COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Deutschlandradio Kultur, Die Reportage, 21.3.2010, 13.05 Uhr Literarische Plätze Georges Simenons Roman: ?Maigret und die kopflose Leiche" Übersetzer: 3 Männer Sprecher 1 = Duballet Sprecher 2 = Jourdain Sprecher 3 = Carly Manuskript 15. Atmo (1´08) im Büro, Tippen am PC Kriminalhauptkommissar Jean-Pierre Duballet von der Pariser Kriminalpolizei : 1. O-Ton Duballet 87 1´54 / Sprecher 1 Man kann nicht Quai des Orfèvres arbeiten, ohne Maigret zu mögen. Er ist ein Mythos. Aber ich betone: Maigret existiert nur in der Vorstellungswelt von Simenon. Weiter 15. Atmo Hervé Jourdain, Kriminaloberkommissar: 2. O-Ton Hervé Jourdain 92 1´10 / Sprecher 2 Simenon täuscht sich in einem Punkt. Wenn er Maigrets Büro beschreibt, heißt es, dass Maigret aus dem Fenster den Pont Saint Michel sieht. Wenn man in das Büro unseres heutigen Kriminaldirektors geht, sieht man hingegen die Brücke Pont Neuf! 15. Atmo / Blende mit Atmo 1 1. Atmo 1´30 Autos, bei 0´10 Tourist fragt nach Notre Dame Sprecher: Titel: Literarische Plätze Maigret am Kanal Saint Martin in Paris Von Bettina Kaps Weiter 1. Atmo 1´30 Autos, bei 0´10 Tourist fragt nach Notre Dame Die Ile de la Cité, das Herz von Paris. Touristen flanieren über die Insel, streben auf Notre Dame zu, gehen dabei achtlos an einem strengen Bau mit Simsen und Giebeln im Renaissancestil vorbei. Fünf Stockwerke, grünes Kupferdach, und ? nicht gerade stilecht - schmuddelige weiße Rollos vor den Fenstern. 20 blaue Mannschaftswagen parken vor dem großen Holztor, links und rechts vom Eingang halten Polizisten Wache, über ihnen flattert die Trikolore. Das ist der Pariser Justizpalast. In den oberen Etagen arbeitet die Kriminalpolizei. Im dritten Stock liegt das Büro von Kommissar Jules Maigret. Kreuzblende mit 2. Atmo (0´09) Fensterladen knirscht nach 5 Sekunden herunterziehen, O-Ton drüberlegen O-Ton 118 Duballet / Sprecher 1 Hier haben Sie den Ausblick aus den beiden großen Fenstern. Durch eins sieht man auf die Place Dauphine, einen Platz, den Maigret sehr gemocht hat, und durch das zweite auf den Seine-Arm mit dem Pont Neuf. Simenon beschreibt exakt die Atmosphäre dieses Büros, vor allem die beiden alten Ledersessel. Die wurden allerdings vor ein paar Jahren durch neue Sessel ersetzt. Bis in die 70er Jahre war es Tradition, dass die Geständnisse im Büro des Kripo-Chefs abgenommen wurden. 3. Atmo (0´43) vom Raum, Schritte auf Parkett Jean-Pierre Duballet, erster Kriminalhauptkommissar von Paris. 55 Jahre, graues Kurzhaar, silberner Kinnbart, grünblaue Augen, durchdringender Blick. Duballet macht Maigrets Job. Im Büro des berühmten Romanhelden darf er sich allerdings nicht einrichten, da arbeitet sein Chef. Jetzt steht ein Wechsel an. Der neue Kriminaldirektor ist noch nicht ernannt, deshalb kann Duballet das Büro 315 zeigen, von dem sich Maigret-Autor Georges Simenon inspirieren lässt. 4. Atmo (0´43) Duballet spricht evt kurz einspielen oder aber weiter 3. Atmo Ein großer Holzschreibtisch mit Aschenbecher beherrscht das Zimmer, in einer Ecke steht ein Panzerschrank mit Zahlenschloss, museumsreif, sagt Duballet, daneben eine Vitrine mit Medaillen, Schlips und dekorierten Tellern, im Regal ?rot eingebunden- das Strafgesetzbuch. Als Dekor: ein Stillleben mit Melone und eine Hafenansicht. Maigret kann jederzeit hereinspazieren und die Pfeife ablegen ? auch drei Jahrzehnte nach seinem letzten Fall wird er sich hier nicht fremd fühlen. O-Ton 118 Duballet / Sprecher 1 Wenn der Verdächtige so bearbeitet war, dass er auspacken wollte, brachte man ihn ins Büro des Chefs, wo er sich in einen der kleinen Ledersessel setzte. Hier saß er viel tiefer als der Polizeichef, allein daher fühlte er sich schon unterlegen. 5. Atmo (1´26) im Gang Duballet verlässt Maigrets Büro, geht durch einen langen fensterlosen Gang. Neonlampen beleuchten die gelblich tapezierten Wände. Schwarzes Linoleum mit einem grauen Schlierenmuster bedeckt den Boden. Original 60er Jahre. Das Ambiente ist genau so wie es Simenon 1955 in dem Roman ?Maigret und die kopflose Leiche? beschreibt. Sprecher Zitat S. 32 Als Maigret den langen Flur am Quai des Orfèvres betrat, tanzte für einen Augenblick ein Fünkchen Heiterkeit in seinen Augen, denn selbst dieser Flur, der graueste und trübste der Welt, wurde heute von der Sonne berührt, zumindest in der Gestalt einer Art leuchtenden Staubs. Zwischen den Bürotüren saßen Leute auf den Bänken ohne Rückenlehne und warteten, einige mit Handschellen an den Gelenken. 5. Atmo (1´26) im Gang Der Kommissar umrundet eine Sitzgruppe. Dort warten drei Frauen mittleren Alters, ein Mann, ein kleiner Junge und ein Schoßhund. Zeugen, oder aber Angehörige eines Verdächtigen. Wer Handschellen trägt, bleibt nicht im Gang, der wird sofort in eine der vier beige gekachelten Zellen gesperrt, die weiter hinten vom Flur abgehen. 6. Atmo (1´10) Jazzradio im Büro, bei 0´56 trommelt er den Takt Neben einem grauen Spind liegt das Büro 305, Duballets Arbeitszimmer. Deutlich kleiner als das von Maigret, trotzdem sind drei Schreibtische hinein gezwängt, an einem arbeitet eine Sekretärin. Das Fenster zeigt zum Hof, der Blick stößt auf graue Fassaden. Duballet grinst. Als er noch Inspektor war und in einer Dachkammer arbeiten musste, hatte er eine bessere Aussicht. 5. O-Ton Duballet / Sprecher 1 Zehn Jahre lang habe ich denselben Blick genossen wie der Chef der Kriminalpolizei oder wie Maigret, allerdings von einem Dachfenster aus. Ich musste nur auf einen Hocker steigen, dann konnte ich auch einen kleinen Abschnitt von der Seine sehen. Was Simenon schreibt, ist schon richtig: wenn man den Blick schweifen lässt und das Wasser fließen sieht, vagabundiert der Geist und die Gedanken ordnen sich. 6. Atmo (1´10) Jazzradio im Büro, bei 0´56 trommelt er den Takt Duballet lehnt sich zurück, schiebt die eckige Lesebrille auf den Kopf, trommelt mit den Fingern auf den Tisch. Aus einem Radio im Wandregal tönt Musik. Kein Zweifel: der Kommissar ähnelt dem Romanhelden: die innere Ruhe, die massive Gestalt, das Alter? Bestimmt hat Maigret auch Jazz gehört. Selbst im Werdegang gibt es Parallelen. 6. O-Ton Duballet 80 / Sprecher 1 Ich habe als Schutzpolizist angefangen, bin im 14. Arrondissement Streife gegangen. Da mussten wir das Gefängnis La Santé überwachen. In meinem Bezirk hatte ich mit Arbeitern zu tun und mit Großbürgern, die rund um den Park Montsouris wohnen. Ähnlich wie Maigret wollte ich nicht mein Leben lang Schupo bleiben. Nach Dienstschluss habe ich deshalb für den Wettbewerb zum Polizeiinspektor gebüffelt. So wurde ich Polizeioffizier. 1985 kam ich zur Kriminalpolizei, Quai des Orfèvres. Wir haben das Glück, dass wir hier nur außergewöhnliche Fälle bearbeiten. Die Kripo beschäftigt sich mit Mord, Entführungen und Attentaten. 6. Atmo (1´10) Jazzradio im Büro Duballet zeigt auf ein graues Telefon: der Draht zum Kriminaldauerdienst. Wenn es läutet, muss er ein neues Verbrechen aufklären. Im Roman sitzt Maigret noch zuhause beim Frühstück, als das Telefon klingelt und ihn Lucas anruft, sein junger Kollege vom Quai des Orfèvres: Im Kanal Saint Martin ist eine Leiche aufgetaucht. Sprecher Zitat S. 15f. Um Viertel nach acht erhielt Maigret, der gerade seine zweite Tasse Kaffee ausgetrunken hatte und sich den Mund abwischte, bevor er sich die erste Pfeife ansteckte, den Telefonanruf von Lucas. ?Einen Männerarm, sagst du?? Auch er war erstaunt. ?Weiter hat man nichts gefunden?? ?Victor, der Taucher ist schon an der Arbeit. Man muss die Schleuse so schnell wie möglich freigeben, sonst gibt es einen Verkehrsstau.? 7. Atmo (0´59) Schleuse, als Zäsur etwas länger stehen lassen Rue des Récollets. An dieser Straßenecke unterbricht der Kanal Saint Martin seine monotone Gradlinigkeit, biegt energisch nach links ab auf die Schleuse zu. Kurz vor dem Stauwehr verengt sich das Becken, eine hoch geschwungene türkise Fußgängerbrücke verbindet die Ufer. Auf beiden Seiten wachsen Kastanien, ihre Äste streben aufeinander zu, fast gelingt es ihnen, einen grünen Tunnel zu bilden. Ein mittelgroßer Mann mit Stoppelbart und schulterlangem gelockten grauen Haar lehnt am Zaun. Er schaut, wie das Wasser weiß schäumend in die Schleuse schwallt und strudelt. 7. O-Ton Carly 23 / Sprecher 3 Das war damals ein Ort, wo die Leichen tanzten, und selbst heute gibt es hier noch Selbstmorde. Wenn der Polizeitaucher seinen Kupferhelm überzog und abtauchte, sah er unter Wasser jede Menge Kadaver treiben. Der Kanal war ein Boulevard des Verbrechens. Kein Wunder, dass Simenon seinen Roman ?Die kopflose Leiche? hier ansiedelt. 8. Atmo (1´05) Stimmen am Kanal Michel Carly kennt sich aus mit Simenon. Der 62-Jährige ist Belgier wie der berühmte Autor und selbst Schriftsteller. Anfangs schreibt er Drehbücher für Werbefilme. Aber seit 20 Jahren beschäftigt sich Carly ausschließlich mit Simenon und dessen Werk. Er hat sieben Bücher über sein großes Vorbild veröffentlicht, darunter den Titel ?Maigret, kreuz und quer durch Paris?. Darin spürt er die Orte auf, an denen der Kommissar lebt und ermittelt. Eine Suche, die für ihn wohl nie zu Ende gehen wird. Carly schlendert am Kanal entlang, zeigt auf die Kaimauer. 8. O-Ton Michel Carly 23 / Sprecher 3 Dort muss der Kahn geankert haben, da haben die Brüder Naud angelegt. Im Roman steht: der Quai de Valmy zur Rechten und der Quai de Jemmapes zur Linken. Die Brüder gehen dann, einer nach dem anderen, auf dem Treidelweg ? früher wurden hier die Schiffe von Pferden gezogen ? zu diesem Bistro, im Buch heißt es Chez Popaul, heute ist der Name ?Atmosphäre?. 9. Atmo (0´59) Straße Die Bar an der Rue des Récollets, schreibt Simenon, hat eine schreiend gelbe Fassade. Tatsächlich gibt es an dieser Straßenecke eine zitronengelbe Hauswand. Dahinter verbirgt sich jedoch eine Designboutique mit teurem Spielzeug, Modeschmuck und Porzellan. Indiz dafür, wie sehr das ehemalige Arbeiterviertel verbürgerlicht. 10. Atmo (1´08) im Bistro Gleich daneben liegt das Bistro, nur dass es mit braunem Holz verkleidet ist. Carly setzt sich, bestellt Zitronentee. Er trägt ein weites weißes Hemd mit offenem Kragen, am Hals blinkt ein hauchdünnes Goldkettchen. Die Brüder Naud trinken ihren Kaffee mit Schuss an der Theke, da ist er billiger, auch heute noch. Sprecher Zitat Seite 8 Naud warf einen Blick durchs Fenster auf den Himmel, der sich jetzt rosig verfärbte. Die Schornsteine auf den Dächern gewannen als Erste Leben und Farbe in dieser Landschaft, während die Kälte der letzten Nachtstunden die Schieferplatten, Dachziegel und stellenweise den Fahrdamm mit einer feinen Rauhreifschicht überzogen hatten, die nun zu schmelzen begann. Man vernahm das Tuckern des Dieselmotors. Das Heck des Lastkahns spuckte stoßweise schwarze Rauchwolken aus. Naud legte ein paar Münzen auf die Theke, tippte mit der Fingerspitze an den Mützenrand und überquerte erneut den Quai. Der Schleusenwärter war in Uniform am Flutbecken erschienen und ließ das Wasser einströmen. In der Ferne waren auf dem Quai de Valmy Schritte zu hören, aber es war noch niemand zu sehen. 10. Atmo (1´08) im Bistro ?Atmosphère?, der Name des Bistros, ist eine Hommage an den Regisseur Marcel Carné und seinen Klassiker ?Hôtel du Nord?. In dem Schwarz-Weiß-Film steht die berühmte Arletty auf der Kanalbrücke und beschimpft ihren Liebhaber mit den Worten: ?Atmosphäre! Sehe ich vielleicht nach Atmosphäre aus?? Der Name Atmosphäre, meint Carly und zeigt in den Schankraum mit der alten Holztheke, den klassischen Holztischen mit Eisengestell und den unbequemen Bistrostühlen, passt auch hervorragend zu Simenon. 9. O-Ton Carly 15 / Sprecher 3 Das Café ist geradezu durchtränkt von dieser ganz besonderen Atmosphäre, die Simenon erzeugt, wenn er Maigrets Universum beschreibt. Maigret kennt das Viertel gut. Er kam schon als junger Polizeiinspektor her, weil sich in dieser Gegend ständig Verbrechen ereigneten. Hier gab es besonders viele Bordsteinschwalben. Maigret hat das Viertel natürlich von Simenon geerbt. Als der Schriftsteller an der Place des Vosges wohnte, ging er oft zum Kanal. Die jungen Frauen auf dem Strich zogen ihn magisch an. 10. Atmo (1´08) im Bistro Michel Carly schaut aus dem Fenster. Zwei Studentinnen sitzen auf der Kaimauer. Sie haben große Mappen auf dem Schoß, zeichnen den Kanal mit der romantischen Eisenbrücke. Simenons Interesse, ja sein Hunger nach Frauen, interessieren Carly: Er will daraus das Thema seines nächstes Buches machen. Atmo kurz hochziehen Als junger Mann läuft Simenon mit weit offenen Augen, Ohren und Nase durch Paris, erzählt Carly, er saugt alle Sinneseindrücke auf, derer er habhaft werden kann. Sein Geld verdient er als Journalist und Autor von Groschenromanen. Was er jetzt sieht, liefert ihm später Stoff für alle 63 Maigret-Romane, die in Paris spielen. Denn ab 1928 kommt er nur noch selten nach Paris, bei Kriegsausbruch kehrt er der Hauptstadt endgültig den Rücken und 1945 wandert Simenon nach Amerika aus. 10. O-Ton Carly 20 2´00 / Sprecher 3 Simenon schreibt ?Maigret und die kopflose Leiche? in den 50er Jahren. Damals lebt er schon ein Jahrzehnt in den USA. In allen Romanen, die er damals in Paris spielen lässt, zeichnet er sein persönliches Paris nach, ein gefühltes und poetisches Paris, so wie er es bis in die 30er Jahre gekannt hat. Die Beschreibungen der Stadt beruhen einzig auf seinen Erinnerungen. 10. Atmo (1´08) im Bistro Die Bedienung serviert den Tee. Die junge Frau ist Engländerin, ihre Kollegin hinter der Theke kommt aus den Staaten. Am Nebentisch wird spanisch gesprochen. Arbeiter sind nicht zu sehen. Ein leichter Essensduft zieht durchs Lokal. ?Hachi Parmentier?, steht auf der Schiefertafel, als Tagesgericht gibt es heute Hackfleisch-Kartoffelpüree vom Lamm. Ein Glas vom billigsten Wein kostet 3 Euro 80 ? zu teuer für Maigret, der schon am Vormittag großzügig Weißwein bestellt. 11. O-Ton Carly 21 / Sprecher 3 Maigret ist im heutigen Paris völlig inkorrekt. Rauchen verboten ? das ist schon mal ein großes Problem für ihn. Und in Sachen Alkohol bekäme er Probleme mit seinen Vorgesetzten. In der Bar von Aline Calas schüttet er ja ein Glas Poitou-Wein nach dem anderen runter. Aber dass es jetzt, nach der Nouvelle Cuisine, nach der ethnischen Küche und nach Süß-salzig wieder eine Rückkehr zu regionalen Küche gibt, das gefällt ihm. Ich bin eben erst an einem Restaurant vorbei gekommen, wo man Ochsenmaulsalat und Kalbsfrikassee essen kann, das wäre ihm nicht fremd. 9. Atmo (0´59) Straße Carly zahlt. Wieder im Freien zieht er einen zerfledderten Stadtplan aus der Tasche: Die Seiten sind bekritzelt, zahlreiche Orte markiert. Mit diesem Plan ist er Maigrets Paris abgelaufen. Er tippt auf eine Straße, zeigt dann kanalaufwärts: Dort muss in einer Nebenstraße ?Chez Calas? gelegen haben, die Kneipe ist Dreh- und Angelpunkt des Romans. Maigret und Inspektor Lapointe landen rein zufällig am Ort des Verbrechens. Sprecher Zitat Seite 20f Sie kamen an einstöckigen Baracken, aneinandergebauten Mietshäusern, Werkstätten und großen Betonbauten vorbei, in denen sich Büros befanden. ?Wir werden schon noch ein Bistro mit einer Telefonzelle finden.? [Sie folgten dem Quai und konnten nun am anderen Kanalufer die verblichene Trikolore und die blaue Laterne des Polizeireviers sehen und dahinter die dunkle Gebäudemasse des Saint-Louis-Krankenhauses.] Sie mussten etwa 300 Meter weit laufen, ehe sie eine düstere Bar entdeckten, deren Tür der Kommissar aufstieß. Dahinter ging es zwei Steinstufen hinab, und der Fußboden war mit kleinen, dunkelroten Fliesen gekachelt, wie in Wohnhäusern von Marseille. Es befand sich niemand im Raum, nur ein fuchsrote dicke Katze, die in der Nähe des Ofens lag, sich träge erhob, auf eine angelehnte Tür zuschlich und dahinter verschwand. ?Ist da jemand??, rief Maigret. Man hörte das hastige Ticken einer Kuckucksuhr. Der Geruch von Schnaps und Weißwein lag in der Luft. 11. Atmo (0´59) Straße mit Sirene Maigret wittert schnell, dass es der Wirt ist, Omar Calas, der zerstückelt aus dem Kanal gezogen wird. Carly winkt ab. Der Abstecher lohnt sich nicht, er hat die Bar schon gesucht, vergeblich: Alle Baracken sind längst abgerissen, ersetzt durch moderne Bürogebäude mit verspiegelten Fassaden. Eine glatte und kalte Umgebung. Da kann er sich Maigret nun wirklich nicht vorstellen. Um sich dennoch in Simenons Welt zu versetzen, sucht er alte Postkarten, auf denen das Viertel noch wie früher zu sehen ist. Er schlägt den Kragen seiner grauen Wildlederjacke hoch, dreht sich um und geht zur Metrostation. Vorbei an alten Mietshäuser mit einem Dickicht von Schornsteinen auf dem Dach. Wie Orgelpfeifen, sagt er, die in den Himmel streben. Die hat Simenon auch gesehen. Zitat Seite 50 Die Schornsteine zeigten nicht mehr das gleiche Rosa wie am Morgen, sondern verfärbten sich unter den Strahlen der sinkenden Sonne ins Dunkelrote, während der Himmel jetzt blassgrüne Schlieren aufwies, wie die Wellen im Meer gegen Ende des Tages. 12. Atmo Stereo (1´04) Metro als Zäsur, bei 0´39 fährt sie ab 13. Atmo (0´47) (Oui entrez, entrez! Anfang stehen lassen, dann runter ziehen) Zurück im Quai des Orfèvres. Der Gerichtsvollzieher bringt eine Vorladung zum Schwurgericht: Jean-Pierre Duballet muss als Zeuge in einem Mordprozess aussagen. Der Kriminalhauptkommissar hat auch schon mit zerstückelten Leichen zu tun gehabt. 12. O-Ton Duballet 84 / Sprecher 1 Es war in der Vorstadt von Paris. Ein Clochard wurde auf zwei große Pakete aufmerksam, die neben einer Mülltonne standen. Er stocherte drin rum und freute sich, als er ein Stück Fleisch fand. Er hatte nämlich Hunde, die er füttern musste. Aber dann merkte er, dass es ein Oberschenkel war, danach fand er ein ganzes Bein. Alles in allem steckten zwei Beine, zwei Arme und ein Kopf in den Säcken. Wir haben schnell festgestellt, dass die Beine nicht zu den Armen gehörten. Der Kopf war asiatisch, die Arme auch, aber die Beine gehörten zu einem Europäer. Weiter 13. Atmo Einen wichtigen Teil der Ermittlungen übernimmt heute die wissenschaftliche Polizei, sagt Duballet. Er und seine Kollegen sammeln Beweise, bereiten die Akte vor, nehmen das Geständnis ab. Anders als Maigret arbeiten sie immer im Fünfer-Team. Einer aus der Mannschaft ist Fan von Simenon. 14. Atmo (0´27) Treppe, er pfeift Der Kommissar nimmt die Treppe zum fünften Stock, öffnet die Tür zu einer Dachkammer. Unter der Schräge sitzt ein junger Mann am Computer. Kriminaloberkommissar Hervé Jourdain ist Schriftführer, er muss sich besonders konzentrieren. Deshalb arbeitet er in diesem abgeschiedenen Büro. 13. O-Ton Hervé 100 1´00 / Sprecher 2 Wenn die Polizei im Kanal Saint Martin eine kopflose Leiche findet, dann besichtigt das ganze Team den Tatort. Und ich, als Schriftführer, muss alles beschreiben: das Viertel, den Kanal, wie breit er ist, wie hoch das Wasser steht, wo die Leiche herausgefischt wurde, wie sie gekleidet ist, welche Etiketten in den Kleidern stecken, welche Glieder fehlen, die Schuhgröße, die Abnutzung der Sohlen... Tausend Einzelheiten, die ich in einem kleinen Roman festhalte, die Beschreibung des Tatorts. 15. Atmo (1´08) im Büro, Schreiben am PC Maigret, sagt er und es klingt leicht abschätzig, sieht man ja selten vor einer Schreibmaschine. Ein Plakat weist Jourdain als Marathonläufer aus. Er hat die Figur dazu: mittelgroß und mager. Mit seinen kurzen braunen Haaren, dem grauen Kassengestell, Jeans, beigem Hemd und goldenem Ehering sieht er unauffällig und schüchtern aus. Das Büro verrät mehr über ihn: Da hängt ein Foto von Georges Simenon, wie er den Quai des Orfèvres verlässt, und das Plakat eines Buches, Titel: ?Tintenblut am Quai des Orfèvres?. Autor: Hervé Jourdain. 16. Atmo (1´34) Jourdain im Büro am Telefon und PC Der 37-Jährige hat seinen ersten Krimi veröffentlicht. Die Geschichte eines Serienmörders. Das Buch handelt auch von Simenon und von Maigret, von modernen Ermittlungsverfahren und der Art, wie Maigret arbeitet, erzählt er. Eins hat Jourdain mit seinem berühmten Vorgänger gemeinsam: Als Schriftführer kennt er die Einzelheiten eines Falls besser als die Kollegen, deshalb nimmt immer er das Geständnis ab. Auge in Auge mit dem Verdächtigen, hier in der Dachkammer. 14. O-Ton 101 Hervé Jourdain / Sprecher 2 Ich setze ihn auf diesen Stuhl. Am liebsten abends, wenn die Glocken der Sainte Chapelle läuten und das Licht schummrig wird. Dann zünde ich eine Kerze an, so ähnlich beschreibt es Simenon ja auch bei Maigret. Alle Tricks sind erlaubt, um ein Geständnis zu erhalten, und oft ist es am Abend so weit, wenn der Verdächtige müde wird, bei einer Zigarette. Wir versuchen es mit Psychologie. Weiter 16. Atmo Im Wandregal steht eine weiße Kerze. Daneben liegen der Stoßzahn eines Elefanten, ein Aschenbecher mit Totenköpfen, eine Schischapfeife? 15. O-Ton 102 Hervé Jourdain / Sprecher 2 Lauter kleine Souvenirs? Das hier ist das Nummernschild einer Leiche bei der Autopsie. (kramt rum 3 sek) Den Elfenbeinzahn habe ich bei einem Mann mitgenommen, der einen Chinesen getötet hat, und die Wasserpfeife ist eine Erinnerung an einen Mord im Drogenmilieu. Weiter 16. Atmo Andere Souvenirs hat er auf den braunen Wandschrank geklebt, wie das Foto einer lachenden jungen Frau mit blonden Haarsträhnen vor dem Gesicht. Sie ist tot, erzählt Jourdain, ihr Partner hat sie ermordet, er hat den Täter überführt. Daneben das Bild einer polizeilichen Gegenüberstellung: drei Männer mit blonden Perücken, einer davon ist Jourdain, ein anderer der Vergewaltiger. Schließlich das Fahndungsfoto von Youssouf Fofana. Der Kommissar hat dem brutalen Foltermörder eines jungen Juden den internationalen Haftbefehl überstellt. Derzeit bearbeitet er einen Mord aus Leidenschaft und zwei Morde im Rauschgiftmilieu. Hervé Jourdain ist Kriminalpolizist aus Leidenschaft. Sein Motiv: 16. O-Ton 121 Hervé (0´05 kurz, stehen lassen und danach over-voicen) / Sprecher 2 Ich will die Bösen verhaften. Ganz einfach: den Bösen nachlaufen und sie festnehmen. 17. Atmo (0´29) Telefon kurz stehen lassen Drei Uhr nachmittags. Pünktlich wie immer rufen die Kollegen zum Kaffeetrinken. Die Besichtigung des Tatorts ist oft schwer erträglich, sagt Jourdain. Manch eine Festnahme spannt die Nerven an. Der Job schweißt das Fünfer-Team zusammen. Deshalb ist es wichtig, dass die Kollegen auch gemeinsam plaudern und entspannen. Jourdain verlässt seine Dachkammer. Duballet geht auch zum Kaffeeplausch. Doch vorher will er noch zeigen, wo Maigret auch schon war. Sprecher Zitat 42 Er stieg langsam zum Dachgeschoß des Palais de Justice hinauf, wo er Moers über Reagenzgläser gebeugt antraf. ?Arbeitest du an ´meiner´ Leiche??, fragte er? ?Ich untersuche die Proben, die Doktor Paul uns geschickt hat.? ?Hast du Ergebnisse?? Auch andere Spezialisten arbeiteten in diesem riesigen Saal, in dem man in einer Ecke die Gliederpuppe stehen sah, die für Rekonstruktionen benutzt wurde, wenn man sich beispielsweise vergewissern wollte, dass ein Messerstich nur in dieser oder jener Stellung versetzt worden sein konnte. 18. Atmo (0´22) Metalltreppe Duballet steigt keuchend eine Metallstiege hoch, betritt einen weiß gekachelten Raum: Zwei Waschbecken, eine Ankleidepuppe, ein Dutzend Kleiderhaken und, quer durch den Raum gespannt, eine Wäscheleine mit Klammern, das ist alles. Im Mülleimer liegen Gummihandschuhe und eine Atemmaske, es riecht nach Chlorwasser. 17. O-Ton Duballet O-Ton 116 / Sprecher 1 Diesen Raum nennen wir ziemlich pompös ein Labor. Es dient vor allem dem Schriftführer. Jourdain und seine Kollegen untersuchen hier die Kleider der Opfer. Ziel ist es, den Verlauf einer Kugel oder eines Messers nachzuvollziehen. Da hat gerade jemand gearbeitet, deshalb ist es nicht ganz sauber. 19. Atmo auf dem Dach Der Kriminalhauptkommissar hat noch eine Überraschung parat. Er geht zur Fenstertür, sperrt sie auf, steigt auf das Zinkdach und geht -an Schornsteinen und Giebelwänden vorbei- bis nahe an den Rand des Gebäudes. Zu seinen Füssen erstrecken sich die Dächer von Paris. Duballet streckt die Hand aus, macht den Stadtführer. 18. O-Ton Duballet 116 2´50 / Sprecher 1 Beginnt mit Atmo Wir stehen hier auf dem Dach des Justizpalastes. Der Blick ist atemberaubend: da ist Notre Dame, gleich hier die Sainte Chapelle, da fließt die Seine, und dort ist die Königsachse vom Louvre über die Concorde und den Triumphbogen bis La Defense. (Atmo: läuft übers Dach) Direkt vor uns sieht man auf den Place Dauphine mit seinen Baumwipfeln. Wir haben ganz Paris vor unseren Augen, mit allen Lieblingsorten von Maigret. Zur Auswahl 19. Atmo (1´31) auf dem Dach einmal mono 1´31 20. Atmo Stereo (0´30) auf dem Dach Für ihn ist es der schönste Ort des Justizpalastes. Seltsam, sagt Duballet, dass Simenon seinen Kommissar nicht auch hierher geschickt hat. 1