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Autor 2 Laßwitz' Doktorarbeit, 1873, These 2: Sprecher Der naturwissenschaftlich-technische Fortschritt bietet auch Mittel für die ästhetische Förderung durch die Poesie. O-Ton 2 MS ... gleichzeitig isses auch wichtig zu sehen, dass die Literatur über dieses große imaginäre Potential verfügt, und da wir eben nicht nur in einer Welt leben, der eindimensionalen Welt unserer Realität und unseres sozialen Seins, sondern eben gleichzeitig in einer imaginären Welt, kommt diese Dimension der Literatur, diese imaginäre Kraft der Literatur eben, häufig zu kurz. Musik 1 weg Autor 3 These 1: Sprecher Die Naturwissenschaft kann und soll popularisiert werden! Musik 2 Autor 4 "Bis zum Nullpunkt des Seins", 1871: Sprecher "Allerliebst", sagte er, "ich gratuliere. Selten habe ich einen so vorzüglichen Urschleim gesehen wie diesen hier. Prächtig gelungen." "Dir zu Liebe, Oxygen", erwiderte seine Braut. "Ich weiß, wie sehr du dich freust, wenn ich mich deiner kleinen Lieblinge annehme. So habe ich manche Stunde vor dem Mikroskop gesessen und der Zellbildung zugesehen." Es war damals Mode, den so genannten Urschleim, das niedrigste organische Gebilde, aus anorganischen Stoffen zu ziehen. Professor Selberzelle hatte den Triumph gehabt, die erste zweifellose Urzeugung zu beobachten, und statt mit Papageien oder Schoßhündchen spielten Damen und Herren in ihren Mußestunden jetzt unter dem Mikroskop mit den zarten Urschleimtypen. Musik 2 O-Ton 3 RS Es ist grundsätzlich doch eigentlich immer so, dass die Wirklichkeit sich anders entwickelt als man vorherdenkt oder vorherphantasiert, nur wenn man gut vorausphantasiert bleibt man immer noch so nah an der tatsächlichen Entwicklung, dass man ja so den Eindruck hat, als ob man durch verschieden gefärbtes Glas doch das Gleiche sieht. Musik 2 Autor 5 "Gegen das Weltgesetz", 1878: Sprecher In den "Gärten des Okeanos" drängte sich eine lebenslustige Menge. Aus einem der submarinen Personenzüge, welche alle fünf Minuten hier eintrafen, stiegen zwei Herren in elegantem Taucherkostüm. Aber sie wandten sich nicht mit dem Strome der Ausgestiegenen nach rechts, wo die Affichen der Vergnügungslokale unglaubliche Abendunterhaltungen versprachen. Achtlos schritten sie am großen Psychäongebäude vorbei; dort saßen in langen Reihen die "Zufühler" mit wunderlich gestalteten Helmen auf dem Kopfe, von denen zahllose Drähte nach dem Zentrum der großen Gehirnorgel liefen, auf welcher eine der berühmtesten Stimmungskünstlerinnen der Gegenwart, Lyrika, ihre Vorstellung gab. Musik 2 weg Autor 6 Carl Theodor Victor Kurd Laßwitz. Geboren am 20. April 1848 in die bürgerliche Gesellschaft Breslaus. Der Vater handelt mit Eisen, ist Abgeordneter im Preußischen Landtag. Kurd strebt ins Lehramt, studiert Mathematik und Physik in Breslau und Berlin, schon da verfasst er Humoresken und konventionelle Märchen. Was aber treibt einen angehenden Lehrer zum Schreiben von Zukunftsgeschichten? Die Sternwarte im Garten seines Elternhauses? Er promoviert mit einer Arbeit Über Tropfen, welche an festen Körpern hängen und der Schwerkraft unterworfen sind. Seine These ... Sprecher Die Natur kann und soll popularisiert werden! Autor 7 ... die Formel für sein Lebenswerk. Doch die Arbeit als Lehrer in Gotha füllt ihn Zeit seines Lebens nicht aus. Er verfasst hunderte von Aufsätzen und Rezensionen für ein Fachpublikum über Themen aus Naturwissenschaft und Philosophie, und hofft, sich damit den Ruf einer Universität zu erschreiben. Rudi Schweikert, Mannheimer Literaturhistoriker und PEN-Clubmitglied. O-Ton 4 RS Aber man kann letztendlich dankbar sein, dass die Karriere ihn nicht ereilte und er diese Frustration schöpferisch umsetzend in dieser eigentlich doch sehr großen Art und Weise dichterisch tätig geworden ist. Autor 8 Laßwitz ist auch Wissenschaftsjournalist, obwohl man das früher nicht so nannte. Er beobachtet den Forschungsstand, stellt Probleme für das normale Publikum allgemeinverständlich dar. Ganz im Sinne von Horaz' antiker Dichtkunst wollte Laßwitz beides zugleich: Nutzen bringen und unterhalten. Rudi Schweikert: O-Ton 5 RS Davon kann ich nur was haben, wenn ich vermitteln kann, das heißt möglichst ohne Verlust von Differenzierungen herunterbrechen in eine Sprache, die eben mehr als nur Fachleuten verständlich ist. Und das ist ne große Kunst. Das bringen nur wenige zustande, also von den Schulphilosophen. [Autor 9 1882 erhält Laßwitz den Preis für die beste Popularisierung kantischer Philosophie. [Titel: Die Lehre Kants von der Idealität des Raumes und der Zeit, im Zusammenhange mit seiner Kritik des Erkennens allgemeinverständlich dargestellt.] Autor 10 1878 veröffentlicht er seine Bilder aus der Zukunft, zwei Erzählungen. Den Stoff nennt er "wissenschaftliches Märchen" und schickt ihm Vorbemerkungen voraus. Sprecher Wer möchte nicht gern erfahren, wie es den Bewohnern der Erde in der Zukunft ergehen wird? Seit zwei Jahrhunderten sehen wir die Menschheit in einem Kulturfortschritt begriffen, der unsere Bewunderung erregt. Wird dieses so fortgehen? Wird es gelingen, die tiefen Geheimnisse des Welträtsels zu lösen und dazustehen als Herr der Natur? Wer vermag diese Fragen zu beantworten? Die Dichtung hat das Vorrecht, in die Zukunft zu sehen. Wenn aber das, was sie uns erzählt, uns wirklich Vertrauen erwecken soll, so muss sie die Wirklichkeit zu Rate ziehen und eng an die Erfahrung sich anschließen. Autor 11 Die erste Rechtfertigung des Genres Science Fiction, zumindest in Deutschland! Wegen dieser Theorie, und weil er typische Motive und Themen vorwegnahm, gilt Laßwitz heute als Vater der deutschen Science Fiction. Rudi Schweikert. O-Ton 6 RS Er wird so apostrophiert, und ja, wenn man sich intensiver und näher damit beschäftigt hat, könnte man fast davon reden, dass es der Übervater der deutschen Science Fiction ist, und Übervätern ist es ganz schwer zu folgen. Autor 12 Laßwitz' phantastisches Programm: Naturwissenschaftlich geprägte Wirklichkeit gewürzt mit Fiktion. Und diese Speise ist heute noch überraschend heiß. Das meint auch der Berliner Autor Jörg Albrecht: O-Ton 7 JA Ich find es interessant, dass er wirklich diese Amalgamierung quasi von Wissenschaft und Fiktion so bringt, mich interessiert auch zuallererst mal das, was diese beiden Begriffe ja eigentlich sagen: einmal Science und dann Fiction, und wie man die beiden zusammen bringen kann und eben auch über eine teilweise theoretische Sprache etwas erzählen kann, dass quasi das Theoretische fiktional gemacht werden kann. Autor 13 Für Jörg Albrecht hat Laßwitz Realität vorausgesehen. O-Ton 8 JA Also es gibt einen Text, wo die Erde komplett mit Nahrung quasi bepflanzt wird und die Bevölkerung ist ungemein angewachsen. Da weiß man natürlich nicht genau: Konnte er das jetzt wirklich abschätzen oder sind das einfach Szenarien, die jetzt zufällig mit denen übereinstimmen, die ja vielleicht noch auf uns zukommen. Denn dass die Bevölkerung stetig anwächst ist ja wirklich der Fall und dass man im Grunde noch mehr anbauen müsste, um irgendwann alle zu ernähren. Musik 2 Autor 14 Bis zum Nullpunkt des Seins, 1871: Sprecher Aromasia saß im Garten ihres Hauses und sah träumerisch ins Blau des schönen Sommertages vom Jahre 2371. Sie spähte nach den fliegenden Wagen und Luftvelozipeden aus, die zu ihren Füßen in buntem Gewühle die breite Straße erfüllten. Denn der Garten Aromasias befand sich in der luftigen Höhe von ungefähr hundert Metern über dem Erdboden auf dem Dache ihres Hauses. Man sah sich genötigt, die Wohnhäuser in so gewaltigen Dimensionen aufzutürmen und die Gärten über ihnen anzubringen, da man den Raum der ebenen Erde dem Ackerbau vorbehalten musste. So reich bevölkert war der Erdball, dass man jedes Plätzchen dem Anbau der Halmfrucht und der Ernährung des Schlachtviehs widmen musste, um die Gefahr einer Hungersnot abzuwenden. Autor 15 Um 1900 lebt knapp eine Milliarde Menschen auf der Erde, für 2030 sagen Wissenschaftler inzwischen 8 Milliarden voraus. Laßwitz verlegt seine Geschichte zwar in das 24. Jahrhundert, doch vermutlich wird seine Prognose bereits 300 Jahre früher Realität werden. "Nebenbei" löst er in der Erzählung damals anstehende soziale Fragen. Sollte der im Wortsinn flächendeckende Anbau der Halmfrucht nicht ausreichen, da ist Laßwitz gründlich, gibt es noch "Tascheneiweißmaschinen" - künstliche Nahrung für den kleinen Hunger zwischendurch. Jörg Albrecht entdeckt darin Warnungen des Autors Laßwitz, wenn nicht gar eine negative Tendenz hin zur Anti-Utopie. O-Ton 9 JA Also das sind Szenarien, die doch auf ne nicht nur utopische Zukunft sondern was Dystopisches hinweisen und vorausweisen, vielleicht auch. Autor 16 Laßwitz entwirft urbane Szenarien, voll mit allerlei Technik, kleinen Helfern für Probleme und Problemchen der künftigen Bewohner. O-Ton 10 JA Wenn man zum Beispiel an diesen Kurztext Die Fernschule denkt, wo ein Lehrer aus seiner Zeit, also ich glaube aus dem Jahr 1899, einschläft und träumt, dass er im Jahr 1999 Schüler unterrichtet, nur noch per, im Grunde Internet oder per Videofernschaltung, dann finde ich das doch sehr bemerkenswert, dass das in der Zeit einfach so entstanden ist. Autor 17 1902 war das. Vorstellbar, dass Lehrer Laßwitz mit 54 Jahren ausgebrannt sein Dasein fristet, enttäuscht davon, es nicht an eine Universität geschafft zu haben. Der Lehrer in der Erzählung jedenfalls heißt Frister... Die Fernschule, 1902: Musik 2 Sprecher Frister blickte auf. Er war höchlichst erstaunt. In der Tat, an der Wand, wo sonst ein Bücherregal stand, befanden sich einige dreißig rechteckige Rahmen. Aber die Bilder darin waren lebendig. Junge Leute zwischen sechzehn und neunzehn Jahren streckten sich da in bequemer Haltung jeder auf einem Lehnsessel. Und wahrhaftig, das waren ja seine Primaner, wenn auch in ungewohnten Anzügen. Das war sein Primus, dessen glattgeschorener Kopf kaum hinter seiner Zeitung hervorguckte. Und der Meyer rauchte sogar gemütlich seine Zigarre. Andere kauten an ihrem Frühstück. Autor 18 Auf das, was Laßwitz hier schildert, gründen heute Wirtschaftszweige mit Milliardenumsätzen. Manfred Schneider, Literaturprofessor an der Ruhr-Universität-Bochum. O-Ton 11 MS Viele der Science Fiction-Geschichten aus den ersten beiden Dritteln des 20. Jahrhunderts, die kranken ja daran, dass sie alle möglichen technischen Evolutionen vorausgesehen haben, aber eben nicht die der Kommunikationstechnologie, das ist eben im Grunde genommen das Ereignis, die Computer sind das Ereignis, vor allem eben dann auch der Personal Computer, aus dem Ende des 20. Jahrhunderts, das hat eben niemand vorausgesehen, das hat uns auch, glaube ich, schlagartig klargemacht, dass soviel Kontingenz in der Zukunft der Menschheit steckt, dass Voraussagen außerordentlich riskant sind. Autor 19 Fernuni Hagen, Webschule Bochum, virtueller Campus, e-learning. Videokonferenzen, skype, IP-Telefonieren über das Internet. Bei Laßwitz gibt es durch Lichtwellen übermittelte Kommunikation, er hat Fotokopierer vor Augen, obwohl zu seiner Zeit gerade erst fotografiert wird, spricht von "Integrationsmaschinen" - also Computern. Von dort ist es für ihn nur noch ein kleiner Schritt zum Web 2.0, zu all der Elektronik, die die digitale Bohème im Notebookrucksack trägt: Handy, elektronischer Kalender und Adressbuch, iPod. Das digitale Büro, imaginiert am Ende des 19. Jahrhunderts. O-Ton 12 JA Es gibt zum Beispiel eine Stelle, wo n Gerät beschrieben wird, was so ähnlich wie GPS funktioniert, wo jemand etwas in der Hand hat und zu jeder Zeit seinen Ort bestimmen kann und auch von anderen geortet werden kann, und das ist natürlich etwas, was ja jetzt in die normale Alltagskultur auch erst seit ein paar Jahren über gegangen ist. Also er hat es natürlich nicht GPS genannt, aber heute heißt es so. Autor 20 Bloß Laßwitz' Sprache ist der Zeit verhaftet. Sie ist für heutige Leser teilweise sperrig, die Erklärungen etwas langatmig. OT 13 RS Man spürt bei ihm natürlich immer das Didaktische, man spürt immer den Gymnasialprofessor hinter seinen Phantastereien. Autor 21 Vielleicht aber steckt in den Erklärungen die Essenz der Aussagekraft. O-Ton 14 MS Ja, wir sehen eben heute erst stark genug, dass auf der einen Seite Wissenschaft das Moment der Evolution in die gesamte Welt bringt, militärisch, technologisch, auf der Ebene der Kommunikation, Medizin und so weiter, das macht unsere Dynamik aus, auf der anderen Seite gibt es eben das, was man als das ewig Menschliche bezeichnen könnte, also dass die Probleme im Prinzip sich nicht ändern, diese Probleme, die es innerhalb dieser Gesellschaft und zwischen den Gesellschaften gibt, deswegen ist das ein lesenswerter Autor, weil er für diese sozialen Probleme eben eine alte Sprache einsetzt und nicht versucht, mit modernen sprachlichen, literarischen Mitteln da etwas neu zu gestalten, zugleich sieht er aber eben die Veränderungs- und Evolutionskräfte der Technik und die machen natürlich in vielerlei Hinsicht unser Schicksal aus. Autor 22 Und Jörg Albrecht weist darauf hin, ... O-Ton 15 JA ... dass er immer wieder darauf eingeht, dass im Grunde das Vokabular, das er benutzt, eigentlich nicht ausreicht, um die Sachen zu erklären. Das sagt er sogar in den Romanen und Geschichten, die irgendwie 2377 oder so spielen, und auch das find ich bemerkenswert, dass da doch schon reflektiert wird, was natürlich wahr ist, dass es natürlich keine Sprache für das gibt, was Zukunft sein wird. O-Ton 16 MS Zum anderen ist sicherlich erwähnenswert und bemerkenswert, dass Laßwitz bei all diesen Zukunftsvisionen immer die Fragen der Kommunikation und der interkulturellen Kommunikation sieht und weiter behandelt. Autor 23 1897 erscheint Auf zwei Planeten, sein 1000 Seiten starkes, fiktionales Hauptwerk. Ein wahrhaft interkultureller Roman, ein internationaler Erfolg. Zusammen mit HG Wells' Krieg der Welten der erste Text der Literaturgeschichte, worin Außerirdische auf der Erde erscheinen. Bei Laßwitz verunglücken Forscher mit ihrem Heißluftballon über dem Nordpol, weil sie in ein künstliches Kraftfeld der Marsianer geraten: Den Fahrstuhl zum Weltraumbahnhof, der 6000 km über der Erde schwebt. Auf zwei Planeten, 1897. Musik 2 Sprecher "E najoh. Ke. - Achtung! Störung! Was ist vorgefallen?" [dramatisch?] "Bate li war. Tak a fil. - Menschen im abarischen Feld. Abstellen sobald als möglich." [Kommandoton?] Die Tür des Flugwagens wurde jetzt geöffnet. Die Fahrgäste verließen den Wagen und betraten die Galerie. Es mochten achtzehn Personen sein, in seltsamer Tracht, mit eng anliegenden Kleidern. Ihre bedeutenden Köpfe zeichneten sich meist durch sehr helles, fast weißes Haar und glänzende, durchdringende Augen aus, die aber jetzt durch dunkle Brillen geschützt waren. Sie durchschritten die Galerie, deren Überschrift in jener fremden Sprache besagte, dass man sich auf der 'Außenstation der Erde' befinde, und wandten sich über eine Treppe der Ausgangstür nach der oberen Galerie zu. Über der Tür stand in großen Buchstaben: 'Vel lo nu', das bedeutet: 'Zum Raumschiff nach dem Mars. Jener schwebende Ring war nichts anderes als der Marsbahnhof der Erde. Er war eine Station in der Nähe der Erde, durch deren Erbauung es den Bewohnern des Planeten Mars möglich geworden war, zwischen ihrem Planeten und der Erde eine regelmäßige Verbindung herzustellen. Autor 24 Jener schwebende Ring, diese radförmige Raumstation der Marsianer - ein erhabenes Beispiel für die enge Verwandtschaft von Fiktion und Wissenschaft. Im Vorwort einer Auflage des Marsromans schreibt Raketentechniker Wernher von Braun, diese Raumstation habe ihn inspiriert. Ob es wegen Laßwitz so kam? Tatsache ist jedenfalls: Die Apollomissionen landeten nicht nach gezieltem Raketenschuss auf dem Mond, sondern in mehrstufigen Verfahren, mit Fähren, wie bei Laßwitz. O-Ton 17 JA Denn wenn es Texte, wie die von Laßwitz nicht gegeben hätte, wer weiß. Lektüreerlebnisse können ja wirklich so befeuern und son Enthusiasmus verbreiten, sodass man sich wirklich dem auch verschreibt, was darin vorkommt. Und ich glaube, das war bei Wernher von Braun, soweit ich aus seiner Biographie weiß, auch wirklich der Fall. [Dass er wirklich schon seit früher Kindheit durch Lektüre und eben auch durch teilweise selbst verfasste Texte sich immer mehr diesem Ziel verschrieben hat, also den Menschen erst mal in den Raum zu bringen, und dann auch auf fremde Planeten.] Autor 25 Der Mars ist als großer Projektsraum en vogue, weil der Italiener Schiaparelli im Jahr 1877 künstliche Kanäle und Zivilisation auf dem Mars entdeckt. Leider täuscht er sich. Heute hat man bessere Teleskope, heute strebt der Mensch mehr denn je nach dem Roten Planeten, schickt Forschungssonden, das deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt sucht nach bakteriologischen Spuren von Leben. Die USA möchten 2031 eine bemannte Expedition starten. Der Mars bei Laßwitz ist technologisches Utopia: Wolkenkratzer, Transportbänder, mobile Häuser. Die Bewohner präsentiert er zunächst als sonderbare Wesen. Der Polarforscher Saltner ist gerade knapp dem Tod entronnen. In der Raumstation der Martier öffnet er jetzt die Augen ... und sieht ... : ein berühmtes Science Fiction-Motiv: Der erste Kontakt. Musik 2 Sprecher Eine Gestalt lehnte in einem Sessel und sah Saltner mit großen, leuchtenden Augen an. Einen Augenblick starrte er verwirrt auf diese neue Erscheinung. Noch nie glaubte er ein so herrliches Frauenantlitz gesehen zu haben. Saltner wollte aufstehen, bemerkte aber schon beim ersten Anziehen seines Fußes, dass er Gefahr lief, in eine unbestimmte Höhe zu schnellen. [Eine leichte Handbewegung der vor ihm stehenden Gestalt bedeutete ihm, seinen Sitz wieder einzunehmen. Nun endlich fand er die Sprache wieder in gewohnter Lebhaftigkeit. "Wie Sie befehlen", sagte er. "Es wäre mir eine große Ehre, wenn Sie ebenfalls Platz nehmen wollten und mir gütigst andeuten, wo ich mich eigentlich befinde." Bei seinen Worten ließ die Gestalt ein leises, silbernes Lachen vernehmen. "Er spricht, er spricht!" rief sie in der Sprache der Martier. "Es ist zu lustig!" "Fafagolik?" versuchte Saltner die fremden Laute wiederzugeben. "Was ist das für eine Sprache oder was für eine Gegend?"] Die Martierin lachte und betrachtete ihn dabei vergnüglich, wie man ein merkwürdiges Tier abwartend anschaut. O-Ton 18 MS Das Motiv der Marsianer, auf die Erde zu kommen ist ja, dass sie also das Energieproblem haben, und sie kommen auf die Erde mit Sonnenkollektoren und wollen auf diese Weise ihr Energieproblem lösen, das ist der eine Punkt und der andere ist, dass sie das nicht hinkriegen ohne gleichzeitig ihre kulturellen Wohltaten über die Erde auszubreiten, und das erinnert ja sehr an George W. Bush, der eben auch aus Energiegründen im Irak einmarschiert ist und das motiviert hat mit den kulturellen Wohltaten, die er den Irakern bringen wollte. Autor 26 Fortschritt kommt für Laßwitz nicht automatisch, sondern muss stets errungen werden. Erst, wenn der Mensch verantwortungsbewusst mit Technik umgehe, komme er voran. Dafür steht die geistige Erhabenheit der Martier. O-Ton 19 RS Ja, eben auf vielen Gebieten, das heißt, nicht nur, was technische Entwicklung angeht, eben auch was moralische Entwicklung angeht. Wir machen ja eher verstärkt die Erfahrung, dass wir uns technisch weiter und weiter entwickeln, aber emotional doch stark noch im Neandertal uns befinden, das heißt, die Technik wird missbraucht zu nem großen Teil natürlich auch und dient natürlich dazu, uns ein besseres Leben zu ermöglichen, aber die Gefahr, dass wir uns selbst zerstören, die ist extrem gegeben. O-Ton 20 MS Und diese Mischung, dass eine elementare Frage, also Energiefrage und ein solches kulturelles Thema zusammenlaufen, das ist wirklich erstaunlich und zieht sich durch den ganzen Roman als eine latente Schicht, die - denk ich - ein Problem anspricht, dass Ende des 19. Jahrhunderts in dieser Form noch gar nicht bewusst geworden ist, vor allem eben die Idee, Sonnenenergie erstens zu speichern und dann in andere Energieform umzuwandeln. Autor 27 Auf zwei Planeten, 1897. Sprecher "Woher kommen diese Nebel über Ihren großen Städten?", fragte einer der Martier. "Hauptsächlich von der Verbrennung der Kohle", erwiderte Grunthe. "Aber warum nehmen Sie die Energie nicht direkt von der Sonnenstrahlung? Sie leben ja vom Kapital statt von den Zinsen." "Wir wissen leider noch nicht, wie wir das machen sollen. Übrigens sind die Kohlen doch nur zurückgelegte Zinsen, die unsere geehrten Vorfahren im Tierreich nicht aufzehren konnten." O-Ton 21 RS Ein globaler Umweltschutz war sicher auch eine Idee, die Laßwitz entwickelt hat, er hat auch immer wieder gewarnt, aufgrund seiner philosophischen Vorbildung, geprägt durch Kant und durch Schiller, vor dem Verlust ethischer Werte und auch das, denke ich, ist etwas ganz Aktuelles. [Man könnte sehr viel aus diesen Umsetzungen in Literatur solcher abstrakter Ideen lernen, für unsere heutige Zeit, denn für uns sind das keine abstrakten Ideen mehr, sondern es sind Gegenwartsprobleme.] Musik 2 Autor 28 Laßwitz' spektakulärste Prognose ist das Retrospektiv, ein gigantisches Teleskop auf dem Mars. Jeden Punkt der Erde zoomen die Martier damit heran. Das ist wie GoogleEarth - und noch mehr, bemerkt Jörg Albrecht. O-Ton 22 JA Das Retrospektiv kann ja Geschehnisse einfangen über Licht. Und zwar über das Licht, was von bestimmten Ereignissen abstrahlte, während sie geschahen, dieses Licht wird dann wieder eingefangen und wird zu nem Bild zusammengesetzt, wo man dann sehen kann, was passiert ist, also es ist im Prinzip so was wie ne Holografie was er da beschreibt. Autor 29 Eine Mischung aus Google Earth, youtube und Holografien. Web 2.5, erdacht um 1891 in Gotha. Auch mit seinem Verständnis der Geschlechterrollen ist Laßwitz seiner Zeit voraus. 80 Jahre vor den gender-studies überwindet er das Patriarchat. O-Ton 23 JA Es gibt mehrere wirklich starke Frauencharaktere in dem Roman, oder diese Duftorgelpianistin, die als Künstlerin total anerkannt ist, deren Mutter aber auch schon, und dann wird irgendwann mal erwähnt, wie es mit der rechtlichen Gleichstellung der Frau aussieht, was wirklich wortwörtlich auch so genannt wird. Von heute aus gesehen erscheint er da wirklich als emanzipativer Visionär einer besseren Gesellschaft. Autor 30 Gegen das Weltgesetz, 1878: Sprecher Magnet Reimert-Oberton führte wie alle Leute einen Doppelnamen. Der rechtlichen Gleichstellung der Frauen gemäß behielten die Kinder sowohl den Namen der Mutter als den des Vaters; verheirateten sie sich, so ließen die Töchter den Namen des Vaters, die Söhne den der Mutter fort und nahmen dafür den des Gemahls hinzu. MUSIK 2 O-Ton 24 JA Ich selbst hab neulich irgendwas drüber gelesen, dass jetzt doch bestimmte Mittel entwickelt werden, um die Gravitation niedriger zu schrauben auch auf der Erde, für bestimmte Körper, also Mechanismen, die irgendwie dazu führen, dass man im Grunde wirklich schwere Dinge zum Schweben bringen kann. Das ist doch irgendwie... das ist wirklich Science Fiction. [lacht] Autor 31 Die Marsianer manipulieren die Schwerkraft - zum Fliegen. Auf der Erde jedoch leiden ihre filigranen Körper unter der "Erdschwere". Auf zwei Planeten, 1897. Sprecher Unter den Knien schützten weit nach den Seiten ausgebogene Schäfte und über dem Haupt, auf kaum sichtbaren Stäben, von der Schulter gestützt, der glänzende diabarische Glockenschirm gegen die Schwere. O-Ton 25 JA ... also dass man aber auch son bisschen das Gefühl hat, dass diese Schwerkraft noch mehr ist als nur die Gravitation, die er ja beschreibt und er beschreibt ja teilweise wirklich sehr exakt, dass das fast schon etwas ist wie Schwere des menschlichen Daseins auf der Erde, also dass die Menschen es sich im Grunde auch unnötig schwer machen mit Vielem und eben noch nicht diese hohe geistige Qualität der Marsbewohner erreichen, was den Marsbewohnern selbst es wiederum erschwert, auf der Erde zu sein, also im wahrsten Sinne des Wortes eben erschweren, find da dann eben auch ne ziemlich gesellschaftliche fast schon politische Dimension dieser Texte ist auch spürbar. O-Ton 26 MS Ich denke, das muss man auch sehen, dass er über Politik nachgedacht hat und im Grunde auf der einen Seite mit einem gewissen anthropologischen Skeptizismus auftritt, ja, die Erdmenschen werden durch die Marsianer nicht wirklich verändert, das schaffen sie nicht, kriegen sie nicht hin, dennoch gibt es eine politische Klugheit. Und im Hintergrund dieser politischen Klugheit steckt eine alte kantianische Idee, die Idee des Weltfriedens. O-Ton 27 RS Eine sozusagen klassische Szene ist in Auf zwei Planten, als das deutsche Heer gegen die technisch hochüberlegenen Martier angeht, die mit großen Magneten in ihren Raumschiffen einfach die Bewaffnung des deutschen Heeres in den Himmel heben. Dass Laßwitz damals wegen Majestätsbeleidigung nicht erwischt worden ist, das scheint fast ein kleines Wunder. [kichert] Autor 32 Etwa 70.000 Exemplare des Romans Auf zwei Planeten werden bis 1933 verkauft. Danach gerät das Werk des Gothaer Gymnasiallehrers allmählich in Vergessenheit - vorerst. Dass er weiterhin gelesen wird, dafür sind in Deutschland Arno Schmidt und, Anfang der 80er, vor allem Rudi Schweikert verantwortlich. O-Ton 28 RS Ich fand den Autor Kurd Laßwitz gut, und die Sterne standen günstig, man konnte Ende der 70er Jahr ganz gut vergessene Autoren wieder neu zugänglich machen, und so geschah es dann auch mit dem Roman Auf zwei Planeten in der Weise, dass ein Verlag Arno Schmidt zu Ehren eine Bibliothek seiner Lieblingsautoren eröffnete, die es bis heute gibt. Musik 1 kommt hoch O-Ton 29 MS Wir können ja gegenwärtigen technologischen Stand hochrechnen, aber wir können noch nicht sagen, welche Art von Ereignissen möglicherweise in 50, 100 oder 150 Jahren wirklich einen Bruch darstellen in der Kultur, so wie es eben der Computer war. [O-Ton 30 RS Ja, und insbesondere das, was er, wenn man so sagen kann, als Heilungsperspektive hat, eben Technik mit Ethik zu koppeln, was wir trotz Club of Rome und ähnlichen Institutionen nicht so gut vermögen.] Musik 1 kommt hoch Autor 33 Laßwitz stirbt am 17. Oktober 1910. Der Vater der deutschen Science Fiction-Literatur wird in Gotha beigesetzt. Zurück lässt er seine Frau Jenny und die beiden Söhne. Und 100jährige, erstaunlich aktuelle Texte. O-Ton 31 RS Tja, das ist etwas, weswegen ich eben immer sage, dass am Anfang der Science Fiction-Literatur-Entwicklung in Deutschland der Höhepunkt war, es ist ne Reflexivität und ne Durchdringung von Problemen, die Kurd Laßwitz gemacht hat, die er in seinen Publikationen immer wieder klar und deutlich rausgestellt hat. Autor 34 Seit 1981 werden mit dem Kurd-Laßwitz-Preis verschiedene Sciencefiction- Kategorien prämiert. Was den Lehrer und Zukunftsträumer sicher noch mehr freuen würde: Hoch über seinem Grab am bestirnten Himmel, kreist ein kleiner Planet. Seit 1977 heißt er: Kurd Laßwitz. Musik 123.148 Z. ohne Leerzeichen 27.179 Z. mit Leerzeichen 1