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Und wir sollten uns auch die Frage stellen, wie diese Krise auch bei der Ausbildung unserer Studenten, unserer Forschung etwas ändern soll! Eines ist klar für uns alle, als Privatperson, als Lernende, als Professor: Aus dieser Krise sollten wir wirklich lernen! Sprecher Paul Embrechts ist Mathematiker und Methoden zur Bewertung von Finanzrisiken gehören zu seinem Forschungsgebiet. Stürzende Aktienkurse, der Wertverfall von Kreditderivaten und Immobilien, der Zusammenbruch grosser Investmentbanken in den USA, Staatsfinanzen vor dem Bankrott - eine Finanzkrise von diesem Ausmass hatte sich Paul Embrechts nie vorgestellt. Heute gelten Kreditderivate als das Gift, das die Finanzmärkte zu einer Scheinblüte gebracht hat. Der Anfang sah vielversprechend aus. Kreditderivate erlauben es Banken, Risiken, die sie durch Kreditvergabe eingehen, weiter zu verkaufen. Die Finanzmathematik liefert die Instrumente, um Marktpreise für diese Finanzpodukte zu berechnen und Risiken zu bewerten. O-Ton_02 Die Mathematik hat da sicher eine Rolle gespielt, weil man geglaubt hat, und damals vielleicht zurecht geglaubt hat, dass man gewissen Produkten einen korrekten Preis geben konnte. Und dann hat man irgendwo eine Engine gefunden, die es erlaubt wie ein Staubsauger mehr und mehr Produkte anzunehmen, zu verbriefen, zu verschicken, zu verändern. Die Volumina sind teilweise entstanden, in dem man geglaubt hat, wir könnten korrekt eine Risikoverteilung finden oder das Risiko beschreiben. Und das hat sich herausgestellt, dass das katastrophal ist. Atmo_01 ETH Foyer, Stimmen langsam einblenden... Sprecher Paul Embrechts lehrt Analyse von Extremwerten und Risikomanagement an der ETH, der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich. Dem strengen neoklassizistischen Bauwerk oberhalb des Limmat liegt die Stadt zu Füssen. Die ETH hat nicht nur einen ausgezeichneten Ruf in der Wissenschaft, sondern ist in der Schweiz eine angesehene Institution. Atmo ausblenden Sprecher In einer Empfehlung für das "Basel Commitee", einer Bankaufsicht führender Industriestaaten, haben Paul Embrechts und Wissenschaftler der "London School of Economics" bereits im Jahr 2001 davor gewarnt, Risiken strukturierter Finanzprodukte zu unterschätzen: " Statistische Modelle, die verwendet werden um Risiken zu bewerten, haben sich als widersprüchlich und unzureichend erwiesen. Sie unterschätzen die Folgen von Kursrückgängen bei unterschiedlichen Kapitalanlagen". Paul Embrechts und seine Kollegen kritisierten die zu niedrig angesetzte Risikoabsicherung. Aber ihre Warnungen gingen ins Leere. Die Märkte für Finanzinnovationen dagegen expandierten. O-Ton_03 In einer Zeit, als alles nach oben gegangen ist, da wird man leider als Mathematiker sehr oft als Bremsklotz angesehen! Don`t disturb the party! Sprecher Die Veranstalter der Party haben jetzt das Nachsehen. Insgesamt 45 Milliarden Schweizer Franken musste die Schweizer Grossbank UBS wegen Kreditausfällen auf dem amerikanischen Hypothekenmarkt im Jahr 2008 abschreiben. Um den internationalen Finanzplatz Zürich zu retten, hat die Regierung sie mit Staatshilfe in Milliardenhöhe vor dem Bankrott bewahrt. Atmo_02 Bahnhofstraße Zürich. Sprecher In der Züricher Bahnhofstrasse, einer verkehrsberuhigten Einkaufsmeile mit Luxusgeschäften, studieren Passanten im Schaufenster einer Schweizer Großbank Börsendaten. O-Ton_04 (Schweizerdeutsch) Das Geld ist weg! Aber jetzt behalten sie es alle zurück! Sprecher Trotz der Intervention der Regierung bleibt der Kreditverkehr eingefroren. Auf das Geschäft mit dem Luxus hat es sich hier noch nicht ausgewirkt. Die neue Kollektion des Juweliers neben dem Bankhaus, Diamanten eingefasst in ein Herz aus Gold, verkauft sich gut. Folgen der Finanzkrise sind hier noch nicht sichtbar. Atmo ausblenden Sprecher In seinen Vorlesungen hat Paul Embrechts die Risikoabsicherung für Kreditverbriefungen mit einer Deichhöhe verglichen, die so berechnet werden muss, dass sie Extremereignissen standhält. Die Jahrhunderflut im Februar 1953, in der nach schweren Stürmen an der niederländisch-belgischen Küste die Deiche brachen, reichte bis nach Schoten im Norden von Antwerpen, wo er geboren ist. Diese Ballung von Extremwetterlagen hatte damals niemand für möglich gehalten. Das Unvorstellbare wurde Realität - diese Erfahrung war ihm ein Menetekel. Eine Konsequenz aus der Finanzkrise ist für Paul Embrechts nun, dass es nicht reicht das Verlustrisiko einzelner Kreditverbriefungen zu berechnen, sondern dass die von außen einwirkenden Faktoren berücksichtigt werden müssen. Kommt es wie im Fall der Immobilienkrise in den USA zu großen Ausfällen bei der Tilgung von Krediten, beeinflussen sie ganz entscheidend den Wert anderer Kreditpositionen, die nicht einmal in direkter Verbindung zur Immobilienkrise stehen müssen. O-Ton_05 Diese Konstruktion einer finanziellen Deichhöhe: Man kennt die Schwächen jetzt. Dass sie eine Approximation geben im Normalfall, aber wenn es schief geht, dann sind die Zahlen nicht wirklich von Nutzen. Aber natürlich die Sturmtiefen, die sind zu behandeln und man kann sagen: Nein, wir haben gewisse Schranken. ich möchte nicht eine bestimmte Überkomplexität von Produkten haben. Und nicht-mathematisch: Ich möchte nicht eine Entlohnung haben, wo Trader sich absichern können nach unten, aber keine Probleme nach oben! Sprecher Paul Embrechts gehört zu dem Kreis international renommierter Mathematiker, die die Methoden in der Finanzmathematik in den letzten zwanzig Jahren entwickelt haben. Als er 1989 auf den neu geschaffenen Lehrstuhl für Finanzmathematik an der ETH Zürich berufen wurde, begannen die Banken gerade damit eigene Entwicklungsabteilungen für die Modellierung von Derivaten aufzubauen. Ein Grundgedanke der Finanzmathematik beruht auf der Erkenntnis, dass Aktienbewegungen auf den Finanzmärkten den Gesetzen des Zufalls folgen und sich mit Methoden der Stochastik beschreiben lassen. Diese Theorie hat der französische Mathematiker Louis Bachelier vor über hundert Jahren erstmals formuliert. Aber erst in den 1960er Jahren wurde seine "Theorie der Spekulation" wieder aufgegriffen und weiterentwickelt. Die Auf- und Abwärtsbewegungen einer Aktie über einen bestimmten Zeitraum als einen stochastischen Prozess zu betrachten, war eine vollkommen neue Sichtweise im traditionellen Bankgewerbe. Dadurch war es möglich eine Wahrscheinlichkeitsverteilung zu ermitteln und eine Prognose zu stellen, in welchem Rahmen sich die Aktie auch in der Zukunft bewegen könnte. Solche Berechnungen von Annäherungswerten waren für für die Finanzwirtschaft von grossem praktischen Nutzen und weiterhin erschlossen sich mit den mathematischen Methoden der Stochastik und der stochastischen Analysis vollkommen neue Anwendungsgebiete. Die Zusammenarbeit mit den Banken in der Anfangsphase verlief für Paul Embrechts sehr positiv. O-Ton_06 Diese zwei Gebiete Applied Finance and Mathematics haben eine ganz schöne Synergie gehabt. Und da hat es in den 80er und 90er Jahren bis Anfang 2000 eine Entwicklung gegeben, wo wirklich eine ganz schöne Symbiose zwischen beiden stattgefunden hat. Und was jetzt passiert ist, das ist meine These, ist sicher, dass seit einigen Jahren schon in angewandte Finance von akademischen Methoden in Finance sich getrennt haben. Und sie haben sich getrennt wegen ihrer Erfolge! Sprecher Ortswechsel. Die Humboldt-Universität in Berlin hat an ihrem Institut für Mathematik ebenfalls Finanzmathematik als Forschungsschwerpunkt etabliert. Dirk Becherer hat dort seit dem Jahr 2008 eine Professur für stochastische Analysis. Mitte der 1990er Jahre, während seines Studiums der Wahrscheinlichkeitsrechnung, erlebte er selbst die Faszination, die von den Erfolgen der Finanzmathematik ausging. O-Ton_07 Was ich spannend fand war, dass man dort die zufällige Entwicklung naturwissenschaftlicher oder wirtschaftlicher Phänomene beschreiben kann. Das ist eine spannende Mathematik, es ist eine schöne Mathematik, die auch recht jung ist. Und der Austausch in Forschungskooperation mit Wirtschaftswissenschaftlern an der Uni oder auch ehemaligen Kollegen in der Finanzwirtschaft, das ist etwas sehr motivierendes gewesen. Sprecher Dirk Becherer sieht den grossen Erfolg der Finanzmathematik in der Risikominimierung, dem Hedging. Dass ausgerechnet mit Instrumenten der Mathematik Finanzrisiken nicht minimiert, sondern in einer bisher nicht gekannten Größenordnung geschaffen wurden, betrachtet er mit großer Distanz. Die Ursachen dafür liegen seiner Meinung nach nicht bei der Wissenschaft. O-Ton_08 Die gegenwärtige Krise ist ja vor allem entstanden im Kreditderivatebereich. Das Hauptrisiko ist dabei wie stark diese Kredite in ihren Ausfällen voneinander abhängig sind. Fallen diese Kredite in großem Umfang alle gleichzeitig aus, z.B. in einer Immobilienkrise, dann sind die vermeintlich sicheren Wertpapiere plötzlich sehr viel riskanter als die Modelle es vorher vielleicht angezeigt haben. Das Problem ist, dass die Bewertung dieser Derivate auf der Modellseite von Annahmen abhängt und diese Annahmen sehr empfindlich reagieren auf eine Änderung. Und es ist die Verantwortung vom Management auf allen Entscheidungsebenen kritisch zu reflektieren, welches Modell sie benutzen und wie stark das abhängt von den Annahmen, die man reinsteckt. Man muss die Modelle in einer robusten Form benutzen und man hat dort zu viel Vertrauen in die Modelle gehabt. Oder: Man hat eigentlich nicht so genau wissen wollen, was vielleicht eine Begrenzung von einem über lange Zeit sehr profitablem Geschäft zur Folge hätte. Atmo_03 Drehtür, Fussgänger Sprecher Rushhour am Finanzplatz Frankfurt. Die Angestellten kommen aus den Drehtüren der hohen Banktürme und machen sich auf den Weg nach Hause. `Jeden Tag kommt eine neue Hiobsbotschaft, man kann auf nichts mehr vertrauen`, kommentiert einer die Situation. Die Selbstgewissheit, Risiken beherrschen zu können, ist in eine große Verunsicherung umgeschlagen. Atmo offen Sprecher Auf dem Gehweg vor dem Euro-Tower der Europäischen Zentralbank steht eine eilig geparkte graue Limousine mit Regierungskennzeichen. Am nächsten Tag wird in den Zeitungen zu lesen sein, dass die EZB den Leitzins auf ein historisches Tief gesenkt hat. Billiges Geld soll die Kreditvergabe wieder in Fluss bringen und die Finanzmärkte aus ihrer Schockstarre lösen. Atmo_04 Discoatmosphäre Sprecher Im Frankfurter Börsenkeller beginnt die Afterwork Party. Adrett, in dunklem Anzug, der Schlips in hellblau oder gelb - die jungen Banker kommen direkt von ihrem Arbeitsplatz. `Die mathematischen Annahmen, auf denen die strukturierten Finanzprodukte basieren, waren nicht ausgereift`, ist auch hier zu hören. Aber nur einer spricht offen darüber, allerdings ohne seinen Namen zu nennen. Er ist 30 Jahre alt, hat Wirtschaftsmathematik mit Schwerpunkt Finanzmathematik studiert und gehört zu den gut bezahlten "Quants", den Finanzanalysten, die mit mathematischen Methoden arbeiten. O-Ton_09 Auf der aktienstrukturierten Zinsseite haben sich die Modelle als relativ stabil bewiesen und auch in Bezug auf die Vorhersagbarkeit der Risiken. Aber auf der Kreditseite sind die strukturierten Produkte so komplex, dass durch die zur Verfügung stehenden Modelle die Risiken nur sehr ungenau und approximativ eingeschätzt werden können. Aus meinem Studium weiss ich, dass es Ansätze gibt den rational denkenden Menschen anders zu modellieren, im Sinne von dass er nicht die komplette Transparenz kennt. Aber das steckt noch in der Anfangsphase. Ich glaube nicht, dass das in den nächsten Jahren zum Einsatz kommt. Das ist noch in den Kinderschuhen. Und besonders in der totalen Intransparenz, was soll man da modellieren? Niemand hat letztendlich gewusst, was er gekauft hat in den Papieren und das ist eigentlich absolut irrational. Letzten Endes steht nur der schnöde Mammon dahinter, der das alles gemacht hat. Das kann man nicht anders sagen. Musik ausblenden Sprecher Allein zehn deutsche Banken haben auf Grund von Kreditausfällen im Jahr 2008 Abschreibungen in Höhe von über 50 Milliarden Euro vornehmen müssen. `Niemand hat gewusst, welches Risiko er gekauft hat`, sagt der junge Banker aus Frankfurt über Kreditderivate. Diese Finanzprodukte, die sich jahrelang als innovative, hochprofitable Anlagen verkaufen liessen, waren vor ihrer Einführung in den Handel nicht ausreichend geprüft worden. Selbst bei Finanzaufsichtsbehörden, die die Emissionen genehmigten, fehlte es an Risikobewusstsein. Es bestand auch kein Erklärungsbedarf in der Öffentlichkeit wie im Fall anderer Risikotechnologien, wie z.B. der Gentechnik. Mit diesem Gebiet befasst sich der Naturwissenschaftler Stephan Böschen, Mitarbeiter des Forschungsprojekts "Wissensfolgenabschätzung". Die Finanzkrise hat er bisher nur in der Presse verfolgt und mit Erstaunen festgestellt, wie ähnlich die Mechanismen funktionieren, Risiken systematisch zu unterschätzen. Der ökonomische Druck verhindert, dass Innovationen auf mögliche Nebenfolgen getestet werden und es kommt hinzu: Der zeitliche Abstand zwischen Grundlagenforschung und der technisch- industriellen Anwendung wird immer kürzer. O-Ton_10 Das ist natürlich ein Punkt, der in der Zwischenzeit immer stärker reflektiert wird. Wie soll man das bisher Unerkannte denn erkennen? Mit welchen Mitteln gelingt es legitime Randbedingungen zu schaffen, um das Nichtwissen der Wissenschaft, vormals Garantin des Wissens, gesellschaftlich zu verarbeiten, in dem Fall risikopolitisch verarbeiten? Weil man an Hand von Risikolagen gesehen hat, wie Finanzkrisen, dass vielfach schon mehr gewusst wurde, als man gedacht hat. Aber zugleich bestimmte Bedingungen dazu geführt haben, dass man es gesellschaftlich dann doch nicht gewusst hat. Es sich zumindest nicht in den Entscheidungen niederschlagen konnte, zu einer vorzeitigen Regulierung beigetragen hätte. Sprecher Forschungsergebnisse werden negiert - diese Erfahrung hat Jan Pieter Krahnen, Professor für Kreditwirtschaft und Finanzierung an der Frankfurter Goethe Universität erst jüngst gemacht. Er lehrt am "House of Finance", das im Sommer 2008 auf dem Campus Westend eingeweiht wurde. Atmo_05 Ruhe, Schritte Sprecher In Form von Public Private Partnership kooperiert die Universität mit der Finanzwirtschaft. Die hat in der Ära des Booms offensichtlich großen Wert auf die Ausstattung des Hauses gelegt. Das Foyer ist mit Marmorboden ausgelegt und schwarzen Ledersesseln möbiliert. Die Hörsäle sind nach deutschen Banken benannt, die eigens dafür Geld gespendet haben. Dabei haben sie sich zu diesem Zeitpunkt wahrscheinlich nicht vorgestellt, dass sich das Blatt der Geschichte wenden und auf ihren Namen wenig Glanz fallen wird. Atmo Schritte Sprecher Der Finanzboom hatte gerade begonnen, es war um das Jahr 2000, als Jan Pieter Krahnen eine Antwort auf die einfache Frage suchte, warum Banken so hohe Gewinne mit dem Verkauf von Kreditverbriefungen erzielen. O-Ton_11 Ich behaupte nicht für unsere Untersuchung, dass wir die ganz große Krise vorhergesehen haben. Das einzige, was wir festgestellt haben, dass an diesem Markt die Wertschöpfung nicht aus den Quellen resultieren kann, die immmer behauptet worden sind. Wir wussten nicht, woher die Wertschöpfung kommt, aber nicht aus dem Risikotransfer oder besser Risikoteilung. Das konnte nicht das Argument sein. Sprecher Für seine Untersuchung musste sich der Wirtschaftswissenschaftler erst in die Techniken der Modellierung dieser Finanzprodukte einarbeiten, denn selbst für ihn, einen Spezialisten, war es schwierig diese neue Form der Kreditverbriefung genau zu verstehen. O-Ton_12 Dann bin ich bin damals auf Praktikertagungen gegangen, die mit großem Zulauf stattfanden, in Hotels mit hunderten Teilnehmern, die alle aus der Industrie, Bankindustrie kamen und berichteten mit welch großem Erfolg sie die sogenannten Verbriefungen von Krediten vornahmen. Die Technik wurde dort erläutert und es wurde nach weiteren Marktausweitungen gesucht. Meine erste Begegnung auf diesen Tagungen mit Vertretern dieser neuen Technik war so, dass einerseits sehr schnell klar wurde, dass es eine faszinierende vollständig neue Herangehensweise an das Kreditgeschäft ist und andererseits das Verfahren, das der ganzen Produktion zu Grunde liegt, sehr kompliziert sein muss. Sprecher Die neue Herangehensweise beruhte auf der Idee "aus Schulden Gewinn machen". D.h. wenn eine Bank einen Kredit vergibt, dann behält sie das Risiko nicht, sondern gibt es über Kreditderivate weiter. Ihr Marktpreis wird mit mathematischen Methoden aus verschiedenen Parametern wie Laufzeit und Höhe der Risiken gebildet. Mathematisch gesehen lassen sich Risiken über ihre Verteilung minimieren. Doch in seiner Untersuchung kam Jan Pieter Krahnen zu einem anderen Ergebnis. O-Ton_13 Was in der Finanzmathematik vermutet worden war, je breiter die Risiken gestreut werden und je mehr Risiken verteilt werden umso stabiler wird das gesamte System, weil es auf mehreren Schultern liegt, von mehr unabhängigen Akteuren gehalten wird; - was wir herausgefunden haben, bleibt das Risiko nicht konstant, sondern steigt. Sprecher Kredite kannte Krahnen ursprünglich als ein dauerhaftes "Halten auf dem Buch". D.h. die Bank musste den vergebenen Kredit in ihrer Bilanz zu einem gewissen Teil mit ihrem Eigenkapital absichern. Eine Risikoabsicherung war qualitativ gut, wenn die Bank das sogenannte "First Loss Piece" , d.h. die ersten Verluste aus einem Kredit mit ihrem Eigenkapital absicherte. Sie hatte deshalb auch ein Interesse den Kontakt zum Kreditnehmer nicht aus dem Auge verlieren. Doch mit einer neuen Klasse von Kreditverbriefungen, den sogenannten CDOs, Collateralized Debt Obligations, veränderte sich daran etwas ganz geräuschlos. O-Ton_14 Etwa ab 2005 häuften sich die Hinweise, dass Banken in manchen Fällen, wir wussten nicht in wie vielen; man muss immer dazu sagen, die Informationslage ist desaströs, es gibt keine Informationen über den Verkauf oder Einbehalt von Tranchen - jedenfalls stellten wir fest durch Einzelbeobachtungen, dass Banken anfingen die First Loss Pieces nicht einzubehalten, sondern zu verkaufen Und auch noch stolz berichteten, welche hohen Erträge sie damit realisierten. Und das hat uns alarmiert. Sprecher "Buy and Hold", kaufen und halten war gestern, gab der damalige Vorstandsmitglied der Hypo Vereinsbank Martin Kemmer, zuständig für das Risikomanagement, die neue Richtung an. Er empfahl aus Kreditabteilungen, wo altgediente Bankangestellte darauf schauten, dass Kredite rechtzeitig getilgt werden, "Profit-center" zu machen. Die Ratingagenturen bewerteten diese Derivate weiterhin mit Bestnoten, dem Triple A. Das war der Wendepunkt, denn Jan Pieter Krahnen stellte fest, dass die Ratingagenturen mit ihren Risikoanalysen, die auf rein statistischen Berechnungen basierten, den Qualitätsverlust durch den Verkauf des "First Loss Piece" überhaupt nicht erfassten. O-Ton_15 Unsere Untersuchung hat gezeigt, dass die Institute, die sich im Risikotransfer engagieren nach einer solchen Aktion riskanter sind als vorher. Also mehr Risiko auf sich laden. Es war auch "nur" ein empirisches Ergebnis mit begrenztem Datensatz und allen möglichen Einschränkungen. Aber mittlerweile würde ich sagen: Das ist das, was tatsächlich passiert ist. Sprecher Die Veröffentlichung der Untersuchung über systemische Risken im Kredithandel hätte die Frankfurter Bankenwelt alarmieren müssen. Aber nichts dergleichen geschah. Niemand interessierte sich dafür, auch nicht die Europäische Zentralbank in Frankfurter Euro-Tower, die sich als Hüterin der Stabilität versteht. Das änderte sich erst, als sich im Herbst 2007 die Anzeichen einer Finanzkrise verdichteten. O-Ton_16 Man kann natürlich fragen, warum diese einfache Tatsache in den finanzmathematischen Modellen so gar nicht berücksichtigt worden ist, weder bei den Ratingagenturen, noch bei den Strukturieren bei den Banken. Die einzige Erklärung, die mir gekommen ist hat etwas mit dem Kulturunterschied zu tun zwischen den Strukturieren, die in der Regel aus der Finanzmathematik gekommen sind oder aus der Physik und der Kultur, die im eigentlich zu Grunde liegenden Bankgeschäft herrscht. Und diese beiden haben im Grunde nie gelernt miteinander zu reden. Das ist auch sehr schwer. Die Sprache der Mathematik ist hoch abstrakt und komplex. Die Sprache der Bankpraxis ist sehr bodenständig, einfach, resultiert aus Erfahrungen, die sich gar nicht so leicht in Modelle fassen lassen. Atmo_06 Frankfurt / Übergang Kaffeebar Sprecher Eine Lounge im Frankfurter Finanzviertel. Sie liegt an der Ecke einer von Bankentürmen verschatteten Strasse. Anlageberater, Analysten, Controller kommen auf einen Becher Kaffee mal schnell vorbei. Zwischen der Royal Bank of Scotland, Morgan Stanley und Deutscher Bank gibt es ausser dieser beliebten Wärmestube so gut wie nichts anderes. Gleichförmig wie die Bankentürme, die sich nur in ihrer Höhe überbieten wollen, so eindimensional auf Optimierung und Maximierung ihrer Gewinne ist die Finanzbranche ausgerichtet. Der Herausforderung eine Innovation weiter zu entwickeln, war sie mit diesem beschränkten Denken nicht gewachsen. Atmo ausblenden Sprecher `Wissenschaftler haben versäumt die Öffentlichkeit über Grenzen, Schwächen und Gefahren der Finanzmodelle in Kenntnis zu setzen`, dieses Fazit zogen Finanzmathematiker und Ökonomen aus den USA, Frankreich, Dänemark und Deutschland, die sich im Rahmen der "Dahlem Konferenz", einem Wissenschaftsforum für Zukunftsfragen im Dezember 2008 in Potsdam getroffen haben. Bei diesem Workshop ging um die Frage, mit welchen Methoden soziale Prozesse mathematisch erfasst werden können. Für die Finanzmathematik stellt es ein schwieriges Problem dar, die Interaktion von Marktteilnehmern, von Käufer und Verkäufer in die Modellierung von Finanzprodukten einzubeziehen. Die ursprüngliche Theorie der Spekulation beruht auf dem Gesetz des Zufalls. Mit diesem naturwissenschaftlich begründeten Gesetz lassen sich jedoch nicht soziale Prozesse wie die Interaktion von Marktteilnehmern beschreiben, die mit ihrem Verhalten ebenfalls Einfluss auf die Wertentwicklung eines Finanzprodukts nehmen. In den 1970er Jahren haben die Wirtschaftswissenschaften komplexe soziale Prozess formalisiert und sich auf die Annahme des "rational handelnden Marktteilnehmers" verständigt. Auf diesem Axiom basieren viele Standardmodelle in der Finanzmathematik, obwohl es die Realität nur unzureichend beschreibt, kritisierten die Teilnehmer des Dahlem-Workshops; unter ihnen der Ökonom Thomas Lux, Professor an der Christian-Albrechts-Universität in Kiel. O-Ton_17 Die Haltung konnte sich so durchsetzen, weil sie relativ handhabbare Modelle zu generieren vermochte und damit auch eine ganze Klasse von Modellstrukturen, die in sich konsistent waren. Die nicht unbedingt in Übereinstimmung standen mit der Realität, aber eine sehr attraktive innere Kohärenz aufgewiesen haben und in der Anwendung durch die Öffnung neuer Märkte gewinnbringend waren. Sprecher Der Zusammenbruch spekulativer Märkte zwingt die Wissenschaftler ihre Annahmen zu überprüfen. Für Thomas Lux eine erfreuliche Begleiterscheinung der Krise, denn jetzt erhalten wissenschaftliche Untersuchungen Aufmerksamkeit, die bisher negiert wurden. O-Ton_18 Gewissermaßen haben wir uns abseits vom Hauptstrom bewegt, in dem wir uns schon lange beschäftigt haben mit Theorien des Herdenverhaltens, spekulativer Aktivitäten, spekulativer Überreaktion, die zu Blasenentwicklung und zu Zusammenbrüchen führt. Ich denke so etwas sollte in Zukunft ernster genommen werden, sollte stärker in den Hauptkanon des Faches übernommen werden, sollte nicht auf Grund fehlender Rationalität der im Modell Handelnden ausgeschlossen werden. Sprecher Die Teilnehmer des Dahlem-Workshops waren sich der Brisanz ihres Themas `Gibt es eine Mathematik des Sozialen?` sehr wohl bewußt. Angesichts der Auswirkungen der Finanzkrise, angefangen bei der steigenden Arbeitslosigkeit, diskutierten sie über die Verantwortung des einzelnen Wissenschaftlers. Stellt er nur Instrumente zur Verfügung? Ein Ethikcode wurde vorgeschlagen, berichtet Thomas Lux, der Wissenschaftler verpflichten soll, die Öffentlichkeit über mögliche Risiken seiner Forschungsergebnisse aufzuklären. O-Ton_19 Worum es in der Konferenz ging, ist auch die Verantwortung des Mathematikers für das, was er der Gesellschaft gibt an Ergebnissen, an Modellen. Und ich glaube, das ist zu kurz gekommen in der Vergangenheit. Dass man klar macht, was wirklich die Annahmen sind, was die Güte des Modells ist in Bezug auf die Beschreibung der empirischen Realität, was die Stärken und Begrenzungen der Modelle sind. Atmo_07 ETH Eingangshalle, Stimmen Sprecher Zurück an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich. Paul Embrechts hat frühzeitig davor gewarnt die Risiken mathematisch modellierter Finanzprodukte zu unterschätzen und er ist einer der ersten Mathematiker, der die Frage nach der Verantwortung nicht ausklammert. Aber eine eindeutige Antwort wollte auch er nicht geben. O-Ton_20 Es klingt so ein bisschen wie "what did you do during the war"! Ich betone noch einmal: Die Mathematik hat nur einen kleinen Einfluss gehabt. Sie war Teil dieser ganzen Entwicklung. Aber wenn Sie die Mathematiker unabhängig sehen möchten von Juristen, Ökonomen, Broker, Kunden, Politiker, dann ist das falsch. Man kann die einfach nicht auseinanderziehen. Wenn Sie es doch sehen möchten, wenn sie nur diesen mathematischen Einfluss sehen, dann haben Mathematiker sicher jetzt in den Banken, die die Produkte mitentwickelt haben, zu wenig beobachtet, was die zugrunde liegenden makroökonomischen Bedingungen sind, unter welcher sich Preise und Absicherung lösen lassen. Das haben sie nicht berücksichtigt oder zu wenig! Sprecher Die Mathematiker in den Banken werden wiederum der laxen Finanzaufsicht die Verantwortung zuschieben. Einer weist auf den anderen. Atmo ETH Eingangshalle, Stimmen Ende 1