HINTERGRUND KULTUR UND POLITIK Reihe : Zeitfragen/Literatur K T Titel der Sendung : „Texte an der Muschelbucht“ Die europäische Kulturhauptstadt San Sebastián als literarischer Ort Autor/in : Gregor Ziolkowski Redakteurin : Dorothea Westphal Sendetermin : 19.02.2016 Besetzung : Sprecher (Kommentar), Zitator (Zitate und VO), Sprecherin (VO) Regie : Beate Ziegs Produktion : O-Töne, Musik Urheberrechtlicher Hinweis: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig © Deutschlandradio Deutschlandradio Kultur Funkhaus Berlin Hans-Rosenthal-Platz 10825 Berlin Telefon (030) 8503- Musik „Euskal musika klasikoa“ Harkaitz Cano “Hay algo que se discute mucho entre los escritores vascos… Zitator (Voiceover) Das ist so eine Sache, die unter baskischen Schriftstellern sehr umstritten ist: Was eigentlich kann ein baskischer Schriftsteller einbringen in eine Debatte, in der es um europäische Fragen geht? Sprecher San Sebastián, Spanien, Baskenland – das ist weiterhin ein schwieriges Terrain. „Donostia“ – so der baskische Name der Stadt. Und schon ist man mittendrin in dem Konflikt zwischen konservativen und linken Nationalisten. Ein Konflikt, der viel mit Nationalgefühl zu tun hat. Harkaitz Cano … algo sobre el conflicto palestinenso-israelí, no? Zitator (Voiceover) Hier gibt es Leute, die sagen, dass ein baskischer Schriftsteller – und das unterscheidet ihn von anderen Schriftstellern – nur dann literarisch etwas leisten könne, wenn er seine Sichtweise zu diesem Konflikt und der Gewalt beiträgt. Ich sehe das ganz und gar nicht so, aber die Wahrheit ist auch, dass, wo immer du unterwegs bist, die Leute eine Erklärung oder einen Kommentar genau dazu erwarten. Und das hat ja auch eine gewisse Logik. Wenn ich den Text eines israelischen oder eines palästinensischen Autors lese, erwarte ich doch indirekt auch irgendeinen Kommentar zum palästinensisch-israelischen Konflikt, oder? Sprecher Harkaitz Cano ist ein Schriftsteller, der in baskischer Sprache schreibt. Jahrgang 1975, gehört er zu jener Zwischengeneration, die beide Seiten des Nationalismus genau kennt. Bis vor kurzer Zeit agierte eine separatistische Terrororganisation mit dem Namen ETA, die im Verlauf ihrer über fünfzigjährigen Geschichte mehr als achthundert Menschen in ganz Spanien tötete. Mit Bombenattentaten oder per Genickschuss. Das alles, weil sie die Überzeugung vertrat, das Baskenland müsse ein eigenständiger Staat sein und habe mit dem Rest von Spanien eigentlich nichts gemein. San Sebastián war eines ihrer Zentren. Die Metropole als Kulturhauptstadt Europas, sie kann – nach dem gemeinhin angenommenen Ende des Terrors – eigentlich nur auf Versöhnung setzen. Ruth Pérez koordiniert die literarischen Aktivitäten des Kulturjahres in San Sebastián. Ruth Pérez Aquí siempre hablamos de una paz imperfecta… … ir sentando las bases de la convivencia. Sprecherin (Voiceover) Wir reden hier über einen eher unvollkommenen Frieden. Nach einem solchen Konflikt ist es praktisch unmöglich, alle zufrieden zu stellen. Hier haben Leute ihr Leben verloren, haben ihre nächsten Angehörigen verloren, Menschen sitzen im Gefängnis, es gibt Menschen, die Folterungen ausgesetzt waren. Man kann das alles nicht rückgängig machen. Was man tun kann, ist – und das ist wohl in allen Konflikten so – Zeugnis ablegen über das Geschehene. Um dann ganz allmählich die Grundlagen für ein Zusammenleben zu schaffen. Sprecher Zusammenleben. Zusammen leben. Das steht als Motto über diesem Kulturhauptstadtjahr in San Sebastián. Ohne Gewalt, was garantiert scheint. Die Terrorgruppe ETA hat weder ihre Waffenarsenale übergeben noch offiziell ihre Auflösung verkündet. Dennoch gilt sie als erledigt, als ideologisch und personell ausgebrannt. Da ist auf der anderen Seite ein Nationalismus, der sich kulturell und politisch definiert. Über die Sprache, über die Literatur, über Traditionen, komplizierte historische Konstellationen und politische Wünsche, über ein Konvolut von Argumentationen, das manchmal auch bloß Separatismus meint, dabei auf Bomben und Genickschüsse freilich verzichtet. Dieser Nationalismus dominiert das Baskenland seit der Einführung der Demokratie nach dem Tod des Diktators Francisco Franco. Und dann gibt es jene große Schicht, der das Spanier-Sein gar nicht unangenehm ist, der die Sprache Spanisch als Verständigungsmittel sehr recht ist, der ein Thema wie Separation schlicht egal ist. Ibon Zubiaur Und es war tatsächlich eine sehr, sehr gespaltene Gesellschaft. Und in den Jahren, als ich das Baskenland verlassen habe, war es also ziemlich hart. Sprecher Philosoph, Übersetzer, Essayist – Ibon Zubiaur lebt seit Jahren in Deutschland, derzeit in Berlin. Sein gerade erschienenes Buch „Wie man Baske wird“ ist eine kluge Reflexion über Identität im Allgemeinen, über die Art, historische Fakten zu lesen, über eine vorurteilsfreie Nüchternheit, gepaart mit Ironie und dem Mut, das Eigene und ganz Private zu denken. Ibon Zubiaur Denn da wurde sogar von ETA und ihren Anhängern, also diese Strategie, die sie selbst so getauft haben, „Sozialisierung des Leides“, entfaltet, das heißt, es ging darum, jedes Mitglied der Gesellschaft mit dem Problem zu konfrontieren, so dass sich niemand mehr drücken konnte und sagen: Das betrifft mich nicht. Also jeder musste sich beteiligt fühlen an dem von dem Terroristen ernannten und definierten politischen Konflikt. Das heißt, entweder war man für sie oder dagegen, und wenn man dagegen war, dann kriegte man die Folgen zu spüren, und das haben Tausende Universitätsdozenten, Journalisten, das heißt auch Intellektuelle oder Arbeiter des Wortes, zu spüren bekommen, die immer wissen mussten: Das, was sie sagten oder veröffentlichten, konnte schwerwiegende Folgen haben. Viele haben das Land verlassen müssen, viele haben Schutzpolizisten beantragen müssen, und viele haben tatsächlich auch Anschläge und Angriffe auf ihre Person oder auf ihre Familien erleiden müssen. Das heißt: Die Debatte war nicht mehr frei. Probe „La Tamborrada“ Sprecher Eine Ahnung davon, wie bedrückend ein Klima dieser Unfreiheit, ja Angst sein kann, gibt es auch heute noch. In einem Ladenlokal in der Altstadt probt bei offener Tür ein Ensemble für die Tamborrada, ein vielstündiges Trommelfest, das alljährlich Ende Januar für den Stadtheiligen Sebastian veranstaltet wird. Es wirkt etwas martialisch, wie der sehr muskulöse junge Mann als eine Art Dirigent oder Vortänzer seine Bewegungen mit dem Dirigierstab vollführt. Seine Begleiterin und Mittänzerin hantiert mit einem stilisierten übergroßen Dolch zum Takt der Tamboure. Die Klinge ist gut lesbar beidseitig mit dem Wort „Amnestie“ beschrieben. An der Fassade des Lokals sind die Porträts verurteilter ETA-Terroristen angebracht, dazu die Forderung nach Amnestie. Man sieht sie in den Klubs und Bars dieser Straße, durch die uniformierte Polizisten noch heute ungern patrouillieren, als politische Gefangene an. Das Milieu, das diese Trommler repräsentieren, hat noch vor kurzer Zeit Angst und Schrecken erzeugt. Heute wird auf Instrumenten getrommelt, und das ist gut. Harkaitz Cano En mi generación yo creo que no hay una opción ideológica… … veníamos de cuarenta años de prohibición del idioma! Zitator (Voiceover) Ich denke, in meiner Generation gibt es diese ideologische Frage, ob man in der einen oder der anderen Sprache schreiben soll, nicht mehr. In meinem Fall hat man mir die Wiegenlieder auf Baskisch gesungen, mein persönliches Umfeld ist gemischt, wohl mehr Baskisch als Spanisch, und von den fünfundzwanzig Fächern, die mein Jura-Studium umfasste, habe ich zwanzig auf Baskisch absolviert. Baskisch ist eine Universitätssprache, man kann heute beispielsweise Nuklearchemie oder sowas in baskischer Sprache studieren. Das war seit den achtziger Jahren oft ein beschwerlicher Weg, auf dem die Leute viel improvisieren mussten. Aber man darf nicht vergessen: Wir hatten vierzig Jahre hinter uns, in denen die Sprache praktisch verboten war! Sprecher Die gesellschaftliche Debatte kehrt jetzt, in den Zeiten der Gewaltfreiheit, das Unterste zuoberst. In seinem scharf durchdachten Essay analysiert Ibon Zubiaur das Baske-Sein, das auch sein Baske-Sein ist, in einer überaus konsequenten Verquickung von persönlich Erlebtem mit historisch-statistisch gesichertem Wissen. Da werden Mythen betrachtet, und nach der Betrachtung sehen sie oft genug aus, wie sie eben sind: ziemlich alt. Ibon Zubiaur Die Behauptungen, – das sagen natürlich nur ein Teil der Nationalisten, nicht alle sind so borniert –, das Baskische wäre die älteste Sprache der Welt und was auch immer, das ist natürlich vollkommener Unsinn. Das Baskische ist zwar in seinen Wurzeln eine vorindoeuropäische Sprache, aber die Sprache, die wir heute sprechen, hat nicht das Geringste zu tun mit dem, was eventuell im 8. Jahrhundert im Baskenland gesprochen wurde, als die ersten schriftlichen Zeugnisse des Baskischen entstanden sind. Sprecher Denn Baskisch ist eine alte, ihrer Herkunft und Entstehung nach in der Tat reichlich ungeklärte Sprache, ist ein in erster Linie gesprochenes Idiom, das von Tal zu Tal dialektal variiert und schriftlich praktisch bis zum Ende des 19. Jahrhunderts kaum fixiert war. Eine Buchproduktion von bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts rund einhundert Titeln in baskischer Sprache, in der Mehrzahl religiösen Inhalts, das ist nicht eben das, was man eine solide literarische Tradition nennen würde. In jener Epoche betrat der Publizist und Politiker Sabino Arana die Szenerie, der dem Ganzen eine Form gab und den baskischen Nationalismus recht eigentlich erfand. Zitator Die Physiognomie des Basken ist verständig und edel, die des Spaniers ausdruckslos und mürrisch. Der Gang des Basken ist stattlich und mannhaft; der Spanier kann entweder gar nicht gehen […] oder er ist, falls stattlich, von weiblichem Typus. Der Baske ist sehnig und flink; der Spanier ist schlaff und linkisch. Der Baske ist verständig und geschickt für jede Arbeit; der Spanier ist schwer von Begriff und auch für die einfachsten Arbeiten ungewandt […] Lauschet der Rede eines Basken, und ihr werdet eine Sprache hören, die euphonisch, moralisch und gebildet ist wie keine andere; lauschet einem Spanier, und ihr könnt zufrieden sein, wenn er nur i-aht, denn der Esel äußert keine Unflätigkeiten noch Gotteslästerungen. Sprecher Geschrieben hatte Sabino Arana das alles übrigens auf Spanisch. Der Mann, der das Baskentum glorifizierte, der jene Partei gründete, die seit Francos Tod das Baskenland fast ununterbrochen regiert hat, der die regionale Hymne kreiert und die Flagge entworfen hat, konnte nicht einmal Baskisch! Historisch erklärt sich dieser entstehende Nationalismus nicht zuletzt aus der Flut von Arbeitsmigranten, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts im industriell aufstrebenden Baskenland aus anderen Landesteilen Spaniens eintraf. Ibon Zubiaur Sabino Arana erkannte ziemlich gut, dass die Sprache nicht das Merkmal der baskischen Identität sein konnte, denn auch zu seinen Zeiten sprach nur eine Minderheit der Basken Baskisch. Und vor allem: Es gab keine gemeinsame Tradition. Und das Baskische war in vielen Dialekten verspalten, und praktisch in jedem Tal sprach man ein anderes Baskisch. Man konnte sich miteinander mehr oder weniger verständigen, aber es gab keine gemeinsame Tradition. Und Sabino wollte das Baskentum in der Rasse erkennen – mit dubiosem Erfolg natürlich, und als das nicht mehr salonfähig war nach dem Zweiten Weltkrieg, erst dann griff man nach der Sprache. Das heißt, die Rückforderung des Baskischen als Identitätsmerkmal des Baskentums erfolgt relativ spät. Sprecher Ab Mitte des 20. Jahrhunderts kann man diese Hinwendung auch literarisch erkennen. Später, zu Beginn der achtziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts, wird sie vehement. Da war Franco tot, Spanien sortierte sich politisch neu, die Autonomierechte des Baskenlandes wurden großzügig festgeschrieben. Das Baskische wird an öffentlichen Schulen zur grundsätzlichen Unterrichtssprache erhoben, außer dem Spanisch-Unterricht werden von da an alle Fächer in baskischer Sprache vermittelt. In einer baskischen Sprache, die zugleich recht eigentlich erfunden oder begründet werden musste. Die bis dahin eine nicht sehr systematisierte Angelegenheit der Landbevölkerung war oder regional zerklüftet gesprochen wurde – bis heute sind es nur rund fünfundzwanzig Prozent der im Baskenland lebenden Personen, die Sprachkenntnisse des Baskischen geltend machen, auf welchem Niveau auch immer. Eine Systematisierung der Sprache ging einher mit dieser Durchsetzung des Baskischen als Unterrichtssprache. Ibon Zubiaur, Jahrgang 1971, sagt von sich, er habe an einem großen soziolinguistischen Experiment teilgenommen, weil er jener Pionier-Generation angehört, die als erste ihre komplette Schul- und Universitätslaufbahn in baskischer Sprache absolviert hat. Musik Sprecher Es ist nicht abwegig, vom Entwicklungsstand einer Sprache auf den Zustand ihrer Literatur zu schließen. Der Befund, dass Baskisch wesentlich eine gesprochene, aber kaum geschriebene Sprache war, dass sie eher in der Landbevölkerung und weniger in den Städten verwendet wurde, dass sie vom konservativen Sabino-Arana-Nationalismus in ein straffes ideologisches Korsett aus Blut-und-Boden-Romantik, Erzkatholizismus und Folklore gepresst wurde, lässt sich auch an der Literatur ablesen. Auch der Umstand, dass, kaum, dass das Nationalbewusstsein der Basken erwacht und formuliert war, der Spanische Bürgerkrieg und die nachfolgende Franco-Diktatur die politische Szenerie bestimmten, war alles andere als hilfreich für die Entwicklung der baskischen Sprache und Literatur. Gegen die bis heute kursierende baskisch-nationalistische Legende, Franco habe gegen die Basken im Speziellen gekämpft, begehrt jedoch der polemische Wahrheitssucher Ibon Zubiaur auf. Ibon Zubiaur Franco war eine einzige Katastrophe. Das heißt aber nicht, dass Franco zuständig war für alle Übel der Welt. Auf jeden Fall hat Franco nicht gegen die Basken gekämpft. Diese Aussage ist eindeutig falsch! Also: Es gab einen Bürgerkrieg. In Spanien und im Baskenland. Und zahlenmäßig waren die franquistischen Basken überlegen. Und unter den gegenfranquistischen Basken gab es Nationalisten, Republikaner, Sozialisten, Anarchisten, Kommunisten und alles Mögliche. Sprecher Der Galicier Franco mochte auch den galicischen Nationalismus nicht, den baskischen und den katalanischen ebenso wenig. Sein „Nationalkatholizismus“ getauftes ideologisches Programm war eben das: national, gesamtspanisch, auf Einheit und Religion ausgerichtet. Dass er keinen Finger rührte, um regionale Sprachen, Literaturen und Kulturen zu fördern, dass er ein Klima schuf, in dem etwa die regionalen Sprachen ausgegrenzt wurden, ist sicher richtig. Von einem direkten Verbot des Sprachgebrauchs kann man aber nur sehr bedingt sprechen. Irgendetwas hat es da immer gegeben, sonst wäre die Aussage der Literaturwissenschaftlerin Mari Jose Olaziregi ohne Grundlage. Sie verantwortet den Großteil des Literaturprogramms des Kultur-Hauptstadtjahrs „Donostia/San Sebastián 2016“. Mari Jose Olaziregi Yo creo que ya hubo un inicio de modernidad … ...hay una modernidad en narrativa que empieza ahí. Sprecherin (Voiceover) Ich würde sagen, es hat einen Modernisierungsschub Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre gegeben. Übrigens ging der von Autoren aus San Sebastián aus. Einer ihrer Vertreter war Ramón Saizarbitoria, ein großartiger Romancier. Er veröffentlichte einen sehr zeitgemäßen urbanen Roman mit dem Titel „Denn es beginnt jeden Tag“ – zu jenem Zeitpunkt, als sich die baskische Literatur auf einem vergleichbaren Niveau wie die westeuropäische zu bewegen begann. Was damals modern war, kam aus Frankreich: Sartre, Camus, der Nouveau Roman. Und so etwas wie eine erzählerische Moderne beginnt eigentlich in diesem Moment. Sprecher Der emanzipatorische Impuls ist enorm. Er hat eine politische Unterströmung, aber in Spanien gegen Franco zu sein, ist zu dieser Zeit nicht weiter bemerkenswert. Es artikuliert sich aber auch ein Aufbegehren gegen den ranzigen und verschmockten Sabino-Arana-Nationalismus der Basken, gegen das Konservative aus dem eigenen Haus. Angestachelt spätestens von den 68er-Rebellionsgelüsten aus Frankreich, tritt auch eine baskische junge Generation auf den Plan, blickt über den Tellerrand und sucht die Befreiung aus einer kulturhistorischen Programmatik, die das Baskische als Wert an sich ansah. Mari Jose Olaziregi Entonces ya en los cincuenta… … hablamos de literatura estricto senso. Sprecherin (Voiceover) Im Grunde beginnt bereits in den fünfziger Jahren der Prozess, in dem sich die Literatur innerhalb der baskischen Gesellschaft selbständig macht. Sie hört auf, in Diensten des Nationalismus zu stehen nach dem Motto, man müsse Baskisch schreiben, um die Zukunft der Sprache zu sichern. Wir reden von diesem Moment an von der Literatur als solcher. „Sarri, Sarri“ von Kortatu Sprecher Nicht immer ging das gut. Joseba Sarrionandia, genannt „Sarri“, ist bis heute eine Ikone der Erneuerung des baskischen Geisteslebens. Als Autor, Herausgeber, Übersetzer, Verleger. Das Erneuern brachte ihn auf die ETA-Fährte, von dort im Zusammenhang mit einem Banküberfall ins Gefängnis. Aus dem er 1985 auf spektakuläre Weise fliehen konnte: versteckt in einer Lautsprecherbox, die eine Rockband beim Gefängniskonzert aufgestellt hatte. Es heißt, er lebe derzeit in Kuba, flüchtig oder doch halb, denn: Die spanische Justiz hat erklärt, alle seine Straftaten seien verjährt, er habe nichts zu befürchten. Aber wer will schon als alte Legende zurückkehren? Und darf man den ETA-Terrorismus als „alte Legende“ abtun? Mari Jose Olaziregi La sociedad vasca no perdonaría… … no, no puede ser. Sprecherin (Voiceover) Die baskische Gesellschaft würde das jetzt nicht mehr hinnehmen. Es geht nicht mehr, das ist vorbei. Es hat so viel Leid gegeben – man muss jetzt dieses Leid anerkennen, sozusagen die Wunden lecken. Und man sollte sich hüten vor extremen politischen Akten oder Haltungen, die den Anderen nicht respektieren. Man muss akzeptieren, was geschehen ist, aber man sollte die gesellschaftliche Anerkennung der angerichteten Schäden als soziale Politik verfolgen, die Anerkennung des Leides, das allenthalben angerichtet wurde. Nein, das kann nicht wiederkommen, das geht einfach nicht. Mari Jose Olaziregi El „Instituto Vasco Etxepare“, cuando se creó… … escrita tanto por euskera como en castellano. Sprecherin (Voiceover) Als das baskische Kulturinstitut „Etxepare“ gegründet wurde, war von Beginn an per Gesetz festgelegt, dass es für die baskische Literatur einzutreten habe, sei sie nun auf Baskisch oder auf Spanisch verfasst. Sprecher Das „Instituto Vasco Etxepare“, benannt nach einer wesentlichen Figur in der Begründung der baskischen Sprache, ist federführend in der literarischen Programmarbeit für das Kultur-Hauptstadtjahr von San Sebastián. Dass man sich der auf Baskisch verfassten Literatur besonders verpflichtet fühlt, liegt in der Natur der Sache. Ein Writers-in-Residence-Programm mit Partnern aus fünf europäischen Ländern soll den Austausch zwischen minoritären Sprachen fördern, es reicht – auch und vor allem in der Frage der Finanzierung – deutlich über das Kulturhauptstadtjahr 2016 hinaus. Überhaupt hat man bei der Gründung des baskischen Kulturinstituts jenen Geburtsfehler vermieden, der vor einigen Jahren die Kollegen aus Katalonien in Nöte brachte, als sie, eingeladen als Gastland zur Frankfurter Buchmesse, definieren mussten, was eigentlich Literatur aus Katalonien sei. Literatur ausschließlich auf Katalanisch oder doch auch die in spanischer Sprache geschriebene? Mari Jose Olaziregi Y lo hacemos, es decir, autores vascos contemporáneos… … porque esta es la ley que tenemos. Sprecherin (Voiceover) Und so gehen wir vor: Zeitgenössische baskische Autoren können bei uns Fördergelder für Übersetzungen bekommen, phantastische Autoren wie Luisa Echenique, mehrfach preisgekrönt, die auf Spanisch schreibt, oder Dolores Redondo, die eine Bestseller-Autorin ist, oder jemand wie Fernando Aramburu können bei uns Gelder beantragen, nicht nur, um ihre Arbeiten aus dem Spanischen ins Baskische übersetzen zu lassen, sondern in jede andere denkbare Sprache, denn so ist das gesetzlich festgelegt. Sprecher Das Budget von zwei Millionen Euro im Jahr ist natürlich nicht wirklich üppig. Wie immer, muss es der Enthusiasmus ausgleichen. Ganz von Enthusiasmus, oder eher von der Lust an der Sprache getragen, ist die Arbeit von Harkaitz Cano. Der Schriftsteller schreibt auf Baskisch. Es hätte keinen Sinn, würde er das als eine Art sprachliches Gefängnis betrachten. Zweisprachig wie alle im Baskenland, könnte er ebenso gut auf Spanisch schreiben und publizieren. Aber die Lust, ein noch undefiniertes Material zu formen, Themen aufzugreifen, die heutig sind oder doch heutige Leser interessieren könnten, in einer Sprache, die vielleicht noch Spielraum lässt für eine wirklich schaffende Kreativität, das treibt diesen Autor um. Harkaitz Cano Bueno, en algunos sentidos tenemos una potente tradición oral… … creo que en los últimos veinte, treinta años se ha progresado mucho. Zitator (Voiceover) Gut, wir haben in gewisser Weise diese starke orale Tradition. Aber wir haben keine derart bedeutende geschriebene, keine europäische Tradition. Es hat keine Renaissance gegeben, nichts von alldem. Ist das nun gut oder schlecht? Wir sind auf der einen Seite befreit von aller Tradition, das wäre die optimistische Sichtweise. Wir können unsere Tradition selbst erfinden, wir können sie verfälschen und uns amüsieren, während wir das tun. Andererseits fehlen uns vielleicht einige Standards für eine brauchbare Art, zu schreiben, aber auch hier hat sich in den vergangenen zwanzig oder dreißig Jahren etwas getan. Musik, Rafa Berrio Harkaitz Cano Yo en el año 96 escribo una novela con un ambiente de Jazz… … porque no hay camino trazado. Zitator (Voiceover) Ich habe 1996 einen Roman geschrieben, der im Milieu des Jazz´ handelte, und da stelle ich fest, dass es kaum mehr als zwanzig Seiten gibt, die jemals auf Baskisch über Jazz geschrieben wurden. Nicht zu reden von einem Roman, der das Thema behandeln würde. Natürlich eine ganz andere Situation als die im angelsächsischen oder auch spanischen Sprachraum. War das für mich nun gut oder schlecht? Es war schlecht, weil es kein rechtes Wort gab für einen Jazz-Schlagzeuger, das ich dann irgendwie konstruieren musste. Es war aber auch gut, weil es wie ein Gehen auf jungfräulichem Schnee war, ein bestimmt infantiles Vergnügen, aber dennoch ein enormes Vergnügen – du gehst auf einem Weg, der in keiner Weise vorgezeichnet ist. Sprecher Die Lust an der sprachlichen Entfaltung ist das eine, Harkaitz Cano kann dem Thema auch noch mindestens eine weitere Seite abgewinnen. Harkaitz Cano Un libro de poesía de una editorial española grande… … es mayor que en las literaturas grandes. Zitator (Voiceover) Ein Gedichtband erreicht bei einem großen spanischen Verlag eine Auflage von eintausend bis eintausendfünfhundert Exemplaren. Im Baskenland kann man allenfalls von fünfhundert bis achthundert Exemplaren ausgehen. In ganz Spanien können wir von rund fünfzig Millionen potentiellen Lesern ausgehen. Hier, bei zwei Millionen Einwohnern, sind es deutlich weniger, die als Leser infrage kommen. So gesehen ist das eine Art Ökosystem. Aber ich will auch die Vorteile sehen: Einer der Vorteile, klein zu sein, ist, dass der Druck des Marktes kleiner ist. Der Begriff „Bestseller“ hat auf Baskisch praktisch keinen Sinn. Es gibt hier keine Bestseller im üblichen Sinn des Wortes. Ob man hier viel oder weniger Bücher verkauft, das verändert das Leben des Autors nicht wirklich. Selbst im besten Fall wirst du kein ausschweifendes Leben führen können, indem du Bücher verkaufst. Das bedeutet aber auch, dass weder Verlage noch Autoren sich verrückt machen wegen Bestsellern. Und so ist die Präsenz des Experimentellen, begriffen als das literarische Experiment, hier bedeutsamer als in größeren Literaturen. Sprecher Hier liegt das Potential, das Harkaitz Cano sieht, das aber auch auf ein Umfeld trifft. Die Buchhandlung „Garoa“ ist einer der aktivsten literarischen Punkte von San Sebastián. Auf Spanisch oder Baskisch – nicht nur das Sortiment ist gemischt, auch das sonstige Angebot, erklärt der Mitinhaber der Buchhandlung Imanol Aguirre: Buchhandlung „Garoa“, Lesung/Konzert Imanol Aguirre Hablo siempre de comunidades del papel… … independientemente del concierto. Zitator (Voiceover) Ich rede immer von Papier-Gemeinschaften. So wie alles, was wir hier machen. Die Lektüre-Clubs, die wir veranstalten, heißen „Freunde des Papiers“. Eigentlich müsste ich auf Spanisch sagen, „Freundinnen des Papiers“, denn es sind die Frauen, die mehr lesen. Auf Baskisch ist das egal, da gibt es diese Unterscheidung nicht. Wir machen in diesem Sinn auch „Konzerte auf Papier“, das sind Konzerte von einheimischen oder auch auswärtigen Musikern, die Sonntagmittag stattfinden. Wie eine Messe, aber die Leute trinken ein Glas Wein, essen ein paar Häppchen, und dann hören sie Musik. Die Konzerte sollen in irgendeiner Weise etwas mit Literatur zu tun haben. So ist die Literatur immer mit im Spiel, unabhängig vom eigentlichen Konzert. Sprecher San Sebastián ist, was es immer war: Eine grauenvolle Stadt im Winter, weil verregnet, ein wundervoller Platz den Rest des Jahres über. Ein sagenhafter Ort zum Schlemmen, das auch im Winter, wo die pintxos, ungefähr das Pendant der spanischen tapas, jeden Flaneur verzücken. Die Literatur hat hier ihre Lücken und Kerben, zeigt sich aber immer mehr. Seit Jahren löst sie sich von ihren politisch-nationalistischen Zuschreibungen, erscheint mal in spanischer, mal in baskischer Sprache. Anlässlich des Kulturhauptstadtjahres könnte man von einem sagenhaften Moment sprechen: Die Literatur ist frei, nur sich selbst verpflichtet. 2