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O-Ton 2 Cornelius Borck wav 01, 23:13 Der Der Hirntod war ja ein erster Versuch, und einer, der sich auch vielfach bewährt hat, in diesem Prozess des Sterbens eine Grenze zu ziehen, populär gesagt ist das die Grenze zwischen Leben und Tod. Aber jeder, der sich mit der Sache befasst, muss natürlich als allererstes feststellen, dass hier eine juristisch-ethisch-sozial-politische Einigung getroffen wurde: "Wir nennen diesen Zeitpunkt Tod, im Hinblick auf die Eröffnung der Möglichkeit Organtransplantation, weil er unumkehrbar geworden ist." AUTORIN 1 Wann ist der Mensch tot? Aus vielen Quellen speist sich, wie eine Gesellschaft Leben, Sterben und auch den Zeitpunkt des Todes definiert: Die wissenschaftliche Forschung ist nur eine davon. Kaum weniger einflussreich sind religiöse Gefühle und Menschenbild, politische Ordnung und ökonomische Verhältnissen. Sogar der Stand der Technik spielt eine Rolle. Ist der Tod das endgültige Ende? Muss der Mensch danach Rechenschaft ablegen? Das waren Jahrhunderte lang große Fragen, die den einzelnen Menschen, aber auch die Kultur des Abendlandes insgesamt bewegten. Heute ist das Sterben in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit gerückt. Petra Gehring, Professorin für Philosophie an der Technischen Universität Darmstadt, forscht über Theorien des Todes und des Sterbens: O-Ton 3 Petra Gehring 5:58 Sterben, und was wir damit machen sollen, ist geradezu ein modernes Projekt. Auch das Sterben zu verändern. Das ist neu! Das gab's interessanterweise in den Zeiten, in denen ritualisierte Formen für den Tod da waren und im Alltag präsent waren - da war das Sterben nicht so wichtig. Da war der Tod die Hauptsache. Inzwischen kann man vielleicht sagen: Der Tod als solcher ist zu so einer Privatsache, wo jeder so irgendwie mit umgehen kann, sich was denken kann dazu oder auch nicht, verkommen, geworden, wie auch immer. Dafür ist das Sterben ins Rampenlicht gerückt. Da wird auch dran gestaltet! Musik 2 Abstrakte Klänge 1 AUTORIN 2 Sterben - das ist heute eine Angelegenheit für Profis. Pfleger, Ärzte, Seelsorger, Hospiz- Mitarbeiter, Trauerfachleute sind darauf spezialisiert. Es gibt Bücher, Hilfestellungen im Internet, Handreichungen von Psychologen. O-Ton 4 Petra Gehring 10:42* Also: Da fließt Geld. Hier haben wir ein ganzes, organisiertes Feld. Und die Politik gestaltet das auch. Es ist so eine Art semi-öffentliche Aufgabe, die aber von verschiedenen Berufsgruppen übernommen werden. Es gibt Juristen, die rechtliche Dokumente bereithalten, Patientenverfügung hieß das früher, heute heißt das Vollmacht. Wir haben die Medizin, die etwas tut. Wir haben auf der anderen Seite den Betroffenen und seine Angehörigen als Kunden. Die müssen Entscheidungen liefern. AUTORIN 3 In dieses komplexe, gesellschaftliche Gefüge hinein dringen neue Nachrichten aus der Forschung. Sie betreffen das, was in einem Menschen vor sich gehen kann, wenn das Gehirn bereits einen großen Teil seiner Tätigkeiten eingestellt hat. Es ist einiges mehr, als man bislang dachte. Eine neue Debatte steht an: um den Hirntod, um den Tod, um kulturelle Vereinbarungen. Musik 3 Flotte Klänge vom Anfang der 1950er Jahre, Sound wie aus dem Kofferradio Geräusch 2 (kommt aus der Musik hervor + löst sie ab) Pumpen einer Herz-Lungen-Maschine AUTORIN 4 In den 1950er Jahren erleben die westlichen Industrieländer einen gewaltigen medizintechnischen Fortschritt. Die Herz-Lungen-Maschine erobert das Krankenhaus. Erstmals können Ärzte einen Patienten nach dem Herzstillstand am Leben halten - und beobachten ganz neue Phänomene: S P R E C H E R 1 Mitunter kann der Arzt zwar den Herzkreislauf wieder aktivieren, aber die Patienten atmen nicht von allein weiter, wenn man sie von der Beatmungsmaschine nimmt. Der Grund dafür liegt im Gehirn: Während der Reanimation steht das Herz vorübergehend still. Dabei kann es zu einer so starken Mangeldurchblutung kommen, dass das Gehirn schwerste Schäden erleidet. AUTORIN 5 Zwei französische Neurophysiologen beschreiben diesen Zustand erstmals 1959 und nennen ihn coma depassé - das überschrittene Koma. Was soll man tun mit diesen Patienten? Sie ewig weiter beatmen? Sie abschalten, sterben lassen? Oder - ihnen Organe für Transplantationen entnehmen? Denn auch solche Eingriffe werden nun möglich. Ärzte agieren weltweit in einer juristischen Grauzone. 1967 gelingt dem südafrikanischen Chirurgen Christian Barnard die erste Transplantation eines Herzens - nur möglich, wenn man im Rahmen der Intensivmedizin einen Spender vor sich hat, der tot genug ist, um sein Herz zu entnehmen, und doch so lebendig, dass dieses Herz noch schlägt. Musik 4 Ernste Klänge 2 AUTORIN 6 Doch was den einen zum internationalen Superstar macht, bringt den anderen ins Gefängnis: In Japan wird der Herzspezialist Sura Wada 1968 wegen Mordes an dem Menschen verurteilt, dessen Organe er entnahm. In dieser Situation kommt an der Harvard Universität in den USA 1968 ein Adhoc-Komitee zusammen, um Klarheit zu schaffen. Es besteht aus zehn Ärzten und jeweils einem Theologen, Juristen und Wissenschaftshistoriker. Cornelius Borck, Professor für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin an der Universität Lübeck: O-Ton 5 Cornelius Borck 18:57 Das hat fortan immer die Diskussion über den Hirntod überschattet: Es war nicht das Ergebnis eines groß angelegten Forschungsprojektes oder einer Konsensus-Konferenz oder so etwas. Sondern der Ausgangspunkt war das Vakuum, in dem man Orientierung brauchte, weil man sich eben so sicher war, dass man hier Neuland betritt in medizinethischer Hinsicht, wo unbedingt vorher eine Expertise da sein musste. AUTORIN 7 1968 tritt eine neue Definition des Todes in die Welt: der Hirntod. Zweitausend Jahre lang hatte die Regel gegolten: Der gesamte Organismus muss verstorben sein, bevor ein Menschen als tot gilt. Das Adhoc-Komitee fordert Ärzte auf, nur ein Organ in den Blick zu nehmen - das Gehirn. Und es legt Kriterien fest: S P R E C H E R 2 Der Patient muss sich in einem tiefen Koma befinden, darf weder spontane Bewegungen noch Atmung oder Reflexe zeigen. Reaktionen auf Schmerzen bleiben aus. Das EEG zeigt eine flache Nulllinie. AUTORIN 8 Ausdrücklich verknüpft das Adhoc-Komitee den neuen Tod mit Nützlichkeitserwägungen und schreibt: S P R E C H E R 3 Es gibt zwei Gründe, warum es einen Bedarf für eine Definition gibt. Erstens: Die Last ist groß für die Patienten, die den permanenten Verlust ihres Intellekts erleiden, für ihre Familien, für die Krankenhäuser und solche Patienten, die eines der Intensivbetten bedürften, das durch komatösen Patienten belegt ist. Zweitens: Veraltete Kriterien für die Definition des Todes können zu Kontroversen bei der Beschaffung von Spenderorganen führen. AUTORIN 9 Umgehend regt sich Kritik. Vehement spricht sich der Philosoph Hans Jonas dagegen aus, den Tod zweckbestimmt zu definieren, um Organe zu gewinnen. Da die genaue Grenze zwischen Leben und Tod nicht bekannt sei, müsse jeder Patient im Zweifel so behandelt werden, als befände er sich noch auf der Seite des Lebens. Hans Jonas fordert: S P R E C H E R 4 Wir überlassen es der Natur, die Grenzlinie zwischen Leben und Tod zu überschreiten, wo immer sie sei, oder das Ganze Spektrum zu durchqueren, wenn es mehr als eine Linie gibt. AUTORIN 10 Damit sind sehr früh die Positionen abgesteckt, die sich beim Thema Hirntod bis heute gegenüberstehen. Sie sind auch zu hören, als der deutsche Bundestag 1997 ein Transplantationsgesetz verabschiedet und es im Vorfeld umfangreiche Anhörungen dazu gibt. S P R E C H E R 5 Befürworter argumentieren, dass der Mensch mit dem irreversiblen Erlöschen seiner Gehirnaktivitäten aus naturwissenschaftlich-medizinischer Sicht tot sei. Sie möchten Leid ersparen und nützliche Organe Kranken zu Gute kommen lassen. Für die Gegner bedeutet der Hirntod eine willkürliche Vorverlegung der klinischen Todesfeststellung. Hirntote sind für sie Sterbende. Musik 5 Abstrakte Klänge 2 (ab hier jeweils unter Autorin hochziehen, unter Rotondo-O-Tönen abblenden) AUTORIN 11 Auf beiden Seiten finden sich Ärztinnen und Ärzte, Medizinethiker und Philosophen. Wenig gehört werden die Menschen, die am intensivsten mit als hirntot diagnostizierten Menschen zu tun haben: Krankenschwestern und Pfleger. Laut einer Studie aus dem Jahr 2002 empfindet die Hälfte von ihnen den Umgang mit Hirntoten als psychisch belastend. Der Psychologe Roberto Rotondo war in Hamburg lange Jahre Pfleger auf einer Intensivstation und hat dort auch hirntote Patienten versorgt: O-Ton 6 Roberto Rotondo 1:49 Sie können sich sehr heftig bewegen, wo ich denke, dass das eigene Bauchgefühl da nicht mehr hinterher kommt. Weil das so extrem aussieht, dass ein Mensch jedes Mal wirklich die Beine wegzieht, wenn ein Schmerzreiz gesetzt wird oder wenn man gekniffen wird. Dass die Hand, die neben einem so liegt, dass die dann wirklich bis zum Brustkorb hochkommt. Und sich dann vorzustellen, da sagt mir einer, "dass ist nichts mehr, der merkt nichts, das ist ein Toter" - das ist schwer vorstellbar, wenn man es sieht. Und das irritiert - Pflegekräfte, Angehörige. Ich weiß, dass es auch Mediziner sind. Aber das öffentlich zu sagen, kann man sich nicht so wirklich erlauben. AUTORIN 12 Die Bewegungen der Hirntoten seien Reflexe eines längst untergegangenen Gehirns, lautet die neurophysiologische Erklärung. Viele Schwestern und Pfleger behandeln Hirntote wie normale Patienten, oft sprechen sie sogar mit ihnen. O-Ton 7 Roberto Rotondo 1:15 Diese Menschen liegen im Bett, sie schwitzen, sie scheiden aus. Sie müssen die waschen, Mundpflege machen, Zahnpflege machen. Also Sie müssen wirklich dafür sorgen, dass dieser Körper in einem guten Zustand bleibt für den Transplantierten, also den Wartelisten-Patienten. AUTORIN 13 Die Pflegekräfte sollen sich nicht dem Hirntoten zuwenden, sondern seinen Organen, die frisch gehalten werden müssen. Wenn sie den Hirntoten wenden, geht es nicht darum, ihn vor dem Wundliegen zu schützen, sondern die Lunge soll keinen Schaden erleiden. Wenn sie seine Augen regelmäßig befeuchten, geht es um die spätere Hornhaut-Transplantation. Ein psychischer Spagat für viele Pflegekräfte. Laut Studie hält mehr als ein Drittel von ihnen den Hirntod nicht für den Tod eines Menschen - dann wird es zur Qual, bei der Organentnahme zu assistieren. Der Psychologe Roberto Rotondo hat die Erfahrungen von Pflegekräften untersucht: O-Ton 8 Robert Rotondo 24:52 Wenn man das berichtet kriegt, wie jemand sagt, also wenn der Brustkorb offen ist und das Herz schlägt noch bei einem Hirntoten, und dass ein Pfleger dann - ich hab mal einen interviewt - dann die Klemme öffnet, das war sein Job, auf Anordnung, und dann bleibt das Herz stehen. Und das war für ihn der Moment - das war jetzt seine Wahrheit - dass er auf Anweisung diesen Menschen dann umgebracht hat. Natürlich hat er ihn nicht umgebracht. Aber emotional macht das ja was. Das hat mich als Psychologe interessiert: Wie kommt man damit klar? Und viele kommen da nicht gut mit klar. So wie Einzelne Alpträume kriegen, aufhören müssen, trinken - sehr unterschiedliche Strategien. AUTORIN 14 Ob auf Plakatwänden, in Radiospots oder Apothekenzeitungen - überall wird für Organspenden geworben. "Bitte geben Sie Ihren Angehörigen frei und retten damit das Leben eines anderen Menschen" - es ist die unglücklichste Frage zum ungünstigsten Zeitpunkt an die unglücklichsten Familien. Viele der Gefragten geraten dabei in seelische Konflikte - die Angehörige Renate Greinert hat über ihre Erfahrung sogar ein Buch geschrieben. Auf der Intensivstation verabschiedete sie sich von ihrem fünfzehnjährigen Sohn Christian, der nach einem Unfall äußerlich fast unversehrt aussah: SPRECHERIN 1 Die Geräte an die er angeschlossen war, liefen weiter, er war immer noch warm, er wurde weiter behandelt, Infusionen wurden erneuert. Wie konnte mein Sohn schon tot sein, wo er doch noch so lebendig aussah und wie ein Lebender behandelt wurde? AUTORIN 15 Renate Greinert traf die schwere Entscheidung und gab ihren Sohn zur Organentnahme frei. Warm hatte sie ihn zurückgelassen. Blass, kalt, der Hals durchschnitten, die Augen fehlten, Knochen waren heraus gesagt - so sah sie ihn wieder. Seitdem quälen die Mutter schwere Schuldgefühle: Ihr Kind beim Sterben allein gelassen zu haben. SPRECHERIN 2 Unser Einverständnis war ungefragt zu einer Multiorganentnahme ausgeweitet worden. Vielleicht denken Sie, der wäre doch sowieso gestorben. Warum nicht noch etwas Sinnvolles mit ihm anfangen? Darum geht es mir gar nicht. Mir geht es darum deutlich zu machen, dass Sterbende noch keine Verstorbenen sind. Sie haben noch ein Stück Leben vor sich, das sie zu Ende bringen müssen. Mein Kind konnte nicht sicher in seinen Tod hinüber gleiten. Musik 6 Ernste Klänge 3 AUTORIN 16 Zweitausend Jahre lang galt die alte medizinische Regel: Erst wenn das Herz aufhört zu schlagen und wenn alle Lebensfunktionen still stehen, ist der Mensch tot. Todeszeichen wie Leichenstarre und Leichenflecken gibt es nur bei Toten, Lebenszeichen wie Herzschlag und Bewegungen nur bei Lebenden. Professor Andreas Zieger, ärztlicher Leiter der Station für Schwerst-Schädel-Hirngeschädigte am Evangelischen Krankenhaus Oldenburg, am Rande einer Tagung: O-Ton 9 Andreas Zieger 7:54 So ist es auch heute noch, wenn wir in ein Pflegeheim gerufen werden: Wir suchen dann nach sicheren Todeszeichen und müssen als Arzt die Verantwortung dafür übernehmen, dass dieser Mensch tot ist. Aber das ist das Herztod-Konzept: Das beruht darauf, dass - im Rahmen einer schweren Krankheit - die Herzfunktionen schwächer werden, dann kommt es zum Herzstillstand und dann - etwa nach zehn Minuten Herzstillstand ist auch das - große Teile des Gehirns abgestorben. Und dann ist auch das Atemzentrum im Gehirn abgestorben und dann kommt der letzte Atemhauch. AUTORIN 17 Die Hirntod-Definition vermengt Leben und Tod in einer neuartigen und bis dahin unvorstellbaren Weise: Bei ein und demselben Menschen treten Lebens- und Todeszeichen gleichzeitig auf. Schon lange wissen Pflegende und Mediziner, dass als hirntot diagnostizierte Männer beispielsweise Erektionen haben können - sichere Todeszeichen hingegen wie Totenflecken oder Leichenstarre findet man bei ihnen nicht. O-Ton 10 Andreas Zieger 1:25 Menschen, die im Hirntod auf der Intensivstation liegen oder die hirntot sterben, sind ja an der Beatmungsmaschine, obwohl sie als tot dann ab einem bestimmten Zeitpunkt definiert sind. Sie haben eine warme, durchblutete Haut. Sie haben Atembewegungen, künstlich. Sie haben Herzschlag. Sie haben also Lebenszeichen, obwohl wir vorher nach Todeszeichen gesucht haben - nämlich abgestorbenes Gehirn, keine Hirnstammreflexe, keine Eigenatmung mehr und auch keine Erweckbarkeit auf stärkste Schmerzreize. Und das ist ein erhebliches Paradox, dass nach der erfolgreichen Suche von Todeszeichen Lebenszeichen bestehen bleiben, denn wir definieren ja den Tod als Ende des Lebens. Musik 7 Ernste Klänge 4 AUTORIN 18 Obwohl Hirntote bei Schmerzreizen nicht erwachen, nimmt ihr Körper möglicherweise Schmerzen wahr. Schon 1992 stellte eine Untersuchung fest, dass einige als hirntot diagnostizierte Patienten bei der Organentnahme massive Reaktionen zeigten: Der Blutdruck stieg an, das Herz schlug schneller, Stress anzeigende Botenstoffe wurden ausgeschüttet. Dies kann man als Rückenmarksreflexe deuten - oder als heftige Schmerzreaktion. Im Jahr 2000 forderte eine britische Anästhesie-Fachzeitschrift grundsätzlich die Vollnarkose für hirnstammtote Organspender - auch um das Unbehagen von OP-Teams zu mindern. In der Schweiz ist die Vollnarkose vorgeschrieben, in Deutschland nicht. Hier gibt es auch keine neue Debatte um den Hirntod - während das Thema in anderen Ländern nie aufhörte, die Gemüter zu bewegen. S P R E C H E R 6 In den USA gipfelte die Diskussion 2008 in einem hundertseitigen Bericht: "Kontroversen um die Festlegung des Todes". Herausgegeben hat das Dokument der "President's Council", das amerikanische Pendant zum deutschen Ethikrat. Der Bericht rollt die Kernfrage erneut auf: Ist der Hirntod eines Menschen wirklich mit seinem Tod identisch? AUTORIN 19 Der amerikanische Ethikrat listet ein Bündel an Erkenntnissen und Beobachtungen auf, manche neu, machen schon einige Jahre alt. In der Zusammenschau verdichten sich die Hinweise, dass einige Begründungen des Hirntods nicht mehr zu halten sind. Die Medizinethikerin Sabine Müller hat mit ihren Aufsätzen dafür gesorgt, dass der Bericht des amerikanischen Ethikrates zumindest in der deutschen Fachöffentlichkeit zur Kenntnis genommen wird: O-Ton 11 Sabine Müller 4:16 Dann hat man inzwischen mehrere Fälle von hirntoten Schwangeren, die bis zu drei Monate ihrer Schwangerschaft noch aufrecht erhalten haben, also mit künstlicher Beatmung, und dann am Ende mit Kaiserschnitt von einem gesunden Kind entbunden worden sind. Und das sind eben alles vitale Funktionen, die auf keinen Fall bei einer Leiche da wären. Also man kann eine Leiche nicht künstlich beatmen, sondern man könnte sie höchstens aufpumpen, und dann würden Gefäße einfach zerplatzen. Das ist bei einem Hirntoten nicht der Fall, weil da das Herz noch schlägt. Und mit dieser künstlichen Beatmung können eben diese ganzen Lebensfunktionen wie bei einem Koma-Patienten noch selbständig weitergehen. S P R E C H E R 7 Als hirntot diagnostizierte Menschen verdauen, haben Stoffwechsel. Ihr Körper bekämpft Infektionen und Krankheitskeime durch Fieber. Wunden verheilen. Bei einigen wenigen hirntoten Kindern lassen sich Längenwachstum und sogar der Beginn einer sexuellen Entwicklung beobachten. AUTORIN 20 Die zentrale Annahme des Hirntodkonzeptes lautet, dass nur die Herz-Kreislauf- Unterstützung - und auch sie nur für kurze Zeit - den Menschen am Leben hält. Schaltet man sie ab, tritt unmittelbar und zwingend der Herzstillstand und damit der Tod ein. Diese Annahme ist laut Bericht des amerikanischen Ethikrates widerlegt. Das Dokument listet allein aus den neunziger Jahren einhundertfünfundsiebzig Fälle auf, in denen Menschen nach dem diagnostizierten Hirntod noch zwischen einer Woche und erstaunlichen vierzehn Jahren weiterlebten - ohne Kreislauf-Unterstützung, nur mit künstlicher Beatmung. Damit gerät auch eine weitere Grundlage des Hirntodkonzepts in Zweifel: Das Gehirn sei die Steuerzentrale aller Körperfunktionen. Es gibt ganz offensichtlich auch so etwas wie die Autonomie des Organismus. Aus seinen Erhebungen sollte der amerikanische Ethikrat konkrete Schlüsse und Vorschläge ableiten. Drei Alternativen wurden diskutiert: S P R E C H E R 8 Erstens: Tod und Hirntod gelten als identisch, allerdings muss dann eine neue Begründung gefunden werden. Zweitens: Tod und Hirntod gelten als nicht identisch. In diesem Fall dürfen keine Organe entnommen werden. Drittens: Tod und Hirntod gelten nicht als identisch, aber die Gesellschaft verzichtet auf die Tote-Spender-Regel. Sie akzeptiert, dass ehemals als hirntot bezeichnete Organspender zum Zeitpunkt der Organentnahme noch leben, weil dies dem Wohl anderer Menschen dient. AUTORIN 21 Bei einigen Bioethikern in den USA weckte die dritte Variante umgehend den Wunsch, den Spenderkreis auszuweiten: auf Komapatienten oder auf Kinder, die ohne Großhirn geboren werden. Nachdem der amerikanische Ethikrat die drei Optionen diskutiert hatte, entschied sich die Mehrheit für die erste davon: Hirntod und Tod sollten weiterhin als identisch gelten - allerdings mit einer neuen Begründung. Einer Begründung, die sich nicht mehr auf die Biologie stützt, sondern philosophisch argumentiert. Die Medizinethikerin Sabine Müller: O-Ton 12 Sabine Müller 7:58 Die hat nichts mehr mit der naturwissenschaftlichen Definition des Lebens zu tun, sondern ist sehr viel anspruchsvoller. Und mit dieser neuen Definition ist ein Hirntoter dann wieder, tja, ein totes Objekt. Diese neue Definition ist allerdings sehr anspruchsvoll, und zwar erfordert sie eine aktive Auseinandersetzung eines Organismus mit seiner Umwelt. Der Organismus soll erkennen, was er benötigt, was er aus der Umwelt zur Verfügung hat und was er sich dann nehmen kann, um es seinen Bedürfnissen gemäß zu benutzen. Und sie sagen dann: Konkret sind diese Anforderungen erfüllt, wenn ein Organismus selbständig atmet und wenn er Bewusstsein hat. AUTORIN 22 Die neue Begründung lässt wenig Spielraum für Formen des Lebens, die den strikten Kriterien nicht entsprechen. Sie ist so eng gefasst, dass Embryonen und sogar noch Föten kurz vor der Entbindung nicht als lebendig gelten würden; denn es ist unklar, ob sie ein eigenes Bewusstsein besitzen - und selbstständig atmen können sie mit Sicherheit nicht. Darum haben sich einige Mitglieder des amerikanischen Ethikrates dem Votum nicht angeschlossen. Für sie ist die Frage nach wie vor offen, ob Hirntote wirklich Tote sind. Musik 8 Abstrakte Klänge 3 AUTORIN 23 Betrachtet man den Umgang mit dem Hirntod im internationalen Vergleich, zeigt sich ein Nebeneinander verschiedenster Definitionen und Diagnosemethoden. Zunächst einmal gilt die Diagnose "Hirntod" in ganz Europa als Kriterium für eine Organentnahme. Eine Ausnahme bildet Großbritannien, wo so genannte "Super-Locked-in-Patienten", die bei vollem Bewusstsein auch ihre Augen nicht mehr bewegen können, juristisch als Tote gelten: O-Ton 13 Sabine Müller 23:31 Dort gilt man bereits als tot, wenn der Hirnstamm tot ist. Also, da könnte es sein, dass jemand, dessen Cortex noch funktioniert und der noch bei Bewusstsein ist, aber vollständig gelähmt ist und auch nicht über Augenbewegungen kommunizieren kann, für tot erklärt wird. AUTORIN 24 Es gibt keine Untersuchungen, ob dies im britischen Klinik-Alltag tatsächlich geschieht. Auch für die Diagnose Hirntod sind von Land zu Land unterschiedliche Verfahrensweisen vorgeschrieben. In Deutschland hat die Bundesärztekammer drei Begutachtungsschritte festgelegt. Zuerst muss geklärt werden, ob der Ausfall der Hirnfunktionen nicht vielleicht auf Medikamente, eine Vergiftung oder Unterkühlung zurückzuführen ist. In einem zweiten Schritt müssen Ärzte prüfen, ob der Patient wirklich nicht mehr atmet und bestimmte Reflexe wie Schluck- und Würgereiz erloschen sind. Drittens müssen sie eine bestimmte Zeit verstreichen lassen und dann erneut prüfen, ob sich die Hirnschädigung tatsächlich als unumkehrbar erweist. Nur bei Kindern bis zu zwei Jahren müssen dabei zwingend Apparate wie das EEG eingesetzt werden. O-Ton 14 Sabine Müller 12:33 Deutschland ist in der Hinsicht Hirntod-Diagnostik weit zurück hinter vielen anderen Ländern. Was bei uns vorgeschrieben ist, ist die so genannte "klinische Diagnostik". Das ist etwas, was ein Arzt an der Bettkante machen kann, wie es so heißt, Reflextests und Atemstillstand-Test und eine bestimmte Beobachtungszeit von zwölf bis zweiundsiebzig Stunden, je nach Hirnschädigung. Auch weiter führende Methoden wie zum Beispiel Angiographie - das ist eine Untersuchung der Durchblutung des Gehirns - kann in Deutschland angewendet werden, muss aber wiederum nicht. AUTORIN 25 Ganz Skandinavien, Luxemburg, Frankreich, die Niederlande, Mexiko und Argentinien schreiben eine apparative Zusatzdiagnostik zwingend vor - Polen und Großbritannien nie. Dafür sind Mediziner in Italien sogar verpflichtet, dreimal ein EEG zu messen. Auch die Gehirnareale, die untersucht werden müssen, unterscheiden sich. In vielen Ländern, darunter auch Deutschland, muss der unumkehrbare Ausfall von Großhirn, Kleinhirn und des Hirnstamms feststehen. In Großbritannien genügt der endgültige Ausfall des Hirnstamms. Was lässt sich aus all diesen Unterschieden schließen? O-Ton 15 Sabine Müller 18:34 Das deutet darauf hin, dass es keine wissenschaftliche Grundlage für die Hirntod-Diagnostik gibt. Das ist auch Anfang diesen Jahres von der American Academy of Neurology festgestellt worden. Die haben die in den USA gültigen Hirntod- Kriterien verfasst, haben aber jetzt angemahnt, dass wissenschaftliche Forschung notwendig sei, um sie besser abzusichern. Sie haben auch festgestellt, dass es selbst in den USA in verschiedenen Bundesländern unterschiedliche Vorgehensweisen und Kriterien für die Hirntod-Diagnostik gibt, und weltweit gilt es erst recht. AUTORIN 26 Zudem ist die Gefahr einer Fehldiagnose immer gegeben, zum Beispiel die Verwechslung mit einer Vergiftung oder einem Komazustand. Eine Studie der Universitätsklinik Newark stellte fest, dass Ärzte ohne Apparate in elf Prozent der Fälle zu einem anderen Ergebnis kommen als mit. Darüber hinaus gibt es keine Untersuchungen: O-Ton 16 Sabine Müller 13:57 Weil man das auch gar nicht untersuchen kann! Denn die Patienten werden danach entweder zur Organspende freigegeben, das heißt, danach sind sie natürlich dann tot, oder man schaltet die künstliche Beatmung ab. Und bei Patienten in einem derart kritischen Zustand ist das natürlich auch dann das Lebensende. Das heißt, man hat eigentlich überhaupt keine Chance, Fehldiagnosen zu entdecken. Musik 9 Abstrakte Klänge 4 Geräusch 3 Pumpen einer Herz-Lungen-Maschine AUTORIN 27 Während der umstrittene Hirntod noch gängige Praxis ist, stützen sich Intensivmediziner in den USA bereits auf ein weiteres Kriterium, um den steigenden Bedarf an Organspenden zu decken. Es ist der "neue Herztod". Beim klassischen Herztod muss das Herz für mindestens zehn Minuten irreversibel stillstehen. Für den neuen Herztod unterbrechen Ärzte die Reanimation eines Schwerstkranken. Ihr Ziel: Das Herz soll einige Minuten stillstehen. Dann stellen sie den Herztod fest und schließen den Patienten wieder an Maschinen an - bis zur Organentnahme. Die Organentnahme von so genannten "non heart beating donors", von "Spendern ohne Herzschlag", dringt bereits nach Europa vor. O-Ton 17 Sabine Müller 50:26 Das, was besonders paradox ist: Zum Teil werden sogar noch Herzen aus diesen Patienten entnommen. Das heißt, die Patienten werden für tot erklärt, weil das Herz nicht mehr funktioniert. Dann wird das Herz aber herausgenommen, transportiert und in einen anderen Menschen implantiert - und dort funktioniert es noch. Musik 10 Abstrakte Klänge 5 (bis zum Ende unter Autorin + O-Tönen lassen) AUTORIN 28 In den USA und auch in Kanada wird das wissenschaftliche Wanken des Hirntodkonzeptes bis in die Massenmedien hinein debattiert. In Deutschland herrscht weitgehend Schweigen. Abzuwägen zwischen den Hoffnungen Kranker, die auf ein Spenderorgan warten, und den Menschen, die - irgendwo zwischen Leben und Tod - diese Organe spenden sollen, ist ethisch schwieriges Terrain. Gerade darum wäre es auch hierzulande an der Zeit, das Gespräch darüber aus engsten Fachzirkeln heraus in die Öffentlichkeit zu holen. O-Ton 18 Roberto Rotondo 8:59-5 Transplanteure - was qualifiziert sie denn, über den Tod Bescheid zu wissen, mehr als beispielsweise eine Pflegekraft? Ärzte, Mediziner, ob Philosophen das überhaupt besser machen als andere? Was qualifiziert Menschen sich hinzustellen und zu sagen, dieser, der da so lebendig aussieht, der ist tot? Und kann das durchsetzen. O-Ton 19 Sabine Müller 25:24 Ich meine, dass zumindest ein EEG gemacht werden muss. Dann sollte man eine Angiographie machen, um die Durchblutung des Gehirns festzustellen. Und wenn dann noch Zweifel sind, sollte man auch kernspintomographische Verfahren einsetzen. 40:07 Und dann denke ich, einfach aus Vorsorgegründen, sollte man Vollnarkose geben für die Spender, denn letztlich wissen wir nicht hundertprozentig, ob sie noch etwas empfinden. O-Ton 20 Cornelius Borck (wav 01) 21:24-3 Ohne Zweifel sterben die Patienten, denen Organe entnommen werden. Sie sind geschädigt in einer Weise, die mit dem Leben nicht vereinbar sind, die in einem Zustand sich befinden, aus dem es kein Zurück mehr gibt. (wav 02, 7:09) Aber ich kann mir in der Tat vorstellen, dass in hundert oder zweihundert Jahren wir mal zurückblicken werden auf das Zeitalter der Organtransplantationen als einen heroischen, aber letztendlich zum Glück überwundenen Seitenweg der Medizin. O-Ton 21 Petra Gehring 23:45 Die Konsequenz müsste sein, die Explantation einzustellen, also das Hirntod-Kriterium so fallen zu lassen und ein anderes, späteres Kriterium - möglicherweise die alten Kriterien, Leichenstarre, Blässe, Totenflecken und so weiter - wieder einzuführen. Nur dann kann man die Organe nicht mehr verwenden. Das heißt, es stehen wesentliche Teile des Organ- Transfairs auf dem Spiel. O-Ton 22 Andreas Zieger 12:27 Wir müssten eine Diskussion führen in der Gesellschaft über die Ethik des Lebens, die Ethik des Lebendigen. Wir müssen uns erstmal unterhalten: Wie sollen denn die ethischen Regeln, die Werte sein, die über die Organverpflanzungen dann letztlich entscheiden, wenn man es nicht mehr an einen Todeszeitpunkt oder ein Todeskriterium knüpft? Und diese Vision, die sich daraus ergibt, kann ich nicht vorhersagen. Musikende 1 von 19