COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Deutschlandrundfahrt Das Leben ist ein langer, ruhiger Fluss Dem Pulsschlag der Ruhr auf der Spur Von Michael Frantzen Sendung: 07. September 2013, 15.05 Uhr Ton: Inge Görgner Regie: Karena Lütge Redaktion: Margarete Wohlan Produktion: Deutschlandradio Kultur 2013 1. Atmo (Ruhr fließt vor sich hin, Enten im Hintergrund) Regie: Kurz frei stehen lassen und dann unter nächsten O-Töne und Autor blenden 1. O-Ton (Walterscheid) „Die Ruhr?! Ja?! (lacht) Mit der Ruhr verbinden dann viele halt auch wieder das Thema, klar: Industriefluss.“ Autor Doch von wegen. Hat nämlich fast was vom Amazonas hier. 2. O-Ton (Ewers) „Ich bezahl jeden Tach 6,50 Kurtaxe.“ (lacht) Autor Da ist er nicht der einzige. 3. O-Ton (Sondermann) „Ich möchte Ihnen ehrlich gesagt jetzt auch nicht zu viel von der Ruhr vorschwärmen. Denn noch bin ich hier alleine und hab meine Ruhe an der Ruhr.“ 2. Atmo (Ruhr fließt vor sich hin, Enten im Hintergrund) Regie: Kurz frei stehen lassen und dann langsam wegblenden Kennmusik Sprecher vom Dienst: Das Leben ist ein langer, ruhiger Fluss Dem Pulsschlag der Ruhr auf der Spur Eine Deutschlandrundfahrt von Michael Frantzen 4. O-Ton (Hans-Peter Steger draußen) „Hinter unserem Haus geht ja direkt der Radweg her. Die fahren da oben her. Gucken se: Oh?! Campingplatz?! Fragen se. Weil wir auch nirgends eingetragen sind. Datt wollen wir auch nich. Weil datt zu klein is. So ne kleine Idylle soll das bleiben.“ Autor Bei Stegers. Am Fluss. 5. O-Ton (H.P. Steger) „Wir befinden uns in Witten-Bommern. Ich heiße Hans-Peter Steger. Führe mit meiner Frau die Gaststätte hier; Camping-Platz. Die heißt Edeltraut.“ Autor Die Frau. 6. O-Ton (Edeltraut Steger) „Manche sind dann so überrascht, wenn se hier runter kommen. Weil das bei uns ja noch alles auf alt is. Nich so auf Moderne. Modern sehen se wahrscheinlich überall. Aber wenn se hier so unter runter kommen, sehen se das Grün. Wasser und so.“ Autor Viel Wasser. Blaues Wasser. Willy Brandt hätte seine helle Freude daran gehabt. Ziemlich genau fünfzig Jahre ist es her, da forderte der Säulenheilige der Sozialdemokraten: „Der Himmel über dem Ruhrgebiet muss wieder blau werden.“ Und siehe da: Er wurde blau; spätestens als die Zechen schlossen und die Hochöfen aufhörten, Dreck in die Luft zu pusten. Die kleine Schöpfungsgeschichte im Revier geht weiter. Denn auch die Flüsse von Deutschlands größtem Ballungsgebiet sind sauberer, blauer geworden. Allen voran der Fluss, der der Region seinen Namen gibt und den einen oder anderen Anrainer verzückt. 7. O-Ton (H.P. Steger) „Das is manchmal so was von schön.“ Autor Freut sich Edeltrauts Peter. Besonders abends, wenn die Sonne langsam hinter den Hügeln des „Ardey-Gebirges“ am Horizont verschwindet, er auf seinem „Bötken“ sitzt, dem kleinen Ruder-Boot – und sich treiben lässt. 8. O-Ton (H. P. Steger) „Wenn die Haubentaucher – wenn die die Kleinen auffen Rücken haben. Der Pappa muss die Fische holen. Und die anfangen, die Haubentaucher zu füttern. Wenn man ganz ruhig is. Die zu beobachten! Datt is ganz doll.“ Autor 150 Stellplätze hatte der Campingplatz zu Spitzenzeiten. Als Peters Mutter noch das Sagen hatte. In den 70ern. Sind weniger geworden. Irgendwelche Umweltauflagen, meint der Sohn. Nebenan filtert ein Klärwerk das Wasser der Ruhr, um daraus Trinkwasser zu machen. Das hat Vorrang. In die Quere aber kommen sich die Camper und Trinkwasserleute selten. Ist ja auch genug Platz da für alle. Selbst in der Hochsaison, von Juni bis August, wenn neben den Dauercampern die Urlauber aufschlagen – und Stegers von früh morgens bis spät in die Nacht alle Hände voll zu tun haben. 3. Atmo (Campingplatz, Unterhaltung) Regie: Schon kurz unter vorherigen Autor legen, kurz frei und dann unter nächsten Autor blenden Autor 65 ist Edeltraut jetzt, Peter 68. Kürzer treten wollen beide trotzdem nicht. Auch wenn Andreas, der Sohn und seine Frau an den Wochenenden einen „ran hauen“, wie Edeltraut anerkennend meint. Genau wie Yanina, die Enkeltochter, die gerade Abitur gemacht hat. 9. O-Ton (E. Steger) „Zum Beispiel hat meine Enkeltochter Abiturfeier gehabt. Da waren wir auch stolz drauf. Ja! Dann wurden wir gefragt, warum wir auf de Feier nich hingehen? Das war an nem Samstag gewesen. Ja! Sach ich: Wir haben den Betrieb. Nur wegen ner Abiturfeier, sach ich, kann ich doch nich den ganzen Betrieb zu machen. Am Samstag! Ja, das wär doch wohl Pflicht oder so ungefähr. Das wär nur ein Mal im Leben...also, da haben die meisten kein Verständnis für. Und dann überhaupt (lacht) bei den ganzen schlechten Anfang des Jahres, was wir hatten. Mit Wetter und so alles bedingt. Der Mai war ja auch nix besonderes gewesen. Da muss man ja auch alles mitnehmen, watt man kriegen kann. (H.P. Steger) Und die anderen Kunden, die sagen: Guckt mal! Der macht den Laden zu! Der hat datt wohl Samstachs nich mehr nötig.“ Autor Ergo ist bei Stegers zwischen April und Oktober durchgehend geöffnet. Auch „Samstachs“. Mit einer Ausnahme: Das ist dann, wenn die Ruhr sich so aufführt wie die Enkelin zu Abiturzeiten: Ein bisschen zickig. Mag der Fluss die meiste Zeit auch gemächlich vor sich hin plätschern: Wenn es im Sauerland, also da, wo die Ruhr entspringt, tagelang wie aus Kübeln gießt oder im Frühling der Schnee schmilzt – dann ist bei Stegers Land unter. 10. O-Ton (E. Steger an der Haustür, draußen) „Sehen Se: Dann steht das hier oben auf de Treppe. Dann komm ich hier nich rum. Und wenn Se dann hier her gehen, gerade hier vorne um de Ecke rum: Dann is meistens noch nen Sog, dann können auch schon de Beine wech gehen. Dann is man: Futsch! Weg!“ Autor Dieses Jahr haben Stegers noch Glück gehabt. Anders als an Elbe und Donau hielt sich das Hochwasser an der Ruhr in Grenzen. Die anderen Jahre aber war es schlimm. 11. O-Ton (H.P. Steger blättert in Zeitungsausschnitten) „So sieht’s aus, wenn der Campingplatz abgesoffen is. (blättert) Das war 2007. (E.Steger) „Wenn wa Hochwasser haben – dann machen wa auch kein Staatsakt draus. (lacht) Das kennen wa ja nich anders. (H.P. Steger) Wir brauchen keine fremde Hilfe. Mein Sohn, mein Enkel – die helfen mir dann eben. Kühlschränke hochsetzen. Is alles schon so vormontiert. Und in dem Kiosk – da hab ich nen Holzboden drin. Der wird immer neu genommen. Das muss dann alles raus.“ Autor Wenn die Ruhr zeigt, was in ihr steckt. Kann manchmal richtig heimtückisch sein. 12. O-Ton (H.P. Steger) „Mein Vater, der hat mir das alles gelernt: Wie man die leider Ertrunkenen findet. Mit Döschen rein werfen und alles so was. Und ’78 hab ich dann mein Vatta so gefunden. Der is abends irgendwie spazieren gegangen, vorne an der Spitze. Man sieht auch ne Schleifspur. Er is nich ertrunken. Datt war nen Herzschlag. Ett war kein Tropfen Wasser in der Lunge. Und anderen Morgen hab ich ihn dann durch seine Tricks gefunden.“ Autor Der alte Steger war nicht der einzige aus der Familie, dem die Ruhr zum Verhängnis wurde. 13. O-Ton (E. Steger) „Mein Mann sein Bruder inne Ruhr ertrunken. Obwohl das Wasser da auch nich tief war. Der ging da vorne innen Hafen rein. Und da stellten se nachher fest: Der hat vor lauter Angst, vor Schreck: Luftröhre weg. Auch ausse Ruhr. Der Großvatta von meinem Mann inne Ruhr ertrunken. Also wir haben die Nase voll von der Ruhr im Grunde genommen. Datt war datt erste gewesen: Dass unser Andreas unser Sohn...dass der schwimmen lernte. Und trotzdem bleibt die Angst. Da issen Fluch drauf.“ Autor Meint Edeltraut – und schaut in ihrer guten Stube, dem Wohnzimmer samt der Furnier-Schrankwand, zu ihrem Mann rüber. Der zieht nur die Augenbrauen hoch. Trauriger Gedanke. Das mit dem Fluch. Ein paar Sekunden hält Peter inne - ehe er aufspringt – und die Tür seines Wohnhauses aufreißt. Frische Luft – das ist jetzt das Beste. Und gute Gesellschaft. 14. O-Ton (Lothar) Ich bin der Lothar. Die kennen mich alle hier. (alle lachen) (L.) Hier is doch super. Schön Natur alles. Nette Mädchen sind imma hier. Hier is immer lustig. Hier haben wa schon zig schöne Jahre verbracht. Näh, Peter? (G.) Ja! (L.) Schön gegrillt abends. Und geräuchert. Weil: Wir sind ja noch Angler. Und dann passt datt alles schon. Brauchen wa nich weit weg fahren, haben wa alles hier vor de Tür. Wenn welche kommen von außerhalb oder weit weg, die meinen: Ruhrgebiet is alles nur verdreckt. Mit Kohle und so watt alles. Aber wir haben hier so viel Grün rings rum: Datt glaubt keiner. Wir können nich meckern. Hier kann man sich wenigstens erholen. Kein Stress. Is nich so laut. Kein Lärm. Auffe Arbeit haben wa immer viel Lärm und viel Stress. Ne kleine Firma. Is nich so gross. (G.) Es reicht gerade, dass er bei mir die Pacht bezahlen kann. (beide lachen) (L.) Datt is so. Reicht gerade für die Pacht. Nen Bierchen mal. Ein oder zwei. Mein Rentenalter will ich hier verleben. Noch zwei Jahre arbeiten, dann is ett so weit. Dann geh ich ihm die ganze Woche auffe Nerven. (beide lachen) (G.) Wir wollen zusammen alt werden.“ (lacht) unter Musik blenden 1. Musik Interpret: Herbert Grönemeyer Titel: Schiffsverkehr CD: Schiffsverkehr Track: 1 Komponist: Herbert Grönemeyer LC/Best.-Nr.: 5099909535725 DLR-Archiv#94-40050 5. Atmo (Wasser, Motorboot im Hintergrund) (Fähre legt an, Fahrräder klacken, (Frau) „Guten Tag!“, (Mann) „Schieben, schieben!“ (Fahrradklingel) (Laufgeräusche auf Boot) Regie: Bei Laufgeräuschen unter Autor blenden Autor Kann schon mal eng werden. Wenn man rüber setzen will – vom einen Ufer der Ruhr ans andere. 15. O-Ton (Heemann) „Die Ruhrtalfähre ist die einzige offizielle Fähre auf der Ruhr. Und verbindet bei Kilometer 69 zwei Teile des Ruhrtalradweges miteinander. (Motorgeräusch) Jetzt fahren wir auf die andere Seite. Aber da brauchen wir auch keine Seekarte für.“ Autor Schon gar nicht Christoph Heeman, der Fährmann. 16. O-Ton (Heemann) „Den Weg kennen wir inzwischen. Die Ruhr ist an dieser Stelle 90 Meter breit. Und eine Überfahrt bei langsamem Tempo dauert so zwei Minuten.“ Autor Bleibt gerade einmal Zeit, die Eckdaten der Ruhrtalfähre abzuspulen. Inbetriebnahme: 2006. Kostenpunkt des mit einem Wasserstands-Melder und einer Rückfahrkamera ausgerüsteten Schiffes: 50.000 Euro; alles in Eigenregie zusammen gebaut; von Heemann und den anderen Freiwilligen. Anzahl der Fahrgäste: Hat sich von 70.000 auf 140.000 verdoppelt. 17. O-Ton (Heemann) „Viele, die sich den Kohlen-Pott schwarz und grau vorstellen, sind überrascht, wie grün und naturnah das hier ist. Das ist sicherlich auch eine der schönsten Ecken im Ruhrgebiet. Das ist die weitgehend naturbelassene Flusslandschaft; mit Flussauen, dem Landschaftsschutzgebiet.“ 18. O-Ton (Brandt) „Wir befinden uns jetzt direkt am Naturschutz-Gebiet Koffs Loch. Die Ruhr ist überhaupt nicht weit.“ Autor Elke Brandt, eine der Umweltschützerinnen der ersten Stunde in der Stadt, die die Ruhr sogar in ihrem Namen trägt – aus lauter Verbundenheit: Mülheim. An der Ruhr. 19. O-Ton (Laufgeräusche, Vogel-Gezwitscher) (schließt Gartentür auf) (Laufgeräusche) (Brandt) „Wir haben sowohl Tierwelt als auch Pflanzenwelt, Vogelwelt, Reptilien: Alles erfasst. Nicht nur wegen der Idylle, sondern auch wegen der wissenschaftlichen Seite, um das hier als Schutzgebiet ausweisen zu können. Die Idylle kommt dann dazu. (Vogel-Gezwitscher circa 15 Sekunden) (B.) „Das ist der Zilpzalp. Das ist der Einsteigervogel, sag ich immer, für jemand, der sich mit den Vogelstimmen beschäftigen möchte. Der sagt seinen Namen: Zilpzalp. Zilpzalp. Oder: Zalpzilp. (Vogel-Gezwitscher) Regie: Letztes Vogelgezwitscher unter Autor blenden Autor Ihre Liebe zur Natur: Bei der Frau im weißen T-Shirt mit dem blauen Logo des „Naturschutzbundes“ hat sie sich früh entwickelt. Da war „Lehrer Pade“, ein Nachbar, der ihr als Kind erst beibrachte, die einzelnen Vogelstimmen auseinander zu halten und sie später auf vogelkundliche Exkursionen mitnahm. Entlang der Ruhr, durch nahegelegene Moore. 20. O-Ton (Brandt) „Dieser Boden – wie der nachgibt. Wie Ihnen zwischen den Zehen das Wasser hochkommt. Dieses braune Wasser. Und Sie aufpassen müssen, dass sie nicht irgendwo ausrutschen und in die Matsche fallen: Das ist schon ein ganz beeindruckendes Erlebnis.“ Autor Dem Ruhrgebiet ist die pensionierte Physikerin all die Zeit treu geblieben. Weg wollte sie nie. Selbst dann nicht, als der Pott in den 60er Jahren als Drecksschleuder der Nation in Verruf kam, um in den 80er Jahren nach diversen Kohle-, Stahl- und sonstigen Krisen als Looser-Region abgestempelt zu werden. 21. O-Ton (Brandt) „Ich sag dann auch heute noch im Scherz: Jawohl, da haben Sie Recht. Wir waten alle knöcheltief in Ruß. Das ist die Vorstellung, die speziell in Süddeutschland herrscht. Und da hab ich ein ganz kurioses Erlebnis: Meine Eltern haben im Schwarzwald Urlaub gemacht, in einer Ferienwohnung. Und die Familie hatte eine Tochter, die uns besucht hat. Ich hab mir ein paar Tage frei genommen, bin mit ihr so rum: So Highlights im Ruhrgebiet. Und dann kamen die Eltern - Vater, Mutter, Bruder, Opa - sie abholen. Und dann hat sie gesagt: Mutti! Vati! Hier is es so schön! Ihr müsst hier einmal Urlaub machen!“ 6. Atmo (Geräusche aus Naturschutzgebiet) Regie: Frei stehen lassen und dann unter nächsten O-Ton blenden 22. O-Ton (Krohn) „Man könnte mal zum Beispiel einen typischen Vogel der Ruhr vorführen. Und zwar: Wo isser jetzt? Da! (Vogel zwitschert circa 10 Sekunden vom Band) Das ist der Graureiher. Den gibt’s an der Ruhr wieder sehr häufig zu sehen. Das ist der Wappenvogel von Haus Ruhrnatur.“ Autor Der ökologischen Station auf der Ruhrinsel. In Mülheim an der Ruhr. Stefanie Krohn ist hier Museumspädagogin – und führt als solche Besucher durch das Haus. Am liebsten ins Labor. Da kann sie vorführen, wie gut sich der Fluss, der fatalerweise genauso heißt wie eine Durchfallerkrankung, in den letzten zwanzig Jahren gemacht hat. In der Ruhr leben wieder diverse Fische; Muscheln, Schnecken und Krebse. Je mehr davon, desto besser, erklärt Krohn. Fallen viele immer erst einmal aus allen Wolken: Muscheln?! In der Ruhr?! Die gibt es doch nur an der Nordsee. Denkste! 23. O-Ton (Krohn) „Die Ruhr gibt’s ja, so wie sie heute ist, nur deswegen, weil man die Emscher geopfert hat. Das Schmuddelkind im Ruhrgebiet is ja die Emscher. Und das ist ja deswegen passiert, weil man sich frühzeitig, also Anfang des 20. Jahrhunderts, dazu entschlossen hat: Die Emscher wird der Abwasserfluss, die Ruhr soll der Trinkwasserfluss fürs Ruhrgebiet werden. Nur aufgrund dieser Aufteilung hat man eigentlich die Ruhr frühzeitig retten können. Und man muss eigentlich, wenn man die Ruhr betrachtet, auch die Emscher dazu sehen.“ Autor Des einen Freud ist des anderen Leid: Im Ruhr-Pott mit seinen fünf Millionen Einwohnern gilt das auch für die Flüsse. Und so kommt es, dass der eine zu einem besseren Abwasserkanal degradiert wurde, während der andere zuweilen eine leise Poesie entwickeln kann. 24. O-Ton (Krohn) „Die Ruhr ist sehr ruhig. Sie ist ein sehr, sehr beruhigender Fluss. Sie ist natürlich auch sehr stark aufgestaut. Durch die vielen Staustufen, die wir haben. Die würde normalerweise von Natur aus viel schneller fließen. Das ist natürlich auch etwas, was irgendwann auf einen auch selber abfärbt.“ Autor Auf das Nordlicht. 25. O-Ton (Krohn) „Ich komm ja eigentlich nich von hier. Ich komm ja eigentlich aus Hamburg. Bin hier ins Ruhrgebiet gekommen, ohne dass ich überhaupt wusste, wo ich hinziehen würde. Hab dann oft gehört, dass die Leute gesagt haben: Boa! Aus Hamburg kommst du ins Ruhrgebiet. Bist du wahnsinnig geworden!“ Autor Kann sie heute nur noch drüber lachen. Das Ruhrgebiet ist Stephanie Krohn ans Herz gewachsen. Allein schon die Ruhr: So ganz anders als der Fluss, den sie noch von früher kennt. 26. O-Ton (Krohn) „Der größte Unterschied ist, dass die Ruhr nicht so viel sein will wie die Alster. Die Alster ist natürlich schon mondän. Und großartig. Also wirklich ein sehr gediegener Fluss. Und die Ruhr ist einfach normaler. Die ist ein ganz normaler Fluss, der so normal is wie die Menschen, die hier leben.“ 2. Musik Interpret: Jose Rogerio Titel: Uiara Nagi CD: Tres Fontes Track: 1 Komponist: Jose Rogerio LC/Best.-Nr.: 9084 DLR-Archiv#: 90 – 25000 8. Atmo (Radfahrer fahren vorbei) (Radfahrer sagt) Oh! Da kommta ja. (Tüten der Bahn) Regie: Tüten unter Autor blenden Autor Der D-Zug. D wie Dampf. Auch nicht mehr das allerneuste Modell. Baujahr 1960. Aber irgendwie passend: Schließlich ist der Pulsschlag an der Ruhr nicht der schnellste. 9. Atmo (Bahn fährt quietschend ein, hält, Autor steigt ein, Motorgeräusch) Regie: Bei Motorgeräusch unter Autor blenden Autor Seit 2005 zuckelt die „Ruhrtalbahn“ im Sommer freitags und sonntags entlang des Ruhr-Tals zwischen Bochum und Hagen. 90 Stundenkilometer – mehr ist nicht drin. 10. Atmo (Pfeifen) (Zugführer) Uuuund! Abfahrt. (Trillerpfeife, Tür geht laut zu, Zug setzt sich ruckelnd in Bewegung, beschleunigt) Regie: Bei Beschleunigung unter Autor blenden Autor Ganz früher, in den 60ern, wurden mit dem Dampfzug Schüler transportiert, heute sind es Touristen. Die müssen vor allem eines mitbringen: Zeit. Denn einfach auf gut Glück los fahren, kann Zugführer Frank Königsfischer nicht. 27. O-Ton (Königsfischer) „Wir müssen uns jetzt die Einfahrgenehmigung in den Bahnhof Wengern-Ost holen. (Motoren quietschen) Das muss ich jetzt mit Standortleitung Witten besprechen. Der 90,2,71. Der Frank hier. Mahlzeit. Wir stehen vor dem Haltezeichen Gustav und würden gerne in den Bahnhof Wengen-Ost. Bis gleich! (legt Telefon auf) (Tüten, Zug fährt wieder los) Regie: Wenn Zug los fährt unter Autor blenden Autor Seit 2007 dirigiert Königsfischer, der aus dem Speditionsgewerbe kommt, den Nostalgiezug. Kann nicht klagen. Früher saß er hinterm Steuer – und oft genug auf irgendwelchen Autobahnen in irgendwelchen Staus. Jetzt kann er es ruhig angehen - und den Blick schweifen lassen. 28. O-Ton (Königsfischer) „Landschaftlich gesehen is das ne sehr schöne Strecke. Da sie fast komplett am Fluss entlang läuft. Und nen paar historische Punkte hier im Ruhr-Tal ansteuert. Ruine Hardenstein. Haus Kemnade. Haus Herbede. Das sind so mit die Bekanntesten. Zeche Nachtigall.“ 29. O-Ton (Ritter) „Unsere Zeche Nachtigall.“ (Märchenonkel-mäßig gesprochen) 11. Atmo (Zug innen: Ruckeln, Pfeifen, Zug hält langsam, Tür geht auf. (Königsfischer) Tschüss! (Autor steigt aus) Regie: Bei Ausstieg unter nächsten O-Ton blenden Autor DER Zeche sozusagen. Im Kohlen-Pott. 30. O-Ton (Ritter) „Mein Name ist Bernd Ritter. Bin Mitarbeiter hier auf der Zeche.“ Autor Der mit dem lautmalerischen Namen: Nachtigall. Ist heute ein Besucherbergwerk. Direkt an der Ruhr. 31. O-Ton (Laufgeräusche) (Ritter) „So! Jetzt sind wir an der Kaue. Hier gibt’s Helme und ich nehm noch ne Lampe mit zur Sicherheit. Dann geht’s gleich unter Tage. (Tür geht auf, klackt, Laufen) (R) Ich mach mal Licht. Bevor wir jetzt weiter gehen, vielleicht erst Mal ganz kurz nen Wort zur Zeche Nachtigall: Die gibt’s seit 1714. Erste urkundliche Erwähnung, dass hier Bauern Kohle gruben. Die Bauern gruben damals Kohle aus: Warum? Weil hier die Kohleflöze südlich der Ruhr an der Oberfläche waren. Das machte man 40, 50 Jahre lang, dann waren die Kohlevorräte erschöpft. Und dann ging man in den waagerechten Bergbau, in den Berg hinein. Stollenbergbau. Das ist immer die erste Frage der Besucher: Wie tief geht’s? Wir gehen nicht tief, wir gehen gerade in einen Stollen.“ (Laufgeräusche) Regie: Laufgeräusche zügig unter Autor blenden Autor So wie die Kumpel früher. Noch bis ins 20. Jahrhundert mussten sie unter Tage im Liegen arbeiten. 12, 13 Stunden lang. 6 Tage die Woche. Das alles ist Vergangenheit – so wie bald auch der deutsche Bergbau: Ende 2018 werden die letzten zwei Zechen im Ruhrgebiet schließen. Für immer. 32. O-Ton (Ritter) „Aber es gibt ja im Ruhrgebiet speziell ein Problem: Es gibt hundert, glaub ich, große Pumpanlagen, die nichts anderes machen als das Oberflächenwasser künstlich niedrig zu halten. Warum muss man das machen? Durch die bergwerklichen Tätigkeiten: Man schätzt, dass ein Drittel des Ruhrgebiets bis zu 25 Meter in den letzten 150 Jahren abgesunken sind; großflächig. Und wenn man diese Pumpen ausstellen würde, würde sich der ursprüngliche Wasserspiegel, der Grundwasserspiegel, herstellen. Und dann hätten wir hier etliche Großstädte unter Wasser. Also muss man auf ewig weiter pumpen. Deshalb auch die Kosten dafür: Die Ewigkeitskosten.“ Autor Halt doch nicht alles Eitel-Sonnenschein - an der Ruhr. Unter wie über Tage. 33. O-Ton (Ritter) „Gehen sie mal vor. Beim Rausgehen muss ich immer den Abschluss bilden. Auch wenn nur einer vor mir is. (Laufgeräusche, Tür quietscht, wieder draußen) (R) So! Geben se mir mal ihren Helm.“ Autor Danke. 3. Musik Interpret: Bruce Springsteen Titel: Straight Time CD: The Ghost of Tom Joad Track: 2 Komponist: Bruce Springsteen LC/Best.-Nr.: 4816502023 DLR-Archiv#: 92 – 57904 35. O-Ton (Sondermann) „Die Presse betitelt mich häufig als Sagenpapst des Ruhrgebiets.“ Autor Der Papst, der sagenhafte, residiert in Hattingen. Hattingen an der Ruhr. Das ist zwar noch Ruhrgebiet, aber hart an der Grenze zum Bergischen Land. Dementsprechend gibt es in Hattingen Berge. In Bayern würde man sagen: Leichte Erhebungen. Aber da wir im Ruhrgebiet sind, wo früher allenfalls die Schornsteine richtig hoch hinaus wollten: Halt Berge. Auf einem thront der Mann, der seinen Namen alle Ehre macht. 36. O-Ton (Sondermann) „Schon vom Namen her sagen ja manche Leute: Sondermann?! Ja, das is Programm. Dass er nen bisschen sonderbar ist.“ (langes Lachen) Autor Ist ja auch höchst sonderbar, dass jemand, der von Hause aus Theologe ist und seine Brötchen als Gärtner verdient, sich sagenhafterweise mit den Mythen des Ruhrgebiets beschäftigt. Gerne auch Ruhr-Sagen. Da gibt es ein paar ganz besonders sagenhafte. Weil halbe Sachen nicht sein Ding sind, geht Dirk Sondermann dabei ausgesprochen gewissenhaft vor. 37. O-Ton (Sondermann) „Für mich ist es sehr wichtig, nicht nur den historischen Kern der Sage herauszuschälen, sondern die sagenhaften Orte auch exakt zu lokalisieren. Wenn’s geht mit Hausnummer und darüber hinaus auch GPS-Daten.“ Autor Der menschliche Faktor darf aber auch nicht fehlen – bei der Recherche. Doziert Sondermann auf der Terrasse seines wildromantischen Fachwerkhauses am Ende einer Sackgasse, das er sich mit Frau, Kindern und diversen Katzen teilt. Meist hört man hier nur das Rauschen der Bäume. Kaum Verkehr. Wenn, dann aber richtig. 12. Atmo (Traktor fährt vorbei) Regie: Frei stehen lassen und dann unter Autor blenden Autor Der Traktor gehört Stenz, seinem Vermieter – einem Landwirt, der als einer der letzten seiner Zunft noch die Felder im Ruhr-Tal bewirtschaftet. Zu Landwirten im Allgemeinen und Stenz im Besonderen hat der Sagenpapst einen besonderen Draht. Sagenhafterweise. 38. O-Ton (Sondermann) „Ich kann mich gut erinnern an den ersten Landwirt. Den ich gefragt hab: Kennen Sie Sagen? (betont gesprochen) Nö, meint er. Sagen kennt er nicht. Dann erzählt er erst Mal von der Hofes-Geschichte. Und dann erzählte er doch eine Sage. Und dann hab ich ihn darauf angesprochen und meinte: Genau das, was Sie mir hier gerade erzählen, genau das ist eine Sage. Da guckt er mich groß an und meint: Sage?! Wieso Sage? Das sagt man so. (betont gesprochen) Das heißt, der Landwirt hatte die Sage gar nicht als Sage abgespeichert im Kopf sozusagen, sondern als Döneken, Vertellken, Geschichte, was auch immer. Seitdem bin ich schlauer geworden. Da frag ich dann die Landwirte überhaupt nicht mehr, ob sie Sagen kennen. Sondern, ob sie so irgendwelchen Geschichten aus der Gegend kennen.“ Autor Mit der Zeit sind unzählige Ruhr-Sagen zusammen gekommen. Über den Raubritter Jost von Blankenstein etwa. Oder den Zwergen-König Goldemar. 39. O-Ton (Sondermann) „Das ist ein Geistwesen. Ein männliches Geistwesen, was normalerweise mit Frauen Verbindungen eingeht. Also ein Inkubus. Pikanterweise hat der Inkubus Goldemar allerdings mit dem Ritter Nebeling von Hardenberg in einem Bette geschlafen, nach der Überlieferung. Zum Schluss hat er dann aber die Burg verlassen und einen Fluch hinterlassen, der so lange wirken soll, bis drei Generationen derer von Hardenberg gleichzeitig am Leben seien. Großvater, Vater, Enkelkind. Was aber in der Folgezeit nie der Fall war. Was heißt das? Frag ich Sie jetzt. Autor Gute Frage. Vielleicht: Dass der Fluch heute noch seine Gültigkeit hat?! 40. O-Ton (Sondermann) „Ganz genau. Der besteht heute noch. Genau. Das find ich schon sehr, sehr faszinierend. Weil diese Sage ist eine Sage, die auf das Jahr 1390 zurückgeht.“ Autor Von Goldemar, dem schlimmen Finger, hat Sondermann das erste Mal in seiner Kindheit gehört. Seine Großmutter hatte diverse Sagen auf Lager. Irgendwann war er so angefixt, dass er der Sache auf den Grund gehen wollte. Ist anfangs aus dem Staunen gar nicht mehr herausgekommen: Es stellte sich nämlich heraus, dass viele Sagen nur mündlich überliefert worden waren; von Generation zu Generation. Über Jahrhunderte hinweg. Schriftliche Quellen dagegen: Gab es so gut wie keine. Sondermanns Augen funkeln: Da hat er jetzt Abhilfe geschaffen - der Sagenpapst des Ruhrgebiets: Mit diversen Büchern, über sagenhafte Orte. Ein, zwei davon hat er ständig im Blick. Von Hause aus. 41. O-Ton (Atmo aus Garten, Gartentor klackt) (Sondermann) „Wenn Sie jetzt da ins Ruhr-Tal schauen: Hinter den Apfelbäumen ist der Isenberg und da steht die Ruine der Isenburg. Also von daher schaut man hier nicht nur ins schöne Ruhr-Tal, sondern direkt auf einen sagenhaften Ort. Und dorthin fahren wir nun.“ Autor Zur Isenburg. War einmal eine der größten Burgen in deutschen Landen – mit ihren 240 Metern Länge. Hoch über der Ruhr thronte sie - bis Kölner Truppen sie 1226 dem Erdboden gleich machten. Übrig blieben Ruinen und die Legende vom sagenhaften Schatz, der unter einer Bluteiche immer noch darauf wartet, ausgegraben zu werden. 13. Atmo (Autogeräusche, Aussteigen) Regie: Aussteigen unter Autor blenden 42. O-Ton (Sondermann) „Steigen wir hoch. Der ursprüngliche Eingang war übrigens dort. Den sieht man jetzt zum Teil nicht mehr, weil es hier bis in die 20er Jahre hinein einen Steinbruchbetrieb gab. Und Teile der Isenbergs mit der Ruine der Isenburg sind dann abgerutscht. Das ist jetzt so nen Behelfseingang hier. (Klacken von Treppe) (S) Wenn ich mal kurz unterbrechen dürfte. Wir stehen jetzt übrigens vor einem historischen Klo. Ja! Wenn Sie jetzt mal gucken: Das Klo ist nichts anderes als ein Loch in der Mauer. Und so muss man sich das dann auch vorstellen: Die ganze Angelegenheit wurde dann nicht per Wasserspülung entfernt, sondern: Datt lief dann alles so schön hier an der Mauer längst. Die Wasserspülung war dann der nächste Regenguss.“ Autor Sagenhaft. Was der Sagenpapst auf Lager hat. 43. O-Ton (Sondermann) „Wenn wir das Ruhrgebiet mal im Zusammenhang bringen mit dem ehemaligen Bergbau, der hier herrschte, gab’s natürlich auch jede Menge Sagen, die sich um den Bergbau rankten. Um Grubenzwerge und dergleichen. Zum Beispiel eine der bekanntesten Sagen des Ruhrgebiets, die von dem Bergmann Jörgen handelt, der angeblich hier im Ruhrgebiet zum ersten Mal die Kohle fand.“ 44. O-Ton (Maria) „Wir könnten anbieten: Die Geschichte über die Entdeckung der Kohle.“ (Bernd) Eine kleine Kotzprobe, äh...Kostprobe.“ Autor Die kommt gleich. Erst mal aber gibt es: Eine Verschnaufpause. 4. Musik Interpret: Wolfram Buchenberg Titel: Wodans Luftgeister auf wilder Jagd CD: SiebenSagen. Eine Ruhrsinfonie Track: 15 Komponist: Wolfgang Buchenberg LC/Best.-Nr.: 11662 45. O-Ton (Maria lacht) „Gut, da brauchen wa die Gitarre. Bernd? Du hast se? (Bernd) OK. Wie machen wa das am besten mal? (Bernd) Das Stück – das dauert ungefähr fünf Minuten. (Maria) Nicht ganz. Vier. (B) Mal eben stimmen – das Ding. (stimmt Gitarre) Ja. Is OK. Jetzt kommt noch nen bisschen Gelaber.“ Autor Haben sich ja schließlich auch noch gar nicht vorgestellt – die beiden. 46. O-Ton (Bernd) „Bernd Schmidt. Künstler. (Maria) Maria Wolf. Schauspielerin. Wir nennen uns Klüngelpelz. Das kommt aus dem Westfälischen. Und heißt so viel wie: Werwolf. Der Name is auch Programm. Wir erzählen Sagen aus dem Ruhrgebiet. Erzählen. Spielen. Singen. (Bernd) Wollen die Leute auch nen bisschen packen. Vom Grusel her. Is ja alles nen bisschen überstrapaziert. Überstrapaziert heißt das?“ Autor Tut es. 47. O-Ton (Bernd) „Genau. Überstrapaziert wegen dem ganzen Kino-Zeug. Die ganzen Werwölfe. Irgendwie is datt alles so: Ent-ro-man-ti-siert. Näh?! Aber das is noch nen bisschen anders. Das geht son bisschen an die Pelle.“ Autor Verspricht Bernd, der von sich selbst sagt, er sei kein Fernwehtyp. Dementsprechend hat er sein ganzes Leben im Ruhrgebiet verbracht. Nicht die schlechtesten Voraussetzungen für einen westfälischen Werwolf. 48. O-Ton (Bernd) „Meine Mutter hat mir da schon immer von erzählt. Ich find das unheimlich schön, wenn man irgendwo hingeht und weiß: Da is das und das passiert. Das schafft dann son Fundament, das schafft so Wurzeln, man fühlt sich zu Hause. Man gehört da hin.“ Autor Theater, Altersheime, Schulen: Mit ihrem Programm sind Klüngelpelz schon an den verschiedensten Orten im Ruhrgebiet aufgetreten. Lernt man einiges über Land und Leuten – meint Maria, die Zugezogene. 49. O-Ton (Maria) „Wenn man hier nachem Weg fragt, dann kriegt man eben zur Antwort: Watt willstn da? Das find ich son ganz typischen Spruch. Weil: Der erzählt ganz viel übers Ruhrgebiet.“ Autor Genau wie die Sagen. Etwa die von Jörgen, dem armen Schweine-Hirten, der vor langer, langer Zeit am Ufer der Ruhr sein Glück fand. 50. O-Ton (Maria) „Bernd? Wo wurde denn eigentlich die erste Kohle gefunden? (Bernd) Im Muttental. Und zwar ist das in Witten an der Ruhr. (M) Im Muttental? Das is so was wie das Emmental? Wahrscheinlich! (B) Neeeein. Ah! Beim Emmental geht’s eher um Käse. Und im Muttental geht’s um Kohle. Weil da hat nämlich einst das stolze Volk der Mutten gewohnt, Maria. (M) Der Mutten? Was issn das? (B) Das sind diese kleinen Wesen mit ordentlich Speck auffen Rippen. Und so Steckdosen auf Nasen. (M) Aaah. Steckste vorne nen Stecker rein, kringelt sich hinten das Schwänzchen. (B) Sehr witzig. (M lacht) (B) Sehr witzig. (M) Ich find’s gut. (B) Ja?! (M) Ja. Und die lebten da so frei und ungebunden? (B) Nich ganz. Weil die kriegten ab und zu mal doch vom Jörgen mit der Mimmelquiebe ordentlich einen rüber gejubelt. (M) Ah! (B) Die kriegten dann ne ordentliche Eichelmast. Ja! Und der Hirte – der hatte überhaupt kein Bock. Aber jede Menge Schwein. (M) Ich versteh kein Wort. (B) Weil der nämlich dadurch die Kohle entdeckt hat, Maria. Das kam so: 5. Musik (Live-Mitschnitt von Klüngelpelz) (Bernd fängt an zu singen) „Es saß einmal ein Schweinehirt in einer kalten Nacht ... (Ende des Lieds) (Bernd) „Denn sie wusste ganz genau: (Maria) Mit Bergbau macht man Kohle. Dadata Dadata Dadata Dadata Dadata Dadata (Gitarrenende) 51. O-Ton (Ewers) „Wann kommt datt Schiff?“ Autor Kann man sich an der Ruhr auch schon mal fragen. In Essen beispielsweise. Da geht die Ruhr so in die Breite, dass sie nicht nur wie ein See aussieht, sondern auch einer ist. 52. O-Ton (Ewers) „Wann fährt datt Schiff?“ Autor Auf dem Baldeney-See. 53. O-Ton (Ewers) „Der Herr Frantzen hat die charmante Aufgabe, uns ein Stück zu begleiten. (Autor) Michael Frantzen. Guten Tag. (Sturau) Sturau mein Name. Guten Tag. (A) Sie sind? (S) Dietmar Sturau. Schiffsführer bei der Weißen Flotte Baldeney. (A) Ich bin jetzt also in Ihren Händen. (S) Richtig! (A) Wie lange machen Sie das schon? (S) 21. Jahr. (A) Ok! Dann sind Sie also nen Routinier. (S) Ja, das is richtig. Man fängt natürlich erst Mal als Bootsmann an. Und muss erst mal das Fahren lernen. Ich hab 1996 mein erstes Patent gemacht. Hier für den Baldeney-See. Zwei Jahre später die Erweiterung für die Ruhr. Bin aber auch zur See gefahren. Halbes Jahr Bienensucher. Auf Fregatte. Sollte auch U-Boot fahren, aber datt war nich mein Ding. Platzangst! (Möwen kreischen, Ewers und Autor gehen an Bord) (Ewers) Ja! Herzlich Willkommen auf der MS Heisingen. Genießen Sie es bitte. Gibt viel zu sehen. Und ich begleite Sie jetzt aufs Freideck. (steigen Treppen hoch) Regie: Bei Treppensteigen unter Autor blenden Autor Lässt sich der Chef der Weißen Flotte in Essen nicht nehmen. Seit ziemlich genau vier Jahren hält Franz-Josef Ewers das städtische Unternehmen auf Kurs. 14. Atmo (Lautsprecheransage) „Wenn Sie jetzt mal nach rechts aus dem Fenster schauen: Da sehen sie die Villa Hügel.“ Autor Die Villa, wo einst die Krupps in summa summarum 269 Räumen residierten, die Stahlbarone. Heute sitzt dort die „Alfred Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung“, die so diskret ist, dass sie Besuchern, noch dazu neugierigen Journalisten, nur ungern die Pforten öffnet. Hat ja auch schon mal bessere Zeiten erlebt – ThyssenKrupp, wie das Stahlunternehmen heutzutage heißt. Wären nicht die ersten, die am Ufer der Ruhr unter die Räder kämen. 54. O-Ton (Ewers) „Auch auf dem Wasserweg kann ich sehr schön in kürzester Zeit unseren Strukturwandel sehr deutlich machen. Selbst Schwerindustrie an der Ruhr an vielen, vielen Stellen: Selbst hier am Baldeney-See. Von daher hat er auch einen anderen Charakter gehabt.“ Autor Der Fluss, in dem Franz-Josef Ewers als Kind Schwimmen gelernt hat – auch wenn es früher immer hieß: „Willste Ruhr, geh inne Ruhr“. Von wegen Durchfall. Hat ihn nicht gekratzt. Mit 18 hat er sein erstes Geld als Bademeister verdient – im Freibad am Baldeneysee. Wenn man so will, hat sich mit seinem Job jetzt als Geschäftsführer der fünf Ausflugsdampfer starken Flotte der Kreis wieder geschlossen. 55. O-Ton (Ewers) „Der Job is entstanden aus Leidenschaft. Ich bin nen waschechter Ruhri. Also, ich bin hier geboren, ich bin hier aufgewachsen. Ich hab Zeit meines Lebens hier gearbeitet. Ich liebe meine Heimat. Und liebe insbesondere diese Ruhr und diesen Baldeney-See. In einer Großstadt, in einer Metropole, Flusslandschaft zu haben; wunderbar und alt. Und geprägt durch Industrie. Wo viele immer noch Gedanken haben: Datt die Ruhr immer nur schwarz, dunkel und grau gewesen is: Kann ich widerlegen.“ (56. O-Ton (Erika) „Die Tour de Ruhr – sacht man hier. Is lohnenswert.“ (lacht) Autor Findet auch der eine oder andere ortskundige Fahrgast. 57. O-Ton (Erika) „Das is Erika. Das is Fredie. Und das is Uschi. Wir kommen alle aus Wuppertal.“ Autor Wuppertal ist auch Ruhrgebiet. 58. O-Ton (Erika) „Die meisten sagen imma: Wie? Ihr kommt aussem Ruhrpott? Datt stimmt alles gar nich.“ Autor Das mit den Klischees. Von wegen: Grau. Trostlos. Düster. 59. O-Ton (Uschi) Nein! (Erika) Und wir haben genuch Wälder hier. Hier is es wunderbar. Hier kann man auch Urlaub machen. (Uschi) Ja! (Fredie) Da hab ich vorhin noch so gedacht, wo wa im Zuch hierher gefahren sind. (Uschi) Ja! (Fredie) Die ganze Strecke: Du siehst doch nur Wälder. Wälder rechts und links. (Erika) Empfehlenswert. Wenn man so aussem Norden kommt: Son Nordlicht könnte sich datt ruhig mal angucken.“ (lacht) Autor Aber wirklich.) 15. Atmo (Lautsprecheransage) „So! Auf der linken Seite sehen wir das ehemalige Freibad Baldeney-See. Bestand aus drei Becken.“ Autor Das war einmal. Die Becken sind längst zugeschüttet. Geschwommen wird hier schon lange nicht mehr. Dafür aber Musik gemacht. 16. Atmo (House-Music vom Seaside Beach, live aufgenommen) Regie: Musik schon unter vorherigen Autor legen, frei stehen lassen und dann unter alle folgenden Autoren-Blöcke und O-Töne blenden Autor Alles ganz entspannt hier – und damit ganz nach dem Geschmack von Holger Walterscheid, dem Geschäftsführer des „Seaside Beaches“, wie das ehemalige Freibad inzwischen neudeutsch heißt. Zwei Bars samt Lounge, eine Kanuanlegestelle, eine Minigolfanlage, ein breiter Sandstrand. Schickimicki dagegen weniger. Sein Publikum, meint der Mittdreißiger, wisse das zu schätzen. 60. O-Ton (Walterscheid) „Selbst aus Düsseldorf! Früher sind wir immer aus Essen nach Düsseldorf gefahren. In der Zwischenzeit kommen selbst die Düsseldorfer mal nach Essen. Im Ruhrgebiet is man ja noch nen bisschen entspannter. Das Ambiente. Und ich glaub, auch die Ruhrgebietsmentalität. Düsseldorf is schon wieder son bisschen gehobener. Da is es hier denn doch eher bodenständiger.“ Autor Am Ufer der Ruhr. Alles fast perfekt, wenn es da nicht einen klitzekleinen, aber nicht ganz unwesentlichen Standortnachteil gäbe. 61. O-Ton (Walterscheid) „Das ist manchmal für die Gäste nur schwer zu verstehen, wenn man sacht: Ihr dürft euch zwar an den See legen, aber ihr dürft nicht ins Wasser, weil die Rahmenbedingungen halt noch nicht erfüllt sind. Wäre natürlich schon schön, wenn wir son kleinen Bereich hätten, wo Leute auch mal ins Wasser können.“ Autor In ein paar Jahren soll es soweit sein. Gerade wird untersucht, ob die Wasserqualität der Ruhr so gut ist, dass die Leute darin wieder schwimmen können. Bis dahin aber gilt: Schwimmen verboten. Der Attraktivität der Gegend im Essener Süden tut das keinen Abbruch. Schräg gegenüber vom Seaside Beach, auf der anderen Seite des Baldeney-Sees, ragen Bau-Kräne in den Himmel, warten schneeweiße Townhouses mit Riesen-Fenstern darauf, dass die ersten Bewohner mit dem nötigen Kleingeld einziehen. 62. O-Ton (Walterscheid) „Das ist dann natürlich schon ne exklusive Wohnlage. Genauso wie man hier zum Teil halt auch noch Häuser stehen hat, die irgendwann gebaut worden sind, als man da noch bauen durfte. Heutzutage neu zu bauen, wäre jetzt da nich mehr möglich. Es is natürlich schon schön. Aber manchmal wär es mir hier auch zu einsam. Vor allem im Winter. Seh ich ja immer schon, wo wir hier unten unser Büro haben. Dann is es wirklich schon sehr abgeschieden.“ 6. Musik (Live-Mitschnitt vom Seaside Beach, circa 1-1’30 Minuten spielen) 17. Atmo (Geräusche aus Küche, Kellner ruft: „Eine Bratwurst bitte!“) Regie: Nach „Bratwurst“ weitere Atmo unter nächsten O-Ton blenden 63. O-Ton (Drago) „Mein Name ist Drago.“ Autor Drago hat auch was mit der Ruhr zu tun. 64. O-Ton (Drago) „Meine Lokale heißen auch alle Drago-Restaurant.“ Autor Gibt vier davon – in Essen und Mülheim an der Ruhr. 65. O-Ton (Drago) „Ich bin aus Kroatien.“ Autor Ursprünglich. 66. O-Ton (Drago) „1957 bin ich geflüchtet, aus Jugoslawien. Und seit ‘62 bin ich selbstständig. Wir befinden uns jetzt in der „Zornigen Ameise.“ Autor Der in Essen. Hat schon einige Jahre auf dem Buckel – die Zornige Ameise. Über 200, um genau zu sein. Ein Traditions-Restaurant. Dessen erste Chefin, ein alter Drachen, soll sich der Legende nach gerne so aufgeregt haben wie: Eine zornige Ameise. Inzwischen geht es hier gelassener zu. Färbt halt ab – das Ambiente. 67. O-Ton (Susanne) „Das ist die Ruhr. Genau. Das is ja so idyllisch. Dass wir hier direkt an der Ruhr liegen. Und die Leute einfach seit Jahrzehnten die Zornige Ameise mit der Ruhr verbinden.“ 68. O-Ton (Drago) Das ist meine Tochter. (Susanne) Susanne. Hallo! Ich bin die Tochter vom Drago.“ Autor Als solche hat sie es in Essen und Umgebung zu gewisser Berühmtheit geschafft – nicht nur, weil sie in der Zornigen Ameise zusammen mit Drago das Sagen hat. Um die Jahrtausendwende ließ sich Susanne mit ein paar anderen Frauen vom WDR ein Jahr lang beim „Abnehmen in Essen“ filmen. Gab sogar den Grimme-Preis dafür. 50 Kilo hat sie damals abgenommen. Die meisten verlorenen Pfunde sind inzwischen wieder drauf. Dazu ist das Essen bei Drago einfach zu lecker – meint sie lachend. Besonders ihr aktuelles Lieblingsgericht. 69. O-Ton (Susanne) „Ein Gruß aus dem Ruhrgebiet. Das ist momentan unsere leckere Chili-Bratwurst. Mit fruchtiger Currysauce. Knusprigen Pommes. Honig-Senf-Majo. Und Krautsalat.“ Autor Gibt viel zu entdecken hier – nicht nur kulinarisch. 70. O-Ton (Susanne) „Das Haus is...ich zeig ihnen das mal...von 1778. (Läuft weg) (S) Schauen Sie mal: Die Gäste, die sitzen im Winter...schauen Sie: Der Kamin ist von 1778. Die Gäste kommen halt gerne hierher, weil die halt diese gemütliche Atmosphäre schätzen. Meine Eltern sind jahrelang, wirklich jahrelang, über Flohmärkte gefahren, in Frankreich, in den Niederlanden, in Belgien und in Deutschland. Und haben das alles zusammen getragen.“ Autor Lauter Antiquitäten. Und das eine oder andere Familienfoto. 71. O-Ton (Susanne) „Da is mein Vater. Als Dandy. Mit seinem Hut auf. (Drago) Das war 54. (S) Einmal schauen! Das ist das Hochzeitsbild von meinen Eltern. Das hängt hier. (D) 62. (S) Und dann bin ich auch geboren. Ich war der Hochzeitsgrund. (beide lachen) (S.) So! Das war das hier. Jetzt kommen wir zu meinem Highlight.“ Autor Hat was mit Hollywood zu tun. 72. O-Ton (Susanne) „Sie sehen: Das hier is unser ganzer Filmbereich. Und es gibt Gäste, die rufen an. Die wissen nicht, dass hier vorne Tisch 5 is. Die sagen: Ich möchte gerne da sitzen, wo George Clooney hängt. Dann wissen wir: Die möchten hier sitzen. Dann gibt es Gäste, die rufen an: Bitte Tisch mit Cary Grant und Doris Day. So! Und das ist dann Tisch 8, sehen Sie?!“ Autor Sehen wir – nicht nur filmreifes, sondern auch hochpolitisches. 73. O-Ton (Susanne) „Da zeig ich Ihnen überhaupt mal mein Highlight-Foto. (lacht) Politik hab ich hier auch. Da ist mein absolutes Highlight-Bild. John F. Kennedy von 1960. Ich war 1987 in München, in einem Antikladen. Und da stand im Hinterhof so eine Kiste. Mit Fotographien. Und ich schau die durch. Und auf einmal seh ich das Bild: John F. Kennedy. In Schwarz-Weiß. Er sitzt auf nem Stuhl und blättert durch Papier. Und ich dreh das um und hinten steht: Kodak! So! Und ich geh zum Besitzer. Ich sage: Entschuldigen sie bitte: Was bekommen Sie für das Bild? Der schaut sich das so an: Droai Moark. Und ich...mir bleibt das Herz stehen...ich sag: Sie können nicht drei Mark sagen. Das is eine Original-Fotographie von John F. Kennedy. Jo, nims hoalt mitt! OK. Gut. Ich hab’s mitgenommen. Das ist in einem goldenen Rahmen. Und angeschraubt. Original-Foto von John F. Kennedy. Da hängt mein Herz dran.“ 18. Atmo (Geräusche aus Restaurant) Regie: Kurz frei stehen lassen und dann unter nächsten O-Ton blenden 74. O-Ton (Susanne) „Ich bin Ur-Essenerin. Klar! Meine zwei Schwestern und ich. Wir sind einfach Ruhrpott-Mädchen. Und empfinden uns total als deutsch. Wir haben durch Pappa Gott sei Dank gelernt, Kroatisch zu sprechen. Aber meine Heimat ist Essen. Bleibt Essen.“ Autor Sind ja auch nicht die Schlechtesten hier – die Essener, am Ufer der Ruhr. So ganz ohne Berührungsängste. 75. O-Ton (Susanne) „Wenn wir hingehen und manchmal zu wenig Platz ist: Da sitzt nen Pärchen an nem Vierer-Tisch. Dann sag ich: Könnt ihr zusammenrücken? Is das OK? Ach, natürlich. Und schon sind die hinterher im Gespräch. Das sind keine Sturköpfe hier, sondern man rückt zusammen im Ruhrgebiet.“ Autor Im Allgemeinen. Und entlang der Ruhr im Speziellen. 76. O-Ton (Susanne) „Ruhrpott-Menschen sind offen. Die sind herzlich. Die sind direkt.“ Autor Aber wirklich. 77. O-Ton (Susanne) „Das is die Wahrheit gewesen.“ Kennmusik Sprecher vom Dienst: Das Leben ist ein langer, ruhiger Fluss Dem Pulsschlag der Ruhr auf der Spur Sie hörten eine Deutschlandrundfahrt von Michael Frantzen Ton: Inge Görgner Regie: Karena Lütge Redaktion: Margarete Wohlan Eine Produktion von Deutschlandradio Kultur 2013-08-21 Manuskript und das Audio der Sendung finden Sie im Internet unter dradio.de 1