Reihe : Literatur Titel der Sendung : Die Barfußläuferin oder: Wie die Literatur ins Leben findet. Zum 150. Geburtstag der Schriftstellerin, Essayistin und Zeitgenossin Lou Andreas-Salomé Autorin : Edelgard Abenstein Redakteur : Jörg Plath Sendetermin : 01.02.2011 Besetzung : Ulrike Krumbiegel, Tatja Seibt, Ingo Hülsmann Regie : Stefanie Lazai Urheberrechtlicher Hinweis: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig (c) Deutschlandradio Deutschlandradio Kultur Funkhaus Berlin Hans-Rosenthal-Platz 10825 Berlin Telefon (030) 8503-0 Edelgard Abenstein Die Barfußläuferin oder: Wie die Literatur ins Leben findet. Zum 150. Geburtstag der Schriftstellerin, Essayistin und Zeitgenossin Lou Andreas-Salomé Sprecherin, Zitator, Zitatorin und O-Tone (Eingeklammertes wird nicht gelesen) Musik Nietzsche, Albumblatt (kurz frei; dann unterlegen und zwischen den Zitaten jeweils kurz freistellen) Zitator: "Sie hatte die Gabe, sich unmittelbar in die Gedankenwelt eines anderen zu versetzen, besonders wenn sie ihn liebte, ...und sie hatte Freude daran, über Männer zu triumphieren." Poul Bjerre, Psychotherapeut, 1911 Zitatorin: "Wir haben wenige Frauen, die man als Typus einer neuen Frau im schönsten Sinne fassen könnte: die Künstlerin und Philosophin, Denkerin und Dichterin, eine starke Persönlichkeit und zugleich so ganz Frau in jedem Zug ihres Wesens ist." Helene Stöcker, Frauenrechtlerin und Sexualreformerin, 1902 Zitator: "Sie ist wirklich ein ganz außerordentliches Wesen; soviel Klugheit in einem 21jährigen Mädchenkopf würde beinahe Schauder erwecken, wenn nicht damit eine echte Zartheit des Gemütes ... verbunden wäre ...ein genialer Mensch." Ferdinand Tönnies, Soziologe, 1883 O-Ton 1 (Decker) Das große Missverständnis liegt darin, dass man meint, sie war die große Verführerin, ein Frau mit einer ganz enormen sinnlichen Ausstrahlung. Diese Ausstrahlung mag sie gehabt haben, aber sie stellte sich mehr über ihre geistige Wirkung her, diese Klugheit, die niemals papieren war. Zitator: "Lou knüpft eine leidenschaftliche Beziehung zu einem Mann an, und neun Monate später bringt der Mann ein Buch zur Welt." Anonymus, um 1900. O-Ton 2 (Bernauer) Interessant ist, dass sie zu den Figuren gehört, die, obwohl sie die Freundin großer Männer war, eine ungeheure Eigenwilligkeit hat, die auch mit ihrem Frausein zu tun hat - und auch dieses Eigenwilligsein zum Gegenstand macht in ihren Erzählungen. Zitator: "Wenn man eine doppelte Art, die Welt zu begreifen, feststellen wollte, eine männliche und eine weibliche, so würde ich sagen, Frl. Salomé begreift sie wie ein Mann ...von Verzeihen, wie das Weib so gern tut, keine Spur; eine klare Bestimmtheit charakterisiert jedes Wort." Georg Simmel, Philosoph, 1907 Musik (kurz stehenlassen) Sprecherin: Lou Andreas-Salomé: Bis heute verbindet sich mit ihrem Namen der Ruf der "Femme fatale". Nietzsche, Rilke, Freud lagen ihr zu Füßen. Doch sie war mehr als die Freundin berühmter Männer, mehr als die Schutzgöttin schriftstellernder Geistesgrößen. Was immer einige Biographen von Lou Andreas-Salomé behaupten mögen, sie füllte die Rolle der Muse schon von Anfang an nicht aus. Im Gegenteil. Sie fühlte sich nur zu Männern hingezogen, die ihre Ideen teilten, und sie nutzte die zahllosen Begegnungen, um Dampf zu machen, die Dinge und das Denken durcheinanderzuwirbeln. Und um darüber zu schreiben. Lou Andreas-Salomé, Prosaautorin, Lyrikerin, Essayistin, Psychoanalytikerin, bezog den Stoff ihrer Romane direkt aus ihrem Leben, einem eigensinnigen Leben. Schon die 21-Jährige schrieb - der Brief ist eine einzige Herausforderung - an ihren einstigen Lehrer: Zitatorin: "Wir wollen doch sehn, ob nicht die allermeisten sogenannten ,unübersteiglichen Schranken', die die Welt zieht, sich als harmlose Kreidestriche herausstellen!" Sprecherin: Louise von Salomé wird am 12. Februar 1861 in St. Petersburg geboren. Sie ist das einzige Mädchen in der Familie, das Nesthäkchen. Die Salomés sind Hugenotten südfranzösischer Herkunft. Der Vater bringt es im Militär des Zarenreichs bis zum General. Die Mutter stammt aus einer Hamburger Kaufmannsfamilie. Mit den drei Brüdern verbindet Lou ein lebhaftes Temperament, eine gewisse Wildheit. Zur Mutter ist ihre Beziehung nie ganz konfliktfrei, was auch daran liegt, dass der Vater seine Jüngste häufig vorzieht. Zitatorin: "Da war es wieder, - dieses Kindhafte ..., über das er ... nicht hinwegkam. Es nahm nicht ab, es nahm zu - es steckte ganz tief irgendwo, im Kerne ihrer Natur. Geistig hatte sie sich rasch und stark entwickelt, wie junges Laub in warmem Mairegen. Aber es war, als ob nun erst auch alle kindlichen Elemente sich entwickelten ... und daneben andere, beinahe männliche, die er in ihr bis dahin nur geahnt."(LAS, Ruth, S.177) Sprecherin: Man spricht deutsch in dem Haus gegenüber vom Winterpalais, trotz der französischen Gouvernante, der englischen Privatschule, der russischen Dienerschaft. Die enge Bindung an einen holländischen Pfarrer, Hendrik Gillot, trägt dazu bei, sie - wie sie selber sagte - zu "entrussen" und selbstständiges Denken zu erproben. Gillot ist der ersehnte Westen. In seinen Stunden lernt sie Racine und Corneille kennen, Schiller, Fichte, Kant und Hegel. Und bei Gillot findet sie Trost nach dem Tod des Vaters und nach dem vielleicht noch schwerer wiegenden Verlust des Glaubens. Denn der erste Mann im Leben der Louise von Salomé ist kein Mensch aus Fleisch und Blut. Ihr erster Mann ist Gott. O-Ton 3 (Decker) Gott war ihr Alter Ego. Und zwar nicht der Gott der Kirche oder der, an den ihre Eltern glaubten, sondern: "Ich habe ihn per Zufall in deren Gott entdeckt. Und er war mein Eigentum". Gott war der Spiegel, in dem sie sich angeschaut hat, er war zersprungen, als sie plötzlich merkte, was Vergänglichkeit ist. Das ist der Moment, in dem Kindheit aufhört, und für sie entschwand dieses natürliche Gegenüber Gottes, mit dem sie sich unterhalten hat, statt zu ihm zu beten. Sprecherin: Die Journalistin Kerstin Decker entwirft in ihrer Salomé-Biographie das fulminante Porträt einer Rebellin gegen Klischees und Konventionen. Eine "Sammlerin von kostbaren Ichs" nennt sie die Frau, die mit zahlreichen Künstlern und Intellektuellen ihrer Epoche auf vertrautem Fuß stand. Den zentralen Impuls für die lebenslange Sehnsucht nach Autonomie entdeckt die Biographin in jenem frühen Erlebnis von Glaubensverlust und Einsamkeit. Damals wird die Autorin geboren, die ihr Leben wie einen, nein: mehrere Romane erfindet. Zitatorin: "So schnell gewöhnte sie sich daran, ihre Gedanken zu logischer Schärfe zu formen und ihnen eine energische Ausrichtung auf das Erkennen zu geben, als habe sie nie in der Phantastik ihrer Träume gelebt." (LAS, Ruth, S. 177) Sprecherin: Viel später wird Lou Andreas-Salomé den Roman ihrer Kindheit schreiben: "Ruth" erzählt die Geschichte eines Erziehers und seiner Schülerin. Wie in allen ihren Werken vermischt sich Autobiographie und Fiktion. Reale Figuren, reale Begebenheiten - unbekümmert schöpft sie aus ihrem Leben, denn Schreiben bedeutet ihr nichts anderes als das Erforschen der eigenen Person. "Ruth" erzielt hohe Auflagen und ist besonders bei Leserinnen beliebt. Marcus Bernauer, Literaturwissenschaftler und Privatdozent an der TU Berlin, porträtiert in einer Monografie über einen Weggefährten Nietzsches, Heinrich von Stein, auch die Bohème um Lou Andreas-Salomé. O-Ton 4 (Bernauer) Sie war nicht ganz zufällig erfolgreich, sie erzählt sehr konventionell, ...sie arbeitet mit allwissenden Erzählern, und wenn sie da rausschlüpft, dann sind das die erzählerischen Mittel, die wir seit Jane Austen kennen, also die erlebte Rede, die die Figuren nach innen öffnet und ihnen eine gewisse Kohärenz gibt. Das gilt für "Ruth" wie für "Fenitschka" und "Eine Ausschweifung". Literarisch ist sie ganz weitgehend konventionell. O-Ton 5 (Decker) In dieser Mädchenfigur verbirgt sie sich selbst und die Zeit ihrer geistigen Erziehung. Das ist auch sprachlich schön durch die psychologische Präzision, zu der sie zunehmend fähig ist und in der sie es zu einer gewissen Meisterschaft bringen wird. Musik Wagner, Parsifal, Vorspiel z. 2. Akt (frei, dann im Folgenden unterlegen ) Sprecherin: Im Herbst des Jahres 1880 verlässt Louise von Salomé, die sich jetzt Lou nennt, das Zarenreich, um in Zürich zu studieren, dem einzigen Ort in Europa, wo Frauen an der Universität zugelassen werden. Nach einem halben Jahr erkrankt sie an Bluthusten. Das südliche Klima Italiens soll ihr genesen helfen, sie reist nach Rom. In der Schweiz, in Italien und in Deutschland lässt sie sich "die Russin" nennen. Das klingt, je nachdem, geheimnisvoll oder bedrohlich, auf alle Fälle aber exotisch. Erst Jahrzehnte später kann sie ihr Heimatland schätzen. Musik (hochziehen, dann unterlegen) Zitator: "Grüßen Sie diese Russin von mir - " Sprecherin: - schreibt Friedrich Nietzsche an seinen Freund Paul Rée, nachdem der ihm brieflich den außerordentlichen Verstand seiner römischen Bekannten, der 21jährigen Studentin, gepriesen hat. Nietzsche ist elektrisiert. Zitator: "Grüßen Sie diese Russin von mir, wenn dies irgendeinen Sinn hat: Ich bin nach dieser Gattung von Seelen lüstern. Ja, ich gehe nächstens auf Raub danach aus - in Anbetracht dessen, was ich in den nächsten 10 Jahren tun will, brauche ich sie." Zitatorin: "Gewiss, so liebt ein Freund den Freund, wie ich dich liebe, Rätselleben." Zitator: "Von welchen Sternen sind wir uns hier einander zugefallen?" Zitatorin: "Jahrtausende zu sein! Zu denken! Schließ mich in beide Arme ein: Hast du kein Glück mehr mir zu schenken Wohlan - noch hast du deine Pein." Zitator: "Den entzückendsten Traum meines Lebens danke ich Ihnen." Musik (hochziehen, weiter unterlegen) Sprecherin: Drei Wochen leben sie im thüringischen Tautenburg zusammen, führen Gespräche wie im Rausch, oft bis tief in die Nacht hinein, als "unterhielten sich zwei Teufel". Doch dass sie, die er "Geschwistergehirn" nennt, seinen Heiratsantrag ausschlägt, hat Nietzsche nicht erwartet. Sie will kein Frauenleben. Ausdrücklich ist sie nur an einer geistigen Verbindung interessiert. Zitatorin: "Sind wir uns ganz nah? Nein, bei alledem nicht. Es ist wie ein Schatten ..., der uns trennt ... Nietzsche hat in seinem Wesen, wie eine alte Burg, manches dunkle Verlies und verborgenen Kellerraum, der bei flüchtiger Bekanntschaft nicht auffällt und doch sein Eigentlichstes enthalten kann." Sprecherin: Friedrich Nietzsche wirbt weiter vergeblich um sie. Als sie sich im Herbst 1882 auf dem Bahnhof in Leipzig endgültig trennen, überreicht er ihr ein Exemplar seiner "Fröhlichen Wissenschaft". Auf dem Vorsatzblatt steht: Zitator: "Mut! Stehst Du doch selbst am Steuer, lieblichste Viktoria!" Musik (hochziehen, dann frei) Sprecherin: Die Siegesgöttin bricht, von Paul Rée, dem Freund aus Rom, begleitet, nach Berlin auf, gründet eine rein platonische Wohngemeinschaft und versammelt einen Kreis von Akademikern um sich, Philosophen, Soziologen, deren ,Präsidentin' sie ist. Ein Glück lernt sie jetzt kennen, ein berückendes: morgens zu zweit oder mehreren barfuß durch den Grunewald zu laufen, überhaupt Barfußlaufen, auch im Winter. Lou ist eine Gesprächsnatur, Gespräche sind ihre Akademien. Geistige Anregungen braucht sie wie die Luft zum Atmen zum Denken, zum Schreiben. 1885 veröffentlicht sie ihren ersten Roman "Im Kampf um Gott" sicherheitshalber noch unter einem männlichen Pseudonym: Henry Lou. Darin dreht sich alles um die Themen der Epoche: Religionskritik, Glaube, Mann und Frau. "Im Kampf um Gott" wird ein Erfolg. O-Ton 6 (Decker) Das Buch ist in jeder Hinsicht bemerkenswert. Es ist in der Perspektive der Icherzählung die Geschichte eines alten Mannes, der auf sein Leben zurückblickt - durch und durch eine Nietzsche-Figur. Nun muss man wissen, dass der späte Nietzsche, der Einsiedler von Sils-Maria, noch keine greifbare Figur war, den kannte man noch gar nicht - Lou Andreas-Salomé hat ihn auf ihre Art erahnt und die frühen Früchte ihres geistigen Lebens und insbesondere ein Tagebuch, ein Sentenzenbuch, das sie mit Nietzsche zusammen überarbeitet hat, passagenweise wortgetreu in diesen Roman einfließen lassen. Zitator: "Gestern traf, vom Buchhändler geschickt... das Buch des Frl. Salomé ein, das mich...berührt hat. Welcher Kontrast zwischen der mädchenhaften und sentimentalen Form und dem willens- und wissenskräftigen Inhalte! Es ist Höhe darin; und wenn es nicht das Ewig-Weibliche ist, was dieses Pseudo-Mädchen hinanzieht, so vielleicht - das Ewig-Männliche." Sprecherin: Dass Lou in "Im Kampf um Gott" einen Pfarrerssohn porträtiert, der ganz wie er vom Glauben abfiel, findet Nietzsche amüsant. Womöglich auch, dass gleich drei Frauen um des Mannes willen sterben, teils von eigener Hand. Gefangen in den weiblichen Rollenbildern ihrer Zeit sind sie zum Untergang verdammt. Wie in allen Romanen verleiht die Autorin den weiblichen Figuren durchaus Züge ihres eigenen Ichs. So ähneln ihr viele. Doch keine ist wie sie. Auch nicht die Außenseiterin Margherita, die sich um der Liebe willen bis zur Selbstaufgabe erniedrigen lässt. Zitatorin: "Wisse, es gibt zwei Reize am Weibe: dass es zart und kindlich in seiner Reinheit oder aber, dass es eine verführerische Meisterin in allen koketten Künsten sei. Dagegen aber erscheinst du als eine zaghaft ungeschulte Anfängerin, die ihren süßesten Reiz verloren hat." (LAS, Im Kampf um Gott, S.75) O-Ton 7 (Decker) Diese Margherita ist auch eine Medizinstudentin. Sie ist aber, das unterscheidet sie am meisten von ihrer Schöpferin, einfach zu schwach, zu willensschwach, zu lebensschwach. Man könnte auch sagen mit dem Blick der damaligen Zeit: Sie ist eben eine Frau. Was nun alle zu spüren bekommen haben an diesem Kind, der erwachsenen Frau, auch der älteren Frau dann wieder: Was sie gewollt hat, das hat sie durchgesetzt. Zitatorin: "'Oft setzt Bewundern mehr Kraft voraus als Bewundertwerden', sagte sie leise. ,Das ist ein echt weiblicher Ausspruch', rief ich lächelnd, indem ich vor ihr stehen blieb ...'es ist wie eine Folge der Jahrhunderte beibehaltenen devoten Stellung des Weibes, dass dasselbe überall, wo es sich hingibt, auch hinknieen will und darum so lange den Gegenstand der Hingebung idealisiert, ausschmückt, bis es sich eine Art Gott glücklich zurecht konstruiert hat." (LAS, Im Kampf um Gott) O-Ton 8 (Decker) Das ist voll gepackt mit Denken, die Figuren gehen dort nur umher, um ihre Ansichten kundzutun bzw. um das zu transportieren, was die Autorin über Männer und Frauen herausgefunden hat, über das Wesen des Schöpfertums und den Preis, den man dafür zu zahlen hat. Das wäre dann im reinsten Sinne: Weltanschauungsliteratur. Aber wenn man sich klarmacht, was damals eigentlich Frauenliteratur war, dieses süßlich Anempfundene - und hier kommt nun eine Frau letztendlich mit der Gedankenwelt eines Mannes. O-Ton 9 (Bernauer) Das Interessante ist die gebrochene Art, wie sie mit diesen Vorstellungen von Weiblichkeit umgeht. Es steckt ja eine Menge Klischee in den Figuren, es steckt auch eine Menge Klischee in den Vorstellungen dessen, was diese Figuren an Weiblichkeitsselbstbildern mit sich führen. Das Zweite ist heikler: Das Zweite sind Projektionen von Weiblichkeit, wie sie in der Männerliteratur der Zeit um 1900 beliebt sind - also die Frau als das hingebende Wesen, die Frau als das sich opfernde Wesen, die Frau aber auch die Frau als der Abgrund der Existenz, das Geheimnisvolle, das Verführerische. Musik Rachmaninow, op. 19, Cello und Klavier (frei, dann unterlegen) Zitatorin: "Wirkliche Liebe ist ganz etwas anderes, als ... Mitleid, ... abstrakte Menschengüte und Lebensweisheit. Sie ist immer selbstisch, mancher Härte fähig und steckt voll von menschlicher Torheit." (LAS, Aus fremder Seele, 1896, s127) Zitator: "Ich habe Dich nie anders gesehen, als so, dass ich hätte beten mögen zu dir." Sprecherin: 1897: Lou Andreas Salomé ist seit 10 Jahren mit dem Orientalisten Friedrich Carl Andreas verheiratet - ohne das Bett mit ihm zu teilen. Sie führt ein zwar sinnliches, aber keusches Leben. Bis sie im Mai des Jahres 1897 dem nahezu unbekannten René Maria Rilke auf einer Münchner Abendgesellschaft begegnet. Sie ist 36, er 21 Jahre alt. Der junge Dichter hatte der "berühmten Autorin" bereits anonym eine Reihe von Gedichten zugesandt. Kurz darauf wird sie seine Geliebte. Zitatorin: "'Und das alles ist erst der Anfang!', dachte sie; , es beginnt erst - es beginnt!' Und sie empfand fast Ehrfurcht vor dem, was noch kommen würde." (LAS, Wolga, 389) Zitator: "Ich habe Dich nie anders ersehnt, als so, dass ich hätte leiden mögen um Dich." Zitatorin: "In manchen schönsten Liebesliedern lebt etwas von der mächtigen Empfindung, als sei die Geliebte nicht nur sie selbst, sondern auch noch die ganze Welt, auch noch das gesamte All, - als sei sie das Blatt noch, das am Baume zittert, der Strahl, der auf dem Wasser glänzt, - Verwandlerin aller Dinge und verwandelt in alle Dinge." (LAS, Liebesproblem) Zitator: "Ich habe Dich nie anders gehört, als so, dass ich hätte glauben mögen an Dich." Zitatorin: "Ihn lieben dürfen, das hieß: endlich - endlich Kind sein dürfen ... sich hingeben ... - auf den Knien noch. Es hieß sammeln und ausstürzen dürfen die ganze leidenschaftliche Zärtlichkeit des Kindes, das noch keine Kindheit gehabt. Und das doch gerade dessen - nur dessen bedurfte."(LAS, Ruth, 183) Zitator: "Durch Dich will ich die Welt sehen; denn dann sehe ich nicht die Welt, sondern immer nur Dich, Dich, Dich! Zitatorin: "Lieben heißt: von Jemand wissen, dessen Farbe die Dinge annehmen müssen, wenn sie bis zu uns gelangen, so dass sie aufhören fremd und schrecklich, oder kalt und hohl zu sein, sondern sich, gleich den bösen Tieren in der Umgebung eines Paradieses, dem Leben zahm zu Füßen strecken. (LAS, Liebesproblem, S.69) Musik (hochziehen) Sprecherin: Drei Jahre dauert ihre Liebe. Lou spielt alle Rollen für Rilke: Geliebte, Freundin, Mutter, dann auch Therapeutin. Obwohl er ihre erste, große, vielleicht einzige Liebe ist, beendet sie die Beziehung mit einem radikalen Bruch. Leidenschaften, aus denen Ansprüche zu erwachsen drohen, pflegt sie sich zu entziehen. Doch sie bleiben lebenslang befreundet. Vierzig Jahre später - Rilke ist längst tot - erinnert sie sich: Zitatorin: "War ich jahrelang Deine Frau, so deshalb, weil Du mir das erstmalig Wirkliche gewesen bist, Leib und Mensch ununterscheidbar eins, unbezweifelbarer Tatbestand des Lebens selbst." Sprecherin: Wie das erotische Leben vieler Berühmtheiten haben auch Lou Andreas-Salomés Liebesgeschichten postum zu Streit unter den Biographen geführt. Die voyeuristische Neugier richtete sich darauf, ob ihre Affäre mit dem Wiener Arzt Friedrich Pineles schon vor der Begegnung mit Rilke beginnt. Mit dem einen unterhält sie eine zehnjährige körperliche Beziehung und erwähnt ihn in ihrem "Lebensrückblick" mit keinem Wort, mit dem anderen erlebt sie die "allumfassende Liebe". Warum diese "allumfassende Liebe" aber leider endlich ist, sucht sie, die zunehmend wissenschaftliche Aufsätze schreibt, philosophisch zu klären. Zitatorin: "Sicher ist, dass vom Augenblick an, wo der geliebte Gegenstand nur noch unendlich bekannt und verwandt und vertraut auf uns wirkt - aber gar nicht, in keinem Punkte mehr, als ein Symbol fremder Möglichkeiten und Lebensmächte, - der eigentliche Liebesrausch zum Abschluss kommt." (LAS, Liebesproblem) O-Ton 10 (Decker) Sie hat Entwürfe verfasst über das Wesen der Frau, das sind alles Themen, die sie interessierten, weil sie ihr nicht mehr selbstverständlich waren. Wenn man merkt, dass man selber außerhalb der gewöhnlichen Frauenlebensläufe steht ... - das hat bei ihr von vornherein diesen Zug, diese Phänomene, auf die sie gestoßen ist, durchaus unter einem gewissen Leidensdruck, in ein System zu bringen und damit erst wirklich erst begreifbar, beherrschbar zu machen. Was aber schön ist: All diese Ansätze werden niemals abstrakt, tot, sind im besten Sinne essayistisch, immer lebensnah. Zitatorin: "... überall, wo überhaupt Menschen lieben, rührt Einer nur gar leise an den Andern und überlässt ihn dann sich selbst ... Liebesleidenschaft ist von allem Anfang an außer Stande zu einer wirklichen sachlichen Aufnahme eines Andern, zu einem Eingehen in ihn, - sie ist vielmehr unser tiefstes Eingehen in uns selbst." (LAS, Die Erotik, S.47) Sprecherin: Das Resümee, das Lou Andreas-Salomé 1910 in den Überlegungen zum "Liebesproblem" zieht, ist bestechend nüchtern, klar, modern. Von Romantik keine Spur. Liebe verfehlt den anderen notwendig, sie erlaubt jedoch dem Liebenden, sich selbst neu zu sehen. Lange bevor Andreas-Salomé zu Freuds "Versteherin" wird, lange bevor "Sublimation" und "Narzissmus" einer ganzen Generation leicht von den Lippen gehen, beschreibt sie Liebe als Selbsterkenntnis. Zitatorin: "Nur Einer weiß, dass Glück und Qual dasselbe sind in allen intensivsten, allen schöpferischen Erfahrungen unseres Lebens: der schaffende Mensch." Sprecherin: Auch zum Gegenstand von Romanen wird ihre Lebensliebe. Einer heißt "Das Haus". Die Hauptrolle spielt Rilke darin allerdings nicht. Im Mittelpunkt steht vielmehr Andreas-Salomés neues Domizil in Göttingen. Wie auf einer Bühne werden dort psychologisch fein gezeichnete Figuren zusammengeführt, die unschwer als die Freunde der Autorin zu erkennen sind - Freunde, die sich in der Realität nie begegnet sind: Friedrich Pineles, Rainer Maria Rilke, Frieda von Bülow und Ehemann Friedrich Carl Andreas. "Das Haus" ist ein Schlüsselroman. Der Figur, die dem einstigen Geliebten nachempfunden ist, legt sie Rilke-Worte in den Mund, abgewandelt oder original. Zitatorin: "Von wo meinen Quellen und Strömen die Wasser auch kommen mögen, sie müssen heimgelangen in Dein Meer. Mein Leben wird nur das sein, was ich bis zu Dir hin tragen kann, und dereinst ... wird es so gewesen sein, wie Du es aufnimmst." (LAS, Das Haus) Musik, Mahler Sprecherin: Inzwischen ist die Meisterdenkerin der Seelenkunde eine Vertraute Freuds geworden, arbeitet als Psychoanalytikerin und hat mehr als zwanzig Bücher veröffentlicht, darunter einige über die drei männlichen Fixsterne ihres Lebens. Es sind Lebens- und Werkmonographien, klug, scharf und einfühlsam. Die über Nietzsche besteht vor der Fachwelt noch heute. O-Ton (Decker) Sie hat geschrieben, weil es ihr Spaß machte, weil es sie erfüllt hat, ohne jeden Ehrgeiz, es der Welt zu zeigen, anerkannt zu werden als Schriftstellerin, als Philosophin. Das erklärt auch, warum ihr essayistisches Werk alles Zeitungstexte sind. Sie hat kein Auge auf ihr eigenes Werk gehabt. Was für sie zählte, war der Erkenntnishunger, auch in den Romanen, etwas vor sich auszutragen, dem eine Form zu finden und damit etwas verstanden zu haben. Das war aber erst mal nur für sich, es war nicht für die Welt. Sprecherin: Lou Andreas-Salomé kann vom Schreiben leben, was für eine Frau um die Jahrhundertwende in hohem Maße ungewöhnlich ist. Auch wenn sie auf Karriere keinen Wert legt, sie beharrt in jeder Lebenslage auf ihrer Selbständigkeit. Eingemeinden lässt sie sich von niemandem. Auch nicht von der Frauenbewegung, die am Anfang des Jahrhunderts wütend protestiert, als sie im Aufsatz "Mensch als Weib" das Verhältnis von Männern und Frauen mit dem Dasein von Einzellern vergleicht. Zitatorin: "Darin verhält das Weibliche sich zum Männlichen wie ein Stück uralter, im ältesten Sinn vornehmster Aristokratie auf eigenem Schloss ... zum zukunftsreichen, zukunftssicheren Emporkömmling, der es viel weiter bringt, der aber dafür die Ideale einer letzten Schönheit und Vollendung notwendig immer wieder vor sich auffliegen sieht, - etwa wie vor dem Wanderer die Horizontlinie, wo Himmel und Erde zu verschmelzen scheinen, immer wieder in unermessliche Ferne zurückweicht, wie weit er auch schreite und schreite." Sprecherin: Lou Andreas-Salomés letzter Lebensabschnitt gehört der Biologie und dem Seelenleben. Traumsicher tummelt sie sich auf Feldern, die ausschließlich Männern vorbehalten sind. Die Pionierin des ganzheitlichen Denkens entwirft über die Grenzen der wissenschaftlichen Disziplinen hinweg den Frauen eine neue Rolle. Weil sie "nur Kreidestriche" erkennt, wo alle Welt "unübersteigbare Schranken" sieht, ist sie immer schon allem voran. Die Barfußläuferin gegen die Konventionen ihrer Zeit wurde eine kluge Theoretikerin der Liebe, weil sie ein Leben lang dachte, schrieb und tat, was ihr gefiel. Zitatorin: "Dass Liebe uns schöpferisch macht über unser Vermögen hinaus, das macht sie zu einer solchen Gestalt der Sehnsucht nicht nur zwischen uns und dem von uns erotisch Ersehnten, sondern allem Hohen noch, dem wir darin entgegenträumen." Musik 2