Hörspiel Feature Radiokunst Das Feature "Erschossen in Moskau" Erinnerung an deutsche Opfer des Stalinismus Autor und Regie: Mario Bandi Redaktion: Wolfgang Schiller Produktion: Deutschlandfunk 2019 Erstsendung: Dienstag, 17.12.2019, 19.15 Uhr Wiederholung: Dienstag, 26.09.2023, 19.15 Uhr Es sprachen: Katharina Palm, Benjamin Berger, Romanus Fuhrmann und Markus Hoffmann Ton: Jean Szymczak Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. © - unkorrigiertes Exemplar - Atmo: Versammlung auf der Strasse. O-Ton: Stefan Krikowski Der heute in Kronenberg in Hessen lebende Günter Aurich bestätigte mir neulich am Telefon - Zitat: Ein viel schlimmeres Schicksal erlitten drei der vier zum Tode Verurteilten: unser Klassenkamerad Hans Eisfeld, unser Schulkamerad Helmut Peichert und Heinz Baumbach, der aus einem anderen Ort stammend, den meisten von uns unbekannt war. Autor: Stefan Krikowski, Sprecher der Lagergemeinschaft Workuta / GULag Sowjetunion O-Ton: Stefan Krikowski Wir waren alle fest davon überzeugt gewesen, dass ihre Todesurteile ... in Haftstrafen umgewandelt werden würden. Aber sie kehrten nicht zurück... Autor: Treffurt, eine Kleinstadt in Thüringen - mit Fachwerkhäusern, Kirchtürmen, und der Burg Normannstein hoch über der Stadt. O-Ton: Bürgermeister: Tanja war bei mir im Rathaus und erzählte mir die Geschichte ihres Großvaters Heinz Baumbach. Mir war sie nicht bekannt, ich wusste darüber nichts... Autor: Michael Reinz, der Bürgermeister von Treffurt O-Ton: Bürgermeister: Deshalb sind wir auch stolz, als Stadt Treffurt die erste Tafel in Empfang nehmen zu dürfen, das ist eine große Ehre, wobei das Schicksal, was dazu geführt hat, wohl ein ganz trauriges ist. Autor: 30. August 2019. In der engen Bergstrasse am Haus Nummer 40 versammeln sich Einwohner der Stadt, um an einen ihrer Bürger zu erinnern und eine kleine stählerne Tafel an der Wand seines früheren Hauses anzubringen. Die Aktion ist Teil eines Projekts, das in Russland entstanden ist und sich zum Ziel gesetzt hat, allen Opfern des Stalinismus zu gedenken. O-Ton: Tanja Hartmann Ich habe ziemlich oft versucht mich hineinzuversetzen... Meine Oma und meine Mama, aber ich glaube das kann man nicht, was sie durchmachen müssen... Autor: Tanja Hartmann, die Enkeltochter von Heinz Baumbach O-Ton: Tanja Hartmann Meine Oma war 21 Jahre alt. Allein mit Baby, mit der Angst, Wut und Trauer und anhaltender Ungewissheit was mit ihrem Mann passiert ist. ... Um so trauriger ist, dass sie die Wahrheit und die Rehabilitierung nicht mehr mitbekommen hat. Ansage: "Erschossen in Moskau". Erinnerung an deutsche Opfer des Stalinismus Ein Feature von Mario Bandi Archiv- O-Ton: Radioübertragung der Rede des Präsidenten der DDR Wilhelm Pieck zu Stalins Geburtstag Autor: Die Festrede des Präsidenten der gerade erst gegründeten DDR, Wilhelm Pieck, zum 70.Geburtstag Stalins. Sprecher 1: Aurich, Buch Im Umkreis von Altenburg war die Übertragung dieser Rede am Abend des 20. Dezembers 1949 häufig von Störsignalen überlagert und unverständlich gemacht worden. Am Ende konnte man einen kurzen Kommentar dazu hören, der ganz sicher nicht über die DDR-Rundfunkanstalten ausgestrahlt worden war. Tatsächlich hatten Mitglieder der Gruppe von Wolfgang Ostermann, dem Lateinlehrer in der Meuselwitzer Schule, in einem waghalsigen Unternehmen einen Sender zusammengebastelt und die Rede auf diese Weise gestört. Autor: Gegen die etablierte stalinistische Gewaltherrschaft waren hier und da kleine Widerstandsgruppen entstanden, die Kontakte nach Westdeutschland suchten. Die westlichen Geheimdienste arbeiteten gegen das sowjetische MGB – das Ministerium für Staatssicherheit - und nutzten die allgemeine Not in der DDR, Geldnöte, Übersiedlungswünsche und vor allem den stummen politischen Protest. Der Kalte Krieg hatte begonnen, und er traf die junge Generation, für die schon einmal eine Welt zusammengebrochen war. Sprecher 1: Aurich, "Und der Morgen leuchtet in der Ferne" Beinahe alles, woran er bisher geglaubt hatte, war falsch und unwahr gewesen. Er fühlte sich verführt und betrogen. Autor: Hans Günter Aurich, Jahrgang 1932, in seinem autobiografischen Roman "Und der Morgen leuchtet in der Ferne". Die jungen Meuselwitzer um den Lateinlehrer Ostermann sind seine Schulkameraden. Sie haben die harte Schule des Lebens in den ersten Nachkriegsjahren absolviert: Hamstern, Kohlenklau und Steineklopfen, Ährenlesen und Kartoffelstoppeln. O-Ton Aurich: ...vor allen Dingen wie man die vielen Parolen, die überall über die Straßen hingen, las, über die Freundschaft mit der Sowjetunion, da merkte man, dass das im Grunde genommen genau die gleiche Propaganda war, wie das auch zuvor von Nationalsozialisten gemacht wurde. Autor: Hans Günter Aurich in einem Interview 2014 für die Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED Diktatur. Musik: Autor: 1950 geht ihre Schulzeit zu Ende. Zwischen dem Unterricht und Klassentreffen mit Tanz und Bier, beginnen die ehemaligen Pimpf- und Jungvolkführer sich Gedanken zu machen, was ihnen die Zukunft bringen würde. O-Ton Wirth: Ostthüringen,Meuselwitz. Ein kleines Städtchen war das. Dort war keine große Kommandantur, oder sonst was, auch keine Militäreinrichtung. Gar nix. Das sind 70 Jahre her. ... Das war sogar in der Zeit ...bevor man sich Intensiv mit Mädchen beschäftigte. Wir waren 15-16 Jahren alt… Wir hatten eine Diskussionsgruppe gehabt. ... Autor: Einer von ihnen heißt Frieder Wirth, gleichaltriger Mitschüler von Hans Günter Aurich. O-Ton Wirth: Die politischen Verhältnisse durch diskutiert. Diese Unfreiheit und vor allem diese Lüge, die man uns auftischte. Man hat uns erzählt, dass wir in der Freiheit und Demokratie leben würden, ja? ...Und trotz nur unter Zwang und Druck lebten. O-Ton Aurich: Es ist also so ... dass der Ostermann... meine beiden Freunde, Fritz Harnisch und Klaus Kilger und mich angesprochen hat nach dem Unterricht mal und durchblicken ließen, es gebe im Altenburg eine Widerstandsgruppe und uns quasi angeworben hat für diese Widerstandsgruppe... O-Ton Wirth: Das ist ein Lehrer, der dabei war, der Ostermann und noch zwei Mitschüler von mir... Das ist diese dumme Idee, weil ein Antifaschist ist ein Kommunist. Und ein Antikommunist ist gleich ein Faschist. ...Ich kann mich aber genau erinnern, Dass das größte war für uns nicht die amerikanische Demokratie, englische oder französische Demokratie, sondern die neuseeländische Demokratie. O-Ton Aurich: ...Der Ostermann hat uns einzelne Flugblätter mitgegeben. ... Und hat gesagt ihr könntet mal mit dem vorsichtig den oder jenen ansprechen. Aber jeder von uns sollte nur eine Gruppe von drei Mann betreuen und die sollen dann versuchen noch wieder weitere anzuwerben. Aber es sollte möglichst wenig untereinander voneinander wissen. Sprecher 1: Aurich-Buch .... Der Inhalt der Flugblätter ... richtete sich insbesondere gegen die Aufstellung einer einzigen Einheitsliste bei den Wahlen zum sogenannten Volkskongress, gegen das Übermaß der Reparationen, die von den Sowjets aus ihrer Besatzungszone herausgepresst wurden, gegen die Unterdrückung der Meinungsfreiheit und den Hass und die Lüge in den Medien als Mittel des Kampfes gegen alle Gegner des Kommunismus. O-Ton Wirth: ... das ist paar Mal geschehen, das war aber alles, aber da ist keine terroristische Handlung in irgendeiner Form durchgeführt worden. Oder irgendein terroristischer Akt, nicht mal ein Stein aus der Straße rausgenommen, nichts. Oder einen Nagel auf die Schiene gelegt, nichts geschehen. Wir sprachen ...davon dass man Widerstand leisten … Autor: Sie haben keine Ahnung mit welchem Gegner sie sich da anlegen. Zur selben Zeit sind bereits Millionen Sowjetbürger im Gulag verschwunden. Unter ihnen die aus Konzentrationslagern befreiten sowjetischen Kriegsgefangenen, die geretteten Zwangsarbeiter und die von den Verbündeten an Stalin ausgelieferten russischen Emig ranten der 20-er Jahre. Musik: Parteilied Autor: In der DDR sind rund 3000 Spitzel im Auftrag des sowjetischen Ministeriums der Staatssicherheit - MGB - tätig. Im März 1950 fliegt Ostermanns Gruppe "Antikominform" auf. Der Lateinlehrer wird verhaftet und verschwindet hinter den Toren des Gefängnisses in der sowjetischen Militär-Administration in Weimar. Am 12. Dezember 1950 wird er in Moskau erschossen. Die Schüler seiner Gruppe bleiben fürs erste unentdeckt. O-Ton: Führung Ein paar Tage nach der Potsdamer Konferenz wurde dieses komplette Areal, 16 Hektar rund 100 Gebäude beschlagnahmt und in einen Sitz der sowjetischen Spionageabwehr umgewandelt. Ab 1945 wird III KGB Hauptabteilung. ... als die Villen beschlagnahmt wurden, die Familien mussten von einem Tag auf den anderen einfach so ihre Häuser verlassen. Die haben keine Notunterkunft bekommen. Autor: Nur 500 Meter vom Cecilienhof entfernt - wo Stalin mit den anderen Häuptern der Siegermächte die Demokratisierung Deutschlands unterschrieben hatte - entstand eine Insel des "Archipels GULag", das Militärstädtchen Nr.7. Es war eines von 1000 solcher Militärstädtchen in der DDR, aber das wichtigste und größte. Autor: Die Mitarbeiterin der Gedenk- und Begegnungsstätte Leistikowstraße, Mylene Scheuer, geht mit gut zwanzig Besuchern durch die Straßen der für die Potsdamer damals "Verbotenen Stadt". 019 O-Ton: Führung Die hatten alle russische Namen. Das war hier wie ein kleines Russland.. Wie ein russisches Dorf, es gab einen Kindergarten, Friseursalon, um in die Grundschule zu gehen mussten die Kinder nicht das Gelände verlassen, um in das Geländer reingehen zu können benötigte man einen speziellen Passierschein. Autor: Hier lebten Offiziere und ihre Frauen, in den Kasernen waren die Wachsoldaten untergebracht. Nachts kamen Autos und LKWs durch das Tor mit den Posten und fuhren weiter in den Hof eines zweistöckiges Gebäudes, das ebenfalls streng bewacht wurde. Musik: Stalinlied O-Ton: Hannelore Schwanz Treffurt war ja ein Sperrgebiet, durfte nicht jeder rein. Das ging nur mit Passierschein. Auch die Verwandtschaft die kam nicht so einfach nach Treffurt. ...Wegen der Grenze. ... Autor: Hannelore Schwanz, Rentnerin, ist die Tochter von Heinz Baumbach. Er ist einer von fast eintausend Deutschen, die im Totenbuch "Erschossen in Moskau" aufgeführt sind. Das Buch wurde 2005 von der Gesellschaft für historische Aufklärung "Memorial" in deutscher Sprache herausgebracht. Sprecherin: Heinz Baumbach, Bergarbeiter, Installateur, geboren am 11. Juni 1926. Zuletzt wohnte er in Treffurt, Thüringen. Baumbach stammte aus einer Arbeiterfamilie, war verheiratet und hatte eine Tochter. Als 18-Jähriger wurde er 1944 eingezogen und diente als Soldat in einer Fallschirmjägereinheit der Luftwaffe in Frankreich. Im August desselben Jahres geriet Baumbach in US-Kriegsgefangenschaft, nach Übergabe des Gefangenen nach Großbritannien kehrte er nach Deutschland zurück. O-Ton: Hannelore Schwanz ...Das hat mir meine Großmutter oft erzählt. Er ist von der Arbeit gekommen, er war ein Installateur, ... kam von der Arbeit und hat sein Waschwasser hingestellt, wollte sich waschen. Da kam ein Freund, das war sogar ein Freund auf der Polizei, den kannte er gut. Und hat gesagt: Hier Heinz, du sollst in das Rathaus kommen, die wollen eine Auskunft von dir. Autor: Heinz Baumbach kannte ein einziges Mitglied der Meuselwitzer Widerstandsgruppe: Helmut Paichert, der mit seiner Familie nach Treffurt gezogen war. Für den sowjetischen Geheimdienst war das genug. O-Ton: Hannelore Schwanz Und da hatte meine Großmutter irgendwie schon so einen Riecher gehabt, dass er konnte hier bei uns hinten über den Garten hinten raus und dann über die Grenze - Ihn hätte keiner bemerkt. - Nee, ich bin mir keiner Schuld bewusst. Die wollen nur eine Auskunft, ich komme gleich wieder. Er hat sein Waschwasser stehen gelassen, hat seine Arbeitsjacke wieder angezogen und ist fort. Auf der Polizei saßen da drei Mann. In schwarzem Ledermantel, wurde mir gesagt, und dann sollte er in einen Jeep rein und fort gleich... Sprecherin: Heinz Baumbach wurde während seines Urlaubes am 10. Mai 1952 in seinem Heimatort Treffurt als Mitglied einer Widerstandsgruppe von Meuselwitzer Schülern verhaftet. O-Ton: Hannelore Schwanz ...Dann ging das um die Stadt, das ist eine kleine Stadt, dann ging das rum warum, weswegen? Sprecherin: (aus dem Buch "Erschossen in Moskau") Noch im Dezember 1951 plädierte eine vom Moskauer Politbüro eingesetzte Kommission in ihrem Entwurf „Über die Verbesserung der Tätigkeit sowjetischer Militärtribunale in Deutschland" dafür, Angehörige „nur in notwendigen Fällen" über ein Todesurteil zu informieren, in den meisten „ungeeigneten Fällen" dagegen ...mit „einer Erklärung darüber, dass dem Verurteilten der Postverkehr nicht erlaubt ist", zu begnügen. O-Ton: Hannelore Schwanz Und wenn er da abgeholt worden ist, dann musste er was gemacht haben, was schlimmer ist, ein Verbrecher, das haben sie zu meiner Mutter dann auch Spüren lassen, Ja das ist nicht einfach, als Verbrecher-Frau dargestellt zu werden. Eines Abends dann - das hat mir meine Großmutter auch erzählt, Ich war nur ein Jahr alt, dass sie mich auf den Arm hatte und wollte In die Werra gehen... Wir haben einen größeren Fluss hier ... wollte sich umbringen. O-Ton Wirth: ...Wir haben das Abitur inzwischen gemacht … Studium angefangen, ...Und dann plötzlich, Ist einer, der eine Verbindung zu uns hatte, der ist nach Westberlin gegangen und in irgendeiner russischen Emigranten Organisation NTS - Nazionaly Trudowoj Sojus - so hieß die. In deren Fänge geraten und für die Flugblätter in die DDR gebracht. Autor: Diese Organisation russischer Emigranten gab es seit 1930 - zuerst als "Bund der Russischen Jugend". Sie hatte sich den Sturz des Bolschewismus in Russland zum Ziel gesetzt. Die NTS war während und nach dem Krieg aktiv gegen die Sowjetunion tätig, verteilte Flugblätter und antisowjetische Literatur, und versuchte mehrmals, ein Agentennetz in der UdSSR aufzubauen. Der sowjetische Geheimdienst verübte seinerseits Mordanschläge gegen führende Mitglieder der NTS in Westdeutschland. Sprecherin: Fritz Humprecht. Eisenbahner. Geboren am 20.12.1930. Zuletzt wohnte er in Berlin-Friedenau. Humprecht stammte aus einer Angestelltenfamilie und war ledig. Seit 1947 ein Mitglied der LDP, der Liberal Demokratischen Partei in der DDR. Humprecht wurde am 14. Februar 1952 in Ost-Berlin als Mitglied der Meuselwitzer Widerstandsgruppe bei der Verteilung von Flugblättern festgenommen. O-Ton Wirth: ...und ist natürlich dabei erwischt worden, und hat seine ganze Vita geschildert, wie er dazu gekommen war, und der und der und der war auch in der Gruppe dabei, in dieser Diskussionsgruppe. Sprecherin: Wirth, Ernst Frieder, geboren 1932. Einwohner der Stadt Meuselwitz, ledig, Laborant im Chemiebetrieb in Böhlen bei Leipzig. Verhaftet am 21. April 1952 von den Organen der Spionageabwehr des MGB. O-Ton Wirth: ...ich war auf der Arbeit, Ich habe ein Praktikum gemacht, da wurde ich zur Personalabteilung gebeten, und dann sagte er: Hier sind zwei Herren, sie haben einige Fragen an Sie. Dann musste ich mitgehen und das waren schon Russen In Zivil zwar, und dann bin ich zuerst nach Leipzig gekommen, sie haben mir erst gesagt: wir wollen Sie als einen Zeugen befragen ...Und das war's dann... Und von Leipzig auch im PKW befördert worden aber mit Handschellen schon nach Potsdam in die Leistikow Straße. Dort war die ganze Untersuchungshaft in der Leistikow Straße. Autor: Hans Günter Aurich wird vier Tage später, am 25. April in Meuselwitz verhaftet. Auch von den Herren in Zivil mit Revolvern in den Taschen. O-Ton Aurich: Aber ganz furchtbar war das Gefühl, als ich in Potsdam angekommen war. In dieser Kellerzelle, wo ich saß und wusste nicht wo ich überhaupt war. Und was werden würde. ...ich habe wirklich nicht im Geringsten an die Situation mit Humprecht gedacht ... ich hatte auch mit dem Humprecht abgesehen von dem Zusammentreffen mit ihm, wo er mich überreden wollte irgendwelche Spionagenachrichten zu sammeln, was ich strikt abgelehnt habe. Und dann habe ich ihm ... erzählt was Helmut Tisch bei der Volkspolizei macht. Kasernierte Volkspolizei. Darauf habe ich gesagt: das weiß jedes Kind. Die machen eine militärische Ausbildung. Das habe ich in meiner Naivität dem Untersuchungsrichter Volkov erzählt. Und er hat das dann aufgeschrieben, Ich habe Humprecht Spionagenachrichten vermittelt. Das ist ein ganz typisches Beispiel, so sind viele Geständnisse zustande gekommen. Autor: Für das sowjetische MGB ist es ein großer Erfolg, den 22-jährigen Fritz Humprecht zu fassen und über ihn eine ganze Gruppe von vermeintlichen Spionen und Terroristen zu entdecken, die über Westberlin bis in kleinste Städte der DDR wie Meuselwitz und Treffurt vernetzt sind. Atmo: O-Ton Führung: Dieses Gebäude war ursprünglich das Geschäftshaus der evangelischen Frauenhilfe. ... Das ganze wurde in ein Untersuchungsgefängnis umgewandelt. Sie sehen einige Fenster zugemauert und zugegittert wurden. Das waren die einzelnen und Sammelzellen. Die Fenster, die nicht zugemauert wurden, dort fanden die Verhöre statt. Ansonsten sehen sie nur eine Metallplatte die eingefügt wurde, die sogenannte Sichtblende. Dir wurde deshalb eingeführt damit die Häftlinge keinen Blickkontakt unter sich aufnehmen konnten und keine Papierkügelchen zu sich werfen konnten. Keine Flucht organisieren, oder einen möglichen Aufstand. Atmo: Eisentür. Autor: Das ehemalige Untersuchungsgefängnis Leistikowstrasse ist heute eine Gedenkstätte. Eine Ausstellung informiert über das Schicksal der deutschen Häftlinge. Sie wird gut besucht. Zu sehen sind die Verhörräume, die Waschanlagen, die Zellen im Keller, der kalte engen Karzer ohne Fenster, wo man als Sonderstrafe tagelang nur stehen konnte. 1952 werden die Meuselwitzer auf verschiedene Kellerzellen verteilt. Manchmal gelingt es - unbemerkt von den Wachposten - an die Wände zu klopfen und mit anderen Häftlingen nebenan zu kommunizieren. O-Ton Aurich: Ich habe versucht. Durch die Klopferei habe ich ja mitgekriegt, dass Humprecht sogar zum Tode verurteilt worden ist ... Das hatte zur Folge, dass man wirklich Todesangst hatte. Sprecherin: Das Sowjetische Militärgericht Nr. 48240 in Potsdam verurteilte Humprecht am 17. Mai 1952 wegen angeblicher Spionage und antisowjetischer Agitation zum Tode durch Erschießen. Das Präsidium des Obersten Sowjets lehnte sein Gnadengesuch ab. Das Todesurteil wurde am 21.Juli 1952 in Moskau vollstreckt. O-Ton Führung: Ab 2004 wurde das Haus unter Denkmalschutz gestellt, 2008 wurde die Gedenkstätte gegründet. ... Das ganze wurde finanziert mit Spenden, mit der heutigen evangelischen Frauenhilfe und auch die Stiftung brandenburgischer Gedenkstätten. Die die Gedenkstätten Ravensbrück und Sachsenhausen ... haben hier alles finanziert, damit hat die ganze Aufarbeitung der Geschichte zwischen 2004 und 2008 wirklich begonnen. Und seit 2012 gibt es die Dauerausstellung im Gefängnis mit den ganzen Exponaten... O-Ton Wirth: …Das ist jetzt schon etwas aufgeschönt, es war schlimmer als sie jetzt aussieht und die Verhöre waren nur nachts. Abends um 11 Uhr etwa wurde man zum Verhör geholt. Und blieb dann bis morgens um 4 Uhr. ... der Vernehmungsoffizier, ein Mann und eine Frau als Dolmetscherin dabei. ... Das war kein gutes Deutsch, was sie sprach. Sie verbarg ihre Sprachschwierigkeiten dadurch dass sie sich vor dem Mund einen Tuch hielt. sie nuschelte, rein nuschelte ja..... O-Ton Aurich: ...Das war einfach Terror. ... das steht im Roman, dass mir der erste Untersuchungsrichter gesagt hat: Wenn sie geständig sind, dann können wir gnädig mit Ihnen umgehen, wenn nicht, dann können wir sie zerquetschen wie eine Laus. Autor: Auch Heinz Baumbach wird aus Treffurt hierher gebracht. Das zeigt auch sein Häftlingsfoto mit Namensschild in den Händen, aufgenommen draußen vor der Hauswand. Das Muster auf der Wand erkennt man auf jedem Foto in den Akten der Verurteilten. Sprecher 2: Verhörprotokoll von Baumbach, Heinz, geführt am 11.Mai 1952. Angefangen um 21:30 Uhr. Ich bekenne mich schuldig, dass ich während meiner Arbeit in Warnemünde im März 1950, eine Spionageverbindung mit dem Führer der sogenannten Freien Demokratischen Partei in Westberlin Paul Scheffler geknüpft habe. Von Scheffler habe ich eine Aufgabe bekommen ... Spionageinformationen in der Sowjetischen Besatzungszone zu sammeln. ...Außerdem habe ich die Werft und drei sowjetische Schiffe, die dort gebaut wurden, fotografiert. Diese Fotos habe ich nach Westberlin für Scheffler gebracht. ... Im April 1950 habe ich in Treffurt Helmut Paichert angeworben. Er hat aktiv seinen Wunsch geäußert, mich mit Informationen über die sowjetische Panzerbrigade zu beliefern, die bei Eisenach stand. Seinerseits hatte Paichert die Absicht eine Gruppe von jungen Menschen zusammenzubringen um die terroristische Arbeit in der Sowjetischen Okkupationszone zu führen. Autor: 1991 ist in der Russischen Föderation ein Gesetz über die Rehabilitierung von Opfern der politischen Repressalien in Kraft getreten. Seit den 90er Jahren kann man Beschlüsse über Rehabilitierungen, sowie Verhörprotokolle und Gerichtsurteile aus den russischen Geheimdienst-Archiven bekommen. O-Ton Wirth: Zwar habe ich einige Verhörprotokolle mir schicken lassen oder besorgt, und da stand nicht viel drauf. Waren also zwei Seiten, Aber dafür war die Verhörzeit vier Stunden. ... Sprecher 2: Das Militärtribunal Nr.:48240 hat festgestellt: Im Mai 1952 wurde in der Stadt Meuselwitz eine illegale antisowjetische Gruppe aufgespürt und verhaftet. Sie hatte feindliche Tätigkeiten gegen die sowjetische Okkupationsmacht und die DDR im Auftrag der amerikanischen Geheimdienste und des sogenannten "Ostbüros" verübt. Diese Gruppe sammelte Informationen über sowjetische Militäreinheiten, verteilte volksfeindliche und antidemokratische Flugblätter, bereitete die Ausführung von Terroranschlägen gegen sowjetische Militärangehörige vor. Im Falle des Krieges wollten sich die Mitglieder der Gruppe auf die Seite der USA schlagen, sie traten mit einem Spionagedienst NTS – Bund der russischen Solidaristen - in eine verbrecherische Verbindung... O-Ton Wirth: ... Da steht nichts drin was irgendwie strafrechtlich relevant war. Es war alles vage, vage: Ihr habt versucht Irgendwie das Regime zu sprengen, Ich bin nach dem Paragraphen 58 - 2, das heißt, Vorbereitung eines bewaffneten Aufstandes verurteilt worden. Autor: Der Artikel 58 des während Stalins Herrschaft gültigen Strafgesetzbuches erlaubte es Richtern, jede Handlung, jeden Gedanken, jedes Wort in ein schwerwiegendes Delikt umzudeuten. Im Urteil für Heinz Baumbach steht, dass er außer des bewaffneten Aufstands auch der Spionage, Punkt 6, und Terror, Punkt 8, beschuldigt wurde. Selbst wenn eine terroristische Tat nicht nachgewiesen wurde, konnte ein Angeklagter trotzdem zur sogenannten höchsten "Maßnahme des sozialen Schutzes" verurteilt werden – mit Hilfe des Artikel 19 des Strafgesetzbuches: Sprecher 2: Der Versuch ein Verbrechen zu begehen, sowie die Vorbereitungen dazu ... wird gleichermaßen bestraft, wie die begangene Tat. O-Ton Wirth: Wir Häftlinge saßen hier auf einer Bank. Wir waren insgesamt sieben Leute. Davor war ein Tisch mit drei Richtern, hinter den drei Richtern standen zehn Soldaten mit Kalaschnikow, nein, nicht mit Kalaschnikow, damals waren sie noch mit .. Djegtjarjow MG mit dieser großen Trommel dran. … Der Staatsanwalt las das vor und die Richter, das ist ja aber lange her, die Richter wiederholten das und dann wurden wir weg geführt, eine Stunde später wurde das Urteil verkündet. Aber auch: du 25, 25, 25... Drei haben 25 Jahre bekommen, Und vier sind zum Tode verurteilt worden. Sprecher 2: Baumbach Heinz Albin. Von der Anklage nach Artikel 58 Punkt 9 - Sabotage- ist der Angeklagte freizusprechen. Nach Artikel 58 Punkt 10 - antisowjetische Propaganda - wird er zu 25 Jahren Lagerhaft verurteilt. Nach Artikel 58 Punkte 6- Spionage, und 8 - Terrorakte, in jedem Punkt einzeln - ist Heinz Baumbach zum Tode durch Erschießen zu verurteilen. Damit verbunden ist die Konfiszierung aller bei der Verhaftung entnommenen Wertgegenstände. Autor: Hans-Günter Aurich und zwei andere aus der Meuselwitzer Gruppe, Helmut Tisch und Ulrich Kilger, bekommen jeweils 25 Jahre im sowjetischen Straflager. Den anderen, Baumbach, Eisfeld, Paichert und Wirth bleibt eine letzte Hoffnung. O-Ton Wirth: Sie haben das sofort gesagt. Sie sind zum Tode verurteilt aber können ein Gnadengesuch an das Präsidium des Obersten Sowjets schreiben. Das haben wir am nächsten Tag geschrieben. Autor: Im August 1952 werden die vier Verurteilten mit vielen anderen mit dem Zug von Berlin nach Moskau geschickt. O-Ton Wirth: Es waren sechs Deutsche. Alles Todesurteile. Alle aus der Leistikow Straße gekommen. Autor: Der Waggon ist als Postwagen getarnt. Fenster sind mit Blech verdeckt, die Abteile vergittert. O-Ton Wirth: Und die saßen alle nackt da. Und wir dachten oh, jetzt werden für den Transport unsere Klamotten weg? Aber der Zug hatte die ganze Zeit in der Sonne gestanden... ...und es war heißer als in einer Sauna. Nach zehn Minuten saßen wir auch nackt da. Man hatte uns als Marschverpflegung Salzfisch gegeben, wenn man hungrig ist und Angst hat dass man ihm die Marschverpflegung wieder wegnimmt, isst man sie besser auf, ja? Und dann hat man ja unheimlichen Durst nach diesem Salzfisch und man hat uns kein Wasser gegeben. Man hat uns ewig warten lassen ... Autor: Nach vier Tagen sind sie in Moskau, in dem berühmten alten Butýrskaja Gefängnis, im Volksmund einfach Butyrka. Für die ausländischen Gefangenen gibt es eine relativ komfortable Todeszelle. O-Ton Wirth: Vier Leute waren da drin in der Zelle... das ist ein uraltes Gebäude, ein Marstall, ein festungsähnliches Gebäude gewesen. ...mit Kreuzgewölben, aus dem XVIII Jahrhundert vielleicht... So schlimm war das nicht. In der Butyrka hatten wir auch Kloset mit Wasserspülung. ... Wir hatten auch Matratzen. ... Betten sind die gewesen, die auch im Zarenreich waren. Autor: Sie warten auf die Entscheidung des Obersten Sowjets der UdSSR über ihre Gnadengesuche. O-Ton Wirth: Wir mussten unsere Zeit totschlagen. Wenn man am Gefängnis ist, Man wird morgens um 6 geweckt, und darf bis 10 Uhr abends kein Auge zu machen. Sich hinlegen oder sonst was ... Ohne dass man irgendwas lesen darf. Schreibedarf und sowas gab es nix. Kein Schach oder sonst irgendwas. Es ist eine nackte Zelle ... Aber man musste sich miteinander beschäftigen. Wir haben uns viel erzählt, wir haben uns Filme erzählt, Bücher erzählt die Man gelesen hat, ja? Der Tag ist sehr lang dann. Autor: Entscheidungen des Obersten Sowjets sind unberechenbar. Nach ein paar Tagen wird Frieder Wirth plötzlich als einziger mit seinen Sachen aus der Zelle herausgeführt. O-Ton Wirth: Ich sprach kein Wort Russisch damals. Es ist mir mit Händen und Füßen erklärt worden: nicht kaputt, dass ich arbeiten müsste, und ich habe natürlich damit gerechnet, wir haben alle damit gerechnet, dass diese ganze Prozedur dieser Verurteilung, dass es eine Farce wäre... dass dieses ganze Gerichtsverfahren war so lächerlich, dass man das nicht ernst nehmen konnte... Wir haben Abschied genommen und haben uns gesagt: bis gleich... Autor: Drei Jahre später, 1955, nach Verhandlungen von Konrad Adenauer mit Nikita Chruschtschow dürfen Zehntausende Deutsche Kriegs- und Strafgefangene nach West-Deutschland heimkehren. Unter ihnen auch Hans Günter Aurich und Frieder Wirth. O-Ton Wirth: Ich habe immer geglaubt, dass sie irgendwo anders seien würden. Und ich habe immer gehofft, dass ich sie plötzlich wieder sehen würde, aber... Die Gewissheit dass sie dann verurteilt und hingerichtet worden waren, die hatte ich dann erst als ich nach meiner Rückkehr hierher. Sprecherin: (Quelle "Erschossen in Moskau") ...von April 1950 bis Ende 1953 wurden allein in Moskau ... insgesamt 1438 Personen erschossen.... 1015 Personen wurden von Militärtribunalen in Deutschland und in Österreich verurteilt... Fast alle der ...Verurteilten waren deutsche Staatsangehörige. Lediglich bei vier der ermittelten Urteile wurde der Vorwurf von Kriegsverbrechen erhoben. Autor: An die Verfolgten in stalinistischer Zeit erinnern in Russland kleine, aus Stahl gefertigte Gedenktafeln. An Hauswänden bezeichnen sie die letzte Wohnadresse eines Regimeopfers. Auf der linken Seite ist ein Quadrat ausgeschnitten, symbolhaft für das fehlende Foto des Opfers. Rechts sind Name, Geburtsdatum, Beruf, das Datum der Verhaftung und das Datum der Erschießung in das Metall eingeschlagen. Mehr als eintausend dieser postkartengroßen Gedenktafeln sind bereits in 52 russischen Städten zu finden. Sprecher 1: O-Ton: Sergei Parkhomenko ... und wir haben eines Tages entschieden, dass unbedingt noch eine Zeile in die Tafeln eingeschlagen werden muss: das Datum der Rehabilitation. Das brauchen wir als ein Zeichen, als ein Symbol. Wenn dieses Wort gelesen wird, beginnen die Menschen zurück zu denken, sie beginnen zu verstehen, worum es geht - erschossen und dann rehabilitiert. Das ist unser Weg, mit den Menschen zu kommunizieren. Autor: Sergei Parkhómenko: Politologe, oppositioneller Journalist und Autor bei Radio "Echo Moskau". Er ist der Gründer der seit 2013 russlandweit bekannten Bürgerinitiative "Die Letzte Adresse", die von der Idee der deutschen Stolpersteine inspiriert wurde. Die Moskauer NGO Memorial - die internationale Gesellschaft für Menschenrechte und die Erforschung politischer Repressionen - ist ein weiterer Mitbegründer. Ohne die in den 90er Jahren von Memorial geleisteten Archivrecherchen über die 4,5 Millionen politisch verfolgten Menschen wäre die Realisation des Projektes nicht möglich gewesen. Sprecher 1: O-Ton: Sergei Parkhomenko Wir haben für uns zwei ganz strenge Kriterien herausgearbeitet. Das erste - eine Rehabilitierung muss vorhanden sein. Und das Zweite - dieser Mensch darf kein Mitglied der sogenannten ungesetzlichen Sonderkommissionen, Sonderräte oder Militärtribunale gewesen sein, die Tausende Todesurteile unterschrieben haben. Wenn so ein Mensch dort Mitglied war und dann während der stalinistischen Säuberungen selbst zum Opfer wurde, so halten wir ihn - aufgrund von Archivdokumenten - trotzdem für einen unmittelbaren Organisator von massenpolitischen Repressalien. Autor: "Die Letzte Adresse" - russisch "Poslednij Adres" - ist eine Stiftung mit Sitz in Moskau, die von privaten Spenden lebt und sieben Mitarbeiter hat. Sie arbeitet sehr eng zusammen mit "Memorial". In verschiedenen Städten haben sich Gruppen von Unterstützern gebildet. Über 2000 Anträge für die Gedenktafeln sind im Moskauer Büro eingegangen. Jede Woche kommen Meldungen über die neuen Tafeln und kleine Zeremonien - nicht nur in Russland, sondern auch in Moldau, der Ukraine und Georgien. Sprecher 1: O-Ton: Sergei Parkhomenko Geografisch gesehen kann unser Denkmal irgendwann unheimlich groß werden: Ein Denkmal über das ganze Land. Das ist wie ein Netz von Kaliningrad bis Wladiwostok. Das Projekt breitet sich auch außerhalb des postsowjetischen Raumes aus - erste Tafeln gibt es bereits in Tschechien, bald einige in Rumänien, wahrscheinlich auch in Polen und in Deutschland. Autor: Dieses Interview mit Sergei Parchómenko ist von Anfang 2018. Danach bekam er eine Nachricht von der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur und eine Einladung nach Berlin. Am 15.Juni 2018 wurde das Projekt mit dem Karl-Wilhelm-Fricke-Preis ausgezeichnet. 050 Atmo: - Zeremonie der Auszeichnung in Berlin. Autor: Es bildete sich eine Arbeitsgruppe in Berlin, um Gedenktafeln auch in Deutschland anzubringen. In Russland dagegen ist die Erforschung der Geschichte des stalinistischen Terrors und das Gedenken seiner Opfer inzwischen nicht mehr erwünscht. Die Archive des Geheimdienstes FSB sind kaum noch zugänglich, O-Ton Robert Latypow Sprecher 1 Der Schaden beträgt laut dem Gerichtsurteilung 83 tausend Rubel – umgerechnet gut ein Tausend Euro. Autor Robert Latypow ist Leiter von Memorial in der Stadt Perm. Zusammen mit Aktivisten der "Letzten Adresse" bringt er im Oktober 2019 einen vergessenen Friedhof in den Wäldern des Urals in Ordnung. Dort liegen viele im Sowjetischen Gulag verstorbene ausländische Zwangsaussiedler - darunter 99 Litauer. Alle posthum rehabilitiert. Daraufhin werden Latypows Büro und Wohnung durchsucht. FSB-Offiziere beschlagnahmen Computer und Notizbücher. Der Vorwurf: Illegaler Holzeinschlag. Sprecher 1 O-Ton Robert Latypow Es ist Aufgabe des FSB, des Inlandsgeheimdiensts, Fälle von Korruption mit hohen Summen, Staatsverbrechen und ähnliches zu bekämpfen... Aber nicht die Durchsuchung eines kleinen Büros wie dem unseren. Es waren sogar maskierte Kräfte des Zentrums zur Extremismus-Bekämpfung dabei. Was haben die bei uns verloren? Das kann nur bedeuten: Sie wollen unsere Organisation und mich persönlich diskreditieren, sie suchen auf Teufel komm raus kompromittierendes Material gegen uns. Weil sie dazu eine Anweisung haben. In dem Strafverfahren wegen Holzschlag bin ich nur ein Zeuge. Aber ich sehe, dass sie mich zum Angeklagten machen sollen. Autor In der nordrussischer Stadt Petrosawódsk sitzt seit Dezember 2016 Juri Dmítrijew in Haft, der Leiter von "Memorial" in Karelien. Im Oktober 2019 wird auch sein Kollege Sergei Koltýrin, Museumsdirektor in der kleinen Stadt Medwéschjegorsk, verhaftet. Beide wollten in den Wäldern Kareliens einen erst kürzlich entdeckten Hinrichtungsort aus den Jahren 1938-39 erforschen - mit etwa 10.000 Toten einer der größten aus der Zeit des Stalinismus überhaupt. Der Vorwurf der Staatsanwaltschaft gegen beide: Pädophilie. Wenig später kommt ein Fernsehteam des Senders REN-TV aus Moskau nach Perm eingeflogen und drängt Robert Latypow zu einem Interview. Angeblich werde nun auch gegen ihn wegen Pädophilie ermittelt. Sprecher 1 O-Ton Robert Latypow Wir haben verschiedene Projekte, darunter die Gedenktafeln der Letzten Adresse oder Forschungsreisen in denen wir die Erinnerungen alter Menschen notieren. Wir haben keine Finanzierung, aber wir werden als Ausländische Agenten gebrandmarkt Trotzdem haben wir viele Sympathisanten, viele Freunde, wir haben einen guten Ruf und das ärgert die Machthaber dermaßen, dass sie uns solchen Repressalien aussetzten. Atmo: Versammlung auf der Strasse Autor: Ende August 2019. Die erste Gedenktafel in Deutschland wird angebracht - für Heinz Baumbach: O-Ton: Nikolai Iwanow (dt) Es ist fast unmöglich den genauen Bestattungsort derjenigen Menschen zu kennen, die in Verbannung oder Gefängnis oder in Lagerhaft erschossen, oder auf andere Weise getötet wurden. Der Zugang zu den Archiven in Russland in denen die Informationen bis heute aufbewahrt werden ist noch versperrt. Daher ist die Tafel des Projektes "Die Letzte Adresse" auch die einzige Möglichkeit den Beginn des Weges anzuzeigen den unschuldige und ohnehin bereits unfreier Mensch zu gehen gezwungen war und auf dem nie zurückgekehrt ist. ... Ich hoffe sehr dass sich das Projekt "Die Letzte Adresse" in Deutschland etablieren und entwickeln wird und so auch hier die historische Gerechtigkeit wiederhergestellt wird, indem das Gedenken an die unschuldigen Opfer der Sowjetmacht bewahrt wird ... Atmo: die Tafel wird angeschraubt Autor: In den letzten Jahren ist es zur Tradition geworden, dass die Nachkommen oder Verwandten der politisch Verfolgten selbst die Schrauben befestigen. Nikolai Iwanow hilft Tanja Hartmann dabei, der Enkelin von Heinz Baumbach. Es ist ganz still auf der Bergstrasse in Treffurt. Eine Trauerfeier nach 67 Jahren. Absage „Erschossen in Moskau“ Erinnerung an deutsche Opfer des Stalinismus Ein Feature von Mario Bandi. Es sprachen Katharina Palm, Benjamin Berger, Romanus Fuhrmann und Markus Hoffmann Ton Jean Szymczak Regie der Autor Redaktion Wolfgang Schiller Wir danken der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur und Meinhard Stark für das Interview mit Hans Günter Aurich. Eine Produktion des Deutschlandfunks 2019 --------------------- Buchtitel: „Erschossen in Moskau... Die deutschen Opfer des Stalinismus auf dem Moskauer Friedhof Donskoje 1950-1953“ Hrsg. von Arsenij Roginskij, Jörg Rudolph, Frank Drauschke und Anna Kaminsky, 3. vollständig überarbeitete Auflage, Berlin: Metropol Verlag 2008. 27