DEUTSCHLANDFUNK Hintergrund Kultur / Hörspiel Redaktion: Sabine Küchler Die Ruinenwächter der Revolution Drei cubanische Lebensläufe Von Peter B. Schumann Sprecherin (Kommentar: Uta Prelle) Sprecher 1 (Barnet: Thomas Holländer) Sprecher 2 (Padura: Joachim Schönfeld) Sprecher 3 (Ponte: Erwin Schastok) Sprecher 4 (Zitate: Gerd Grasse) Haussprecher (Titelan/absage) 57 Takes 7 Musik-Takes Regie: Peter B. Schumann Produktion: . Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. © - unkorrigiertes Exemplar - Sendung: Freitag, 16. Oktober 2009, 20:10 ? 21:00 Uhr Take 1 Barnet Sprecher 1: Ich bin Fidelist. Das hätte ich vielleicht vor einigen Jahren noch nicht gesagt. Aber die großartigen Strategien und Erfolge von Fidel und von seinem Bruder Raúl haben mich überzeugt. Ursprünglich war das eine paternalistische Revolution. Doch heute ist der Weg frei für eine demokratischere Vision. Denn dies ist eine Zeit der Veränderung, wenn auch die wirklich großen Veränderungen in Cuba bereits 1959 stattgefunden haben. Sprecherin: Miguel Barnet, Jahrgang 1940, Poet und Romancier, Parlamentsabgeordneter und Präsident des Schriftsteller-Verbands, Wohnort: Havanna. Take 2 Padura Sprecher 2: Ich will nur eines: Diese Gesellschaft, in der ich Brüderlichkeit und Solidarität erfahren habe, darf das Wichtigste nicht aufgeben, das sich auch in der Vielzahl meiner Leser ausdrückt, der Menschen, die in diesen Jahren lesen und schreiben lernen konnten: das Bildungswesen. Dadurch bin auch ich zu der Person geworden, die ich heute bin. Außerdem dürfen die sozialen Werte nicht verloren gehen. Und die notwendigen Veränderungen müssen jetzt durchgeführt werden, damit dies alles nicht zu Bruch geht. Sprecherin: Leonardo Padura, Jahrgang 1955, Autor von kritischen Kriminalromanen, Wohnort: Havanna. Take 3 Ponte Sprecher 3: Ich liebe die Revolution nicht, aber ich werde auch nicht mein Leben damit verbringen, sie zu hassen. Ich habe mich stets als Konterrevolutionär betrachtet, doch das bin ich nicht mehr, denn mein Werk weist weit über diese Revolution hinaus, und ich war mir immer sicher, dass ich sie überleben werde. Sie ist nicht mehr als eine weitere Episode in der kubanischen Geschichte. Sie ist nicht das Ende und nicht die ganze Geschichte Cubas. Sprecherin: Antonio José Ponte, Jahrgang 1962, Essayist und Romancier, seit 2006 Wohnort: Madrid. Haussprecher: Die Ruinenwächter der Revolution. Drei cubanische Lebensläufe. Ein Feature von Peter B. Schumann Musik-Take 1 Lied des Guerrilleros (aus: Chants révolutionnaires de Cuba XCED 521077) Take 4 Barnet Sprecher 1: Ich war 1961 noch kein Intellektueller. Ich war gerade mal 21 Jahre alt und habe zuerst Werbung, dann Ethnologie und Soziologie studiert. Ich stammte aus einer antikommunistischen, bürgerlichen Familie. Es war für mich anfangs schwierig, mich in den großen Veränderungen zurecht zu finden. Aber wahrscheinlich habe ich gerade durch diesen Kampf zu einer viel tieferen Überzeugung gefunden. Sprecherin: Es war allerdings ein langer, zum Teil bitterer Weg der Erkenntnis für Miguel Barnet. Aus seinen ethnologischen Studien ging 1966 Der Cimarrón hervor, die Lebensgeschichte eines entlaufenen Negersklaven aus Cuba ? so der deutsche Untertitel. Mit diesem Buch schuf er ein neues literarisches Genre, die 'novela testimonio', den dokumentarischen, den Zeugen-Roman. Er wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt, denn er galt als Beweis für die kulturelle Kreativität der Revolution, und machte seinen Autor international bekannt. Take 5 Barnet Sprecher 1: Ich habe diese Biografie eines Cimarrón geschrieben, um etwas zu zeigen, das in dieser Form bis dahin in der kubanischen Kultur noch nicht dargestellt worden war: die afrikanische Präsenz in Cuba. Für die Ethnologen hatte sie sich bisher nur in der Religion, in Tanz und Gesang ausgedrückt. Ich habe dagegen die afrikanische Psyche an dem uralten Esteban gezeigt, seine Mentalität und sein gesellschaftliches Umfeld: wie er sich in einen Kubaner verwandelt und wie dieser Prozess abläuft. Der Cimarrón reicht viel tiefer als ein rein ethnografisches Buch oder ein bloßer Roman. Sprecherin: Die 60er-Jahre, in denen er entstand, waren die Zeit der großen Experimente, der Suche nach der Identität und dem richtigen politischen Weg. Leonardo Padura war damals, 1966, erst 10 Jahre alt. Take 6 Padura Sprecher 2 Mein Vater gehörte zu einer Freimaurer-Loge, meine Mutter war eine typisch kubanische Katholikin: sie glaubte auch an die afrikanischen Heiligen. Zu Hause habe ich zweierlei gelernt: bescheiden zu bleiben und brüderlich zu sein. Die Revolution erlaubte mir, diese beiden Prinzipien angemessen zu leben. Ich bin in einem einfachen Stadtviertel unter normalen Menschen aufgewachsen. Zu uns kamen Leute aus besser gestellten Schichten und ganz arme Leute, Schwarze, Weiße, Chinesen ? wir lebten das Prinzip der Gleichheit, das in den 60er-Jahren nicht nur bei uns zu Hause praktiziert wurde, sondern in der gesamten kubanischen Gesellschaft. Sprecherin: Leonardo Padura hat dann später in den 70er-Jahren Hispanistik, hispano-amerikanische Literatur an der Universität von Havanna studiert. Take 7 Padura Sprecher 2: Und zwar ohne einen Cent dafür zu bezahlen, in einer wunderbaren Universität mit sehr guten Professoren und einigen Beschränkungen. Damals durfte man beispielsweise einen Borges offiziell nicht lesen, was wir dennoch getan haben genauso wie all die übrigen verbotenen Autoren: Cabrera Infante, Vargas Llosa, was immer wir wollten. Sprecherin: Verglichen mit seinen beiden Kollegen ist Antonio José Ponte, Jahrgang 1962, ein Spätgeborener. Take 8 Ponte Sprecher 3: Ich erinnere mich noch an den Enthusiasmus der Leute und wie sie bestimmte Ereignisse gefeiert haben. Die 60er-Jahre waren eine Zeit voller Begeisterung. Aber ich erinnere mich auch an viele heimliche Gesten, an familiäre Geheimnisse, unausgesprochene Meinungen, gedämpfte politische Diskussionen. In meiner Familie gab es meine Eltern, die voller Enthusiasmus waren, und meine Großeltern, die das Geheimnis pflegten. Sie haben vor den Kindern nie ihre Meinung über die Revolution geäußert und sich zurückgezogen, wenn sie heimlich ausländische Sender hören wollten, um durch deren Nachrichten zu erfahren, was wirklich im Land geschah. Sprecherin: Denn die Etappe des revolutionären Überschwangs war auch gekennzeichnet von vielfältigen Widersprüchen, ideologischen Säuberungen und sogar ersten Verfolgungen von Homosexuellen. Was kubanische Funktionäre als 'revolutionäre Verirrungen' entschuldigten, wurde Anfang der 70er-Jahre systematische Politik. Take 9 Barnet Sprecher 1: Es gab eine harte Zeit in Cuba, das ist allgemein bekannt. Sie wurde später das 'schwarze Jahrfünft' genannt. Wir waren alle davon betroffen, die einen als Verursacher, die anderen als Opfer. Man wollte uns eine schematische Literatur aufzwingen, den sozialistischen Realismus. Dagegen haben wir uns gewehrt. Extremistische und opportunistische Elemente haben den revolutionären Prozess beschädigt und kompliziert. Sprecherin: Es waren aber nicht nur solche 'Elemente', die für Schwierigkeiten sorgten. Auch die Führung versagte, beispielsweise bei der 'Großen Zuckerschlacht' von 1970. 10 Millionen Tonnen sollten die Kubaner ernten, doppelt so viel wie normalerweise. Doch am Schluss musste Fidel Castro in einem seiner wenigen selbstkritischen Bekenntnisse zugeben: Take 10 Rede Castro Sprecher 4: Diese Schlacht hat nicht das Volk verloren, sondern wir: der Verwaltungsapparat der Revolution und wir, die Führer der Revolution, haben diese Schlacht verloren. Das Volk hätte nicht nur 10, sondern sogar 11 Mio. geschafft. Aber wir waren dazu nicht in der Lage. Sprecherin: Es war ein Tiefschlag für den Máximo Líder und die folgenden Jahre ein erster Tiefpunkt der Revolution: die stalinistische Phase. Die Hardliner übernahmen die Macht und verordneten dem Land eine Verwaltungsreform nach sowjetischem Vorbild und der Kultur den sozialistischen Realismus. Leonardo Padura erlebte diese Etappe als Student. Take 11 Padura Sprecher 2: Erst an der Universität habe ich mehr von diesen Ereignissen erfahren und eigentlich erst später die Tragweite begriffen. Es muss eine schreckliche, frustrierende, auch schmerzhafte Zeit gewesen sein, für die Literatur und die Kultur ganz allgemein. Eine Reihe von Schriftstellern hat damals ihre schöpferischen Fähigkeiten eingebüßt. Ihre Marginalisierung war so groß, dass sie diese Situation nie mehr überwunden haben. Aber auch Maler und Filmemacher waren davon betroffen. Sprecherin: Padura schloss 1980 sein literaturwissenschaftliches Studium problemlos ab und begann als Journalist zu arbeiten. Antonio José Ponte schlug damals einen anderen Weg ein. Take 12 Ponte Sprecher 3: Ich habe Ingenieur-Wissenschaft studiert, weil mir die Leute in den Geisteswissenschaften von ihren Beschränkungen erzählt hatten, von den vielen verbotenen Autoren. Kafka oder Joyce wurden nur am Rand erwähnt, weil sie eigentlich verbannt waren. Viele Autoren, die mich sehr interessierten, waren verboten: Lezama Lima, Piñeira, Octavio Paz, Borges, Vargas Llosa, Cabrera Infante, Arenas, Sarduy. Ich wollte mir keine Welt erschließen, die völlig entleert war. Also habe ich Ingenieur-Wissenschaft studiert und später sogar 5 Jahre lang als Ingenieur gearbeitet. Sprecherin: Ponte bekam jedoch selbst mit diesem Studium Probleme und zwar wegen "ideologischem Diversionismus". Take 13 Ponte Sprecher 3: Ich hatte Professoren kritisiert, weil sie uns die wenigen Rechner, die es damals erst gab, nicht zur Verfügung stellen wollten. Und wir mussten sehr lange Berechnungen in der Ingenieur-Wissenschaft durchführen. Sie warfen mir vor, ich würde die Normen der Fakultät infrage stellen, und zitierten mich vor eine Art Tribunal. Dabei bin ich wohl etwas ironisch mit den Professoren umgegangen. Wegen dieser Ironie und meiner Kritik musste ich das Studium ein Jahr lang unterbrechen. Ich stand kurz vor der Abschlussarbeit, die ich dann ein Jahr später gemacht habe. Musik-Take 2 Carlos Varela: Guillermo Tell (Monedas al aire, Nr. 10 ? IA 501 36006 A) Sprecher 4: Wilhelm Tell verstand seinen Sohn nicht mehr, / als der eines Tages / des Apfels auf seinem Kopfe müde war / und sich auf und davon machte. / Der Vater verwünschte ihn, / denn wie sollte er fortan/ sein Geschick beweisen? Take 14 Padura Sprecher 2: Sie konnten einen damals für jegliche Kleinigkeit bestrafen. Es herrschte eine Hysterie, die überall Feinde und nicht adäquate Verhaltensweisen ausmachte. Sprecherin: Leonardo Padura war bereits seit drei Jahren Redakteur beim Caimán Barbudo, der Kulturzeitschrift des Kommunistischen Jugendverbands. Take 15 Padura Sprecher 2: Damals hat der Versuch, einen Beitrag über den Tod von John Lennon zu publizieren, einen Wirbelsturm in der Zeitschrift verursacht, obwohl er von keinem Geringeren als García Márquez stammte. Der Vorfall wurde hochgespielt, um die gesamte Redaktion auszuwechseln. Meine große Sünde bestand darin, dass ich in einem Interview mit einer Tänzerin des Nationalballetts den Lehrer dieser Tänzerin erwähnte, bei dem der Zoll auf dem Flughafen 40 oder 50 Dollar Devisen gefunden hatte, was ein sehr schweres Vergehen war. Sprecherin: Die 80er-Jahre waren für Padura eine Zeit voller Widersprüche. Take 16/17 Padura Sprecher 2: Es waren Jahre ideologischer Borniertheit, in denen alles verdächtig war und man schuldig blieb, bis man das Gegenteil bewiesen hatte, was meist unmöglich war. In dieser Zeit war eine schöpferische Arbeit schwierig. Trotzdem hat meine Generation damals angefangen zu schreiben und zu publizieren: Abilio Estévez, Senel Paz, auch Abel Prieto, der heutige Kulturminister. Wir waren damals 30, 35 Jahre alt und haben unsere ersten Bücher veröffentlicht. Take 18 Barnet Sprecher 1: Es gab in den 80er-Jahren mehr Möglichkeiten für die Entwicklung einer großen Literatur in Cuba als in den 60ern ... Das hat sich auch an einer ganzen Reihe neuer Schriftsteller gezeigt: Jesús Díaz gehörte dazu, seine Bücher mag ich mehr als seine Filme. Oder Norberto Fuentes und Leonardo Padura, auch Antonio Arrufat mit einem großen Roman. Ich glaube nicht, dass diese kubanische Literatur schlechter war als die in anderen Ländern Amerikas. Sprecherin: Miguel Barnet selbst legte weitere Zeitzeugen-Romane vor: 1984 La vida real/ Das wirkliche Leben. Der deutsche Titel signalisierte den Inhalt: Ein Kubaner in New York. Sprecher 4: Ich bin fulltime Hausmeister. Davor habe ich es einmal als Security Guard versucht, wo man öffentliche Gebäude sichert. Aber von den durchwachten Nächten bekam ich furchtbare Ringe unter den Augen, sodass Celia sich ängstigte. Ich nahm ab, mir zitterten sogar die Hände. Meine Tochter schalt mich ernsthaft, und so tat ich den beiden den Willen. Ich hatte schließlich nichts davon als tagtägliche Probleme und schlaflose Nächte. Und nur, um das Geld für unseren Umzug nach Miami zusammenzusparen, wo es wärmer ist und wo Celias Freundeskreis wohnte. Nein, danke, lieber bleibe ich hier, sagte ich mir, schon angesteckt von der Unbeweglichkeit der Newyorker. Es klingt wie Ironie, aber man kann es an sich beobachten, wenn man in dieser Stadt wohnt. Es kriecht einem ins Gehirn wie ein verteufeltes kleines Biest, wie eine Mücke. Take 19 Barnet Sprecher 1: Dieser Roman ist in gewisser Hinsicht die Synthese meiner ethnischen Trilogie, die ich mit dem Cimarrón begonnen habe. Dort habe ich mich mit der afrikanischen Präsenz beschäftigt, dann im Lied der Rachel mit der Kubanerin mitteleuropäischen Ursprungs und schließlich mit dem Gallego, dem Spanier. In La vida real geht es nun um einen armen kubanischen Bauern, einen Mulatten, der 1948 in die Vereinigten Staaten auswandert und einen Kulturschock in der kosmopolitischen, modernen, atemberaubenden Stadt erleidet. Er bewundert zunächst diesen 'amerikanischen Traum', empfindet aber dann eine wachsende Sehnsucht nach dem kleinen Heimatland, nach Cuba. Sprecherin: Während Miguel Barnet solche Träume pflegte, suchten viele Kubaner den umgekehrten Weg und flohen über den kleinen Hafen Mariel nach Florida. Ein Exodus von mehr als 125.000 Menschen innerhalb eines halben Jahres, unterstützt durch eine ganze Flotte von Booten der Exil-Kubaner in Miami, aber auch geduldet und diskriminiert von der Regierung Castro. Take 20 Rede Castros Sprecher 4: In den letzten Monaten haben die illegalen Ausreisen stark zugenommen. Die Individuen haben sich auf jede nur denkbare Weise eingeschifft und oft die Besatzungen in Geiselhaft genommen. Doch in Florida wurden diese Kriminellen wie Helden, Dissidenten, Patrioten usw. gefeiert. Wir haben wiederholt vor ihnen gewarnt auf diplomatischen Kanälen und auch öffentlich ... Sie haben die Ideen der Revolution und den Sozialismus verraten, der hier verwirklicht wird von absolut freien und proletarischen Männern und Frauen. Sprecherin: Für Antonio José Ponte war dagegen die Massenflucht von Mariel ein Ereignis, das ihn für immer geprägt hat. Take 21 Ponte Sprecher 3: Ich war damals 15, 16 Jahre alt und fragte mich, wenn das hier ein Paradies werden sollte, eine gerechtere Gesellschaft, warum wollten dann so viele gehen, und warum wurden sie dafür auch noch bestraft? Denn bevor sie ausreisen konnten, wurden viele von ihnen zusammengeschlagen, beleidigt, durch die Straßen gejagt, in ihren Wohnungen belagert. Da wurde mir klar, was das für ein revolutionäres Regime und wer Fidel Castro wirklich war. Take 22 Barnet Sprecher 1: Ich habe nur einmal einen Ortswechsel unternommen und zwar von 10. in die 2. Straße von Havanna. Das war meine einzige Emigration. In der 10. Straße hatte ich schlechte Erinnerungen an jene schwierigen Jahre, und die wollte ich vergessen. Ich habe nie daran gedacht, mein Land zu verlassen. Nicht einmal in der Zeit meiner großen Konflikte am Anfang der Revolution. Sprecherin: Miguel Barnet hat leicht reden, denn seit ihn die Regierung rehabilitiert hat, genießt er alle Privilegien eines hofierten Intellektuellen. Dazu gehört eine nahezu unbegrenzte Reisefreiheit. Doch trotz aller Alltagsprobleme und politischen Widersprüche waren die 80er-Jahre auch von seltener politischer Stabilität gekennzeichnet. Take 23 Padura Sprecher 2: Damals konnten wir von unserem Verdienst leben und zwar ziemlich gut. Ich konnte nach der Universität von meinem ersten Gehalt so viel sparen, dass ich das Haus meiner Eltern aufstocken und eine Wohnung bauen konnte. Ich konnte Ferien machen, essen gehen, normal leben. Später hat der Verdienst in Cuba für solche Vergnügen nie mehr gereicht. Sprecherin: Ende der 80er-Jahre leitete Präsident Gorbatschow in der Sowjetunion einen grundlegenden Wandel ein. Der gesamt Ostblock brach zusammen, und Cuba verlor seinen wichtigsten Alliierten, der die Insel jahrzehntelang mit dem Nötigsten versorgt hatte. Die politische Liberalisierung im fernen Bruderland stieß in Cuba auf unterschiedliche Reaktionen. Fidel Castro: Take 24 Rede Castro Sprecher 4: Sollte die sozialistische Gemeinschaft verschwinden, dann werden sie erneut drei Viertel der Menschheit in Kolonien verwandeln. Wenn wir morgen erwachen sollten mit der Nachricht, dass die Sowjetunion zerfallen wäre ? was hoffentlich niemals eintritt ? dann werden Cuba und die Cubanische Revolution auch unter diesen Umständen weiterkämpfen und Widerstand leisten, damit diese Ereignisse sich nicht in unserem Land ausbreiten. Take 25 Ponte Sprecher 3: Meine Generation, meine Freunde und Kollegen setzten große Hoffnung auf Perestroika und Glasnost. Ich nicht, denn ich wusste, dass sich das kubanische Regime nicht ändern würde. Fidel Castro war viel zu eigensüchtig, um sich zu ändern. Denn Pestroika und Glasnost bedeuten Information, Transparenz, etwas, das letztlich die Macht des großen Führers einschränken würde. Fidel Castro war dazu nicht bereit. Take 26 Padura Sprecher 2: Politisch hat sich zwar so gut wie nichts verändert, wohl aber ökonomisch. Und die wirtschaftlichen Transformationen haben tief in die kubanische Gesellschaft eingegriffen. Die Einführung des Dollars war die sichtbarste Erscheinung, die zum Teil recht zweifelhafte Auswirkungen hatte. Doch es gab auch andere Maßnahmen wie jene, welche die Ausübung der Religionen erleichterten und die Gesetze zur Homosexualität liberalisierten. Die Wirtschaftskrise rief zugleich eine kulturelle Öffnung hervor, nicht nur in der Literatur, sondern ebenso auf dem Theater, der bildenden Kunst und im Film. Sprecherin: In diesen Jahren sich zuspitzender Konflikte schrieb Leonardo Padura einen Kriminalroman, der ihn berühmt machen sollte: Pasado perfecto/ Perfekte Vergangenheit. Take 27 Padura Sprecher 2: Dieser Titel enthält eine starke ironische Komponente. Der Roman erzählt die Geschichte eines Mannes, dessen Vergangenheit offiziell ganz perfekt erscheint, der aber tatsächlich stets ein Opportunist, ein Karrierist war und der schließlich auf übelste Weise korrupt wurde. Im Kapitalismus sind die Spielregeln ganz klar: wer es versteht, kommt zu Geld. Im Sozialismus geht man davon aus, dass du zum Wohl der ganzen Gemeinschaft arbeitest. Und wenn ein Hurensohn klaut, beklaut er alle. Das ist der Fall dieses Typs mit der angeblich perfekten Vergangenheit. Sprecherin: In dieser Zeit, in der Schriftsteller und Künstler jeglicher Richtung immer mutiger die Gegenwartswirklichkeit darstellten, veröffentlichte Miguel Barnet El oficio de angel/ Das Handwerk des Engels: seine frühe Lebensgeschichte von Anfang der 40er bis Mitte der 60er-Jahre. Take 28 Barnet Sprecher 1: Es ist kein rein autobiografisches Buch, sondern das Fresko einer kubanischen Mittelschichtfamilie, in der ein Kind zum Mann heranwächst. Es ist ein Buch der Erinnerung, eine familiäre Allegorie, die auch auf meine Familie zutreffen könnte. Ich habe das in Prosa geschrieben, was ich schon in meinen Gedichten vor vielen Jahren ausgedrückt habe: die Widersprüche und Auseinandersetzungen über die revolutionären Maßnahmen in einer neuen Gesellschaft, welche die Werte einer ganzen Klasse veränderte, die größtenteils das Land verlassen hat. Sprecherin: Miguel Barnet lässt zwar den sozialen Umschwung durch die Fülle familiärer Gestalten und ihrer Anekdoten hindurch scheinen, aber er drückt sich vor den großen intellektuellen und politischen Konflikten, welche die Revolution bereits in den 60er-Jahren erschütterten. Take 29 Barnet Sprecher 1: Das Buch umfasst die Jahre 1948 bis etwa 1964, denn ich will eine neue Trilogie schreiben, in deren folgenden Bänden ich mich dann auch mit den 70er und 80er-Jahren beschäftigen werde. Dieser Teil ist ein Lied auf die Revolution mit der Ankunft Fidels in Havanna und der Invasion in der Schweinebucht. Danach folgt erst die kritischere, schwierigere, komplexere Phase, die ich in ähnlicher Weise behandeln werde, in einer Art 'Post-Zeugnis-Roman', also mit mehr fiktiven Elementen. Sprecherin: Barnet hat danach keinen einzigen neuen Roman mehr veröffentlicht, aber 1998 geäußert: Take 30 Barnet Sprecher 1: Ich bin mit so viel anderem beschäftigt: arbeite in der UNESCO in Paris und für die Stiftung Fernando Ortíz. Ich schreibe aber viele Gedichte, Artikel sowie Monologe und habe auch einige Romanseiten verfasst. Aber ich habe es nicht eilig. Sprecherin: Das intellektuelle Aushängeschild der Revolution war auf dem Weg zu höchstem Ruhm. Miguel Barnet hat alle wichtigen kubanischen Auszeichnungen erhalten, 1994 auch den Nationalpreis für Literatur. 1995 wurde er Gründungsdirektor und Leiter der Stiftung, die den Namen seines Lehrers, des berühmten Ethnologen Fernando Ortíz trägt. 1996 war er kubanischer Vertreter im Exekutivrat der UNESCO in Paris. 1997 verlieh ihm die Universität von Havanna die Doktor-Würde. 2003 erhielt er über die deutsche Botschaft das Bundesverdienstkreuz. Er ist Parlamentsabgeordneter und seit 2008 Präsident des Schriftsteller- und Künstler-Verbands UNEAC. Kein kubanischer Autor hat es jemals so weit gebracht wie Miguel Barnet. Take 31 Barnet Sprecher 1: Fidel ist wie Zeus: einzigartig. Ein universeller Staatsmann, eine Art Generalsekretär der Vereinten Nationen. Er ist unvergleichlich, obwohl er auch Fehler hat, niemand ist perfekt, aber Fidel ist einzig. Musik-Take 3 Gorki Aguilar: El Coma andante (Rock aus: Porno für Ricardo) Sprecher 4: Coma-andante, fortlebendes Koma, Tyrann, der seine Kubaner für Hungerlöhne arbeiten lässt und Beifall für seine Lügengeschichten erwartet: "Glaub' doch nur nicht, Comandante, dass wir dir dabei auch noch folgen werden." Sprecherin: Während Barnet auf dem Weg zu höchstem Ruhm als Romancier verstummte, machte sich die neue Schriftsteller-Generation ans Werk. Unter ihnen auch Antonio José Ponte. Take 32/33 Ponte Sprecher 3: Ich habe zuerst Gedichte veröffentlicht, dann Essays in kubanischen Zeitschriften und schließlich Anfang der 90er-Jahre verschiedene Bücher. Für einen Gedichtband und sogar für einen Band mit Essays erhielt ich jeweils den Kritiker-Preis. Aber es waren nicht meine Gedichte, sondern später die Essays, die mir Schwierigkeiten bereiteten. Denn ich begann damit, die kubanischen Mythen zu untersuchen wie zum Beispiel den literarischen Nationalismus von José Martí. Sprecherin: Die Büste dieses Freiheitshelden des 19. Jahrhunderts und Vordenkers der Revolution steht vor jeder Schule. Take 34 Ponte Sprecher 3: Nach dem Zusammenbruch des europäischen Sozialismus hat die kubanische Propaganda die Doktrin des Marxismus-Leninismus ad acta gelegt und José Martí neu entdeckt, der kaum noch eine Rolle gespielt hatte. Es entstand ein nationalistischer Diskurs: Cuba wurde zum Sonderfall erklärt, für den es nie einen anderen Säulenheiligen als Martí gegeben hatte. Damit sollte bewiesen werden, dass in Cuba nicht das gleiche passieren würde wie in Moskau, Berlin oder Bukarest. Martí wurde zur theoretischen Stütze für den Überlebenswillen des revolutionären Regimes. Seit seinem Tod 1895 haben sich übrigens die unterschiedlichsten politischen Richtungen auf Martí bezogen. Sprecherin: Mantel aus Luft hat Antonio José Ponte diesen Band mit Essays genannt und im Ausland publiziert. Denn die Buchproduktion lag darnieder, es gab kein Papier, selbst das Parteiorgan Granma schrumpfte zeitweise auf 4 Seiten. Cuba erlebte in den 90er-Jahren die 'Sonderperiode in Friedenszeiten'. So hieß euphemistisch die Etappe, in der das Regime beinahe kollabierte. Take 35 Padura Sprecher 2: Es war für meine Frau und mich wirklich eine harte Zeit. Es gab kein Essen, keine Transportmittel, keinen Strom, kein Papier, kein Geld. Es war so schwierig, dass wir einen Moment lang daran dachten, im Ausland zu leben. Aber wir haben uns entschieden, auszuharren, weil wir daran glaubten, dass wir in unserem Familieverbund eine solche Zeit überstehen könnten. Meine Frau, von Beruf Philologin wie ich, musste das Friseurhandwerk erlernen, um etwas Geld zu verdienen. Ich habe Wein fabriziert aus kleinen Trauben, die es hier gibt, und habe ihn an die Trinker in meinem Viertel verkauft, die Flasche zu 30 Peso, und er hat ihnen sogar geschmeckt. Sprecherin: Leonardo Padura hatte Glück: er konnte für das spanische Fernsehen Drehbücher schreiben und so die materielle Existenz seiner Familie sichern. Take 36 Padura Sprecher 2: Diese Periode besaß aber auch deshalb eine große Freiheit für mich, weil ich zu der Überzeugung kam, dass ich vor allem schreiben wollte. Und ich habe wie wahnsinnig zu schreiben begonnen. Ich glaube, das hat mich vor dem Verrücktwerden und der Verzweiflung gerettet. Sprecherin: Zwischen 1990 und 1995 hat er drei Romane, einen Band mit journalistischen Beiträgen und einen 600-seitigen Essay über Alejo Carpentier, einen Klassiker der kubanischen Literatur, verfasst. Er hat mit seiner literarischen Produktion die Zweifel an der Revolution verdrängt. Take 37 Padura Sprecher 2: Ich war immer sehr kritisch angesichts bestimmter politischer Entscheidungen, die in diesen Jahren in Cuba gefällt wurden. Es gab mal ein Problem und eine Diskussion mit Abel Prieto, dem Kulturminister. Dem habe ich gesagt: "Abel, Du kannst davon überzeugt sein: ich bin völlig transparent. Alle wissen, was ich denke, und ich sage und schreibe innerhalb und außerhalb Cubas das gleiche. Ich vertrete keine doppelte Meinung." Take 38-40 Barnet Sprecher 1: Das ist das Ende einer romantischen, epischen Etappe und der Beginn einer pragmatischeren Phase, in der wir das Rettenswerte retten müssen, und was nicht mehr zu retten ist mit ganzer Kraft zerstören, denn sonst zerstört es uns. Das ist die große Herausforderung Cubas. Musik-Take 4 Pablo Milanes: Marginal (aus: Orígines, Nr. 1, CDPM2043/ 7 509848 221 361) Sprecher 4: Kommt alle in meinen Garten, / pflückt die Blumen, / küsst zärtlich die Lippen, / vergießt eine Träne / für jeden von uns, / der nicht verstanden wird. / Und gemeinsam / singen wir ein Lied vom Glück, / das uns erst noch erwartet. Take 41 Ponte Sprecher 3: Es gibt keine andere Hauptstadt auf der Welt, die ein halbes Jahrhundert lang völlig vernachlässigt wurde. 50 Jahre fast ohne Neubauten, aber auch ohne Abrisse. Die Gebäude stürzen durch ihr eigenes Gewicht zusammen. Havanna ist eine fortgesetzte Hommage auf Newton und sein Gesetz der Schwerkraft, eine Hommage, die Jahrzehnte dauert. Sprecherin: 'Ruinologe' nennt sich deshalb Antonio José Ponte. Ruinenwächter von Havanna heißt der deutsche Titel des vielschichtigen Buchs, in dem er seine Sicht vom Zustand Cubas dargelegt hat. Take 42 Ponte Sprecher 3: Die Metapher der Ruine steht für das kubanische Regime, aber natürlich auch für die Architektur, für Havanna. Denn diese Stadt funktioniert heute nicht mehr für die meisten Bewohner: die Straßen sind kaputt, die Verkehrsverbindungen miserabel, es gibt riesige Probleme mit der Wasserversorgung, mit den Abwässern, dem Gas, dem Strom. Im Übrigen hinterlässt das Leben in solchen Ruinen Metastasen in den Menschen, das ist wie bei einer Krebskrankheit. Es macht einfach krank, wenn man kein Material findet, um auch nur die nötigsten Reparaturen vorzunehmen. Wenn einem die Wohnung über dem Kopf zusammenbricht, bricht auch das Leben zusammen. Man wird zu einer menschlichen Ruine. Das ist das Ergebnis der Stadtentwicklungspolitik der Cubanischen Revolution. Sprecher 4: Die Ankunft der revolutionären Streitkräfte im Januar 1959 verhinderte die Umsetzung des 'Plan Sert': eine politische Revolution stoppte die städtebauliche. Dass man heute durch eine verfallene Kolonialstadt spazieren kann, ist diesem überraschenden Regierungswechsel zu verdanken. Die Vielfalt, der Reichtum an geologischen Schichten unterschiedlichen Alters, der die Architektur Havannas ausmacht, geht auf den von der Revolutionsregierung aufgezwungenen Stillstand zurück. Dank des Baustopps erfreut sich die kubanische Hauptstadt eines beneidenswert musealen Charakters. Und eines Verfalls, der ans Unlösbare grenzt: Havanna ist ein Museum in Ruinen. Sprecherin: Ähnlich pessimistisch wie Ponte sieht auch Leonardo Padura in seinen Kriminalromanen die sozialen Verhältnisse. Sein Kommissar Conde hat den Beruf aufgegeben, um nicht korrupt zu werden, und lebt nun vom Verkauf antiquarischer Bücher, für die Touristen gut bezahlen. Der Ausverkauf der kubanischen Kultur hat längst begonnen. Der Nebel von gestern heißt sein zuletzt auf Deutsch publiziertes Werk. Take 43/44 Padura Sprecher 2: Es ist ein Roman der Enttäuschung, eine reichlich traurige Sicht auf bestimmte Teile der kubanischen Gesellschaft. Es ist eine Reise von der Hochkultur der kubanischen Literatur des 19. Jahrhunderts, als der Grundstein für unsere Nation gelegt wurde, bis in die Randbezirke des heutigen Havanna, eine Art Abstieg in die Hölle. Ich wollte zeigen, was von unserem Leben nach der Krise Anfang der 90er-Jahre übrig blieb, nachdem auch der Traum von der sozialistischen Zukunft der Menschheit geplatzt war. Sprecher 4: Die Not war so groß und allumfassend, dass selbst die ehrwürdige Welt der Bücher nicht verschont blieb. Die Zahl der Veröffentlichungen sank im freien Fall. Spinnweben überzogen die Regale der düster gewordenen Buchhandlungen ? die Angestellten hatten die letzten noch glimmenden Glühbirnen mitgehen lassen, auch wenn sie angesichts endloser Stromausfälle praktisch nichts damit anfangen konnten. Hunderte von Privatbibliotheken ? einst Hort von Bildung und Weisheit, bibliophilem Stolz und tausend Erinnerungen an glücklichere Zeiten ? verwandelten sich nach und nach in vulgäres Papier einer anderen Art, in stinkende, rettende Geldscheine. Generationen alter Bibliotheken von unschätzbarem Wert ebenso wie zufällig zusammengekaufte Büchersammlungen wurden von ihren Besitzern erbarmungslos geopfert und geplündert angesichts der ständig wachsenden Geldnot, die fast alle Bewohner des Landes nun auszehrte. Take 45 Padura Sprecher 2: Als Schriftsteller, Intellektueller, Bürger, der all diese Jahre hindurch in Cuba gelebt hat, habe ich die Verantwortung, so zu schreiben. Außerdem habe ich das Recht dazu. Ich habe oft Zuckerrohr geschlagen, schon als 15jähriger Schüler, und ich erinnere mich mit Schrecken daran, wie meine Hände vom Griff der Machete zu bluten begannen. Ich habe ein Jahr lang als Korrespondent vom Krieg in Angola berichtet. Ich habe alle Entbehrungen und Beschränkungen in Cuba erlebt. Und das gibt mir irgendwie das Recht dazu, eine kritische Vision von meinen Lebensbedingungen zu verbreiten. Denn nur wenn wir uns dieser Probleme bewusst werden, sind wir auch in der Lage, sie zu lösen. Sprecherin: Doch Leonardo Padura hat nie das System infrage gestellt wie sein Kollege Antonio José Ponte. Take 46 Ponte Sprecher 3: Ein Künstler hat gar keine andere Möglichkeit, als die Kommissare zu attackieren. Er darf sich nicht mit ihnen einlassen. Ich habe diese stillschweigende Übereinkunft zwischen Zensor und Zensuriertem infrage gestellt und die Methoden der Zensur in öffentlichen Debatten und im Beisein des Kulturministers kritisiert. Denn die Bücher vieler Freunde wurden zwar publiziert, aber nicht verbreitet. Man hat nur ein paar hundert Exemplare gedruckt, obwohl die üblichen 3.000 versprochen waren. Und die wurden auch noch in irgendeiner Provinzbibliothek untergebracht, verschwanden also. Ich zog es vor, öffentlich zu verschwinden. Sprecherin: 2003 wurde Ponte aus dem Nationalen Schriftsteller- und Künstler-Verband UNEAC ausgeschlossen. Take 47 Ponte Sprecher 3: Sie nennen das nicht Ausschluss, sondern 'Deaktivierung'. Ich wurde 'de-aktiviert'. Und das ist ein Euphemismus. Denn ein solcher Ausschluss bedeutet: man darf in Cuba nichts mehr veröffentlichen, darf am offiziellen literarischen Leben nicht mehr teilnehmen, darf keine Vorträge halten, darf noch nicht einmal bei der Präsentation des Buchs von einem Freund das Wort ergreifen und darf auch nicht an der Buchmesse teilnehmen. Außerdem ließen sie mich lange Zeit keine Einladungen ins Ausland akzeptieren. Sie haben das zwar immer bestritten, mir jedoch nie ein Ausreisvisum erteilt. Und schließlich durfte selbst mein Name nicht mehr genannt werden. Freunde, die mir ein Gedicht widmeten, mussten deshalb meinen Namen ändern, weil man sonst das Buch nicht veröffentlich hätte. Sprecherin: Antonio José Ponte wurde kaltgestellt. 2005 gelang es ihm, nach Madrid zu emigrieren. In dieser Zeit schrieb Miguel Barnet die Erzählung Fatima oder der Park der Brüderlichkeit. Take 48 Barnet Sprecher 1: Das ist eine lange Erzählung, ein Kurzroman über das Leben eines Transvestiten in Cuba. Die Transvestiten sind sehr wichtige Personen in der kubanischen Gesellschaft. Sie sind erst in den letzten Jahren öffentlich in Erscheinung getreten, denn heute herrscht eine größere Toleranz als in den 70er oder 80er-Jahren. Man trifft sie auf der Straße, in den Parks, sie treten in Shows auf. Das ist ein dramatisches Thema, das mich seit Langem beschäftigt: jemand, der nicht mit seinem Körper leben will, weil er ihn als Gefängnis empfindet. Darüber habe ich diesen Monolog geschrieben, der in Cuba publiziert wurde. Take 49 Padura Sprecher 2: Es gab eine Reihe solcher gesellschaftlicher Veränderungen. Im letzten Jahr wurde beispielsweise ein Tag der Schwulen mit einem großen Umzug begangen. Auch sind die Operationen von Transsexuellen erlaubt worden. Es gibt also Veränderungen. Aber die Bevölkerung erwartet andere, dringlichere. Musik-Take 5 Pedro Luis Ferrer: Que venga el estado del derecho Sprecher 4: Der Rechtsstaat soll kommen: / ein Staat für das Ganze Volk, / mit ideologischer Vielfalt / und einer Wirtschaft / in der wir die Phantasie frei entfalten können / überhaupt ein Höchstmaß an Freiheit / ein pluralistischer Staat für das Ganze Volk. Sprecherin: Am Anfang dieses Jahrzehnts griff die Regierung auf Methoden der Repression zurück, die sie international isolierten. Während des sog. Schwarzen Frühlings 2003 ließ sie in tagelangen Razzien 75 Dissidenten verhaften und kurz darauf in Schnellgerichtsverfahren zu drakonischen Strafen von bis zu 25 Jahren Gefängnis verurteilen. Unter ihnen befand sich auch der berühmte Poet Raúl Rivero. Das Delikt der Oppositionellen: Subversion und Bedrohung der nationalen Sicherheit. Die Europäische Union fror damals die diplomatischen Beziehungen zu Cuba ein. Take 50 Ponte Sprecher 3: Das war ein Crescendo der Repression gegen die Dissidenz, der es gerade erst gelungen war, auf sich aufmerksam zu machen. Jimmy Carter hatte bei seinem Cuba-Besuch auf das Projekt Varela hingewiesen: die Sammlung von 20.000 Unterschriften für ein Referendum über einen nationalen Dialog. Auch waren viele kleine Publikationen erschienen. Darin sah die kubanische Regierung wohl eine große Gefahr, die sie auf diese Weise beseitigen wollte. Take 51 Padura Sprecher 2: Ich weiß nicht genau, wie es zu diesen Urteilen gekommen ist. Darüber ist bei uns wenig berichtet worden. Die Verurteilung von Raúl Rivero war sicher ein Fehler. Vielleicht hat er wirklich all das getan, wofür er verurteilt wurde, aber ich denke, dass man nicht die gleichen Fehler hätte machen dürfen wie 1971 im Fall Padilla. Denn durch die Kampagne gegen ihn und seine kurzfristige Inhaftierung hatte Cuba damals bereits viel internationales Prestige verloren. Und jetzt ist das gleiche passiert im Fall Raúl Rivero. Weil er so berühmt ist wollte man wohl an ihm ein Exempel statuieren, und deshalb ist es zu dieser maßlosen Strafe gekommen. Sprecherin: Der vielfach ausgezeichnete Dichter hatte sich Anfang der 90er-Jahre der illegalen Opposition angeschlossen und ein 'unabhängiges Pressebüro' eröffnet. Er war nicht nur zur Höchststrafe von 25 Jahren verurteilt worden, sondern musste außerdem als einziger ein Jahr in einer Strafzelle, in Isolationshaft verbringen. Take 51 a O-Ton Castro Sprecher 4: Die Verhaftung von Dutzenden von Söldnern, die ihr Vaterland einiger Privilegien und Geldes wegen verraten haben, das sie von der Regierung der Vereinigten Staaten erhielten, ist die Folge einer Konspiration, welche die Regierung jenes Landes und die Terrormafia in Miami angezettelt haben. Take 52 Ponte Sprecher 3: Fidel Castro scheint sich verkalkuliert zu haben. Die Verhaftungswelle begann am Tag des US-amerikanischen Angriffs auf den Irak. Er glaubte wohl, dieser Krieg würde lange dauern und die Welt würde darüber schnell die von ihm verübten Gewaltakte vergessen. Doch der Angriff war schnell vorbei. Und er verkalkulierte sich auch damit, dass er in die Verfolgungswelle den Schriftsteller Raúl Rivero einbezog, denn das hat ein enormes Echo in der ganzen Welt verursacht. Sprecherin: 2007 trat Fidel Castro aufgrund seiner schweren Krankheit von seinen Ämtern zurück und übertrug die Macht seinem Bruder Raúl. Take 53/4 Barnet Sprecher 1: Raúl Castro ist ein sehr reifer Mensch, sehr intelligent, sehr praktisch veranlagt und sehr familiär. Er war immer sehr bescheiden, hat sich nie in den Vordergrund gespielt. Das Volk bewundert seine Einfachheit, seine Gelassenheit, seine Sparsamkeit. Bisher galt er als streng und dogmatisch. Aber davon ist nichts zu erkennen. Er wird an der großen, radikalen Revolution festhalten, die Fidel gemacht hat. Mag auch unsere Wirtschaft ausgezehrt sein, die Prinzipien der Revolution sind es nicht. Sprecherin: Über die Zukunft dieser Revolution dürften jedoch in erster Linie Wirtschaftsfragen entscheiden. Take 55 Padura Sprecher 2: Die Wirtschaft besitzt heute ein so großes Gewicht, dass alle immer nur von ökonomischen Veränderungen sprechen. Nur wenige Leute erwähnen die Notwendigkeit einer politischen Wende. Hinzu kommt etwas ganz Wesentliches für Cuba: die USA. Das Embargo ist nach wie vor eine harte Realität und keine Propaganda der kubanischen Regierung. Wir hoffen deshalb auf Obama ... Vielleicht gibt es dann wenigstens Veränderungen in der Sprache, im Stil, im Umgang miteinander in dieser traumatischen Beziehung zwischen Cuba und den USA. Take 56 Ponte Sprecher 3: Ich möchte keine weitere Revolution erleben. Cuba war im 20. und auch im 19. Jahrhundert voller Revolutionen. Evolution bitte, keine Revolution mehr. Ich kann mir vorstellen, dass es innerhalb der Nomenklatura Leute gibt, die eine langsame Transformation des Systems anstreben. Dieses Land muss im Übrigen neu geschaffen werden, denn es liegt nicht nur ökonomisch, sondern auch moralisch am Boden. Es sind nämlich nicht nur zwei Orkane über diese Insel hinweggefegt. Doch darüber sollte man jetzt nicht lamentieren, denn diese 50 Jahre waren keine vergebliche Zeit. Musik-Take 7 Schluss von Ferrers Lied über den Rechtsstaat Haussprecher: Die Ruinenwächter der Revolution. Drei cubanische Lebensläufe. Ein Feature von Peter B. Schumann. Es sprachen: Uta Prelle, Gerd Grasse, Thomas Holländer, Erwin Schastok und Joachim Schönfeld Ton und Technik: Hermann Leppich Regie: Peter B. Schumann Redaktion: Sabine Küchler Eine Produktion des Deutschlandfunks 2009. 27