COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. DEUTSCHLANDRADIO KULTUR: LÄNDERREPORT/ SENDUNG: 18.4.2011 Aufgehobene Dinge - ein Frauenleben in Ost-Berlin Eine Ausstellung im Dokumentationszentrum Alltagskultur in Eisenhüttenstadt Länge: 19:58 Autorin: Mandy Schielke Redaktion: Heidrun Wimmersberg ___________________________________________________________________ Atmo: "In Kürze erreichen wir Eisenhüttenstadt" Autorin: Andreas Ludwig ist Historiker aus West-Berlin. Seit Anfang der 90er Jahre fährt er jeden Morgen nach Eisenhüttenstadt an die polnische Grenze. In eine Stadt, die in den 50er Jahren auf dem Reißbrett entstanden ist. Eisenhüttenstadt galt als die "erste sozialistische Stadt der DDR." Der 57-Jährige Historiker aus Westberlin hat dabei zugesehen, wie die DDR in Eisenhüttenstadt nach und nach verschwand. Währenddessen hat er das Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR aufgebaut. Ein ungelenker Name für einen Ort, der das Lebensgefühl eines verschwundenen Landes archivieren soll. Irgendwann dann kam diese Geschichte - durchs Telefon. O-Ton Andreas Ludwig 0.38: Wir haben vor gut fünf Jahren einen Anruf bekommen, einen Nachlass einer Frau in Ostberlin zu übernehmen. Autorin: Den Nachlass von Frau P., einer Sekretärin, die Jahrzehnte lang allein in einer kleinen Wohnung lebte. Die Ostberlinerin kaufte was ihr in die Hände fiel, bewahrte auf, sortierte und beschriftete: Sie konservierte ihr Leben in Gegenständen, sagt Andreas Ludwig. Er hat daraus eine Ausstellung gemacht. Titel: Aufgehobene Dinge - Ein Frauenleben in Ostberlin. O-Ton Andreas Ludwig: 0.59 plus 4.20 Wir sind nach Berlin gefahren, haben die Wohnung angeschaut einer Verstorbenen, voll gestopft mit Dingen, die sie im Laufe ihres Lebens erworben hat, die sie sorgfältig verpackt hat, in der Ein-Zimmer-Wohnung in Karlshorst, die so gefüllt war, dass es eigentlich nur ein Trampelpfad: von der Eingangstür zum Bad, zum Bett und in die Küche geführt hat. Wir waren zuerst als wir diesen Nachlass gesehen haben ganz erschüttert, ob der Masse, ob der Unvorstellbarkeit, wie jemand so viele Dinge erwerben kann und kein Messi zu sein, tatsächlich alles superordentlich zu haben und zu organisieren. Atmo: Schublade auf... O-Ton Andreas Ludwig: 52.16 plus 1.31.33 Hüte, Tücher, Schuhe, Einstecktüchlein, Taschentüchlein, Halstüchlein, Kopftücher. Autorin: Frau P. bewahrte Speisepläne aus der Betriebskantine auf, Monatskarten der Berliner S-Bahn, knapp 100 Sorten Briefpapier, Schreibhefte, Schalen, Döschen, das Einschlagpapier, mit dem ihre Schwester Westpakete von einem Deutschland ins andere schickte. Von Berlin Neukölln nach Berlin Karlshorst. Alles kam in Koffer, Kartons und Schachteln, alles wurde beschriftet. Frau P. war Ordnungsfanatikerin, die ihre Wohnung liebevoll in ein Lager verwandelt hat. Die Vollständigkeit ihrer Habseligkeiten macht ihren Nachlass zum Schatz, zum Schatz aus einer anderen Zeit, sagt Kurator Andreas Ludwig. Musikakzent: Holger Biege: Zwischenspiel (instrumental) Sprecher: Das Inventarbuch Autorin: Ein Ringordner in farblosem Einschlagpapier, keine Schnörkel, keine Abziehbildchen. Darin A5 Papiere: kariert, weiß, Zeilen aus der Schreibmaschine, handschriftliche Vermerke und Korrekturen mit blassblauer Kugelschreibertinte. Atmo: Kugelschreiber Sprecherin: Schwarz-weißer Pepiter-Koffer Doppelpunkt: Wiesen-Tüte mit weißem Pullover, langärmelige Fledermausärmel von Helga gestrickt. O-Ton Andreas Ludwig 24.55 plus 36.33: Diese Listen zu führen, das ist ihr Arbeitswerkzeug, ihre Orientierung, wo sie sich in ihrer Wohnung zurechtfindet und das wird fortlaufend mit großer Sorgfalt geführt. Musikakzent: Holger Biege: Zwischenspiel (instrumental) Sprecher: Das Strumpfaufbewahrungskästchen Autorin: Eine schmale Schachtel. Bespannt mit Blumenpapier. Zwölf Fächer durch Karton getrennt. In jedem Fach ein zusammengerollter Nylonstrumpf. Darum jeweils eine Banderole mit Aufschrift. Atmo: Kugelschreiber Sprecherin: Gut in Ordnung, Stelle an der Wade. Musik Holger Biege: Zuweilen kommt es vor...(Regie: kurz hoch dann unter Autorentext ausblenden) Autorin: Frau P. - Ilse Polzin wird 1919 in Berlin Mahlsdorf am östlichen Rand der Stadt in einen bürgerlichen Haushalt hineingeboren. Ein großes Haus. Der Vater höherer Angestellter, die Mutter Hausfrau. Sie wächst mit einer älteren Schwester auf. Anfang der 30er Jahre Ausbildung zur Stenotypistin. Sekretärin bei der NS-Volkswohlfahrt. Nach 1945 arbeitet Frau P. zunächst als Bauhelferin, so steht es in ihrem Arbeitsbuch, als Trümmerfrau, dann wieder als Sekretärin - ab Mitte der 50er Jahre in einem Exportbetrieb. Musikakzent: Holger Biege: Zwischenspiel (instrumental) Sprecher: Die Einladung O-Ton Andreas Ludwig 21.10 Sie bekommt eine Einladung zu einer Betriebsfeier, und das ist wiederum typisch für diesen Nachlass: Sie kommentiert diese Einladung, indem sie aufschreibt, wer zu diesem Anlass mit dem Aktivisten ausgezeichnet worden ist. Autorin: Eine schlichte Umschlagkarte, Einladung zum Betriebsjubiläum, VEB Dampferzeugnisbau in schwarzen Druckbuchstaben. Daneben protokollarische Notizen, handschriftlich. Atmo: Kugelschreiber Sprecherin: Auszeichnungen Aktivisten Doppelpunkt: Frau Pietsch, Fräulein Zitsche und Ina Friedrich. Mit Frau Krüger und ihrer Abteilung zusammen gegessen. Aperitif, Steak, 20 Uhr Modenschau, 21.30 Uhr Unterhaltungsprogramm. Doppelpunkt: Da war ich aber nicht mehr da. O-Ton Andreas Ludwig: 22.08 plus 24.55 plus 36.33 Sie protokolliert ihr Leben auf solchen Zettelchen und das macht sie fortlaufend. Sie brauchte Klarheit. Was sie einmal anfasst, wird konsequent durchgeführt. Die Listen sind ein Nachweis dafür, dass es keine Hierarchie gab, eine Liste ist unendlich und alles auf einer Liste ist gleich wichtig. Autorin: Eine Marotte, vielleicht auch eine Schwäche, denn Frau P. unterscheidet nicht - nicht zwischen wichtig und unwichtig, nicht zwischen Dingen, die ihr besonders nahe sind oder eben nicht ist. Bemerkungen zu Lieblingshandtaschen, Lieblingshüten oder gar Lieblingsmomenten lassen sich in ihrem Nachlass nicht finden. Keine privaten Äußerungen, selbst die Briefe, die Andreas Ludwig gelesen hat, verraten nichts von ihrem Innenleben. Sie hält sich an den Protokollstil. Aber Fotos, die gibt es - in der Ausstellung wohl der persönlichste Zugang zum Leben dieser Frau aus Ostberlin. Musikakzent: Manfred Krug: Baden gehen... Autorin: Da ist in der Ausstellung eine Aufnahme aus den 40er Jahren: Frau P. im Segelboot, nackter Rücken, ein starker Arm, der das Ruder hält. Den dazugehörigen Mann kann man nicht sehen. Frau P. lässt sich über einen sommerlichen See fahren dreht ihren Kopf zurück, lächelt in die Kamera. O-Ton Andreas Ludwig 32.37 Ne sehr gut aussehende Frau Autorin: Das Ufer ist hügelig. Das ist nicht der Berliner Müggelsee. O-Ton Andreas Ludwig 34.53 Vermutlich in Oberbayern, da haben wir Informationen bekommen, dass sie da gern zum segeln hingefahren ist. Musik: hoch & Kreuzblende in Schreibmaschine.... O-Ton Andreas Ludwig 37.27 Die beruflichen Fotos, da kann man sehr deutlich sehen, wie sich um sie herum die Welt verändert und sie bleibt die Sekretärin. Eine Büroaufnahme, an der Wand hängt Adolf Hitler. Das nächste Foto, auch eine Büroszene. An der Wand hängt Otto Grotewohl, erster Ministerpräsident der DDR. Dann gibt es ein Foto, wo sie zwischen 1949-1950 in einem kleinen Baubetrieb arbeitet. Da ist eine ganz typische, patriachiale Situation, dass der Chef samt Hund sich mitsamt seiner beiden Büromädels abbilden lässt, beide lächeln in die Kamera. Autorin: Anfang der 60er Jahre zieht Frau P. in ihre Ein-Raum-Wohnung in Berlin Karlshorst, in die Gundelfinger Straße und bleibt dort. Atmo: Hinterm Haus, Vögel zwitschern O-Ton Karl-Robert Schütze 5 Ich bin Dr. Karl-Robert Schütze, ich bin 1944 geboren und ich bin der Neffe. Frau P. ist meine Tante. Autorin: Der 66-Jährige hat die Alltagsansammlung seiner Tante geerbt. Er war es, der vor fünf Jahren in Eisenhüttenstadt angerufen hat. Jetzt sitzt der kräftige, große Mann auf einer Holzbank hinterm Miethaus in der Gundelfinger Straße, im dem Frau P. vierzig Jahre lang wohnte. Er blickt auf das schmucklose, dreistöckige Wohnhaus. Untypisch für die Gegend. O-Ton Karl-Robert Schütze: 5 32.35 Karlshorst ist ja eine Villenkolonie, hieß am Anfang des vorherigen Jahrhunderts mal das Dahlem des Ostens. Für besser gestellte Leute. Autorin: Nach 1945 lassen sich in Karlshorst die sowjetischen Besatzer nieder. O-Ton Karl-Robert Schütze: 5 32.35 Auf der anderen Seite der Treskow-Allee das war ja der Berliner Kreml oder so ähnlich. Autorin: In Karlshorst bekommt Frau P. Anfang der 60er Jahre eine 50-Quadratmeter- Wohnung angeboten. Sie greift zu, denn das Angebot in Ostberlin ist knapp. Die Wohnung ist außerdem nicht weit vom S-Bahnhof entfernt. Das hat die unternehmungslustige Sekretärin überzeugt, sagt ihr Neffe. Häufig fährt er mit seiner Mutter am Wochenende rüber in den Osten zu seiner Tante. Zum Kaffeetrinken. Eine Schwarz-Weiß-Fotografie in der Ausstellung zeigt Frau P. am offenen Wohnzimmerfenster in der Gundelfinger Straße: die Arme gestützt auf das Fensterbrett, den Kopf zur Seite geneigt. Sie trägt einen hellen, kurzärmeligen Pullover, lächelt nach unten in die Kamera. O-Ton Karl-Robert Schütze 13.43 plus 5 2.02 Wir sind wahrscheinlich gerade zu Besuch gekommen. War eigentlich eine sehr agile Frau, war ja immer berufstätig, eigentlich sehr bestimmt, jedenfalls, sagen wir mal, eigensinnig. Autorin: Von ihren emsig geführten Inventarlisten wissen Karl-Robert-Schütze und seine Mutter, Frau P.'s Schwester, nichts. Aber sie merken, wie es immer enger wird in der kleinen Wohnung. Es gab auch Streit darüber, erinnert sich der 66-Jährige. O-Ton Karl-Robert Schütze 2.58 Wir hatten oft den Eindruck, wenn wir hier zu Besuch waren während der Mauerzeit, also als sie nicht weg konnte...also es war leicht so, dass man irgendwie aneinander vorbei lebte. Dann hatten wir meistens, wenn wir abends zu Hause waren, noch einmal telefoniert und offenbar hat sie sich dann, wenn man weg war, hingesetzt und aufgeschrieben. Und man könnte sich fragen, ob nicht das eigentliche Erlebnis das war, wenn man sich hinsetzt und schreibt es zusammen - also nicht den eigentlichen Moment wahrnimmt, sondern erst später, wenn man es protokolliert. Autorin: Gut, familiär, nicht außergewöhnlich eng und innig - so beschreibt Karl-Robert Schütze, der mit seiner Mutter noch vor dem Mauerbau in den Westteil Berlins zieht, das Verhältnis seiner Mutter zu ihrer jüngeren Schwester. Trotzdem: An einem Sonntag im Monat trinkt man gemeinsam Kaffee in Karlshorst, in der kleinen Wohnung in der Gundelfinger Straße. Die Rolle der Gastgeberin lag meiner Tante nicht, sagt Karl-Robert Schütze. O-Ton Robert-Karl Schütze 7.59: Sie wollte es vielleicht gern, das will ich nicht bestreiten. Aber sie hat ja Gäste hier in der Wohnung nur dann gehabt, wenn es sich überhaupt nicht vermeiden ließ. Mit ihren Freunden hat sie sich in der Stadt getroffen. Musikakzent: Holger Biege: Zwischenspiel (instrumental) Sprecher: Das Kino-Programmheft "Spur der Steine" Autorin: Ein schlichtes, farbloses Heft. Auf dem Einband eine kleine Fotografie von Manfred Krug in der Rolle des aufmüpfigen Zimmermanns. O-Ton Andreas Ludwig: 1.17.08 Die Programmhefte gibt es bis in die Siebziger Jahre hinein in jedem Kino der DDR. Das ist eine Kurzbeschreibung des Films, kann man für zehn Pfennige kaufen. Hier hat sich das Programm für "Spur der Steine" erhalten, mit Werbeaufdruck: 20 Jahre DEFA 1966. Der Film Spur der Steine ist nach wenigen Wochen verboten. Autorin: Auf das Programmheft notiert Frau P. Atmo: Kugelschreiber Sprecherin: 1966 ist der Film leider gleich wieder vom Spielplan abgesetzt worden und da habe ich ihn nicht gesehen. Autorin: So nüchtern die Buchführung über ihre Erlebnisse und ihren Besitz auch sind, eine nüchterne, vielleicht sogar kühle Person scheint Frau P. nicht gewesen zu sein. Die wenigen Fotos aus Frau P.'s Nachlass jedenfalls erwecken einen anderen Eindruck. Sie war eine lebenslustige Frau, die kein Betriebsfest ausließ, sagt auch Andreas Ludwig. Man sieht Frau P. in der Ausstellung nicht nur beim segeln, sondern auch tanzend mit einem schlanken Mann im Anzug - vielleicht auch bei einem Betriebsfest aufgenommen. O-Ton Andreas Ludwig: 1.1.51 Frau Polzin ist sicherlich nicht das, was man eine sozialistische Persönlichkeit nennt, was das Erziehungsziel der SED war, wie jeder DDR-Bürger sich entwickeln sollte. Sie macht ihre Arbeit gut aber ansonsten hat sie ihre privaten Vorlieben, die liegen nicht in der politischen Arbeit. Autorin: Mitglied in der SED wird sie nicht aber eine hervorragende Werktätige das war Frau P., sagt der Andreas Ludwig, Kurator der Ausstellung "Aufgehobene Dinge - Ein Frauenleben in Ostberlin. Sie bekommt Auszeichnungen für gute Leistungen im Volkeigenen Betrieb. In einer Vitrine liegt eine Ehrennadel, die Frau P. anlässlich ihrer 25-jährigen Mitgliedschaft in der Einheitsgewerkschaft FDGB überreicht bekommen hat. Emsig organisiert sie Geburtstagsfeiern für ihre Kollegen und protokolliert auch hierbei sorgfältig, was sie zu welchem Preis fürs Buffet besorgt hat. O-Ton Andreas Ludwig 41.55 plus 6.07 Sie hat funktioniert, kann man sagen. Sie war sicherlich kein Freund der DDR, das entnehmen wir jedenfalls Bemerkungen ihrer Familie aber sie hat in diesem Land gelebt, sie hat sich auch nicht entscheiden können in den Westen zu gehen zu ihrer Schwester. Sie hat beruflichen Erfolg gehabt, fühlte sich wohl im Kollegenkreis und hat mitgenommen, was am Wegesrand lag. Sie ist insofern relativ typisch, weil man sie wahrscheinlich als Mitläuferin bezeichnen würde, wenn man sich mit Diktaturgeschichte befasst. Autorin: Sie passt sich also an und bleibt trotzdem distanziert. Wieder so ein Zwiespalt, der es den Besuchern der Ausstellung schwer macht, sich mit den herkömmlichen Klischees über das Leben in der DDR ein Bild von Frau P. zu machen. Dissidentin: nein. Opfer der Teilung: nein, denn sie wollte nie in den Westen, erzählt ihr Neffe. Überzeugte Sozialistin: auch nicht. "Kollektiv" ist für sie Geselligkeit und nicht politisch. O-Ton Andreas Ludwig 44.31 plus 56 23 Das Leben von Frau Polzin ist in diese gesellschaftlichen Rahmenbedingungen eingebunden ohne dass sie dazu in irgendeiner Form Stellung nimmt. Autorin: Und doch, sagt der Historiker, ist privates Leben eben immer verwoben mit politischen Kontexten. Dazu gehöre auch die, für die DDR typische, Vermischung von Arbeits- und Berufsleben. So wird Frau P. etwa Mitglied der Wandersportgruppe des Berliner Verlags. Betriebssportgruppe Rotation. Am Wochenende fährt sie mit ihr ins Berliner Umland. Spreewald, Märkische Schweiz... Musikakzent: Holger Biege: Zwischenspiel (instrumental) Sprecher: Der Brief Autorin: Ein handschriftlicher Zettel, vermutlich von einer Kollegin. Eine schwungvolle, symmetrische Bleistiftschrift. Atmo: Bleistift Sprecherin: Liebe Ilse, Sonntag 8.18 Uhr ab Karlshorst. Fahrkarten bis Seddin über Bergholz lösen. Frau Lindemann macht mit. Gruß Charlotte. Autorin: Nachträglich notiert Frau P. am unteren Rand der Notiz eine Zahl. Sprecherin: 1972 Autorin: Eine Zahl. Mehr nicht. Keine nostalgischen Gedanken, wie man sie manchmal in alten Fotoalben liest. O-Ton Andreas Ludwig: 1.20.58 Sie fährt in den Urlaub, subventioniert vom FDGB-Feriendienst. Das bekamen andere Familien so alle fünf, sechs, sieben Jahre. Sie hat das fast jährlich. Also auch nicht ungeschickt in der Ausnutzung ihrer Möglichkeiten. Und dann hebt sie alles, was mit den Ferien zu tun hat, in einem Briefumschlag auf. Autorin: Der Berechtigungsschein vom Feriendienst des FDGB, alle Postkarten und Souvenirs, die Fahrkarten von der Bahn. Und selbst die Papierstreifen zur Sitzmarkierung steckt Frau P. ein. Alles kommt in einen braunen Umschlag. Darauf notiert sie: Atmo: Kugelschreiber Sprecherin: Reise nach Mauerbach über Erfurt und Apolda. September 1958. O-Ton Andreas Ludwig: 59. 23 Nach einer Mangelphase des Wiederaufbaus setzt ab der zweiten Hälfte der 50er Jahre für etwa 15 Jahre eine deutliche Konsumorientierung ein, die 1971 unter Honecker wieder zurückgefahren wird und wo es dann wieder mehr um sozialpolitische Leistungen geht. Natürlich hat sich die DDR immer als sozialistische Gesellschaft verstanden, in der die Arbeit und die Persönlichkeitsbildung im Vordergrund stand und nie der Konsum. Während sich der Mensch in der Bundesrepublik viel stärker über die Möglichkeit des Konsums definiert. Autorin: Lag Frau P.'s Distanz zum Land, in dem sie lebte, also an ihrer Konsumorientierung? Nach allem was Andreas Ludwig über Frau P. in den vergangenen Jahren in Erfahrung bringen konnte, hatte sie nie die Absicht, ihren Besitz in eine Ausstellung zu verwandeln. Es gab niemanden für den Frau P. gekauft, sortiert und protokolliert hat - außer sie selbst. Atmo: Lautsprecheransage: Alexanderplatz Autorin: Am Alexanderplatz soll es damals ein Kunstgewerbegeschäft gegeben haben, erzählt der Kurator der Ausstellung Aufgehobene Dinge - ein Frauenleben in Ostberlin. Daran musste Frau P. auf dem Weg zur Arbeit jeden Tag vorbei. O-Ton Andreas Ludwig: Sie hat ein Faible für Bastarbeiten. Nie wird sie die alle benutzt haben. Allein die Anzahl der Körbchen, die sie hier hat für verschiedenste Gelegenheiten, würde ja dafür ausreichen, einen äußerst betriebsamem, bürgerlichen Haushalt - Tag für Tag, Woche für Woche bespielen zu können. Das ist das zwiespältige an ihr, dass sie Dinge kauft, die sie eigentlich nicht gebrauchen kann. Autorin: Schließlich kam das alles in ihrer zugepackten kleinen Ein-Raum-Wohnung nicht zur Geltung. Vielleicht sehnte sie sich nach einem bürgerlichen Leben, so wie es in ihrem Elternhaus in Berlin-Mahlsdorf geführt wurde, sagt Andreas Ludwig. O-Ton Andreas Ludwig: 1.09: 22 Sie steht einem großen Haus vor. Eine bürgerliche Existenz. Sie ist die Dame des Hauses. Sie empfängt die Gäste. Sie sorgt dafür, dass die Gäste sich wohl fühlen, ein bestimmtes kulturelles Niveau gelebt wird. Autorin: So erkauft sich Frau P. ein Leben, das sie nur in ihren Listen führen kann. Das ist die tragische Seite der Geschichte der Frau aus Ostberlin. Auffällig ist, dass es in der Ausstellung neben den unzähligen Alltagsgegenständen kaum Bücher oder Schallplatten gibt. O-Ton Andreas Ludwig: 1.18.58 Weil da müsste man ja zu Hause Zeit haben. Aber sie war unterwegs. Sie war wandern, sie war im Kino, in Restaurants, ist gern verreist. Zeit zu Hause zu verbringen, war wenig da. Diese Zeit wurde eher genutzt, um die Verwaltung ihres Besitzes zu betreiben und zu schreiben. Autorin: Frau P. stirbt 2004 in Berlin Karlshort. Ihr Neffe Karl-Robert Schütze und der Historiker Andreas haben ihre Habseligkeiten bis 1989 gesichert. Frau P.'s Begegnung mit der westlichen Warenwelt ist auf dem Müll gelandet. Musik: Holger Biege: Es gehen sie Tage.... ENDE 1