COPYRIGHT: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von DeutschlandRadio / Funkhaus Berlin benutzt werden. Zeitreisen 27. Juni 2012: Ein Gesellschaftsvertrag für Genf? Jean Jacques Rousseau zum 300. Geburtstag von Fritz von Klinggräff O-Ton (1): wav ?Chevenière Rundgang 6' Schnitt von Min. 020 bis 1.02 Que la politique daigne suspendre leur calculs et qu'ils aprennent une fois ... ... et ne penseront qu'à eux mêmes. Übersetzer Ach, wenn unsere Politiker doch nur für einen Augenblick ihre Rechnereien unterbrechen würden, um zu begreifen, dass man für Geld zwar alles haben kann - nur keine guten Sitten und keine Bürgertugenden! Wo sind die Franzosen, die Deutschen, die Spanier? Ja, selbst Engländer gibt es nicht mehr - überall gibt es nur noch Europäer. Sie leben alle in den gleichen Umständen und tun alle die gleichen Dinge. Alle verhalten sich, als wäre sie besten Willens und sind doch allesamt Spitzbuben, sprechen vom öffentlichen Interesse und denken dabei doch nur an sich selbst. Regie: O-Ton (1) evtl. noch ein wenig den Ton unter dem Text weiterlaufen lassen - bis zum Applaus (O-Ton (1) bei Min 5.50) ... Erzähler Genf im Februar 2012, im Jahr des 300. Geburtstags von Genf berühmtestem Sohn - Jean-Jacques Rousseau. 80 Genfer Bürger haben sich bei klirrender Kälte vor der dezenten Privatbank Barclays versammelt und proben mit ihrem Philosophen das Schauspiel der antieuropäischen Revolution. Von der Herrschaft des Geldes, nationaler Kulturlosigkeit und bürgerlicher Demokratievergessenheit ist die Rede. Das Publikum wärmt sich die Fäustlinge beim Applaus und denkt sich seinen Teil über Europas Krise im 21. Jahrhundert. Doch es ist eher das Genfer Kulturbürgertum als die Occupy-Bewegung im nahe gelegenen Bastion-Park, das sich hier zum Rousseau-Gedächtnis versammelt hat. Und so bedankt sich sein alter ego, der Autor Guillaume Chenevière, am Ende des kleinen Monologs denn auch höflich bei der Bankerin von Barclays, die ihm die schweren Tore zum Hof geöffnet hatte, Regie : O-Ton (1) noch einmal bei Min. 6.08 zum ?Merci Madame' hin hochziehen: ... Alors en route pour la dernière étappe dans la vieille ville. Merci Madame pour nous avez sportivement reçue ... Erzähler ... um anschließend plaudernd weiter gen Genfer Innenstadt zu ziehen. Atmo Innenstadt, abebbend Erzähler Hier also, im Chemin de Grange Canal 18, in Eaux-Vives, vor den Toren der Stadt - hatte Jean-Jacques Rousseau einst als 42jähriger in Genf Station gemacht. Ein letztes Mal. Er sollte nie wieder zurückkehren. Man schrieb das Jahr 1754. Gerade erst war der Genfer Uhrmachersohn mit seiner fundamentalen Kulturkritik zum philosophischen Popstar Europas geworden. Ein ganz neuer Ton hatte mit einem Mal den Kontinent ergriffen und übertönte laut und wortgewaltig - fast so populär wie ein Sarrazin heute - selbst noch die staunenden Freunde in den Pariser Salons - die Enzyklopädisten Diderot oder d'Alembert mit ihren optimistischen Weltentwürfen. Noch sind sie ihm nicht gram und zollen ihm sogar Respekt für seinen publizistischen Coup. Nur der alte Voltaire lässt aus der Ferne ein verärgertes Donnergrollen vernehmen. Musikeinblendung Erzähler In Frankreich regiert Ludwig XV., in Preußen Friedrich II., im habsburgischen Österreich Kaiserin Maria Theresia: Monarchen von Gottes Gnaden im Jahrhundert der Aufklärung. 1754. Für Rousseau beginnt die produktivste Zeit seines Lebens. Er schreibt wie im Rausch. Er hat sein Thema gefunden: die Verkommenheit einer Welt, die sich von ihren natürlichen Ursprüngen entfremdet hat, um nur noch korrumpierte Hofschranzen und Salon-Schwätzer zu produzieren. In den Mittelpunkt rückt für den stolzen Handwerkersohn Rousseau jener Stadtstaat, dem er als 16jähriger Lehrling einst den Rücken gekehrt hatte: die Republik Genf. Worüber er in Zukunft auch immer schreiben wird - Genf spielt dabei allemal eine wichtige Rolle : O-Ton (2) (?Chenevière Rundgang) 7', Schnitt von Min. 003 bis Min 026 Sur l'inégalité´, il y a ensuite la lettre à d'Alembert, et il y a enfin ... ... Faites comme moi ! Retrouvez vous vous-mêmes ! Übersetzer Seine ?Abhandlung über den Ursprung der Ungleichheit' widmet er Genf; es folgt die Auseinandersetzung mit d'Alembert über ein künftiges Genfer Theater, danach sein ?Gesellschaftsvertrag', der Genf zum Modell hat, und schließlich seine ?Briefe vom Berge', in denen Rousseau die Genfer aufruft : ?Macht es mir nach und besinnt Euch auf Euch selbst!' " Erzähler Mit einer guten Portion an französischem Pathos verfolgt der Genfer Schriftsteller Guillaume Chenevière sein Projekt, dem Landsmann Rousseau zum 300. Geburtstag 2012 Stimme und Ansehen in Genf zu verleihen - als Rousseau-Reiseführer. Nicht ganz freiwillig hatte Rousseau die Lehre geschmissen und die calvinistische Republik verlassen, um die Stadt später zum Urbild für ein stolzes und souveränes Volk zu erklären. Atmo : Stadtatmo Genf heute, aufblenden, unter den Text legen Erzähler Während der Bus langsam vom Südufer des Genfer Sees in die alte Patrizierbastion der Genfer Altstadt hochschaukelt, verweilt der Reiseführer Chenevière mit seiner Erzählung noch ein wenig in der Welt am Rive Droite. Denn hier im Norden, wo früher die Handwerker und kleinen Händler zu Hause waren, sind auch Rousseaus Erinnerungen an ein selbstbewusstes Volk angesiedelt - an ein Volk, das Luxus und Hochkultur fröhlich entsagt, um in seinen Volksfesten den Traum vom Gemeinwillen wiederzufinden. Atmo in O-Ton wav ?Chenevière Rundgang 7' übergehen lassen / Schnitt Min. 040 bis Min. 1.22 Beaucoup plus que d'être contre le théatre il est pour les fêtes populaires ... ... pleine des fêtes ou le vin coule à flots. Übersetzer Was wollte dieser Rousseau denn, als er Partei gegen ein Genfer Theater ergriff ? Er wollte doch nicht die Kultur abschaffen, sondern es ging ihm um eine Volkskultur, ein Genf der Volksfeste, das sich im Freien, in den Straßen dieser Stadt abspielt, wo man miteinander tanzt, singt und lacht. Und gemeinsam mit Rousseau träumte das ganze Genfer Volk von einer Republik, die das Modell eines künftigen Europas der Nationen abgeben könnte, von einer tugendhaften und fröhlichen Republik feierfreudiger Staatsbürger, in der der Wein in Strömen fließt. Regie : evtl. hier französische Volksmusik aus dem 18. Jahrhundert einblenden Erzähler So also macht Genf, die kleine Weltstadt am schönen Lac Leman, den verlorenen Sohn Jean-Jacques Rousseau in diesem Jubiläumsjahr wieder zu einem der Ihren. Zu seinen Lebzeiten hatten die Genfer mit ihm gehadert, 1762 sogar die Werke des Philosophen und Citoyen de Genève vor dem Rathaus öffentlich verbrannt. Acht Jahre zuvor hatte die Stadt ihm die Staatsbürgerrechte verliehen - als einem Mann, der der höfischen Kultur in Paris kühn die kalte Schulter zeigte und dem Katholizismus abschwor. Der radikale Demokrat des " Gesellschaftsvertrags " aber war den Oligarchen an der Spitze des Genfer Stadtstaates unheimlich. Was war zu halten von einem Mann, der seine " Grundlagen für jedes politische Recht " mit den Worten begann: Zitator: Der Mensch ist frei geboren und überall befindet er sich in Ketten. Erzähler Mit seinem Gesellschaftsvertrag, der in diesem Jahr 250 Jahre alt wird, begründete Jean-Jacques Rousseau zum ersten Mal konsequent den Anspruch der Menschen auf Selbstbestimmung. Er gründete die gesellschaftliche Ordnung nicht mehr auf ein "Naturrecht ", sondern allein auf menschliche Übereinkünfte - weltliche Verträge. Wie denn auch sonst, argumentierte Rousseau : Zitator : Alle Gerechtigkeit kommt von Gott ; er ist ihre einzige Quelle : aber wenn wir imstande wären, sie von solch hohem Ursprung zu empfangen, dann bräuchten wir weder Regierung noch Gesetze. Damit diese Gerechtigkeit unter uns Menschen anerkannt werde, muss sie gegenseitig sein. Erzähler Benjamin Franklin, Robespierre, auch noch Simon Bolivar beriefen sich auf diese Sätze, als sie die ersten demokratischen Verfassungen für ihre Kontinente entwarfen. Selbst die Erklärung der Menschenrechte von 1946 hat Rousseau noch als einen ihrer heimlichen Autoren. Mag die Wissenschaft noch immer trefflich über Begriffe wie " Volkssouveränität " oder "Allgemeinwillen " streiten, so gehört Rousseau doch unbestritten zu den ersten Vätern unseres demokratischen Selbstverständnisses - je direkter desto besser. Atmo : Stadt-Atmo Genf unter dem folgenden Text aufblenden und stehen lassen Erzähler Das moderne Genf hat längst seinen Frieden geschlossen mit dem großen, berühmten Vorfahren, und in diesem Jahr ist er allgegegenwärtig : auf Plakaten und Kongressen, in den Grundschulen wie der Universität, beim republikanischen Diner und beim Rhetorik-Wettbewerb der Gymnasiasten. Begonnen hat das Rousseau-Jahr in Genf nicht mit einem rauschenden Fest der Kommune, sondern mit einer Honoratiorenversammlung auf der kleinen innerstädtischen Rousseau-Insel, wo das Festjahr unter dem Motto " Rousseau pour tous " - " Rousseau für alle " - eröffnet wurde. Mit Kies und Holzplanken wurde dem Inselchen über der Rhône ein neues Fundament geschaffen: eine kleine Rousseau-Idylle, auf der die Genferinnen summend ihre Vögel füttern, während in fünfzig Metern Entfernung ein unablässiger Verkehrsstrom die Ufer miteinander verbindet. Atmo Rousseau-Insel Schritte auf Holz, Stimmen, Filmgeräusche mit Autolärm und Vogelschreien gemischt) Evtl. Min. 13.00 - 14.00 Erzähler Mit einer kleinen Freiluftausstellung mitten im Großstadtverkehr und mit Kurzfilmen der ört-lichen Filmhochschüler buhlt die Insel hier um Aufmerksamkeit beim schlendernden Genfer Bürgertum. Und der Bronze-Rousseau von James Pradier aus dem Jahr 1835 - Genfs Geschenk an seinen berühmten Citoyen - schaut nicht mehr melancholisch über den See, sondern dem Stadtvolk streng und liebevoll ins Angesicht. Um 180 Grad gedreht und gründlich saniert dient die Statue heute den Genfer Großmüttern und ihren Enkeln bei ihrer identfikatorischen Lektüre: O-Ton in Atmo ?Rousseau-Insel' (falls die Qualität ausreicht) Kind buchstabiert: " Rosaff " Großmutter : " Nein : Rousseau - Citoyen de Genève " Min. 20.17 - 20.31 Übersetzer Rousseau - Bürger von Genf. Erzähler Das große Fest in den Straßen der Altstadt findet morgen statt: Am 28. Juni, seinem 300. Geburtstag, feiert ganz Genf rund um Rousseaus Geburtshaus. Dass sich die Stadt damit auch ein wenig in den Mittelpunkt aller Rousseau-Feierlichkeiten dieses Jahres drängelt, findet Francois Jacob, der Chef des Genfer Festjahres " Rousseau für alle ", in Ordnung : O-Ton (3) Francois Jacob Von Min. 15.28 bis Min : 16.53 Vous vous croyez le centre du monde ... ... les effets, qu'on peut critiquer ou qu'on peut au contraire louer, que les sources. Übersetzer `Haltet Ihr Euch für den Mittelpunkt der Welt ?', wurden wir anfangs gefragt. Natürlich tun wir das nicht! Aber Genf ist nun einmal die Geburtsstadt Rousseaus. So ist es also völlig normal, dass Genf auch den Reigen der Erinnerungen eröffnet. Vor einhundert Jahren stand noch Paris im Mittelpunkt. In diesem Jahr aber stellt sich Frankreich bezeichnenderweise tot. Die Aufmerksamkeit verschiebt sich also vom französischen Rousseau, in dem sich die Ideale der Revolution verkörpern, zu einem Genfer Rousseau. Ich finde das nur angemessen. Denn die Philosophen beginnen gerade jetzt noch einmal über seine politische Theorie nachzudenken. Und dabei konzentrieren sie sich sich heute weniger auf die politischen Auswirkungen seiner Philosophie, indem man sich auf sie beruft oder sie verwirft, als auf ihre Quellen. Erzähler Und diese Quellen - versteht sich - sprudeln in Rousseaus Schweizer Heimatstadt. Aber kann diese Heimatorientierung dem großen Philosophen eines weltumspannenden Aufklärungsprojektes gut tun? Was wird damit aus dem Helden der amerikanischen wie der französischen Revolution, dem Vordenker der modernen Demokratien und Menschenrechte, der sich schon in seinem frühen Enzyklopädie-Artikel zur " Politischen Ökonomie " soziale Gerechtigkeit letztlich in einem überstaatliche Weltwillen vorstellte ? Zitator aus Rousseau, Politische Ökonomie Nun wird die große Stadt der Welt selbst zur politischen Körperschaft, für die das Gesetz der Natur immer als Gemeinwille gilt und deren Staaten und verschiedene Völker nur Einzelmitglieder sind. Erzähler Nun - so weit ist die " große Stadt der Welt " von Genf nicht entfernt. Ist doch der kleine europäische Stadtstaat Genf, in dem Rousseau als Uhrmachersohn unter dem Eindruck von weinseligen Straßenfesten und kleinen, aber handfesten Aufständen aufwuchs, heute längst zum Symbol des "globalen Dorfes" geronnen, in dem Tag für Tag mühsam versucht wird, den weltweiten Gemeinwillen auszuhandeln. Gipfeltreffen, Abrüstungsverhandlungen, Friedensgespräche : Genf ist seit Jahrzehnten einer der wichtigsten Verhandlungsorte der Welt. Atmo: Flughafengeräusche Erzähler Unweit des Genfer Flughafens und der riesigen Messehallen der Palexpo ist Geneva International angesiedelt: das Genf der Vereinten Nationen. Und hier, im alten Völkerbundpalast, wo heute die europäische Filiale der UNO ihren Hauptsitz hat, hat auch die Ideenwelt von Jean-Jacques Rousseau - Gemeinwillen, weltweite Gerechtigkeit - noch ihren Ort. Von der höchsten Erhebung Genfs flattert Henri Dunants Rotes Kreuz über mehr als 450 Hilfsorganisationen und NGOs, die hier bis hinunter ans rechte Seeufer und weit hinein ins französische Savoyen angesiedelt sind. Atmo : Palais des Nations, Gänge, Cafeteria Erzähler Das labyrintische Gebäude-Ensemble des UNO-Hauptgebäudes mit 900 Büros auf 400 mal 200 Metern verströmt sanft alten Vorkriegs-Charme und lockt Besucher gern in eine dunkle Sackgasse, bevor es sich endlich zum imposanten Saal der Generalversammlung hin öffnet. Auf den Wegen zur Cafeteria geht es gut-babylonisch zu - nur die Gänge rund um die Bürosuite des kasachischen UN-Generaldirektors Takajew ruhen in ernstem Schweigen. Hier streift sich Ricardo Espinosa in seinem Büro mit den fast vier Meter hohen Wänden schnell noch das Jacket über das helle Hemd, verabschiedet seinen Kollegen mit dem schwankenden Aktenstapel im Arm ... Atmo : Büro-Gespräch (zum Beispiel aus O-Ton 4 mp3 Espinosa bei Min 18) ... und lächelt verbindlich: Öffentlichkeit ist diesem höflichen Genfer im sonst streng bewachten UNO-Palast ein vertrautes Geschäft. Denn Monsieur Espinosa ist beim Generaldirektor zuständig für die Zivilgesellschaften. Also für das Draußen im Innenleben der Staatengemeinschaft. Über 3.000 Nichtregierungsorganisationen haben bei Ricardo Espinoza ihr kleines Nadelöhr, durch das sie kriechen müssen, um den Nationen in aller Welt bei ihren Entscheidungen über Krieg und Frieden, Hunger oder Hilfslieferungen die richtigen Anstöße zu geben. Natürlich ist das alles streng geregelt - nach Konsultativrechten erster, zweiter oder dritter Wahl. Doch seit Gründung der Ecosoc, des Wirtschafts- und Sozialrats der Vereinten Nationen, vor vierzig Jahren ist diese Einmischung des Volks in die Angelegenheiten der Staaten zumindest kein reines Zufallgeschäft mehr. O-Ton (4) mp3 Espinosa Schnitt von Min. 7.02 bis 8.01 L'esprit de l'ONU est de travailler ensemble dans un environnement respectueux des règles ... ... de trouver des solutions plutôt que des confrontations. Übersetzer Hier in Genf setzen sich täglich die unterschiedlichsten Menschen aus den verschiedensten Regionen der Welt zusammen, um in gemeinsamen Sitzungen, oft aber auch in unzähligen Korridorgesprächen, den Cafés und Cafeterien für die großen Kriege und die Nöte in der Welt eine friedliche Lösung an Stelle blutiger Konfrontationen zu suchen. Erzähler Für den UNO-Beamten mit seinem kleinen, überarbeiteten Drei-Mann-Apparat bedeutet die Einbindung der Zivilgesellschaft einen kontinuierlich steigenden Arbeitsaufwand. Denn die Zahl der Nichtregierungsorganisationen nimmt in Genf von Jahr zu Jahr zu und mit der Professionalisierung steigen auch die Ansprüche. Doch Espinoza sieht darin gleichzeitig einen Durchbruch für eine ganz neue Welt, in der die Staaten das Gespräch mit der Weltgemeinschaft suchen. Und er ist sich dabei ganz sicher: Dies alles hat direkt etwas zu tun mit jenem " Bürger von Genf ", der vor 300 Jahren den Gesellschaftsvertrag zwischen den Menschen zur Grundlage für jedes politische Recht erklärte: O-Ton (4) mp3 Espinosa Schnitt Min. 17.01 bis 19.14 Nous vivon dans une époche, qu'on peut considérer parfaitement comme une prolongement de Rousseau. Rousseau parlait du contrat sociale, du pouvoir du peuple ... ... à un monde participative, ou la société eux même au-delà d'avoir élu ses représentants veut participé au prises des décisions. Übersetzer Wir leben in einer Zeit, die ganz zweifellos als eine Fortsetzung der Pläne und Vorstellungen Rousseaus verstanden werden kann. Rousseau sprach von einem Gesellschaftsvertrag der Menschen miteinander, also von der Macht des Volkes, über sein Schicksal selbst zu entscheiden. Heute leben wir in einer Welt, in der die Zivilgesellschaft eine ungleich größere Bedeutung hat als noch vor 50 Jahren. Wir sind aus einer repräsentativ verfassten in eine partizipativ organisierte Welt übergetreten. Heute fordern die Menschen, dass sie auch jenseits der Frage nach der Wahl ihrer Repräsentanten an den grundlegenden Entscheidungen über ihr Schicksal beteiligt werden. Und zwar ganz direkt. Erzähler Diese Entwicklung der UNO in den letzten 25 Jahren sei unmittelbar dem Geist der Stadt Genf geschuldet, findet Ricardo Espinoza: einem Politikverständnis, das schon immer auf Harmonie gegründet gewesen sei und in Rousseau ihren berühmtesten Vertreter habe. Deswegen führe man die humanitären Grundsatzdebatten auch immer noch hier, am alten Stammsitz der Völkergemeinschaft in Genf, und nicht am Hauptsitz der UNO in New York. Dies sieht Deutschlands Vertreter im Palais des Nations ganz ähnlich. Seit zwanzig Jahren ist Hanns Heinrich Schumacher als Botschafter Deutschlands in der Welt unterwegs - sein Weg führte auf acht Stationen von Tel Aviv über Sarajewo bis nach Bagdad; auch die UNO in New York lag auf diesem Weg. Genf ist nun seine letzte Station, und so ist dem Mann auf der knautschledernen Sitzgarnitur eine gewisse Gelassenheit anzumerken. Auf einem Abstellgleis der Weltgeschichte sieht er sich im kleinen Genf nicht. Im Gegenteil: In Genf hat die Weltorganisation das Gros ihrer Mitarbeiter, hier sitzen die meisten internationalen Organisationen mit ihren Hauptniederlassungen. Wo, wenn nicht in Genf finden die entscheidenden Diskussionen auf dem Weg zu einem Völker verbindenen allgemeinen Willen im Sinne Rousseaus statt?! Was nicht heißt, dass bereits die endgültige Realisierung dieser großen Zukunftshoffnung am Genfer Horizont aufscheint: Das sieht der welterfahrene Botschafter Schumacher nüchtern und realistisch: O-Ton (5) mp3 Botschafter Schumacher Schnitt Min 5.25 bis 7.41 Nach wie vor halte ich den von Rousseau verklärten allgemeinen Willen, die Volonté Générale, für eine Zukunftsutopie, der wir hier nachlaufen. Und man kann sich, wenn man auf die Situation der multilateralen Willensbildung heute schaut - auf die tatsächlichen Ergebnisse - eigentlich fragen, ob wir in der letzten Zeit nicht tatsächlich Rückschritte machen. Dafür gibt es viele Beispiele : Ich verweise auf die Klimaverhandlungen. Die vorletzte Klimakonferenz in Kopenhagen war ein Desaster ; wir sind bis heute unfähig, ein Nachfolgeprotokoll für Kyoto zu erstellen; die für uns alle, ob Nord-, Süd-, Industriestaaten, Entwicklunsstaaten, emerging powers, so eminent wichtigen Handelsverhandlungen im Rahmen der WTO stecken seit Jahren in einer Sackgasse. Die Kollegen schlagen sich hier zwar die Nächte um die Ohren, sind aber nicht in der Lage, zu einem Durchbruch zu kommen; ein weiteres Beispiel aus Genf sind die endlosen Verhandlungen der conference of disarmement, der Abrüstungskonferenz, die letztlich auch keine Ergebnisse zeitigen, und teilweise schon an der Tagesordnung scheitern. Die Frage ist also schon: Machen wir derzeit nicht einen Rückschritt? Müsste nicht das multilaterale System reformiert werden, wenn wir auf dem Weg zu einem völkerverbindenden allgemeinen Willen weiterkommen wollen? Erzähler Mit seiner nachdenklich-skeptischen Haltung würde Hanns Heinrich Schumacher wahrscheinlich auch unten im Genfer Rhône-Delta - bei der städtischen Rousseau-Gemeinde - einige Freunde finden. Atmo Innenstadt, Grand Rue Erzähler Da gibt es zum Beispiel Gabriel Galice, den Leiter des Genfer Friedensforschungsinstituts GIPRI, dem die Stadt zum Jubiläumsjahr Rousseaus ein internationales Kolloquium finanziert hat. Schon im Vorfeld seines Kongresses hatte Galice den 300jährigen Säulenheiligen Genfs in der Tageszeitung " Le temps " medienwirksam zum Kampf gegen Eurokraten und ein demokratievergessenes Merkozy-Gespann aufgerufen. In der engen Grand Rue vor dem kleinen Geburtshaus Rousseaus, wo noch die Gespräche aus den Straßencafés tönen, als fände gerade ein Rousseausches Stadtfest statt, verteidigt Galice diesen Aufruf noch einmal mit Verve: O-Ton (6) mp3 Galice Schnitt : Von Min. 2.04 bis 2.52 Ich war entsetzt - ganz einfach. Ich habe gehört, die Regierungen in Europa kritisierten den Premierminister Griechenlands, weil er die Idee gehabt hatte, dem Volk nach seiner Meinung zu fragen - über die Wirtschaftspolitik. Und Angela Merkel und Sarkozy und die anderen sagten: Nein, nein - das Volk hat kein Wort darüber! Also ist es eine Demokratie, eine Republik? Oder ist es eine Monarchie oder eine Oligarchie? Wenn das Volk nicht das Recht hat, sein Wort zu haben, ist es keine Demokratie mehr. Und ich denke, das ist eine Enthüllung der Scheindemokratie Europas. Erzähler Mit Rousseaus und großem Schweizer Kämpferherzen plädiert der Franzose Galice deshalb für die direkte Demokratie in überschaubarem Rahmen. Für Staaten wie die Schweiz eben, wo die Volksabstimmung noch zum Alltagsrecht gehört. Rousseau - lokal oder global? Anders als Galice denkt der wohl bekannteste Schweizer Globalisierungskritiker - Jean Ziegler, der als langjähriger UN-" Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung " zugleich auch zu den radikalen Kritikern der UNO gehört. Für einen Rousseauismus des Klein-Klein, wie ihn der Friedensforscher Galice vertritt, hat dieser Schweizer Großbürger nichts übrig. Atmo Weinberge um Russin nochmal hochziehen Erzähler Von den Weinbergen Satignys schaut Jean Ziegler über die Rhône hinweg auf sein fernes Städtchen Genève und kann sich nur noch wundern über diese Diskussionen, die ihm weltfremd und unpolitisch vorkommen. Seit 12 Jahren ist der Soziologe rund um den Planeten Erde für die Vereinten Nationen unterwegs und erkennt vor allem Hunger, Zerstörung und eine zunehmende Verelendung des gesamten Planeten. O-Ton (7) Ziegler Schnitt Min 1.36 bis 2.38 Ganz sicher geht es im 300. Jubiläumsjahr von Rousseaus Geburt darum, einen planetarischen Gesellschaftsvertrag zu schaffen. Den brauchen wir ganz dringend. Erstens, weil unser Planet,der wird in Stücke brechen, wenn nicht endlich etwas passiert: zum Schutz des Wassers, zum Schutz der Luft, zum Schutz der Biodiversifizität, zum Schutz der Pflanzenwelt, zur Bekämpfung der Nuklearindustrie und der Abfälle, die sie hinterlässt über Jahrtausende hinweg - giftigste Abfälle. Die Klimakatastrophen häufen sich. Und es muss endlich ein radikales Umdenken geben in der Weltwirtschaft und in der Beziehung der Menschen zur Natur, was wir mit diesem Planeten anstellen. Erzähler Hier ist er also noch mal, der Rousseausche Duktus, wie wir ihn aus in seinen fundamentalen Abhandlungen von vor 250 Jahren kennen. Radikal, kompromisslos und von hohem Sendungsbewusstsein - so, als würde noch einmal - jenseits aller Dialektik - jener Aufklärer sprechen, der einst nach dem großen Erdbeben von Lissabon gegen seinen alten Weggefährten Voltaire und für die Verantwortung des Menschen - und nur des Menschen - das Wort ergriff. Wie Jean-Jacques Rousseau publiziert auch Ziegler Gegenwartsdiagnosen in hoher Stückzahl. Die Wut, die einst den Kulturkritiker Jean-Jacques Rousseau prägte, staut sich heute in der Globalisierungskritik dieses internationalistischen Schweizers, der seine Weltuntergangsszenarien mit unablässigen Appellen zur Umkehr verbindet. Und immer wieder ist ihm sein Landsmann Rousseau dabei Kronzeuge und Stichwortgeber zugleich. Ihn in seinem Jubiläumsjahr für kleinstaatliche Lösungen der Weltprobleme zu instrumentalisieren, hält Ziegler deshalb - gelinde gesagt - für piefig. O-Ton (7) Ziegler Schnitt 5.12 bis 6.09 und direkt anschließend von 8.27 bis 9.45 Es geht ja nicht um Theologie, um Konzepttreue - ?Hat das mit Rousseau zu tun, nicht zu tun'! Rousseau hat den Begriff des Contrat social, des Gesellschaftsvertrages, als Ausdruck der Volkssouveränität geschaffen und gesagt, wie dieser Mechanismus geht: Die Menschen kommen zusammen - ob es viele oder weniger sind, kommt gar nicht darauf an - kommen zusammen als freie Menschen, geben einen Teil ihrer Freiheit ab an ein Kollektivsubjekt, kriegen diesen abgegebenen Teil der Freiheit aber dann zurück als Gesetz, dem sie frei zugestimmt haben, als Gesetz, das heißt also, als Lösung für konkrete Probleme. Und genau dasselbe muss jetzt geschehen - planetarisch. ... Etwas muss sich radikal ändern in unserer Beziehung zu diesem Planeten, sonst ist der dann bald einmal nicht mehr bewohnbar und dann gibt es uns auch nicht. Und das Gemeinwohl heißt Überleben - Überleben. Erzähler Es sieht ganz danach aus, als ob der alte Gesellschaftsphilosoph mit seiner Idee der Volkssouveränität noch viele Geister und Gemüter bewegt. Genf und Rousseau: darüber, wie er heute zu verstehen ist, wird es in seiner Heimatstadt wohl auch zu seinem 300. Geburtstag nicht zu einer Verständigung kommen. Nicht auf den Hängen, wo die Kosmopoliten sitzen und ihre Pläne für die Rettung der Welt diskutieren, und auch nicht unten im Rhône-Delta, in den Gassen der Altstadt, wo Rousseaus Vision für die Stadtrepublik gefeiert wird. Atmo : Rousseau-Musik von CD aufblenden, unterlegen Erzähler Werfen wir zum Abschluss noch einen Blick hinüber ins nahe Lausanne, in die entspannte Kulturhauptstadt der Genfer-See-Region. In Lausanne pflegt man eher ein distanzierteres Verhältnis zum Allround-Dilettanten Rousseau, der hier einst mit einem gründlich misslungenen Konzert nicht nur sich und seine Gastgeber bloßstellte, sondern nolens volens der ganzen Kulturbürgerschaft vor den Kopf stieß. Vergessen hat man ihm dies bis heute nicht. Rousseau findet in Lausanne 2012 nicht statt. Dies aber hindert seine langjährige sozialdemokratische Bürgermeisterin, die Wahlschweizerin Yvette Jaggi, nicht daran, sich mitten im Mittagslärm des Bahnhofslokals von Lausanne für ihren lebenslangen Wegbegleiter im Geiste in die Bresche zu werfen. Ob man Rousseau heute lokal oder global denken muss? Schon der kleine Jean-Jacques, sagt Yvette Jaggi, habe ja nicht nur das Leben des einfachen Volkes in den Straßen von Genf erlebt, sondern: ... O-Ton (8) Jaggi Schnitt 10.14 bis 10.24 Er war auch der Sohn eines Uhrenmachers, der nach Istanbul einfach gegegangen ist, um seine Uhren dort zu verkaufen, nicht! Erzähler Kosmopolitischen Geist habe er also sehr wohl mitbekommen, auch wenn er selbst durch die Erfahrung mit dem spätabsolutistischen Frankreich eher an die kleinen demokratischen Einheiten geglaubt habe. Aber dies müsse man ja nicht als Widerspruch verstehen, meint die Schweizer Politikerin französischer Herkunft. Sie selbst habe sich vor allem vor Ort eingesetzt und die Direktheit der Kommunalpolitik geschätzt - gleichzeitig aber sei sie bei Transparency International engagiert und setze sich für Mikrokredite für Frauen in Afrika ein. Atmo : Rousseau-Musik, die unter dem Text und den beiden Abschlusszitaten liegt Erzähler Eben dies, resümiert die Wahlschweizerin und lächelt einem der Passanten im Lausanner Bahnhofslokal bürgermeisterlich zu, eben dies sei doch schon immer ein Schweizer Phänomen gewesen : O-Ton (8) Jaggi Schnitt : 10.54 bis 11.07 Je mehr eine Einheit mit sich zufrieden und in Harmonie ist, je offener kann sie sein - zu Migranten und zu Kontakten mit anderen. Erzähler Ihr eigener Einsatz gegen Korruption und für die Markt-Wirtschaft der Frauen in Afrika sei ganz sicher im Sinne des engagierten Genfer Bürgers Jean-Jacques Rousseau: O-Ton (8) Jaggi Schnitt : 11.58 bis 12.41 Tansparency International, das heißt also die Bekämpfung der Korruption einerseits und Mikrokredite als Link von Person zu Person - also kleinere Summen und Lokalwirtschaft wie Lokalpolitik - das geht direkt in die Richtung von Rousseau. (12.28). Economie sociale et solidaire, wie man heute sagt, ist wirklich die Übersetzung in die Aktualität des Wirtschaftskonzeptes von Rousseau. Musik von Rousseau Schluss 1