste, wo der wohnte. Sogar die Polizei wusste es. Aber er ging aus allem wie ein Unschuldslamm hervor. Der Mann kam und entschuldigte sich sehr höflich bei meinem Vater. "Solche Idioten!", fluchte er. "Ich kann mich auf niemanden mehr verlassen. Bei den eigenen Leuten einzubrechen. Ausgerechnet beim Rabbi Pinchus-Elieser, der so schöne Töchter hat." Meine Schwester ging gerade vorbei, er verschlang sie mit seinen Blicken. "Morgen haben Sie alles zurück." Und wir hatten es zurück. Altes Zeug. Uns ging es vor allem um die Nähmaschine, ohne die wir Kleinen hätten nackt herumlaufen müssen. Sprecher 1: Im Alltag der Menschen damals hatte der große Krieg tiefe Spuren hinterlassen: Hunger, Krankheit, Arbeitslosigkeit. Und niemand ahnte, dass es nicht der letzte, sondern der erste Weltkrieg war. Die Reparationen drückten schwer auf die deutsche Wirtschaft. Und die Leute - sprich: die christliche Mehrheitsbevölkerung - brauchten eine Erzählung darüber, wer an ihrem Elend die Schuld trug. Die Kirche half. Noch vor dem Aufkommen der Nazipartei war im Kirchlichen Jahrbuch 1919 über die Juden zu lesen: Sprecher 2: (...) so hat sich doch, gestützt auf unzählige Einzelerfahrungen, im deutschen Volke die Überzeugung festgesetzt, dass mehr als andere Kreise der Bevölkerung Deutschlands die Juden es verstanden haben, sich auf 'Druckposten' in Sicherheit zu bringen... Sprecher 1: ... ein Posten also für Drückeberger. - Man bezichtige die Juden, so das Kirchliche Jahrbuch 1919, dass sie sich in Ausnutzung ihrer größeren Geldmittel durch Schleichhandel alle möglichen Lebensmittel zu verschaffen wussten. Damit hätten sie die Preistreiberei begünstigt. Sprecher 2: Viel ernster als diese, man könnte sagen, privaten Verfehlungen von Juden sind die Vorwürfe zu nehmen, die gegen die Judenheit im Großen erhoben werden und sie des unpatriotischen Verhaltens bezichtigen. Da wird ihnen vorgeworfen, dass sie im Interesse des international investierten Kapitals die Miesmacherei und Flaumacherei im Großen betrieben hätten. Sie werden für die eigentlichen Urheber der Friedensangebote angesehen. Sie sollen, um die Fortsetzung des Krieges unmöglich zu machen, die innere Front zermürbt haben... Sprecher 1: Dabei hatten sich viele Juden während des Krieges als deutsche Patrioten verstanden. In deutschen Armeen haben im Ersten Weltkrieg knapp 100.000 Soldaten mosaischen Glaubens gekämpft - Männer aus allen Altersgruppen und sozialen Schichten, die, soweit sie die Front überlebten, ihre Bereitschaft, mit Leben und Gesundheit für ihr Vaterland einzustehen, noch bitter bereuen sollten. Im Februar 1920 zitierte die Presse den sozialdemokratischen Polizeipräsidenten Eugen Ernst: Sprecher 2: Es wimmelt hier von großen Mengen Elementen unlauterster Art, die nicht nur in kriminalistischer, sondern auch politischer Beziehung überaus gefährlich sind, weil sie aus ihrer polnisch-russischen Heimat bolschewistische Ideen hier einführen und weiterverbreiten. Dazu wird die Volksgesundheit durch diese Einwanderer stark gefährdet. Der Begriff Reinlichkeit ist diesen Leuten vollkommen fremd. Die mit Bewohnern unglaublich überfüllten Wohnungen starren vor Schmutz und Ungeziefer. Gleichzeitig sind sie angefüllt mit Lebensmitteln und Delikatessen aller Art, die im Wege des Schleichhandels erworben werden. Irgendwelche Rücksichten auf diese Existenzen, die hier keinerlei ehrliche Arbeit leisten, keine Steuern zahlen, sich jeglicher Kontrolle entziehen dürften völlig überflüssig sein. Sprecher 1: Und je schlimmer die Kriegsfolgen wurden, desto größer erschien die jüdische Schuld. - Der irische Historiker Mark Jones forscht zur Gewaltgeschichte der Weimarer Republik, auch zum Jahr 1923... O-Ton Mark Jones Für mich ist sehr besonders, dass wir erinnern an die Beziehung zwischen sprachliche Gewalt und physische Gewalt. Das ist das Besondere am Jahr 1923, weil, es fängt mit sprachlicher Gewalt an ... Menschen werden sprachlich gefordert, Gewalt gegen die Juden auszuüben, übers Jahr hinaus. Das geht von Januar bis Februar, bis zum Sommer, es wird immer mehr gesprochen: Die Juden sind an allem schuld; die Juden profitieren von der Krise, die Juden stehen hinter der deutschen Wirtschaftskrise, der deutschen Finanzkrise im Jahr 1923. Und dann in den Schlussmonaten des Krisenjahres im Oktober, November, dann geht sprachliche Gewalt in physischen Gewalt über. Es ist wie ein Vulkan, es explodiert im Oktober, November 1923. Ich sehe die Scheunenviertelpogrom als klassisches Beispiel von diese Art Explosion. Sprecher 1: Im Herbst 1923 haben Not und Elend dramatische Ausmaße angenommen; Angst und Ungewissheit prägen das gesellschaftliche Klima. Die völkische Rechte rüstet zum Kampf, auch die Nazis. In München planen Hitler und Ludendorff den Umsturz. Fast zeitgleich setzt die Reichsregierung gegen die von linken Sozialdemokraten und Kommunisten gemeinsam getragenen Länderregierungen in Sachsen und Thüringen die Reichswehr ein. In Hamburg versucht die KPD die Revolution auszurufen. Die Revolte wird niedergeschlagen. - In gewisser Weise ist 1923 das letzte Jahr des Krieges... O-Ton Mark Jones Es ist das letzte Jahr, in dem die Kriegsmentalität sehr stark gewesen ist, in dem die Kriegsmentalität die politischen Entscheidungen Frankreichs sehr stark beeinflusst haben und gleich dann am Ende dieser Krise fängt die neue Zwischenkriegszeit tatsächlich an. Also die Zwischenkriegszeit fängt 1924 an, nicht 1919. Bis 1923 sind viel zu viele politische Entscheidungsträger noch von der Kriegsmentalität beherrscht. Sprecher 1: Vor allem in Frankreich, wo während des Ersten Weltkriegs ein Teil des Landes zerstört worden ist, etwa in der Größe der Niederlande. Frankreich und Belgien bestehen auf Reparationen und besetzen zu Beginn des Jahres das Ruhrgebiet. O-Ton Mark Jones ... das ist der Anfangspunkt für die Krisenspirale im Jahr 1923. Also mit der Einmarschierung (sic!) der Franzosen in dem Ruhrgebiet fängt der sogenannte passive Widerstand an. Und der passive Widerstand wurde finanziert durch das Drucken von Geld, durch die Notenpresse. Mit dieser Entscheidung ist Deutschland auf dem Weg in die Finanzkrise im Sommer 1923. Und das alles als Achterbahn für die Menschen, die damals gelebt haben, zu verstehen, macht dieses Jahr auch sehr sehr spannend. Sprecher 1: Die Weimarer Republik droht im Chaos zu versinken. Am 5. November kostet ein Laib Brot 140 Milliarden Reichsmark. Sprecher 2: Was beziehen gegenwärtig die Arbeitslosen? Sprecher 1: ... lesen wir im Berliner Tageblatt vom 6. November 1923. Und weiter: Sprecher 2: Sie werden in Vorschüssen bezahlt. In der Vorwoche bekamen die Männer 21 Milliarden, die Frauen 16,8 Milliarden für den Tag, männliche Personen unter 21 Jahren bekamen 12,6, weibliche Personen 9,8 Milliarden im Höchstfall. Familien bezogen weitere 7,8 Milliarden für die Ehefrau, 6,2 für jedes Kind. In dieser Woche sind die Sätze verdreifacht, was nicht gerade viel ist... Sprecher 1: Der sozialdemokratische Vorwärts schrieb, dass die Plünderungen "den Charakter eines von völkischen Elementen geleiteten Pogroms" trugen. Demnach hätten sich am 5. November gegen Mittag "viele halbwüchsige Burschen", die in kleinen Truppen von verschiedenen Seiten herankamen, in der Gormannstraße vor dem "Arbeitsnachweis" einem Vorgänger des Arbeitsamtes unter die Menge der Wartenden gemischt. Bereits auf ihrem Weg hätten sie "Juden und jüdisch aussehende Leute" angerempelt; für Juden gehaltene Insassen von Kraftwagen seien angehalten, aus dem Auto gezerrt und misshandelt worden. - Der Vorwärts schrieb: Sprecher 2: Plötzlich fand sich eine Menge von 10.000 Mann im Scheunenviertel zusammen und ging zu größeren Angriffen über. Sprecher 1: Das Pogrom begrenzte sich nicht nur auf das Scheunenviertel. Protokoll des Kaufmanns Heinrich Markus, Usedomstraße 4, Berlin-Wedding: Sprecher 3: Ich bin deutscher Staatsangehöriger, seit 1911 habe ich meine Wohnung in Berlin. Ich habe aktiv gedient und den Krieg als Infanterist von 1914 -1918 im Felde mitgemacht und bin schwer Kriegsbeschädigter. Ich habe Schüsse am Arm, an der Seite und am linken Fuß. Ich bin dreißigprozentiger Kriegsinvalide. Ich habe ein kleines Geschäft in der Usedomstraße 4; am 5.11. '23 zwischen 10 und halb elf Uhr erbrachen eine große Anzahl Plünderer gewaltsam die Schaufensterjalousie, drückten die Fensterscheibe ein und plünderten mein Ladenfenster aus. Als Zeugen berufe ich mich auf den Dienst habenden Offizier der Polizeiwache in der Swinemünderstraße, der kurz nach der Plünderung erschien. Des Weiteren berufe ich mich auf den Metallarbeiter Senz, Usedomstraße 7, vierte Treppe. Sprecher 1: Am ausführlichsten berichtet in den erhalten gebliebenen Gedächtnisprotokollen Alfred Berger, der Generalsekretär des jüdischen Arbeiterfürsorgeamtes. Sprecher 2: Ich habe als Augenzeuge die Ereignisse am 5. November 1923 aus nächster Nähe miterlebt. Danach war an der Erregung der Massen vor allem die Tatsache der ganz außerordentlichen Brotpreiserhöhung, die an diesem Tage überraschend kam, schuld. Bekanntlich wurde am 5.11. ungerechtfertigterweise und sprunghaft der Brotpreis von 25 Milliarden auf 140 Milliarden erhöht. Dass dies ungerechtfertigt war, ergibt sich aus der Tatsache, dass der Brotpreis am folgenden Tage auf 80 Milliarden gesenkt wurde. Sprecher 1: Doch könne es keinem Zweifel unterliegen, dass die Hetze gegen die jüdische Bevölkerung seit Wochen planmäßig betrieben wurde. Antisemitische Verbände hätten seit Wochen, vor allem in den Kreisen der Arbeitslosen, gegen die jüdische und insbesondere die ostjüdische Bevölkerung Stimmung gemacht. Sprecher 2: Insbesondere wurden täglich Markthallenagitatoren und andere deutschvölkische Agitatoren vor den Stempellokalen der Arbeitslosen beobachtet. Ich habe persönlich in mehr denn zehn Fällen beobachtet, dass unter den Plünderern sich immer ein oder zwei gut gekleidete Agitatoren befanden, die durch Rufe und Reden die allgemeine Stimmung immer wieder gegen die Juden aufbrachten und die Plünderungen, Überfälle usw. gewissermaßen dirigierten. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Ansammlungen der Erwerbslosen im Scheunenviertel sehr bald verstärkt wurden durch das in jener Gegend sich seit Jahren herumtreibende Gesindel und Lumpenproletariat. Sprecher 1: Offensichtlich fand das Pogrom am 5. November 1923 in zwei Wellen statt. Alfred Berger berichtet: Sprecher 2: Die Tatsache, dass antisemitische Kreise hinter den Vorfällen standen und diese Vorfälle planmäßig leiteten, beweisen insbesondere die Plünderungen, die abends und nachts vorgekommen sind. Die Vorfälle im frühen Morgen trugen noch zum Teil einen zufälligen und planlosen Charakter - die Plünderungen nachts waren zweifellos organisiert. Das Arbeiterfürsorgeamt hat bei fast all denjenigen, deren Läden und Wohnungen abends und nachts geplündert wurden, genaue Recherchen gemacht, die außerordentlich bemerkenswerte Resultate ergaben. Sprecher 1: So bekam der jüdische Kaufmann Nathan Podhorzer zu Berlin, Linienstraße 56, am Nachmittag des 5. November Besuch... Sprecher 3: Ich bin seit 1899 in Berlin und betreibe in der Linienstraße 56 ein Altkleidergeschäft. Am 5.11. 23 nachmittags kam ein gut gekleideter Herr mit zwei ebenfalls gut gekleideten Damen in meine Wohnung und teilte mir mit, dass in einer Versammlung in einem Lokal beschlossen worden sei, eine Anzahl Geschäfte zu plündern. Es sei eine Liste angefertigt, auf dieser Liste sei auch mein Geschäft. Der Herr berichtete mir weiter, dass gegen Abend eine große Menge Menschen mit Werkzeugen die eisernen Jalousien meines Ladens durchschneiden, die Fenster eindrücken und das Geschäft plündern werden. Auf meine Frage, ob ich mich nicht dagegen schützen könne und was ich tun soll, erklärte der Herr, dass weder Polizei noch sonst irgendjemand mir helfen könne. Pünktlich, wie es angekündigt war, erschienen abends die Plünderer in großen Massen, durchschnitten die Jalousien und drangen in meinen Laden ein. Sie raubten alles, was sich in dem Laden befand. Die von mir angerufene Polizei fuhr mit einem Auto durch die Straßen, gab Schreckschüsse in die Luft ab und verschwand dann wieder, den Plünderern freie Hand lassend. Was die Plünderer nicht mitnehmen konnten, z. B. die Einrichtung, zerstörten sie. Sprecher 2: Auch andere der Geplünderten gaben an, in ähnlicher Weise vorher unterrichtet worden zu sein. Die Planmäßigkeit der Plünderungen geht weiter aus Folgendem hervor: Die Mehrzahl der Beschädigten gibt an, dass die Plünderungen von einem gut gekleideten Mann geführt wurden. So teilt der geplünderte Arbeiter Petereit mit, dass die Plünderer unter Führung eines großen Mannes in seine Wohnung eindrangen, alles zusammenrafften. Als er kurz vor dem Fortzuge dem Führer seine abgestempelte Arbeitslosenkarte zeigte, kommandierte dieser: "Halt, Arbeitsloser, alles hinlegen". Dieser Aufforderung kamen die Plünderer nach. Sprecher 1: In den meisten Fällen sei der besagte Führer nach einer Liste auf die geschlossenen Geschäfte zugegangen und habe mit seinem Hammer an die heruntergelassenen Jalousien geschlagen, wie Alfred Berger vom jüdischen Fürsorgeamt berichtet: Sprecher 2: Sofort wurden die Jalousien oder die geschlossenen Türen gewaltsam aufgebrochen. Die erbrochenen Läden und Wohnungen wurden gänzlich ausgeraubt, die Einrichtung zerschlagen. Mehrfach wurden die Gashähne aufgedreht, das Telephon zertrümmert. Auch die Misshandlungen, die in dieser Nacht vorkamen, waren erheblich schwerwiegenderer Art als die am Morgen vorgekommenen. So wurde z. B. dem Schuhmacher Wischnitzer das Gesicht zerschlagen, das Nasenbein zertrümmert. Sprecher 1: Bezeichnend sei, dass die Inhaber der geplünderten Läden, Keller und Wohnungen durchweg kleine Kaufleute seien. In der großen Mehrzahl seien sie in der Zeit von 1895 bis 1910 nach Deutschland eingewandert, wohnten also fast alle seit mindestens 14-15 Jahren in Berlin. Sprecher 2: Unter den geschädigten Personen befinden sich nur Arme, zum Teil sogar völlig verarmte Leute. Kein Wohlhabender ist geschädigt, ganz gewiss kein Devisenhändler ... Sehr bemerkenswert ist noch, dass sich bei über 40 Geplünderten der von ihnen angegebene Schaden auf nicht mehr als insgesamt 75.000,- Goldmark beläuft. Dabei ist zu bemerken, dass 4 oder 5 Geplünderte größere Geschäfte hatten und daher einen verhältnismäßig größeren Schaden erlitten haben. In der Mehrzahl handelt es sich eben um kleine und kleinste Leute, die allerdings völlig verarmt sind, und denen man den Rest ihrer Habe weggenommen oder vernichtet hat. Sprecher 1: Aber es gab auch Widerstand, dem gängigen Bild, dass sich die Juden in Deutschland brav und wehrlos ihrem Schicksal gefügt haben und deshalb wie Schafe zur Schlachtbank geführt werden konnten, muss widersprochen werden. Die völkische Zeitung Der Tag berichtete: Sprecher 2: Bei dem Überfall auf einen Schlächterladen kam es zu einem schweren Kampf des jüdischen Schlächters mit den Eindringenden. Er ergriff in der Abwehr sein großes Beil, warf sich der anstürmenden Menge entgegen und hieb blind auf diese ein. Dadurch wurde ein Mann schwer und mehrere leicht verletzt. Sprecher 1: In der Hirtenstraße 11a /Ecke Grenadierstraße verteidigte Meister Silberberg nicht nur sein Fleischereigeschäft, das sich neben dem geplünderten Tabakladen der Witwe Rosenblüth befand. Er half auch einem Geflüchteten. An jenem Montag fand zeitgleich durch den jüdischen Selbstschutz eine organisierte Gegenwehr statt: Eine Gruppe von fünfundzwanzig Angehörigen des "Reichsbundes jüdischer Frontsoldaten", mit Pistolen und Gummiknüppeln bewaffnet, kam ihren bedrohten Glaubensbrüdern und -schwestern im Scheunenviertel zu Hilfe. Doch die Gruppe kam nicht weit. Kaum, dass sie von der hochgepeitschten Menge als Juden erkannt waren, wurden sie umringt, beschimpft und angegriffen. In den Gerichtsakten heißt es später über die Patrouille des Reichsbundes jüdischer Frontsoldaten. Sprecher 2: Als der Trupp in der Linienstraße in der Nähe des Bülowplatzes angelangt war, wurde die Lage für ihn immer bedrohlicher. Da kam ein Personenauto der Schutzpolizei vorbeigefahren, in dem sich neben anderen Polizeibeamten ein höherer Offizier befand. Nachdem dieser hatte halten lassen, wandten sich einige Mitglieder des genannten Trupps an ihn mit der Bitte, ihnen in ihrer Gefahr Schutz zu gewähren. Der führende Polizeioffizier hielt es aber anscheinend nicht für erforderlich einzugreifen und fuhr mit seinen Beamten weiter. Die Abfahrt des Autos, die von der Menge mit Hurra-Rufen begleitet wurde, war für diese das Zeichen, von neuem gegen die jüdische Abteilung vorzugehen. In der entstehenden Schlägerei fiel plötzlich ein Schuss, der einen Arbeiter tötete. Als sich darauf die Menge, die annahm, der Schuss sei von einem Angehörigen der Streife abgegeben worden, mit erneuter Wut auf diese Gruppe stürzte, erschien ein mit 18 Mann besetzter Lastkraftwagen der Schutzpolizei... Sprecher 1: Statt aber den bedrohten Juden in ihrer Not zu helfen, nahm das Polizeikommando die Mitglieder des Reichsbundes fest und misshandelte sie schwer. In der Vossischen Zeitung berichtete am folgenden Tag der verhaftete jüdische Arzt Dr. Bernhard: Sprecher 3: Die Schupo-Mannschaften schritten unter dauernden Misshandlungen schwerster Art zu unserer Verhaftung. In der Kaserne in der Alexanderstraße auf dem Hofe mussten wir inmitten von 200 Schupo-Beamten mit erhobenen Händen Aufstellung nehmen und wurden wiederum schwer misshandelt. Mir selbst ist der Mittelhandknochen der rechten Hand zerbrochen worden. O-Ton Johanna Langenbrinck: Die jüdischen Männer mussten sich da aufstellen in einer Reihe, es war keine kleine Gruppe, sondern mehrere, ungefähr ein Dutzend Leute. Sie mussten die Hände hochhalten, ungefähr zehn Minuten lang, Sie wurden teilweise geschubst, getreten, wurden dabei beleidigt von verschiedenen Polizeibeamten. Auch antisemitisch beleidigt. Sprecher 1: Johanna Langenbrinck, Geschichtsdoktorandin an der Berliner Humboldt-Universität, recherchiert zur antisemitischen Gewalt in der damaligen Berliner Polizei. O-Ton Langenbrinck: Ein Offizier soll gesagt haben: "Die Judenbande muss man aufhängen." Ein Polizeibeamter ist gekommen und hat einem dieser Verhafteten eine Uhr gestohlen und die Brieftasche gestohlen. Sprecher 3: Ich habe vier Jahre an der Front als Arzt mitgemacht, bin Schwerverwundeter, bin im Besitz des Eisernen Kreuzes II. und I. Klasse und des Sächsischen Ritterordens. Die Zustände machten auf mich nicht den Eindruck, als ob ich mich in einem Rechtsstaat befände Sprecher 1: Tatsächlich gab es wenigstens hierfür ein juristisches Nachspiel, vielleicht auch weil die Opfer keine Ostjuden waren, sondern bürgerliche Juden, die sich einen Anwalt leisten konnten. O-Ton Johanna Langenbrinck Ja, es gab dann zwei Prozesse. Einmal wurden die jüdischen Männer, die sich in dieser Selbstschutzeinheit zusammengetan hatten, angeklagt, wegen unerlaubten Waffenbesitz und Bildung eines bewaffneten Haufens. Und sie sind dann aber freigesprochen worden, weil wirklich auch vor Gericht festgestellt wurde, dass die Polizei versagt hatte an dem Tag und sie sozusagen in Notwehr gehandelt haben. Das war für sie schon mal befriedigend, dass sie da Recht bekommen haben Und dann haben sie auch Prozesse angestrengt gegen die beteiligten Polizisten. Es war natürlich superschwierig die zu identifizieren, weil auf diesem Kasernenhof waren mehrere Hundertschaften zusammengeführt. Sprecher 1: Und da erscheint es bemerkenswert: Die dreißig Polizeibeamten, die als Zeugen vereidigt waren, gaben vor Gericht an, keinerlei Misshandlungen an den festgenommenen Juden gesehen zu haben. Daraufhin erklärte der Staatsanwalt in seinem Plädoyer, er müsse wohl annehmen, dass die Beamten an jenem Tag unter einer "allgemeinen Suggestion" gestanden hätten. Anderenfalls wären gerade dreißig Meineide geschworen worden. Im Hintergrund hört man, langsam lauter werdend, jemanden das Ehrhardt-Lied pfeifen Sprecher 1: Wie ein Prozessbeobachter vom Reichsbund jüdischer Frontsoldaten berichtete, sei in der Verhandlungspause einer der Zeugen, Polizeimajor Rank, an einem jüdischen Zeugen vorbeigegangen - dabei ein Lied pfeifend: das Ehrhardt-Lied. Das Lied der Freikorpsbrigade Ehrhardt, das an der rechtsradikalen Gesinnung des Mannes keinen Zweifel ließ ... Musik Das Ehrhardt-Lied wird weiter gepfiffen... Sprecher 1: Ein Berufungsgericht verurteilte drei der Polizisten, denen die Körperverletzung im Amt nachgewiesen werden konnte, zu sechs bzw. drei Monaten Gefängnis. Die Urteile wurden schon kurz darauf gegenstandslos - im Zuge der am 21. August 1925 erlassenen "Verordnung über die Gewährung von Straffreiheit in Preußen." Musik an dieser Stelle zum letzten Mal das Ehrhard-Lied Sprecher 1: Zehn Jahre später, am 4. April 1933, wurden die Plünderungen im Scheunenviertel staatlich organisiert. Der Rundfunk berichtete Musik attack/transition Alva Noto + Ryuichi Sakamoto O-Ton Radio: Deutsche Volksgenossen! Das Mikrofon der Funkstunde Berlin steht jetzt in den frühen Morgenstunden des 5. April in der übelbeleumdetsten Gegend Berlins und zwar in der Gegend, die einst die Hochburg des deutschen Bolschewismus war, in der Münz- und Grenadierstraße, dicht am Bülowplatz. Gerade ist eine größere polizeiliche Aktion eingeleitet. Sprecher 1: 20 Kriminalbeamte, drei Polizei-Bereitschaften, eine Motorradstaffel und 11 Mann SS-Hilfspolizei sperrten die Grenadierstraße ab, so berichtete es der Völkische Beobachter... Sprecher 2: Die Karabiner pochen an die Tür, die hastig zuschlug, als der erste Tschako aufblitzte, und nun klopfen wir schon unentwegt im Gleichtakt: "Herschel Süß aufmachen! Aufmachen Herschel Süß!" Jud Süß schläft den Schlaf der Gerechten... Sprecher 1: Einen Herschel Süß hat es in der Grenadierstraße nie gegeben. Wohl aber die Menschen, die im Rundfunk vorgeführt wurden. O-Ton Radio: Was wollen Sie eigentlich in Deutschland hier? Warum sind Sie nach Deutschland gekommen? - ...(unverständliche Antwort) - Sie meinen, Sie können hier besser Geld verdienen? - Nein, na...- Sie nehmen deutschen Arbeitern das Brot weg. Sprecher 1: Aus der ehemals "Verlornen Straße" aber war die Straße der Verlorenen geworden. Der unlängst verstorbene Historiker Horst Helas schrieb, dass nach 1933 in der Grenadierstraße 370 jüdische Frauen, Männer und Kinder gelebt haben. Allein aus dieser Straße tauchten in den Deportationslisten die Namen von 196 Menschen auf. Im Jahr 1937 erinnerte das "Israelitische Familienblatt", das unter strengen Auflagen noch in Berlin erscheinen durfte, an das jüdische Leben nördlich vom Alexanderplatz. Musik Reverso Alva Noto + Ryuichi Sakamoto Sprecher 3: Hier lebten Juden, die nicht nur Juden schlechthin waren, sondern Menschen sehr besonderer Art. Sie waren aus den ungeheuren Reservoiren des Ostens in die Welt hinausgezogen, und ein sehr geringer Teil von ihnen hatte hier seine Wanderschaft unterbrochen. Einige von ihnen sind hier noch zurückgeblieben, Armut hält sie gefesselt, es ist sehr still um sie geworden, kaum dass man sie noch sieht und spürt. Sprecher 1: In der Grenadierstraße habe es ein ganz besonderes Lokal gegeben. Hier habe es Fische zu essen gegeben, für die es keine andere Beschreibung gab, "als die berühmten und weltumspannenden drei Zungenschnalzer". Das Rezept soll ein Geheimnis gewesen sein, das "über einen kleinen Umweg von ein paar Jahrtausenden bei einem berühmten "Berditschewer Rebben" gefunden worden war. Richtige Wunderfische waren das, die auf der Zunge zergingen. Sprecher 3: Dies alles ist vorbei, Sprecher1: heißt es in dem Artikel, Sprecher 3: ist wie ausgelöscht, als hätte es nie existiert. Sprecherin: Straße der Verlorenen - Als Berlin geschändet wurde Ein Feature von Karsten Krampitz Es sprachen Rabbi Joel Berger, Frauke Poolman, Axel Wandtke, Steffen Schorty Scheumann und im O-Ton Sprecher 1: Anne-Christin Saß, Mark Jones und Johanna Langenbrinck. Ton Christoph Richter Regie Wolfgang Rindfleisch Redaktion Wolfgang Schiller Musikende Eine Produktion des Deutschlandfunks 2023 3 1