COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Deutschlandradio Kultur, Zeitfragen 11.August 2008, 19.30 Uhr Die gedopte Gesellschaft - Über den Umgang mit Süchten Von Andrea und Justin Westhoff Musik darüber: O-Ton 1: Ich war eingeladen bei einer Feier und war sehr unsicher. Ich kannte die Leute nicht, aber ich weiß, dass ich Angst hatte, nicht gemocht zu werden, nicht interessant genug zu sein, da hab ich dann sehr viel getrunken, sehr viel Haschisch geraucht und merkte, dass ich Migräne bekomme. Und da hat mir dann jemand eine 10er Valium gegeben mit zwei Aspirin und danach war ich topfit. O-Ton 2: Wir finden ja Menschen, die ein bisschen Drogen konsumiert haben und eine Party in Schwung bringen, so ein bisschen angetrunken sind, die finden wir ja lustig, die bestärken wir ja auch, aber die gleiche Person, wenn sie nachts auf unseren Teppichboden kotzt, dann finden wir sie gar nicht mehr toll. O-Ton 3: Süchte sagen über unsere Gesellschaft aus, dass große Teile der Bevölkerung unter so großem Druck verschiedenster Herkunft stehen, dass sie sich nur noch behelfen können, indem sie beruhigende oder aufputschende Medikamente oder Suchtmittel zu sich nehmen. Sprecher vom Dienst: Die gedopte Gesellschaft - Über den Umgang mit Süchten Eine Sendung von Andrea und Justin Westhoff O-Ton 4: Klar ist es ein gesellschaftliches Problem, weil viele, viele Leute daran verdienen. An dem Elend von Menschen, die Suchtstoffe missbrauchen. Sprecherin Sucht ist zwar auch ein medizinisch-psychologisches Problem, vor allem aber durchdringt sie das Gemeinwesen. Drogen gab und gibt es in allen Gesellschaften, und sie werden nicht nur von ein paar "Junkies" genommen. Der Übergang vom "normalen" Genussmittel-Gebrauch zur Abhängigkeit ist fließend, wobei nicht jede Sucht an einen Stoff gebunden ist. Menschen nutzen die unterschiedlichsten Mittel, um "besser drauf zu sein", ihre Leistung zu steigern oder um ihr tatsächlich oder vermeintlich schwieriges Leben auszuhalten. O-Ton 5: Dann meinte die Ärztin, es wäre vegetative Dystonie. Und dann hat sie mir Beruhigungstabletten verschrieben, und ich hab mich auf einmal entspannt gefühlt, hab mich so ganz gelöst gefühlt, der Magen war ruhig, kein Druckgefühl, die Schmerzen waren weg. Da dachte ich "ach - das ist es!" Sprecherin Eine von geschätzten eineinhalb Millionen Medikamenten-Abhängigen. Drogen auf Rezept - Schüler und Studenten, Hausfrauen und Fließbandarbeiter, Manager und Showstars - beim Thema Aufputschen ist Doping im Sport wirklich nur die "Spitze des Eisbergs". O-Ton 7: Schlagzeilen D-Radio Die Skandallawine ist bei der Tour wieder ins Rollen gekommen. Dem zweimaligen Etappensieger und Träger des Bergtrikots, Ricardo Ricco wurde EPO-Doping nachgewiesen. Sprecherin Allgegenwärtig sind vor allem auch legale Suchtmittel. Immer noch rauchen über 30 Prozent der Deutschen, trotz aller staatlichen Versuche, dies mit Verboten zu reduzieren. Und Alkohol ist die Alltagsdroge schlechthin. Regie: (vorhanden) Kneipenatmo darauf Sprecherin Im Durchschnitt konsumiert jeder Bundesbürger zehn Liter reinen Alkohols pro Jahr. An die zehn Millionen Deutsche trinken "in riskantem Umfang" oder sind abhängig. Besonders beunruhigend: Eine nicht geringe Zahl der 11-bis 15-Jährigen betreibt mindestens einmal im Monat das sogenannte "Binge-Drinking" oder Koma-Saufen. Regie: Archiv! Lied Grönemeyer: "Ich kauf mir 'was"(Refrain-Ausschnitt) Sprecherin Weit verbreitet sind auch nicht-stoffgebundene Süchte: Kaufen oder Glücksspiele, bis das Konto komplett leer ist und der Schuldenberg unüberwindbar; Arbeiten oder Sexerlebnisse bis zum Umfallen; Essen oder Nicht-Essen bis zum Tod - oder am Computer die Realität verspielen. Regie: Archiv! Atmo Videospiel, überblenden in Atmo Computer, darauf O-Ton 8: Da steckt man sehr viel Zeit rein, und vielleicht kann und will man es dann auch nicht lassen. Aber auch da ist es schwierig, von Sucht zu sprechen, aber dann geht es natürlich um Leistung, möglichst perfekt zu spielen und das ist bei fast allen Computerspielen so, dass, wenn man sie wirklich gut beherrschen will, muss man mit großem Einsatz spielen. Regie: Archiv! Lied "Cocaine" (Eric Clapton), darüber Sprecherin Verglichen mit legalen werden illegale Drogen im gesellschaftlichen und politischen Diskurs zumeist überbetont - auch wenn das Schicksal von 600.000 Haschisch- Konsumenten und fast 200.000 Menschen, die von Heroin und anderen "harten Drogen" abhängig sind, selbstverständlich ernst genommen werden muss. Keine Form der Sucht ist ein Außenseiter-Phänomen. Regie: Musik, darüber Sprecher Sucht - Wissen und Wertung O-Ton 9 Das Hauptkriterium einer Abhängigkeit ist das Auftreten von Entzugssymptomen, wenn man die Substanz weglässt. Und sobald sie wegfällt, gerät das Gehirn aus dem Gleichgewicht, und das erzeugt dann entweder körperlich bedrohliche Zustände, oder Zustände, die subjektiv so unangenehm sind, dass man die Droge wieder nehmen will. Regie: Musik hoch und Ende Sprecherin Biologen und Ärzte wissen seit langem, dass Sucht kein Ausdruck von "Zügellosigkeit", Charakter- oder Willensschwäche ist, sondern eine Krankheit, mit klar umrissenen Ursachen und Symptomen. Sprecher ...eigentlich eine schon ganz alte Erkenntnis: Denn das Wort "Sucht" ist abgeleitet von dem germanischen Adjektiv "siech", also "krank"! Sprecherin Ob jemand süchtig ist, entscheidet sich nicht danach, wie viel er von einem Stoff zu sich nimmt, erklärt Professor Andreas Heinz, Suchtexperte und Direktor der Psychiatrie der Charité O-Ton 10: Angeblich hat im Mittelalter der durchschnittliche Mensch drei Liter Bier, Wein oder ähnliches am Tag konsumiert, das heißt, wenn man die Kinder heraus rechnet, müssen die Leute permanent leicht betrunken gewesen sein. Aber die modernen Suchtdefinitionen gehen ja gerade nicht mehr auf die Menge, sondern auf besser objektivierbare Symptome wie die Frage, hat jemand Entzugserscheinungen, Krampfanfälle, Schwitzen, Delir, Übelkeit, das zeigt dann, dass das Gehirn sich so an die Substanz gewöhnt hat, dass es sie relativ dauerhaft braucht. Sprecher Außerdem hat nicht jeder das gleiche Suchtrisiko. Es ist nicht der "Stoff, es sind die angeborenen Unterschiede im zuständigen Botenstoffsystem des Gehirns, die darüber entscheiden, dass manche Menschen sehr schnell, andere schleichend oder gar nicht "süchtig" werden. Sprecherin Dr. Jörg Gölz, ein Berliner Arzt, spezialisiert auf den Umgang mit drogenabhängigen Patienten, weiß aus seiner Praxis sogar: O-Ton 11: Es gibt zum Beispiel Heroin-Konsumenten, die alle vier Wochen 'mal am Wochenende Heroin konsumieren und das dann vier Wochen lang nicht mehr tun. Sprecherin Wenn Sucht aber biologisch, sogar genetisch bedingt ist, werden Süchtige dann heute weniger gesellschaftlich ausgegrenzt, weniger "stigmatisiert"? Wolfgang Heckmann, Professor für Sozialpsychologie an der Fachhochschule Magdeburg: O-Ton 12: Das gibt es einerseits schon, und die Gesetzgebung sagt das ja auch sehr deutlich gerade für den Alkoholismus als Suchterkrankung, dass das nicht zu Nachteilen führen darf, dass jemand beispielsweise nicht entlassen werden darf aus dem Arbeitsverhältnis, wenn er oder sie alkoholkrank ist. Andererseits können wir auch spezifische Benachteiligungen sehen: Wir haben beispielsweise eine Untersuchung durchgeführt, bei der wir gesehen haben, dass jemand, der ehemals alkoholkrank war, heute trocken ist, der dazu auch steht, der hat es weitaus schwerer, eine Arbeit wieder zu finden, als jemand, der gar nicht sagt, dass er krank ist, und dem Arbeitgeber fällt es auch nicht auf. Sprecherin Die Stigmatisierung ist nicht vorbei, die wissenschaftlich-medizinische Sicht hat sich nicht wirklich durchgesetzt, bestätigt auch Jörg Gölz: O-Ton 13: Es wird immer noch daran festgehalten, dass es mehr moralisch beurteilt wird und derjenige sollte sich doch beherrschen, und dann könnte er es doch gut in den Griff bekommen. Sprecherin Bestes Beispiel hier: Das Rauchen. O-Ton 14: Die Abhängigkeit von Nikotin wird in der Regel unterschätzt in ihrer Schwere, ich würde sagen, sie ist noch schwerer als die Abhängigkeit von Heroin, also für das Rauchen zeigt sich immer mehr, dass bestimmte genetische Besonderheiten dazu führen, dass das erste Erlebnis mit Nikotin so viel befreiender und so viel lustvoller ist als für jemanden, der nicht diesen genetischen Defekt hat, dass so jemand viel wahrscheinlicher dabei bleiben wird. Sprecherin Auch beim Alkohol stellt man schnell fest, dass das soziale Umfeld einzelne Süchte anders bewertet, als es die wissenschaftlichen Fakten nahe legen. Andreas Heinz: O-Ton 15: Alkoholabhängigkeit steht weiterhin ziemlich weit unten in der Wertschätzung, weil das eigentlich eine Substanz ist, die die Gesellschaft akzeptiert hat, und trotzdem oder gerade deshalb gibt es Verachtung für diejenigen, die nicht damit klar kommen; es gibt Modedrogen wie Kokain, die "hipp" sind und die dann durchaus auch gesellschaftlichen Status anzeigen können, da ist die Gesellschaft selbst vollkommen unentschlossen, wohin eigentlich die Reise gehen soll. Regie: Musik, darüber Sprecher "Jede Gesellschaft hat ihre Süchte!" O-Ton 16: Ein Großteil kommt mit dem Leben oder mit den Forderungen, die dieses Leben in der modernen Industriegesellschaft und der Informationsgesellschaft darstellt, nicht mehr richtig zurecht - das sind ja auch immer Anpassungswünsche, Abhängigkeiten - Anpassungsversuche an ein Leben, das man so mit seinen eigenen Fertigkeiten nicht schafft. Regie: Musik hoch und Ende Sprecherin Süchtiges Verhalten wird - neben der Biologie - natürlich auch von den Lebensumständen des Einzelnen beeinflusst. Wolfgang Heckmann, der heute als Sozialwissenschaftler arbeitet, war früher einmal Berlins Drogenbeauftragter. O-Ton 17: Als ich angefangen habe, mich mit illegalen Drogen zu beschäftigen, das waren die 60er und 70er Jahre, da waren es die Aussteiger, die gesagt haben, "diese Gesellschaft, diese Enge der Gesellschaft, dieses Kleinbürgertum, diese ungeheure Spießigkeit, die mich umgibt, und auch die Verlogenheit, was unsere Vergangenheit als Deutsche betrifft, damit will ich nichts zu tun haben." Und "ich steige aus". Sprecher Die passenden Mittel zum "Ausstieg" waren - und sind - Cannabis, LSD sowie Heroin. Auch Alkohol, zu allen Zeiten hierzulande der am häufigsten genutzte Suchtstoff, ist charakteristisch gerade für unsere eher "depressive" Gesellschaft. Auf ökonomische und persönliche Schwierigkeiten reagieren viele zunächst mal mit Wegducken, mit "Zumachen". Sprecherin Jetzt aber, so meinen Suchtexperten, kommt gerade beim Alkoholkonsum Jugendlicher ein neues Motiv hinzu: "Teilhabe" - Dazu gehören wollen... Wenn sich die Millionärstochter und der Hartz IV-Empfänger gleichermaßen ins Koma saufen, kann das nicht länger mit sozialer Verelendung oder fehlender Perspektive erklärt werden. Sprecher Psychologen machen vor allem einen starken Gruppendruck dafür verantwortlich, den Wunsch, dabei zu sein. Außerdem produziert unsere schnelle, durchorganisierte, technisierte Gesellschaft für viele permanente Anspannung bei gleichzeitiger Langeweile, was die Sehn-Sucht nach einem ultimativen "Kick" weckt. Sprecherin Passend für unsere heutige Leistungsgesellschaft sind, so Wolfgang Heckmann, neben dem exzessiven Alkoholkonsum, vor allem "Schnellmacher-Drogen" wie Ecstasy, Kokain und Amphetamine. Statt um "Ausstieg" geht es jetzt eher um das Einsteigen - und um Durchhalten: O-Ton 18 Menschen in Stressberufen, die brauchen unbedingt etwas, was sie diesen Stress aushalten lässt. und da bietet sich beispielsweise Kokain an, aber da gibt's nicht nur Stressberufe auf der Bühne, wir haben das untersucht, auch LKW-Fahrer in Deutschland konsumieren inzwischen Kokain und Amphetamine, um ihre Fahrten schaffen zu können und dabei wach zu bleiben. Sprecherin Den gesellschaftlichen Anforderungen genügen wollen - das ist auch Grundlage für eine Sucht, die ebenfalls unsere Gesellschaft kennzeichnet: die Medikamentenabhängigkeit. Sie ist fast so verbreitet wie Alkoholmissbrauch, aber von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt und unbeachtet. Die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen - kurz: DHS - hat deshalb in Zusammenarbeit mit der Beratungsstelle für medikamentenabhängige Frauen einen Videofilm gedreht. Darin berichten drei Frauen über ihre Tablettensucht. O-Ton 19: Da hatte ich wahrscheinlich so das Gefühl, ich müsste alles im Leben bewältigen - da kamen mehrere Sachen zusammen: Partnerschaft, dann wollte ich's Abitur probieren und hab nebenher noch gearbeitet. Es machten sich eben so Unruhezustände bemerkbar. Und mit dem Kind da hin und zuhause Mittagessen und einkaufen, und ich weiß nicht - ich hab's damals nicht so sehen wollen, dass ich überfordert bin, aber es muss so gewesen sein. Sprecherin Vor allem Frauen sind von dieser Sucht betroffen - und sie finden ihren "Dealer" oft genug im weißen Kittel. Sprecher Denn oft sind es Ärzte, die die "kleinen chemischen Helfer" aus der Gruppe der Benzodiazepine verordnen: Schlaf- oder Beruhigungsmittel oder Angstlöser. Und viele Schmerzmittel oder Diätpillen hält der Apotheker rezeptfrei bereit. Sie alle machen schon nach kurzer Zeit abhängig. Das haben Mediziner wegen fehlender Hinweise seitens der Pharmaindustrie tatsächlich lange nicht gewusst. Aber diese Entschuldigung gilt heute nicht mehr. Trotzdem wird fleißig weiter verschrieben und verkauft. Probleme bei der Drogenbeschaffung gibt es für Medikamentenabhängige jedenfalls kaum, spätestens über das Internet hat inzwischen praktisch jeder Zugang auch zu Arzneimitteln aller Art. Sprecherin Medikamentenabhängigkeit ist aber nicht nur eine oft schamhaft versteckte, sondern eine gar nicht bewusste Sucht. Die Betroffenen fühlen sich krank, nicht süchtig, die Tabletten sind für sie die Lösung, nicht das Problem! O-Ton 20 Dann hatte ich so über Fernsehberichte oder in Illustrierten gelesen, dass Beruhigungstabletten abhängig machen, und da hab ich mich dann für mich ganz persönlich innerlich schon gefragt: "du nimmst ja auch Beruhigungstabletten, bist du jetzt davon abhängig?". Da dachte ich, "na ja, du brauchst das eben" und mein Leben war okay damit, das war mir weiterhin ne Hilfe, und dann hab ich den Gedanken einfach verdrängt. Das war wie meine Krücke. (lacht) Also ich wusste zwar, dass es was ist, was man nicht machen darf, und ich musste es ja auch immer heimlich machen, aber abhängig in dem Sinne hab ich mich nie gefühlt. Sprecherin Professor Gerd Glaeske, Arzneimittelexperte von der Universität Bremen: O-Ton 21 Das Problem bei der Arzneimittelabhängigkeit, jedenfalls in den meisten Fällen ist, dass ich weder die Dosis steigern muss, noch mir diese Mittel auf dem Schwarzen Markt beschaffen muss, noch, dass es mir schlechter geht, sondern ich kann dies bei einem Experten abholen. Und das zweite ist, dass genau diese Expertensituation offensichtlich verhindert, ganz öffentlich darüber zu sprechen. Sprecherin Immerhin wachen Ärzte und Apotheker langsam auf: Sprecher Die Bundesärztekammer und auch die Apothekerverbände haben inzwischen Leitfäden herausgegeben, die über das Problem der Medikamentenabhängigkeit informieren und praktische Hilfestellungen geben wollen. Aber seitens der Politik stellt zum Beispiel die DHS immer noch eine "Beißhemmung" bei diesem Gesundheitsproblem fest. Denn Arzneimittelmissbrauch ist auch ein riesiges Geschäft! Sprecherin Inzwischen scheint der übermäßige missbräuchliche Umgang mit Medikamenten sogar zum guten gesellschaftlichen Ton zu gehören. In einem Beitrag der Fernsehsendung "Panorama" schildert eine Apothekerin das, was heute modern als "Mind-Doping" bezeichnet wird: O-Ton 22 Dies ist ein Medikament, das man bei Alzheimer-Patienten einsetzt, manche nutzen es aber auch, um ihr Gedächtnis zu verbessern. - Dies ist eigentlich ein Medikament gegen Depressionen, Gesunde verwenden es aber bei einem Date gegen ihre Schüchternheit. - Dies Medikament verwendet man bei Kindern, bei ADHS, also einer richtigen Erkrankung, es wird aber auch missbräuchlich von Leuten verwendet, die sich besser konzentrieren wollen. Sprecherin Gesunde Menschen nehmen Psychopharmaka zur Steigerung ihrer alltäglichen Tätigkeiten, Leistungen und Fähigkeiten - und das nicht so selten. Gerd Glaeske: O-Ton 23 Das scheint doch eine große Versuchung zu sein, nämlich auch eine Begehrlichkeit auslösen und zu fragen: Kann ich denn mit diesen Mitteln, auch wenn ich nicht krank bin, mir auch einen positiven Push verschaffen und vielleicht auch mit diesem Push besser werden als meine Konkurrenten um mich herum. Sprecherin Aber es sind nicht nur immer mehr Erwachsene, die sich mit psychoaktiven Medikamenten fitter für die Tour durchs moderne Arbeits- und Privatleben machen. Noch beunruhigender ist, wie viele Eltern auf diese neue Weise ihre Kinder "dopen". Waren es früher Vitamine, ist es heute vor allem Ritalin, ein verschreibungspflichtiges Arzneimittel, das eigentlich zur Behandlung von so genannten "Zappelphilipp- Kindern" verwendet wird. Sprecherin Gerd Glaeske kritisiert, dass Eltern und Ärzte zu leichtfertig oder auch ganz bewusst, ohne gesicherte Diagnose, dieses Medikament einsetzen: O-Ton 24: Wir haben einen Wettbewerb um die besten Startpositionen. Und die Frage ist, was verschafft mir Startpositionen? Das bedeutet schon, nicht auffällig zu sein, allenfalls auffällig zu sein über Leistungen, und in sofern gibt es viele Elterngruppen, die sagen, man soll vermeiden, dass Kinder im Kindergarten oder in der Schule besondere Probleme machen. Und das bedeutet auch, dass man versucht, sich über bestimmte Arzneimittel einen bessern Stand, eine bessere Ausgangsposition zu verschaffen. Sprecher Das ist zum einen problematisch, weil man es hier nicht mit "Smarties" zu tun hat, sondern mit hochwirksamen Arzneimitteln. Sie greifen in den Botenstoffwechsel für den Gefühlshaushalt ein: Die Kinder stumpfen einerseits ab, andererseits kann es zu unkontrollierten Gewaltausbrüchen kommen, wenn die Mittel abgesetzt werden. Alle Drogen sind insbesondere bei Kindern und Jugendlichen problematisch, weil deren Gehirn noch nicht ausgereift ist. So konnten Wissenschaftler in den letzten Jahren zum Beispiel nachweisen, dass Jugendliche, die regelmäßig zu viel Alkohol trinken, eine veränderte Hirnstruktur haben: Deutlich kleiner ist bei ihnen jener Bereich, in dem das komplexe Denken und Planen stattfindet und die Gefühle gesteuert werden. Sprecherin Die allzu vorschnelle Behandlung von Kindern mit psychisch aktiven Medikamenten wie "Ritalin" ist aber auch deshalb fatal, weil Eltern damit unter Umständen den Grundstein für eine "Drogenkarriere" ihrer Sprösslinge legen. Nach dem Motto: "Hast du ein Problem, dann nimm etwas" - statt "dann tu' etwas". O-Ton 25 Bei den Kindern wächst das Empfinden: "Ich muss etwas schlucken, und bin dann wieder sozial akzeptierter", und ich glaube, diese Beziehung darf ich nicht unterschätzen. Weil das auch bedeuten kann, dass Kinder eben nicht bei den Tabletten stehen bleiben, sondern möglicherweise auch andere Stoffe dann zu sich nehmen im späteren Leben, bei denen sie auch meinen, dass diese Stoffe ihnen helfen können. Sprecherin Und Gerd Glaeske sieht daneben noch ein größeres Problem für eine Gesellschaft, die verstärkt auf leistungssteigernde, sozial verträglicher machende Drogen setzt: O-Ton 26 Das Problem ist für mich, dass unter allen Tabletten, die ich nehme, insbesondere unter denen, die die Psyche verändern, die Persönlichkeit letzten Endes auch sich verändert. Das bedeutet: Ich bin nicht mehr ich, sondern ich bin jemand, der über ein Arzneimittel lebt. Und ich möchte nicht, dass wir sozusagen als Zombies durch die Gegend laufen und mit Arzneimitteln voll gepumpt sind, ich möchte diesen Menschen auch wirklich kennen lernen mit all seinen Gefühlen, mit all seinen Ängsten, mit all seinen Freuden, mit all seinen Aufs und Abs. O-Ton 27 Bestimmte Gefühle hab ich ja überhaupt nicht mehr zugelassen. Wahrscheinlich in dem Moment, wo ich mich hätte entscheiden müssen, was ich jetzt eigentlich will, hab ich die Medikamente genommen. Da war es dann so, dass ich spürte, wenn ich mit anderen Menschen zusammen war, dass ich, mich wie leblos fühlte. Und - ja, ich konnte nicht mehr spontan sein, so ganz stumpfsinnig. Dass ich keine freudigen Dinge mehr spüren kann und wenn was spüren, dann eben eher meine Mängel. Arbeit ging nicht mehr, Partnerschaft ging nicht mehr, da war nichts mehr, man hat nicht gelebt, man hat eigentlich nur vegetiert. Regie: Musik, darüber Sprecher "Widersprüche der Drogen-Politik" O-Ton 28 Das ist hochgradig widersprüchlich, denn so lange ich als Staat daran mit Steuereinnahmen verdiene, wirkt das unglaubwürdig, und diese Verpflichtung zu präventiven Maßnahmen, die der Staat ja seinen Bürgern gegenüber hat, wachsen sich relativ häufig aus in reine Bevormundung, es müsste also eine viel höhere Differenzierung stattfinden. . Regie: Musik hoch und Ende Sprecherin So doppelzüngig die Reaktionen des sozialen Umfelds auf Suchtkranke, so widerstreitend sind auch die Interessen in der Drogenpolitik. Zum Teil ist dies wohl unvermeidlich, geht es doch um eine permanente Abwägung zwischen Eigenverantwortung des Bürgers und persönlicher Freiheit einerseits und auf der anderen Seite der notwendigen staatlichen Fürsorge und dem Schutz der Gesellschaft als Ganzes. Der Gesetzgeber kann durchaus verbieten oder zulassen. Drogenexperte Heckmann zweifelt aber an den zugrunde liegenden Kriterien. O-Ton 29 Wir haben es nicht geschafft, sozusagen die Drogen in einer vernünftigen Weise zu sortieren und zu sagen,"das ist besonders gefährlich, das ist ein bisschen weniger gefährlich, und das ist fast gar nicht gefährlich", danach haben wir nicht sortiert, sondern das hat sich historisch ergeben, was legal ist und was illegal ist heute, das kann kein Mensch verstehen, schon gar nicht ein junger Mensch, der mit allen diesen Drogen konfrontiert wird, aber gesagt bekommt, "das eine darfst du nicht, und das andere darfst du", obwohl beides gleich, fast gleich verfügbar ist. Sprecherin Die Unterscheidung zwischen "legalen" und "illegalen" Mitteln lässt sich zum Beispiel nicht mit Krankheitsfolgen und Todesfällen begründen. Sprecher Jährlich sterben etwa 110.000 Menschen vorzeitig an den Folgen des Tabakkonsums, 40.000 an denen der Alkoholabhängigkeit. Die Zahl der toten Fixer liegt dagegen allenfalls etwas über tausend. Sprecherin Gerade die "Herointoten" werden aber gerne, je nach Ideologie und Interesse, "missbraucht": Sinkt deren Zahl, war die Drogenpolitik erfolgreich, steigt sie, zeigt das angeblich das Versagen des Staates. Beides stimmt nicht. Ob und wie jemand mit einer solchen illegalen Droge überlebt, hängt mit der Reinheit des Stoffes zusammen - und mit Programmen zur "harm reduction", zur ärztlich unterstützten Verringerung von lebensgefährlichen Folgekrankheiten, Verelendung und Beschaffungskriminalität. Stichwort "Substitution" durch Ersatzstoffe wie Methadon. Hier gab es durchaus Fortschritte, sagt der erfahrene Suchtmediziner Jörg Gölz: O-Ton 30 Es war jetzt ein über 25 Jahre dauernder harter Kampf zwischen nur auf Abstinenz zu setzen und im Gegenzug auf schadensmindernde Maßnahmen zu setzen, und die haben sich à la longue insgesamt als sehr erfolgreich durchgesetzt, Sprecherin ... ein Kampf, der sich derzeit bei der kontrollierten Heroinvergabe an Schwerst- Abhängige noch fortsetzt. Vorbei sein sollten auch die Grabenkriege zwischen Abstinenz-Anhängern und Befürwortern einer Aufklärung gerade junger Menschen über den mündigen Umgang mit potentiell abhängig machenden Mitteln. Zu dieser Erziehung gehört für den Sozialpsychologen auch das Konsumverhalten insgesamt: O-Ton 31: Vor hundert Jahren waren Minderjährige kein Marktfaktor, heut sind die ein Marktfaktor mit vielen Milliarden, die sie jährlich ausgeben, und auf dieses Geld sind viele scharf - legale Produzenten und illegale Produzenten. Auch das führt dazu, dass wir diesen Markt angekurbelt haben, dadurch, dass wir unseren Kindern Geld zur Verfügung gestellt haben, aber sie gleichzeitig nicht erzogen haben dazu, mit dem Geld vernünftig umzugehen. D.h. zu prüfen, ist das, was ich hier kaufen möchte, wirklich, entspricht das meinem Bedürfnis? Sprecher 400 bis 500 Billionen Dollar jährlich beträgt der weltweite Umsatz mit illegalen Substanzen. Die Gewinne der kriminellen Organisationen im Drogenhandel überstei- gen das Bruttosozialprodukt vieler Staaten. Sprecherin Aber: Auch bei den erlaubten Mitteln geht es um viel Geld. An den meisten Süchten verdient der Staat kräftig mit - hier zeigt sich die Janusköpfigkeit der Sucht- und Drogenpolitik besonders. Sprecher Tabak-, Alkohol- oder Glücksspielsteuer in vielfacher Milliardenhöhe sind fester Bestandteil der Haushaltsplanung. Davon wird allerdings nur ein ganz geringer Teil im Bereich Gesundheit eingesetzt. Sprecherin Ob man es für gut hält oder nicht: Die verfassungsrechtlich garantierte Gewerbefreiheit erschwert zudem Eingriffe in den Markt. Sprecher Argumentiert wird beispielsweise mit Arbeitsplätzen bei Herstellung und Vertrieb legaler Suchtmittel. Nicht zu vergessen der Markt, den die Suchtkrankheit selbst eröffnet: Therapeuten aller - leider auch unseriöser - Art, Entzugskliniken und Hilfseinrichtungen, Arzneimittelhersteller, Forscher: Ein nicht geringer Teil unseres Gesundheitswesens ist damit beschäftigt. Sprecherin Auch hier zeigt sich: Süchte sind tatsächlich allgegenwärtig in unserer Gesellschaft. O-Ton 32 Das ist ein Problem, was in der Mitte der Gesellschaft stattfindet, natürlich. Wir können sagen, es gibt kaum eine Klasse, kaum eine Schicht, die nicht betroffen ist von Suchtproblemen, Sprecherin ... was aber nicht heißt, dass es keine sozialen Unterschiede gibt, betont Wolfgang Heckmann: O-Ton 33: Wir müssen natürlich auch sagen, dass - wie bei vielen anderen Erkrankungen - auch die Suchterkrankung die ist, die sozial sich nach unten verteilt. Das heißt, je ärmer jemand ist, je weniger gebildet jemand ist, je jünger jemand ist, je randständiger jemand ohnehin schon ist, desto stärker wird er auch durch Suchtstoffe noch in die Randständigkeit gedrückt. Sprecherin Und so wird unübersehbar: Vor allem anderen ist Suchtbekämpfung Sozialpolitik - oder sollte es sein. Aber: O-Ton 34 In diesen Bereichen wird immer zuerst gespart. Wir haben's uns selbst eingebrockt mit unseren Sparprogrammen in der Jugendhilfe, aber auch mit unseren Sparprogrammen in der Schule. Sprecherin Doch auch wenn Vorbeugung besser ist als Verbote - ganz ohne geht es nicht. O-Ton 35: Und zwar ist Kontrolle immer dann sinnvoll und auch notwendig, wenn es um die Schädigung anderer geht. Also natürlich möchte ich gerne, dass der Pilot, zu dem ich mich ins Flugzeug setze, gestern Nacht nicht gekifft hat. Jemand, der Auto fährt, der sollte nicht unter Drogen stehen. Jemand, der raucht, der sollte das nicht so tun, dass andere davon geschädigt werden. Sprecherin Dem stimmt der Fach-Autor und suchtmedizinische Praktiker Dr. Jörg Gölz erst einmal zu. O-Ton 36 Richtig ist an der Reaktion des Staates, dass er 'zunächst mal im Sinne eines öffentlichen Gesundheitswesens Schaden von seinen Bürgern abwenden muss. Falsch ist diese Illusion, die dabei besteht, wie weit solche Maßnahmen überhaupt wirksam sind angesichts einer so schwierigen Angelegenheit, wie sie eine Sucht darstellt. Und es erstaunt einen immer, mit welcher Naivität vor allem Politiker sich an Sucht oder an süchtiges Verhalten heran wagen, mit einfachsten und grobschlächtigsten Appellen. Sprecherin Worauf es ankommt, ist eine möglichst ideologiefreie Mischung von Maßnahmen aus nahezu allen Politikfeldern. Regie: Musik, darüber Sprecher "Abschied von einem Traum" O-Ton 37 Eine drogenfreie Gesellschaft ist nicht denkbar, weil das Zeug wächst und weil das Zeug produziert wird, und deshalb ist das nicht von der Welt verbannbar, das ist ne Illusion. Regie: Musik hoch und Ende Sprecherin Drogen - das sind, wie gesagt, nicht nur Heroin, Kokain, Ecstasy oder Marihuana. Und Suchtkranke sind nicht nur jene, die mit dem Gummischlauch um den Arm gewickelt auf einer Toilette liegen oder die nach Fusel riechend durch Fußgängerzonen torkeln. Drogen sind ein wesentlicher Teil unserer Gesellschaft. Dies einzugestehen, ist der erste Schritt zu einer rationalen Reaktion von Bürgern und Politik. Pragmatismus ist gefordert, keine undifferenzierte Dämonisierung. Verbote, wo sinnvoll, und Akzeptanz, Hilfe für Betroffene und Bekämpfung der schlimmsten Folgen. Wolfgang Heckmann: O-Ton 38 Ich muss doch daran interessiert sein, dass jeder junge Mensch und auch jeder erwachsene Mensch, der überhaupt mit einer Droge umgeht, das in irgendeiner Weise verantwortlich tut. Da muss ich als sein Nachbar dran interessiert sein, da muss ich als Vater dran interessiert sein, da muss ich als Lehrer oder der Hochschullehrer dran interessiert sein, dass die Leute, wenn sie schon so etwas machen, vernünftig damit umgehen und verantwortlich. D.h. alle Gespräche zielen nicht darauf: "Lass das, tu es nicht", sondern "wenn du es machst, hast dir überlegt, das dies die Konsequenz sein könnte, hast du überlegt, was das bedeuten kann, für dich, für dein Leben für das Leben anderer." Sprecherin Vorbeugung beginnt damit, jungen Menschen Kompetenz zu vermitteln. Aber selbst wenn das gut gelingt, stellt sich immer noch die Frage, welche Welt wir anbieten, meint der Suchtexperte und Psychiater Prof. Andreas Heinz: O-Ton 39 Ich glaube, ein ganz wichtiger Bereich ist die Frage, was eigentlich an Abenteuer oder aufregenden Sachen für junge Leute zur Verfügung steht. Man kann nicht alles verbieten und dann hinterher hoffen, dass die Kinder brav sind; das wird nicht gehen, sondern man braucht irgend etwas, das die bewegt, und das waren zu früheren Zeiten andere Formen von Mutproben - da kann die Gesellschaft helfen, die produktiveren Verhaltensweisen gegenüber den, ja, selbst-destruierenden zu unterstützen; aber ein Stück weit kann man das auch nicht kontrollieren. Sprecher vom Dienst: Die gedopte Gesellschaft - Über den Umgang mit Süchten Von Andrea und Justin Westhoff Es sprachen: Sabine Arnhold und Markus Hoffmann Ton: Boris Manych Regie: Roswitha Graf Redaktion: Constanze Lehmann Produktion: Deutschlandradio Kultur 2008 1