Hörspiel Feature Radiokunst Das Feature Der letzte Frühling Tunesien und der Traum von der arabischen Demokratie Autor: Marc Thörner Regie: Claudia Kattanek Redaktion: Wolfgang Schiller, Thomas Nachtigall Produktion: WDR/Deutschlandfunk 2023 Erstsendung: Dienstag, 13.06.2023, 19.15 Uhr Langfassung Es sprachen: Jochen Langner, Daniel Berger, Elisabeth Hartmann, Rainer Homann, Tom Jacobs und Bernd Reheuser Technische Realisation: Werner Jäger und Jens Peter Hamacher Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. (c) - unkorrigiertes Exemplar - Atmo 1: Tunis, Straße, Schritte, Stimmen, Motorräder, Muezzine Das Erste, was mir in Tunis auffällt: dass etwas fehlt. Vor der Revolution 2010 war das Porträt von Ben Ali allgegenwärtig. Auf überlebensgroßen Postern rieb sich der Langzeit-Diktator gut gelaunt die Hände: vor Ministerien, Verwaltungsstellen, und Banken - eine Symbolik, die sich eigentlich erst nach seiner Flucht erschließen sollte, als herauskam, wieviel Kapital er durch Strohmänner ins Ausland geschafft hatte. Doch auch an den Aufstand, mit dem die 12 Millionen Tunesier Ben Ali verjagten erinnert wenig. Kein "Boulevard der Arabellion' kein "Platz der Revolution." Die Stimmung ist eher gedrückt...viele Menschen haben es eilig, kein Zeit für ein Gespräch und über Politik schon gar nicht...Andere stehen Schlange vor Geschäften, die knapp gewordenen Zucker und Kaffee anbieten. An einer Kreuzung - Straßenmusik Atmo 2 Gesang "non, non, non, non shoukran..." - verblenden mit Atmo 3: Straße, läuft weiter, darauf: NEIN NEIN NEIN, NEIN, DANKE - Was oder wen meinen sie mit dem Refrain? Der junge Musiker trägt seinen hellbraunen Schopf zu Rasta-Zöpfen geflochten. Bevor er antwortet, deutet er mit einer Kopfbewegung auf die Polizisten in der Nähe. Besser, wenn wir Englisch sprechen. O-Ton 1 Straßenmusiker: It's seems that... Übersetzer 1: Mir scheint, egal was wir tun... am Ende liegt die Macht wieder bei einer Handvoll Leuten. Entgegen allen Versprechungen. Für mich sieht es so aus, als ob wir hier über gar nichts mehr die Kontrolle haben. Deshalb sehe ich für mich auch keinen Sinn darin, an Wahlen teilzunehmen. Atmo 4: (Kopie Atmo 2) Lied, "non, non, non, non .. Ansage: Der letzte Frühling Tunesien und der Traum von der arabischen Demokratie. Feature von Marc Thörner Autor: Ich bin unterwegs zum Palais de Justice, einem mit Stuck und Mosaiken verschwenderisch dekoriertem Bau, im Stadtzentrum. Seit der Arabellion, Sitz einer unabhängigen Rechtsprechung - Ausdruck der Gewaltenteilung, in einer jungen Demokratie. Atmo 5: Straße II Autor: Zwei Blauuniformierte am Eingang halten kurze Rücksprache mit einem Vorgesetzten. Dann lassen sie mich passieren. Atmo 6: Foyer. Im Foyer stehen Besucher, Zeugen, Anwälte in Trauben beieinander und diskutieren ihre Fälle. Es wirkt wie Normalbetrieb in einem Land, dessen Bürger auf Rechtssicherheit und unparteiliche Richter vertrauen können. Doch der Eindruck täusche, berichtet mir Aycha Belhassen, stellvertretende Vorsitzende des tunesischen Richterbundes. Der Justizpalast ist ihrer Einschätzung nach heute nicht viel mehr als eine leere Hülle. O-Ton 2 Aycha Belhassen: Le pouvoir... Übersetzerin 1: Die unabhängige Justiz ist in Tunesien abgeschafft, in ihrer Eigenschaft als eigene Gewalt, als eigene Säule, als unabhängige Institution. Der Präsident hat sie durch eine Behörde ersetzt, in der wir bloß noch Beamte unter der Autorität der anderen Staatsgewalten sind. Für den Präsidenten sind Richter simple Staatsbeamte. Sie sollen sich nicht aus dem vom Staat vorgegebenen Rahmen raus bewegen. Autor: Im Moment herrscht eine schwer zu durchschauende Grauzone, berichtet Belhassen. Wenn sie gültige Gesetze anwendet und die Prinzipien, auf die sie einen Eid geschworen hat - verhält sie sich noch korrekt? Oder macht sie sich angreifbar, vielleicht sogar strafbar, weil sie gegen Vorgaben des Präsidenten verstößt? Sind diese Vorgaben schon in Verordnungen gekleidet oder handelt es sich noch um mündliche Anweisungen? Wer von den Kollegen ist noch unabhängig; Wer Weisungsempfänger? Auch ihr Kollege Anas Hmadi, Präsident des Richterbundes, weiß nicht, wie lange er noch im Amt sein wird. O-Ton 3 Anas Hmadi: Übersetzer 2: Präsident Kais Saied ist aufgebrochen, um all unsere Errungenschaften zerstören, all diese Träume, all diese Früchte eines langen Kampfes für eine unabhängige und unparteiische Justiz. (/) Und das hat er getan. Er hat es wirklich geschafft. Atmo 7: Statement des Präsidenten - verblenden mit Atmo 8 Avenue Bourgiba Autor: Tunesiens Präsident Kais Saied gibt keine Pressekonferenzen. Trotzdem ist er für seine Staatsbürger omnipräsent. Nicht auf überlebensgroßen Plakaten wie die alte Garde arabischer Potentaten. Doch der drahtige 65-Jährige, dessen stocksteife Körperhaltung und rigoroses Durchgreifen ihm den Spitznamen Robocop verschaffte, flutet er tagtäglich über You Tube, Facebook oder Twitter die Smartphones derer, die mir, auf der Avenue Bourgiba entgegenkommen - der großen Flaniermeile von Tunis. Er doziert, belehrt, greift seine Kritiker an, schwört die Tunesier ein, auf eine neue Republik. Atmo 7a: Collage Präsident Das Weltbild Saieds ist klar unterteilt in gut und böse, schwarz und weiß. Leuchtend hell ist das Volk, und der Präsident, der dem Volk zuhört und seine Wünsche umsetzt. Schwarz sind alle, die sich zwischen den Präsidenten und das Volk schieben wollen und die er unter dem Begriff "Elite" zusammenfasst. Die Elite ist es, die unabhängige Instanzen fordert. Unabhängig wovon? Von den Interessen des Volkes! Und er als Staatsoberhaupt, hört nicht auf eine Handvoll privilegierter Intellektueller, er hört auf das Volk! Wie aber denkt das Volk über den Präsidenten? Aufs Geratewohl versuche ich, das Mikrophon gezückt, mit Passanten ins Gespräch zu kommen. Atmo 9 Stimme Autor: Pardon, je peux vous poser une question... Frauenstimme: Non, merci Doch niemand möchte etwas sagen, Gesenkte Blicke. Kopfschütteln, manche legen den Zeigefinger auf den Mund. Die Atmosphäre ist schon beinahe wieder so wie vor der Revolution. Schweigende Menschen; eingeschüchtert, immer auf der Hut, weil selbst die kleinste unvorsichtige Bemerkung Folgen haben könnte. Atmo 10: Café Auch das halb versteckte Café an der Straßenecke vor der Kathedrale, ein Treffpunkt für Gespräche ohne Angst vor ungewollten Zuhörern, wirkt auf mich schon wieder ähnlich konspirativ wie vor der Revolution. Noch immer trennt derselbe Vorhang aus schwarzen Plastikkugeln den Hauptraum von demselben kleinen Hinterzimmer. Als ich im Frühjahr 2003 zum ersten Mal hier eintrat, hing an der Wand noch das Porträt des damals schon fast 70 jährige Diktators Ben Ali, dessen tief schwarz gefärbte Haare ewiges Dasein zu verheißen schienen. Hier, unter Ben Alis eisernem Lächeln, wurde mir klar, was es bedeutet, in einem arabischen Land anders zu denken, als von Staats wegen erlaubt. Hier saß ich dem Oppositionellen Hamma Hammami gegenüber, eine Herr mit grau meliertem Haar der heute die Tunesische Arbeiter Partei führt . Seit seiner Jugend war er politisch aktiv .Bei unserer ersten Begegnung vor zwei Jahrzehnte, gerade aus langjähriger Haft entlassen . O-Ton 3a Hamma Hammami: Übersetzer 1: Das erste Mal wurde ich 1972 verhaftet, als Mitglied einer Linkspartei. Ich habe fast zehn Jahre meines Lebens im Gefängnis und fast zehn weitere im Untergrund verbracht. Autor: Das Treffen mit einem ausländischen Journalisten war ein Risiko. Doch Hammami war es wichtig, mir zu vermitteln, in was für einem Staat deutsche Touristen so gerne ihren Strandurlaub verbrachten. O-Ton 4 Hamma Hammami: Übersetzer 1: Wir leben in Tunesien in einer Polizeidiktatur, in der die elementarsten Grundrechte mit Füßen getreten werden. Die Zustände in den Gefängnissen kann man nur traurig nennen. Es geht darum, die Gefangenen physisch und psychisch zu vernichten. Überall wird gefoltert. In den bei der Polizei, bei der Nationalgarde und in den Haftanstalten. Während meines Hungerstreiks hat man mich an die Wand gekettet. Man hat mir mit Gewalt Einläufe in den Anus verabreicht, während die Wächter ihre Späße machten, wie: Ah, guck dir mal den Hintern an, das ist ein Schwuler!' Dazu kamen Bastonaden auf die Füße und Schläge mit dem Knüppel oder mit der Faust. Autor: Als ich am Abend nach dem Gespräch ins Hotel zurückkam, konnte ich plötzlich meine E-Mails nicht mehr öffnen. Und in den folgenden Tagen fiel auf, dass mir immer dieselben Männer auf der Straße folgten. Um Tunesiens bekannteste Menschenrechtlerin zu sprechen musste ich vor ihrem Haus einen Kordon der Geheimpolizei passieren, der jeden Besuch minutiös registrierten Atmo 10 Straße, Walkie Talkies Autor : Sihem Bensedrine appellierte damals eindringlich an die Weltöffentlichkeit - das Wegschauen müsse endlich aufhören! O-Ton 6 Bensedrine: Jedes Regime hat seine Terroristen. Und für Ben Alis sind die Terroristen Leute wie wir, Journalisten und Menschenrechtler. (360:)Wir alle, Demokraten und Menschenrechtsaktivisten, sind in einem gigantischen Gefängnis eingesperrt und werden daran gehindert, unsere Meinung auszudrücken. Deshalb appellieren wie an euch, an alle Pazifisten auf der Welt, uns zu Hilfe zu kommen und gemeinsam gegen die wahren Urheber des Terrors zu kämpfen, die Diktatoren in der arabischen Welt. Autor : Der Apell verhallte im deutschen Außenministerium ungehört. Tunesien galt nach der Jahrtausendwende , in der Hoch-Zeit des "Kampfes gegen den Terror" als privilegierte Partner der westlichen Welt - wie auch Ägypten, Marokko und die aufstrebenden Golfstaaten. Die großen deutschen Parteien waren mit ihren Stiftungen vor Ort. - Doch sowohl Konrad-Adenauer- wie Friedrich-Ebert-Stiftung lehnten meine Interviewanfragen ab. Zur Lage in Tunesien wollte man sich nicht äußern. Atmo 11: Schuss, Tränengas Dass 2010 dann unter allen arabischen Ländern ausgerechnet in Tunesien zum ersten Mal der Kessel platzte, überraschte in Bonn und London, Rom und Paris. Atmo 12: Hacken, Schleifen, Splittern Hier, auf der zentralen Avenue Bourguiba, auf der heute die Menschen den Kontakt zu Journalisten meiden, erlebte ich 2011 wie junge Männer die französische Botschaft attackierten, Absperrgitter weggeschleiften und die Überwachungskameras zerschlugen. Schließlich hatte Frankreichs damaliger Präsident Sarkozy seinem Kollegen Ben Ali gerade noch Sicherheitsexperten und Polizeiausrüstung angeboten, um die Revolte niederzuschlagen. O- Ton 7 Demonstranten: Le peuple... Übersetzer 2: Das Volk selbst muss jetzt die Macht übernehmen. Das alte Regime denkt, dass wir uns nach ein paar Tagen beruhigen, dass wir die Revolution vergessen werden. Sie versuchen alles, um Zeit zu gewinnen. Aber wir geben nicht auf, wir kämpfen weiter bis zum Ende. Atmo 13 Schuss, Atmo läuft weiter O-Ton 8 Demonstrant: Avec des balles réelles... Übersetzer 3: Die Polizei schießt mit scharfer Munition auf die Bevölkerung, Jetzt! Sehen Sie. Sie legen scharfe Munition ein... Atmo 14 : Laufen... Schuss Autor: Am 14. Januar 2011 floh Langzeitdiktator Ben Ali. Und die langjährigen Gefolterten, Geprügelten, Misshandelten machten sich daran, das Land neu zu organisieren. Die Menschenrechtlerin Sihem Bensedrine, wurde Vorsitzende der Kommission "Wahrheit und Würde", einer Art tunesischer Gauck-Behörde, allerdings mit weiter reichenden Befugnissen. O-Ton 9 Sihem Bensedrine: Enquêter Übersetzerin 1: Wir gehen zum Einen den Verbrechen auf den Grund, die es in der Vergangenheit gegeben hat: Bei den Menschenrechten, in der Wirtschaft und auch in Sachen Korruption. Unsere zweite Aufgabe ist festzustellen, wer dafür verantwortlich war, Dossiers der Justiz zu übergeben und Reformen vorzuschlagen. Reformen, die dafür sorgen, dass der Staat sich nicht länger von Kriminellen mit weißem Kragen in Geiselhaft nehmen lässt : von Leuten, die nach Belieben Gesetze übertreten, Staatsbürger misshandeln und die nun den Übergang zur Demokratie gefährden. Autor: Kaum war der Diktator Ben Ali vertrieben, reiste aus seinem Londoner Exil auch Rachid Ghannouchi an, der Chef der bis dahin verbotenen konservativ islamischen Partei Ennahda. O-Ton 10 Ghannouchi: Arab. Übersetzer 1: Tunesien ist ein islamisches Land. Und viele tunesische Gesetze leiten sich schon heute vom Islam ab. Autor: Doch die säkularen Oppositionellen hatten nicht die Absicht, den Religiösen das Feld zu überlassen. Wenige Monate nach der Revolution wählte das tunesische Übergangsparlament Moncef Marzouki zum neuen Staatspräsidenten, einen international renommierten Arzt und Menschenrechtler. O-Ton 11 Moncef Marzouki: l est hors de question... Übersetzer 2: Es kommt nicht in Frage, die Scharia in die Verfassung aufzunehmen. Das Wort Scharia wird dort nicht auftauchen und die Islamisten haben das auch akzeptiert. Autor: Der Dialog zwischen Religiösen und Säkularen war mühsam. Aber das Resultat war in den Augen von vielen Beobachtern die Mühe wert: Das freiheitlichste Grundgesetz der arabischen Welt. Achtung von Frauen - und allgemeinen Menschenrechten, Religionsfreiheit, Parteien-Vielfalt und Gewaltenteilung. O-Ton 12 Malte Gaier: Ich glaube bei der Verfassung von 2014 sprechen wir wirklich von einer erfolgreichen Errungenschaft. Autor: Malte Gaier vertritt in Tunis die CDU-nahe Konrad-Adenauer-Stiftung. Vor der Revolution hatte nicht nur seine Stiftung jede öffentliche Äußerung zu den Zuständen in Tunesien abgelehnt. Auch jetzt, wo die Uhren wieder zurückgedreht werden, sind die Töne leise. Tunesien wird gebraucht weil es die Europäische Union zumindest ein wenig vor den Flüchtlinge aus schwarz -Afrika abschirmt. Doch Gaier will mir helfen, zu verstehen was im Musterland der Arabellion schief gelaufen ist. Nach seiner Analyse haben Beide versagt : sowohl die religiöse Ennahda-Partei, die zwischenzeitlich sogar die stärkste Fraktion im Parlament stellte, als auch die säkularen Parteien die immer wieder mit Streit und Zersplitterung Schlagzeilen machten. Keine der Seiten hatte eine kohärente Wirtschafts- und Sozialpolitik anzubieten. Auch an den Besitzverhältnissen änderte sich nach der Vertreibung des Ben-Ali Clans wenig. Die Covid-Krise brachte schließlich den Tourismus zum Erliegen. Zudem galoppiert die Inflation, selbst Grundnahrungsmittel sind knapp und fast ein Viertel der 12 Millionen Tunesier lebt unter der Armutsgrenze. O-Ton 13 Malte Gaier: Die neuen demokratischen Errungenschaften haben nicht geliefert. Es ist keine Dividende abgeworfen worden , die im Leben jedes Tunesiers Verbesserungen gebracht hätte. Hinzu kommt drastischer Verlust an Vertrauen in die politischen Eliten insgesamt. In Träger der repräsentativen Demokratie, wie beispielsweise politische Parteien.Und nicht zuletzt auch das. Also eine der wichtigsten Errungenschaften, das Parlament und die Verfassung, die 2014 ausgearbeitet wurden, haben am Ende keine Glaubwürdigkeit ausgestrahlt. Autor: Dazu beigetragen haben Mitschnitte aus dem Parlament die Runde, die 10 Jahre nach der Revolution für viele Tunesier zum Sinnbild von Chaos und Niedergang des Landes wurden. Atmo 15 : Parlaments-Video Ein Abgeordneter erhebt sich, geht auf eine Kollegin des anderen Lagers zu und ohrfeigt sie - während der Parlamentsparlament von der islamischen Partei hilflos zusieht. Durch Szenen wie diese, so Malte Gaier. O-Ton 14 Malte Gaier: haben die Tunesier live jeden Tag gesehen, dass es im Parlament keine Disziplin gab, die Parlamentarier nicht imstande waren, die grundlegende Tagesordnung aufrechtzuerhalten. Und das hat, glaube ich am Ende einen möglicherweise irreversiblen Schaden an der Glaubwürdigkeit politischer Institutionen ergeben. Atmo 16 Markt, Straßenhändler rufen Preise und Produkte aus. Autor: Was die Menschen im Alltag frustriert, was Malte Gaier als fehlenden Demokratie-Dividende bezeichnet, zeigt sich in den Geschäften und auf den Märkten. Motorräder, Elektroartikel und andere importierte Güter sind auch für die Mittelschicht teuer. Doch zum ersten Mal seit Tunesiens Unabhängigkeit 1956, können sich Manche selbst Karotten, Gurken, Tomaten oder Speiseöl kaum noch leisten. Immer wieder ähnliche Szenen: Käufer schimpfen, Händler verteidigen sich lautstark . Alles Folge eines verlorenen. Eines "schwarzen" Jahrzehnts des fruchtlosen Parteien-Disputs. Die Religiösen: Unfähig und verbohrt. Die westlich- Ausgerichteten: Naive Träumer, die ein stabiles Land wahlweise den Islamisten ausgeliefert oder wirtschaftlich in den Abgrund geführt hätten. So lautete die Botschaft, die Präsident Kais Saied an die Macht brachte. Hinter dem gleichen Narrativ sammeln sich auch die alten Seilschaften des vertriebenen Ben Ali-Regimes: Sicherheitskräfte, Hohe Beamte, im Land gebliebene Strohmänner und Finanziers. O-Ton 15 Sihem Bensedrine: Eux... Übersetzerin 1: Sie reden jetzt von einem nachrevolutionären, so genannten "schwarzen Jahrzehnt". Ennahda und die Anderen, so sagen sie, sind Schuld an unserer verfahrenen Situation. Autor: Tatsächlich, so Sihem Bensedrine, die Leiterin der Wahrheitskommission, lägen die Wurzeln der Dauerkrise nicht in den Umwälzungen nach der Revolution. Ganz im Gegenteil. Das größte Problem sei, dass der Einfluss und die wirtschaftliche Macht des korrupten Ben Ali Clans und seiner Nutznießer niemals wirklich gebrochen wurde. Bei ihren Nachforschungen über deren Verbindungen zu heimischen wie ausländischen Investoren, ist sie immer wieder auf amtierende Funktionsträger gestoßen. Auch in den Sicherheitskräften, in Banken und Medienunternehmen. O-Ton 16 Sihem Bensedrine: Au départ... Übersetzerin 1: Zuerst hat man mir den Zugang zu den Archiven des Präsidialamtes verweigert. Aber wir haben nicht locker gelassen. In den Dokumenten haben wir die Nachweise gefunden, wie sie die Gesetze manipuliert haben, zugunsten einer Klientel rund um die Familie der Ex-Präsidenten Ben Ali. Die hat unseren Staat regelrecht ausgeplündert. Sie sind die Urheber der heutigen Krise. Und diese Leute haben immer noch wichtige Positionen. Sie fürchten nun, dass die Wahrheit bekannt wird - dass sie es sind, die Tunesien ruiniert haben - und nicht das so genannte "schwarze Jahrzehnt", von dem sie reden. Autor: Im Präsidentschaftswahlkampf 2019 trat Kais Saied als Außenseiter an: Ein Rechtsgelehrter unpolitisch und Mitglied in keiner Partei. Er positionierte sich geschickt als Retter vor unfähigen Politikern und angeblich drohendem religiösem Fundamentalismus. Zitator Kais Saied: "Der politische Islam ist ein Phänomen, das aus dem Ausland stammt." Autor: ... erklärte Saeied unter Anspielung auf das frühere britische Exil von Ennadah Chef Ghannouchi. Hager, mit unbeweglicher Miene, jede Art von Privileg abweisend, verkörperte er das Bild eines Asketen, ein Saubermann, der sein Professorenleben der Bewahrung seiner Heimat opferte. Ein gespaltenes Land zusammenführen, die Krise überwinden, eine "neue Republik" begründen - das machte er zu seinem Wahlprogramm. Und fuhr damit vor drei Jahren mit 72 Prozent der abgegebenen Stimmen einen überraschend deutlichen Wahlsieg ein . Atmo: 17 Jubel, Hupen O-Ton 17 Sihem Bensedrine: Moi-même... Übersetzerin 1: Ich gebe zu: Ich selber habe ihn auch gewählt - ich habe ihn dem korrumpierten Kandidaten auf der anderen Seite vorgezogen. Er schien mir integer. Aber da konnte ich nicht ahnen, dass er einen Staatsstreich durchführen würde, aber genau das hat er getan. Was er getan hat, ist ein Staatsstreich. Autor: Ein Staatsstreich auf Raten. Im April 2021 blockiert der Präsident die Einsetzung des Verfassungsgerichtshofs. Im Juli löst Kais Saied das Parlament auf und verhängt den Ausnahmezustand. Am 22. September verleiht er sich per Dekret neben der exekutiven auch die legislative Staatsgewalt. Im Februar 2022 wird der Obersten Rat der Richter aufgelöst. Am 25. Juli lässt Kais Saied eine neue Verfassung ohne parlamentarische Beratung per Plebiszit absegnen . Die Wahlbeteiligung liegt allerdings bei nur noch 30 Prozent. Das neue Grundgesetz bricht nicht nur mit der Gewaltenteilung sondern auch mit der staatlichen Neutralität, auf die sich Weltliche und Religiöse 2014 verständigt hatten. In Artikel 5 verpflichtet sich Tunesien jetzt Zitator: "...als Mitglied der internationalen islamischen Umma auf die Einhaltung der islamischen Prinzipien unter einer demokratischen Regierung." Atmo-Collage 7: Statements des Präsidenten Autor: Je länger ich mich im Frühjahr 2023 durch die Clips des Präsidenten auf Facebook oder Twitter arbeite, desto deutlicher fällt mir der Widerspruch ins Auge. Der Vorkämpfer gegen Islamismus formuliert nun eine Agenda, die islamistischer ist, als es die religiös konservative Ennadah je gefordert hatte. Tunesien braucht die Todesstrafe . Der Staat hat die Umsetzung der Prinzipien islamischen Rechts zu gewährleisten. Eine muslimische Frau, die einen Nichtmuslim heiratet, verliert ihr Erbe. Cafés und Restaurants sollen im Ramadan geschlossen werden. Und : Schwule müssen aus der Öffentlichkeit verband werden. Homosexualität sei der tunesischen Gesellschaft wesensfremd . - Atmo Collage Statements des Präsidenten - ausblenden Autor: In einem Interview erklärt der Präsident Zitator: "Das Problem reicht tiefer als bloß in den Anus. Wieso werden die Perversen vom Ausland unterstützt? Dadurch korrumpieren sie die islamische Gemeinschaft und den Staat. (/) Man hat mir gesagt, dass Ausländer ihnen bei uns Häuser vermieten Autor: Auch wenn Saeids Popularität seit Beginn des Staatsumbaus stark gesunken ist- seine Politik findet weiterhin Unterstützer. Atmo: 18 Pro-Saied-Kundgebung, Slogans Frau (arabisch mit engl. Voiceover) Dann Mann, Arabisch Auf einem Marsch durch Tunis jubeln Tausende dem Retter Tunesiens zu. Feiern sich als Patrioten. Eine Frau im traditionellen roten Djellabah-Gewand wettert vor Journalisten gegen jede Einmischung von außen, insbesondere aus dem Westen. Zustimmung auch für die jüngste Kampagne des Präsidenten: Der hat neue Sündenböcke für die Wirtschaftskrise ausgemacht; läßt schwarzafrikanische Einwanderer und Flüchtlinge festnehmen und in ihre Heimatländer ausfliegen. Die etwa 50.000 Migranten ohne Papiere - oft auf dem Weg nach Europa gestrandet- seien eine Verschwörung gegen Tunesien. Bei Vielen hier kommt das gut an."Schickt sie zurück, die Schwarzen nehmen uns die Arbeitsplätze weg" ist immer wieder zu hören. Atmo: 18 Nur ein starker Mann an der Spitze kann die Probleme lösen- Auch wenn es bloß eine Minderheit der Tunesier ist, die dieser Losung folgt, sitzt der Präsident mit der neuen Verfassung fest im Sattel. Es gibt weiterhin eine Regierung, mit Ministern und sogar einer Ministerpräsidentin, doch die Entscheidungen trifft Saied . O-Ton 18 Moncef Marzouki: Now, after ten years, we have once again the come back of a dictatorship. One man holds all the power.... Übersetzer 2: Nach zehn Jahren sind wir jetzt wieder zurück in der Diktatur. Ein Mann hält alle Machtstränge in seiner Hand. Autor: Kais Saieds Amtsvorgänger, Ex-Präsident Moncef Marzouki, läutet schließlich von Paris aus die Alarmglocken. O-Ton 19 Moncef Marzouki: I would call on the current president to resign, I call on the Tunesian people for peaceful resistance to get rid of the dictatorship Übersetzer 2: Ich appelliere an den gegenwärtigen Präsidenten, zurückzutreten. Ich appelliere an die tunesische Bevölkerung, einen friedlich Widerstand zu leisten und sich von der Diktatur zu befreien! Autor: Saied reagiert postwendend. Er lässt die Symbolfigur der tunesischen Säkularisten anklagen, wegen "Angriffs auf die Sicherheit des Staates vom ausländischen Boden aus". Marzouki wird in Abwesenheit zu vier Jahren Gefängnis verurteilt. Unter Tunesiens Politikern macht sich Entsetzen breit. Aber auch Gegenwehr. Bürgerliche und Liberale schließen sich zu einem Bündnis zusammen. Linke und Gewerkschafter zu einem zweiten. Hamma Hammami, der Chef der Arbeiterpartei, hat unter der Diktatur zehn Jahre im Gefängnis verbracht. Als ich ihn über WhatsApp erreiche, reist er durchs Land und versucht Widerstand zu mobilisieren. O-Ton 20 Hamma Hammami: On est au pic Übersetzer 1: Wir sind auf dem Gipfel einer Konterrevolution. Wir erleben die Rückkehr zur Diktatur, bei der es noch absurder zugeht, als zur Zeit Ben Alis. Es geht um ein Regime, das monarchische Züge aufweist und zugleich an die Herrschaft der Religionsgelehrten im Iran erinnert. Exekutive, Legislative, Gerichtsbarkeit, Verfassung in einer Hand - und darüber hinaus nun auch noch die geistliche Macht. Artikel 5 der neuen Verfassung: Der Staat - in diesem Fall repräsentiert von Kais Saied - hat einzig und allein die Hoheit, die Auslegung der Scharia und des Koran zu bestimmen. Autor: Die Blaupause des Autokraten findet sich nach Einschätzung Hammamis jedoch in der europäischen Vergangenheit. O-Ton 21 Hamma Hammami: Ca me rapelle... Übersetzer 1: Mich erinnert das tatsächlich an die Anfangszeit von Hitler, an den Aufstieg von Mussolini. Sie haben Krisen genutzt und der repräsentativen Demokratie angelastet. Wie im Deutschland der 1930er geht es auch in Tunesien heute darum, die Unzufriedenheit der Bevölkerung auszunutzen. den Leuten zu sagen: Die Lösung liegt in der Akklamation, der Akklamation eines Präsidenten, der sich als Erlöser darstellt. Aus meiner Sicht gibt es da große Übereinstimmungen zwischen Kais Saied, dem Professor für Verfassungsrecht und Carl Schmitt, dem Professor für Verfassungsrecht. Wenn man Kais Saied sprechen hört, dann stellt man fest, er übernimmt die Begriffe von Carl Schmitt, dem Vordenker von Hitler. Autor: Carl Schmitt. Ein deutscher Juraprofessor - und als Verfassungsrechtler ein Kollege von Kais Saied - ist heute wieder bei Rechtspopulisten höchst beliebt. Seine Lehre formulierte er nach dem 1. Weltkrieg, schon Jahre vor dem Aufstieg der Nationalsozialisten. Schmitts Leitmotiv war die Ablehnung der repräsentativen Demokratie. Stattdessen forderte Schmitt die "echte" Demokratie: den Führerstaat, in dem der Staatschef als die Verkörperung des traditionellen und gesunden Volksempfindens agiert. Zitator Carl Schmitt: "Volk ist ein Begriff des öffentlichen Rechts." Autor: ... schreibt Schmitt. Zitator Carl Schmitt: "Der Wille des Volkes kann durch Zuruf, durch acclamatio, durch selbstverständliches unwidersprochenes Dasein ebensogut und noch besser demokratisch geäußert werden als durch einen statistischen Apparat, den man seit einem halben Jahrhundert mit einer so minutiösen Sorgfalt ausgebildet hat." Autor: Auch der tunesische Politologe Hatem Nafti zeigt in seinem Buch "Tunesien, dem autoritären Populismus entgegen?" die Parallelen auf, etwa wenn Kais Saied im Eilverfahren eine Verfassung ohne Konsultation entwirft und per Referendum absegnen läßt Getreu der These von Carl Schmitt: Zitat Carl Schmitt: "Das Volk kann nur ja oder nein sagen; es kann nicht beraten oder diskutieren. Es kann nicht regieren und nicht verwalten. Es kann auch nicht normieren, sondern nur einen ihm vorgelegten Normierung- Entwurf durch sein Ja sanktionieren. Es kann vor allem auch keine Frage stellen stellen, sondern nur auf eine ihm vorgelegte Frage mit Ja oder Nein antworten." Autor: Kais Saied: Ein Postfaschist der sich an rechtsnationalen deutschen Denkern orientiert? Ein Säkulares, der geschickt die Anliegen der Religiösen aufgreift und integriert? Ein islamistischer Wolf im Schafspelz? Oder schlicht ein populistischer Autokrat, irgendwo zwischen Ghadaffi und Putin, Bolsonaro und Maduro? Der starke Mann Tunesiens gibt Rätsel auf. Kaum jemand kennt den Präsidenten so gut, wie Jawher Mbarek, auch er ein Rechtsprofessor von der Universität Tunis. O-Ton 22 Jawher Mbarek: Kais Saied... Übersetzer 3: Kais Saied ist mein Kollege. Ich kenne ihn seit 1988. Wir haben zusammen gearbeitet, wir waren an derselben Uni. Wir haben dasselbe Fach unterrichtet: Verfassungsrecht.... Autor: Inzwischen ist Mbarek über das, was sein langjähriger Kollege tut, so alarmiert, dass er das parteiübergreifendes Forum "Bürger gegen den Putsch" gegründet hat: O-Ton 23 Jawher Mbarek Si on veut... Übersetzer 3: Wenn man die Elemente verstehen will, aus denen sich Kais Saieds Ideologie zusammensetzt, entdeckt man eine explosive Mischung. Zunächst die religiösen Einflüsse: Was individuelle Freiheitsrechten betrifft, die Gleichheit von Mann und Frau, oder freie Wahl der sexuellen Orientierung, da vertritt er die Position der Salafisten. 100 Prozent Scharia. Autor: Dazu komme eine Terminologie, wie sie in von Rechtsradikalen im Westen gebraucht wird. O-Ton 24 Jawher Mbarek: Je pense... Übersetzer 3: Ich denke an die faschistische Ausdrucksweise, wenn er die Oppositionellen als Ungeziefer, als Bakterien, Mikroben bezeichnet oder als Alkoholiker.Widersprüchlicher Weise, steht er aber auch unter dem Einfluss einer extremen Linken. Einer Gruppe namens Wahdat Thauri, "revolutionäre Einheit". Ihr bekanntestes Gesicht ist Ridha Chihab Mekki, genannt "Ridha Lénine". Seine Gruppe setzt sich für die Zerschlagung des Staates ein. Stattdessen soll man dem Volk seine Souveränität zurückgeben durch eine Art Selbstverwaltung im Rahmen lokaler Volkskomitees, sollten die Macht übernehmen. Das ist eine der Slogans von Kais Saied: Das Volk will Und es weiß, was es will. Atmo: 19 Fragen an "Lénine" - Lénine antwortet Autor "Lénine", wie Kais Saieds Vertrauter Ridha Chihab Makki allgemein genannt wird, verdankt seinen Nom de Guerre sowohl seiner Feindschaft gegenüber der liberalen Demokratie wie auch dem an Lenin erinnernden Spitzbart. Schon als Wahlkampfstratege an der Seite von Kais Saied, hat er sich das Image einer grauen Eminenz erworben. Anders als der Präsident, scheut Monsieur Lénine die Öffentlichkeit nicht. Als Gast tritt er gern in Talkrunden auf, oder lädt zu Veranstaltungen in Literaten-Cafés ein und skizziert dort die Umrisse der neuen, der wahren Demokratie. - Atmo ausblenden Aus Monsieur Lénines oft stundenlangen Auftritten picken Nachrichtenkanäle und Onlineplattformen anschließend gerne schlagwortartige Passagen heraus wie: Zitator Lénine: "Wir haben die Vision einer Demokratie, die ganz unten, im Schoß des Volks geboren wird und die von dort aus in Richtung eines Zentrums aufsteigt." Autor: Oder: Zitator "Lénine" "Wie kann man jemanden wählen und ihn erst nach fünf Jahren wieder einem Urteil unterziehen - wo bleibt da die Logik?" Autor: Oder: Zitator Lénine: "Eine Epoche ist zu Ende und eine neue fängt jetzt an. Schluss mit den Vermittlern. Die Stunde schlägt für die direkte Beziehung zwischen dem Volk und dem öffentlichen Interesse." Autor: Überflüssige Vermittler zwischen Führung und Volk - das sind im Denken Ridha Lénines vor allem die Parteipolitiker. Dieselbe Gruppe taucht auch immer wieder auch im Diskurs von Präsident Kais Saied auf - als eine Art schmarotzender und selbstgefälliger Elite mit Wurzeln im Westen statt in der eigenen Gesellschaft. Der besondere Hass des habilitierten Juristen Saied gilt aber seinen Berufskollegen. Ein paar Tage nach unserem Treffen im Justizpalast meldet sich Anas Hmadi der Präsident des Richterbundes und bittet mich noch mal vorbeizukommen. Die Situation, habe sich verschärft. Richter würden inzwischen schikaniert oder wie Staatsfeinde behandelt. O-Ton 25 Anas Hmadi: Vous savez que les magistrats... Übersetzer 2: Einige wurden am Reisen gehindert. Oder sie wurden erst außer Landes gelassen, nachdem Beamte an der Grenze mit dem Innenministerium telefoniert haben. Der Betroffene wartet eine, zwei, drei Stunden, es gab Kollegen die deshalb ihren Flug versäumten. Andere wurden gar nicht erst aus dem Land gelassen. Autor: Hinzu kämen nun auch Einschüchterungskampagnen über soziale Medien, eine Art digitaler Pranger, vorgeblich spontaner Ausdruck national gesinnter Bürger. O-Ton 26 Anas Hmadi: Ces pages... Übersetzer 2: Auf Facebook-Seiten werden Fotos von unbequemen Richter veröffentlicht, zusammen mit den Namen und persönlichen Angaben. Es werden Listen erstellt. Da heißt es: Herr Präsident, setzen sie diese Richter ab. Das sind Terroristen, die sind korrupt, das sind keine Patrioten! Sie wollen nicht die Entscheidungen des Präsidenten umsetzen! Der Präsident soll über alles entscheiden und die Richter haben das gefälligst umzusetzen. Mein Foto, Name, der Name von Madame Aycha Belhassen, außerdem der Name unserer Ehrenpräsidentin, sie alle wurden in diesem Zusammenhang veröffentlicht! Autor: Am 31. Januar 2023 festigt Saeid seine Macht in der zweiten Runde der tunesischen Parlamentswahlen. Die Beteiligung liegt bei gerade noch 11 Prozent. 19 a Atmo: Autofahrt Khayam Chebli, der tunesische Repräsentant von Avocats Sans Frontières, Anwälte ohne Grenzen, fährt an diesem Tag die Wahllokale ab. Überall verzeichnet er nur minimale Beteiligung, mancherorts Leerstand. Der Präsident habe offensichtlich mit seinen neuen Wahlrichtlinien die Menschen nicht zu einer höheren Beteiligung bewegen können. O-Ton 27 Khayam Chebli: L'élection Übersetzer 1: Gewählt werden dürfen nur noch Personen, keine Parteienlisten. Es geht um eine schrittweise Abschaffung der Parteien überhaupt. Aber geben Sie mir nur ein Beispiel dafür, dass irgendwo auf der Welt eine Demokratie ohne politische Parteien funktioniert. - Atmo Autofahrt läuft weiter, darauf: Autor: Die neuen Spielregeln, bei denen direkt gewählte Vertreter aus allen 264 Regierungsbezirken des Landes das Volk gegenüber dem Präsidenten ohne Umwege vertreten sollen, höre sich zunächst basisdemokratisch an. Tatsächlich sichert es nach Überzeugung der Anwälte ohne Grenzen jedoch die Vorherrschaft für alte und neue Machtgruppen. Entgegen aller antielitären Rhetorik. O-Ton 28 Khayam Chebli: Maintenant... Übersetzer 1: Bei dieser Art Elite ist zu aller erst entscheidend, wer im jeweiligen Viertel das meiste Geld hat. Es handelt sich aber auch um Elite in einem patriarchalen Sinn. Denn unsere Gesellschaft wird immer noch vom Patriarchat dominiert. Vor Ort in den Vierteln können viele sich nicht vorstellen, eine Frau zu wählen. Und drittens favorisiert das System auch eine Elite im Tribaden Sinn der Abhängigkeit und Unterordnungen einzelner Gruppen. Vorher trug das Wahlrecht dazu bei, die gesellschaftlichen Verwerfungen zu beheben oder zumindest zu regulieren, die durch das Patriarchat zustande kamen. Jetzt geht es wider in die Gegenrichtung. Wir werden in Tunesien ein Parlament erleben, mit einem Frauenanteil von unter zehn Prozent. Zitator Saeid: "Die repräsentative Demokratie der westlichen Staaten ist gescheitert. Ihre Ära ist zu Ende." Parteien sind eine Organisationsform, die zu einer bestimmten Zeit der menschlichen Geschichte dominant war, im 19. und 20. Jahrhundert. Aber die Revolution der Kommunikationstechnologien hat sie inzwischen marginalisiert. Der Todeskampf der Parteien kann sich noch eine Weile hinziehen. Aber ihre Rolle wird spätestens in ein paar Jahren endgültig vorbei sein." Autor: Mit seinem Credo versteht sich der tunesische Präsident offenbar als Vordenker, als ein Mann mit Visionen, weit über sein Land hinaus. Für Jawher Mbarek vom Bürgerforum gegen den Putsch macht ihn das besonders gefährlich. O-Ton 29 Jawher Mbarek Comme tous les... Übersetzer 3: Wie alle messianischen Populisten glaubt er, den Schlüssel zum Paradies zu haben. Dass an ihm das Heil der Tunesier liegt, ja der gesamten Menschheit. Er ist ein eingeschworener Populist. Er glaubt, er habe die Zauberformel gefunden, mit deren Hilfe er die Menschheit aus der Krise der repräsentativen Demokratie führt! Wir werden die Tunesier dazu aufrufen, bei dieser Maskerade nicht mitzuspielen. Wir haben den Weg der demokratischen Opposition gewählt, der legalen Opposition. Wir setzen auf die friedliche, demokratische Mittel. Wir organisieren Demonstrationen, in Tunis und in den anderen Regionen. Wir versuchen, die politisch Aktiven zu einer gemeinsamen Kraft zu vereinen gegen den Plan von Kais Saied. Wir kommen gut damit voran. Atmo: 20 Unkommentierte Atmo Protestveranstaltung, "Bürger gegen den Putsch" von Jawher Mbarek Autor: Doch als ich kurze Zeit später mit Jawher Mbarek eine weiteres Treffen vereinbaren möchte, erreiche ich ihn nicht am Telefon. Auch WhatsApp-Nachrichten bleiben unbeantwortet. Wie ich später erfahre wurde er kurz nach den Wahlen verhaftet. Hamma Hammami von der Arbeiterpartei ist noch frei, rechnet allerdings damit, so wie schon einmal, in den Untergrund gehen zu müssen. O-Ton 30 Hamma Hammami: Ces derniers jours il a procédé... Übersetzer 1: In diesen letzten Tagen hat der Präsident angefangen, eine Reihe von Leuten festnehmen zu lassen. Nach unserer Meinung ist das seine Methode, seine Pleite mit den Wahlen zu verstecken. 90 Prozent aller stimmberechtigten Tunesier haben nicht gewählt, weder bei der ersten noch bei der zweiten Runde. Autor: Anfang März gerät das tunesische Drama kurzzeitig ins Blickfeld der Weltöffentlichkeit CNN, Tagesschau , Al Jazeera und African news berichten O-Ton 31 Reportage: Autor Trotz Demonstrationsverbot zogen hunderte durch die tunesische Hauptstadt. Sie forderten die Freilassung von mehr als 20 prominenten Persönlichkeiten, die in den letzten Wochen verhaftet wurden. Ihre Botschaft laute 'Nein zur Angst'", erklärte ein Mitglied der Nationalen Heilsfront bevor die Polizei einschritt - Man werde nicht zulassen dass ein "Junior Hitler" das Land in Brand setze und zerstöre" Kais Saieds mit Abstand wichtigster innenpolitischer Rivale Rachid Ghannouchi, Führer der islamisch-konservativen Ennahda Partei, ist zu diesem Zeitpunkt noch auf freiem Fuß. Bei unserem Treffen warnt der 82-Jährige davor , den politische Islam in die Illegalität zu drängen O-Ton 32 Ghannouchi: Arab. Übersetzer 1: Die Strategie hat sich schon einmal als verfehlt erwiesen. Die Kriminalisierung war die Politik von Diktator Ben Ali. Sie hat Tunesien nicht zu einem Bollwerk gegen Extremismus und Gewalt gemacht. Im Gegenteil, sie hat Extremismus und Gewalt erst hervorgerufen, weil sie die moderaten islamischen Parteien vom politischen Leben ausgeschlossen hat. Was wir wollen, ist ein System der Gewaltenteilung. Autor: Kurz darauf erhalte ich eine Textnachricht von Sihem Bensedrine, der Leiterin der Wahrheitskommission. Übersetzerin 1: Mir wurde verboten das tunesische Staatsgebiet zu verlassen. Ein Untersuchungsrichter hat mich vorgeladen und mir mitgeteilt, dass gegen mich Anklage erhoben wurde - wegen "angemaßter und ungerechtfertigter Vorteilsnahme im Namen des Staates" Autor: Sie rechne mit einer Verhaftung. Wenn ich sie sprechen wolle, dann jetzt. Sihem wohnt etwas außerhalb von Tunis in einer Siedlung namens Raed Plage. Atmo 21 Wind, Wellen, knirschende Schritte über Sand und Muscheln Autor: Ein langer Strandspaziergang. Schon einmal - zum Ende der Ben Ali Diktatur - war ich auf diesem Weg zu ihr unterwegs und hatte den Polizeikordon vor ihrem weiß geziegelten Reihenhaus passiert. Atmo 10a Straße, Walkie Talkies Autor: Diesmal ist keine Staatsmacht sichtbar. Es herrscht eine Ruhe, die mir fast gespenstisch vorkommt. Atmo 21: Strand, Wind, Wellen Die Anklage stütze sich offiziell auf ihre Tätigkeit als Vorsitzende der Wahrheitskommission, berichtet die Menschenrechtlerin. O-Ton 33 Sihem Bensedrine: Tout un volume... Übersetzerin 1: Ein großer Teil des Abschlussberichts beschäftigt sich mit der Korruption und ihren Mechanismen. Und daraus hervorgegangen ist unsere Anklage gegen dreißig Diebe in Nadelstreifen, die zur Prominenz gehören. Die nehmen es jetzt nicht hin, dass sie über ihre Taten Rechenschaft ablegen sollen. Autor: Vor Gericht zitiert wird sie von ehemaligen Kader der Ben-Ali- Herrschaft. O-Ton 34 Sihem Bensedrine: Beaucoup... Übersetzerin 1: Ex-Minister aus der Zeit Ben Alis sind heute wieder als Berater des Präsidenten und der Regierungschefin tätig. Eine ist Vizegouverneurin der tunesischen Zentralbank. Diese Leute wurden auf mein Betreiben vor Gericht geladen. Und sie sind es, die jetzt fordern, dass ich angeklagt werde. Sie sagen, ich sei korrupt, weil ich ihren Nepotismus entlarvt habe Sie verlangen, dass die noch bestehende Strafkammern der Übergangsjustiz aufgelöst werden und unser Bericht aus dem Staatsanzeiger gestrichen wird. Autor: Mit dem unbescholtenen Außenseiter, dem Quereinsteiger mit Anleihen beim Rechts- und Linksradikalismus, versetzt mit religiösem Fundamentalismus, - mit dem Autokraten Kais Saied und seinem Kampf gegen die Zivilgesellschaft habe die alte Garde ein Aushängeschild gefunden um wieder aufzuerstehen. Davon ist Bensedrine überzeugt . Hinter Saieds Slogans vom Volkswillen lauere eine gut organisierte Macht die bereits bewiesen habe, dass sie auch vor Folter und Mord nicht zurückschreckt. O-Ton 35 Sihem Bensedrine: La peur, elle est présente... Übersetzerin 1: Die Angst ist wieder da. Menschen fürchten sich vor den Greifarmen einer Diktatur, die sich aufs neue erhebt und jede Art von Freiheit bedroht. Autor: Mitte April zieht der Machthaber in Tunis die Daumenschrauben weiter an. Rachid Ghannouchi, der Führer der religiösen Ennhada der mitgliederstärksten Partei des Landes, wird aus dem Haus geholt und an einen unbekannten Ort gebracht. Tunesien - ein Jahrzehnt lang die einzige funktionierende Demokratie in der Region - mit freier Rede und unabhängiger Justiz. Das Musterland im Maghreb auf dem Weg zu einer Diktatur, oder gar schon dort angekommen? Malte Gaier, mein Gesprächspartner von der Konrad-Adenauer-Stiftung in Tunis will den Begriff nicht benutzen. O-Ton 36 Malte Gaier Ich glaube auch, dass wir ganz vorsichtig sein müssen mit dieser Bezeichnung. Sie werden das natürlich des öfteren hören, beispielsweise von Vertretern der Zivilgesellschaft. Autor: Doch egal wie das Regime zu kennzeichnen sei, und wohin es sich noch entwickele: Auch dieses mal werde der Westen schwierige Abwägungen zu treffen haben. O-Ton 37 Malte Gaier In der aktuellen Situation, wo Tunesien nicht mehr unser Favorit ist, wenn es darum geht, Werte-Partnerschaften zu pflegen, wenn wir ganz klar sagen können: Tunesien hat sich vom Hoffnungsträger der Demokratie in ein Land gewandelt, das mehr und mehr in autokratische Gefilde abdriftet, dann ist die Frage, wo hier unsere Interessen hier noch stehen: sei es beispielsweise vor dem Hintergrund der Migrations-Bewegung aus Subsahara-Afrika, der neuen Migrations-Bewegung über das Mittelmeer aus dem kompletten Maghreb. Selbst wenn sich das Narrativ von Tunesien als demokratischem Leuchtturm radikal geändert hat, haben wir natürlich ein erhebliches strategisches Interesse an dieser Partnerschaft mit Tunesien. Absage: Der letzte Frühling Tunesien und der Traum von der arabischen Demokratie Ein Feature von Marc Thörner Es sprachen: Jochen Langner, Daniel Berger, Elisabeth Hartmann, Rainer Homann, Tom Jacobs und Bernd Reheuser. Technische Realisation: Werner Jäger und Jens Peter Hamacher Regieassistenz: Farah Wind Regie: Claudia Kattanek Redaktion: Thomas Nachtigall Eine Produktion des Westdeutschen Rundfunks mit dem Deutschlandfunk 2023. 2