Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig © Deutschlandradio Deutschlandradio Kultur Funkhaus Berlin Hans-Rosenthal-Platz 10825 Berlin Telefon (030) 8503-0 KULTUR UND GESELLSCHAFT Organisationseinheit : 46 Reihe : LITERATUR Kostenträger : P 62 110 Titel der Sendung : Das tiefrote Leuchten über Maribor. Die slowenische Literatur 20 Jahre nach der Unabhängigkeit AutorIn : Godehard Weyerer Redakteurin : Dorothea Westphal/Wahlster Sendetermin : 20.12.2011 Regie : NN Besetzung : Sprecher (für Autorentext), Übersetzer (für Over- Voice), Zitator Das tiefrote Leuchten über Maribor. Die slowenische Literatur 20 Jahre nach der Unabhängigkeit Von Godehard Weyerer DEUTSCHLANDRADIO Kultur Literatur: 20.12.2011 Red: Dorothea Westphal/Wahlster Zug Geräusch SPR. : Sechseinhalb Stunden ist der Zug von München nach Ljubljana unterwegs. Entlang der Bergrücken erklimmt sich die zweigleisige Bahntrasse den beschwerlichen Weg hinauf zum Tauerntunnel. Lautlos gleiten schroffe Felsen, grüne Bergwiesen und herausgeputzte Fremdenverkehrsorte am Abteilfenster vorbei. Hinter Villach taucht der Zug in einen zweiten Tunnel ein, den Karawanken-Tunnel; die Einfahrt liegt auf österreichischem Gebiet, nach acht Kilometern: Slowenien. Von Balkan aber keine Spur. Die Landschaften sind so mitteleuropäisch wie die Städte, durch die der Zug rollt. Atmo 01: 1:09 (Stadt-Atmo) SPR. : Der Bahnhof von Ljubljana gleicht jedem anderen Empfangsgebäude aus der Epoche der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie. Erstes Hotel am Ort war das Grand Hotel Union, mit klassizistischer Fassade und einem schönen, im Stile der Wiener Kaffeehäuser ausgestatteten Café. Drago Jancars Stammlokal. CUT 1: CD 1 ? Zuspiel 3 0:30 (Jancar, slowenisch) Übers: Zur Zeit des realen Sozialismus trafen sich im Café Union die jungen Intellektuellen, Künstler und Schriftsteller und debattierten. Dabei tranken wir meist keinen Kaffee, sondern etwas anderes und wir diskutierten bis früh in den Morgen hinein, bis drei, vier Uhr in der Früh. SPR. : In Slowenien wird guter Wein angebaut. Sie tranken also Wein. Und manchmal Schnaps. Und sie diskutierten. Über viele Jahrhunderte hatten die Slowenen im eigenen Land nichts zu sagen. In Wien wurde über ihr Schicksal entschieden, später nach dem 1. Weltkrieg in Belgrad, der Hauptstadt des serbisch dominierten Königreichs. Dann kamen die Besatzer, erst die Italiener, später die Deutschen. Auch im kommunistischen Jugoslawien war Slowenien nicht mehr als eine Teilrepublik, die wichtigen Entscheidungen wurden in Belgrad getroffen. Drago Jancar stammt aus einer Arbeiterfamilie, sein Vater soll unter Tito General gewesen sein. CUT 2: 0:33 (CD 1 ? Zuspiel 4) Übers: Ihre erste Information stimmt. Mein Vater war Schlosser in einer LKW-Fabrik. Ich bin aufgewachsen in einem Arbeitervorort von Maribor, in Studenci, auf Deutsch Brunnendorf. Ein tief verwurzeltes, sozialdemokratisches Milieu prägte den Ort. Viel Armut herrschte in den Familien. Dort bin ich groß geworden. 0:32 Übers: Zu der zweiten, falschen Information, mein Vater sei ein General, ist es wahrscheinlich deswegen gekommen, weil mein Vater zum Widerstand gehörte. Er war Partisan und wurde von der Gestapo inhaftiert. Das war 1944. Genau dreißig Jahre später saß ich in demselben Gefängnis. Das war 1974. Mein Vater wurde von der Gestapo inhaftiert, ich von der jugoslawischen Geheimpolizei. SPR. : In jungen Jahren schwärmte auch Drago Jancar vom Partisanenkampf; später, als er von den Gräueln der Partisanen nach 1945 erfuhr, wurde er zum unermüdlichen Mahner. Er ist Verfechter der slowenischen Unabhängigkeit, er schreibt gegen das Vergessen. Seine Bücher werden mittlerweile ins Tschechische übersetzt, ins Ukrainische, ins Französische und Englische. Auf Deutsch erschien 1990 einer seiner ersten Romane, ?Nordlicht?. ?Nordlicht? spielt im Jahre 1938; ein Österreicher, in Maribor geboren und eigenen Angaben zufolge Kaufmann von Beruf, kehrt zurück in seine Geburtsstadt, die ein paar Kilometer hinter der Grenze zu Österreich liegt. Auffallend lange verweilt er in der Stadt, länger als für die Abwicklung der Geschäfte notwendig erscheint. Ein Spion? Die Identität des Protagonisten bleibt ungeklärt. Letztendlich verliert er sich in den Niederungen billiger Absteigen und halbseidener Lokale. Lange Jahre war der Roman in deutscher Übersetzung vergriffen. Seit Herbst 2011 liegt er wieder in den Buchläden aus ? gerade rechtzeitig, bevor Maribor 2012 Kulturhauptstadt Europas wird. CUT 03: 2-A) 536-576 0:45 (Jancar, slowenisch) Übers.: Es war ja einer meiner ersten ins Deutsche übersetzten Texte. Aber er wurde nicht sonderlich beachtet. Vielleicht stößt der Roman, weil Maribor Kulturhauptstadt ist, nun auf größere Aufmerksamkeit. Der Roman spielt am Vorabend des 2. Weltkrieges, der heraufziehenden Katastrophe, als sich italienische und deutsche Faschisten bemühten, die Welt zu retten. Am Ende war das bis dahin einvernehmliche Zusammenleben unterschiedlicher Völker nachhaltig zerstört. Ich denke, es wäre gut, wenn dieser Roman neu aufleben würde. SPR. : Detailreich beschreibt Drago Jancar Geschichte und Stadtbild Maribors. Er kennt die Stadt gut, es ist die Stadt seiner Kindheit und Jugend. Marburg hieß die Stadt während ihrer 500jährigen Zugehörigkeit zur k. u. k. Monarchie. Man sprach Deutsch. Man orientierte sich nach Wien. Von der Zweisprachigkeit hat Drago Jancar noch profitiert. CUT 04: 2-B) 301-323 1:06 (Jancar, deutsch) Das Nordlicht, das die friedlich kauernde Stadt am 25. Januar 1938 in Erregung versetzte und fast um den Verstand brachte, war nicht nur eine beeindruckende Lichterscheinung, sondern auch ein irdisches Ereignis, das sehr tief reichte und in diesen Tiefen noch lange nachbebte. Ein ungewöhnliches, riesig und machtvoll glühendes Himmelsleuchten erschien gestern Abend über ganz Mitteleuropa, berichtet am nächsten Morgen die Lokalzeitung. Die Menschen glaubten, dass irgendwo weiter weg ein Großbrand ausgebrochen sei, und alarmierten vielerorts die Feuerwehr. Dieses außerordentlich starke, dunkel- und tiefrote Leuchten wurde nicht nur bei uns beobachtet, sondern auch in Österreich, Ungarn, Bayern, in der Schweiz, es erstreckte sich über ganz Mitteleuropa. ... Überall verfolgten die Menschen die ungewöhnliche, Schrecken erregende Erscheinung höchst beunruhigt. CUT 05: 2-B) 36-66 0:37 (Jancar, slowenisch) Übers.: Ich glaube, dass ein Großteil der Literatur damit begonnen hat, sich mit irgendwelchen persönlichen, privaten und sozial randständigen Geschichten zu beschäftigen. Ich gehöre zu den letzten Vertretern einer Generation, die sich noch mit den Hintergründen großer Themen beschäftigen will. Wir haben in einer beengten Zeit gelebt, in einer Diktatur. Für uns Ältere waren Fragen der Gesellschaft und der Geschichte wichtiger, als sie es für die heutige Generation sind. SPR. : Jancar, der Sohn eines Partisanenkämpfers, hat eine Mission. Das Unrecht, die Rache, das Morden nach der Befreiung des Landes, als die Partisanen 1945 Tausende von Kollaborateuren oder solche, die sie hierfür hielten, in die Berge trieben, dort erschossen und in die Schluchten stießen, lässt ihn nicht los. Der Mord an 12.000 bis 14.000 Menschen ? Drago Jancar spricht sogar von 20.000 ? blieb ungesühnt. Bis heute. Sein Verdienst ist es, nach 1991 die unbequemen Dinge beim Namen genannt, das Verdrängte ins Bewusstsein der Öffentlichkeit gerückt zu haben. Bürgerkrieg herrschte damals in Slowenien. Die einen kämpften an der Seite der Partisanen, die anderen schlossen sich den Besatzern an und schworen ihren Eid auf Hitler. Beide Seiten schreckten vor Verrat, Folter, Hinrichtungen nicht zurück. Die Spuren des tiefen Misstrauens, sagt Drago Jancar, spalteten die slowenische Gesellschaft noch heute. Die jungen Autoren aber suchen sich mehr und mehr andere Themen. CUT 06: 2-B) 74-98 0:43 (Jancar, slowenisch) Übers.: Ja es ist ein Paradox, dass neuere Autoren eine mehr universale Literatur schreiben, beispielsweise eine urbane Literatur aus Ljubljana, die genauso kennzeichnend für Frankfurt, für Marseille oder Florenz wäre. Aber das ist beliebig und austauschbar. Ich glaube noch immer an eine Literatur, die an eine tiefe und typisch menschliche Erfahrung gebunden und in einen historischen Kontext eingebettet ist. Atmo 4: 1-B) 222-236 1:06 (Dom-Glocken) SPR. : Slowenien ist ein kleines Land. Maribor und Ljubljana liegen 120 Kilometer von einander entfernt. Und nicht weiter ist es von der Hauptstadt zu den Landesgrenzen nach Ungarn, Italien oder Kroatien. Peter Scherber ist aus Wien nach Ljubljana angereist und trifft sich mit seinem Kollegen, dem slowenischen Literaturwissenschaftler Marjan Dolgan. Auf dem Weg vom Dom, vor dessem Portal gleich drei Brücken über den Fluss Ljublanica führen, sind es nur ein paar Schritte zum Forschungszentrum der Akademie der Wissenschaften, in dem Marjan Dolgan lehrt und forscht. Nicht weniger als 300 Verlage, bestätigt Marjan Dolgan, hätte es in der kleinen, jugoslawischen Teilrepublik Slowenien gegeben. Nach 1991, nach der Unabhängigkeit, als verwirklicht war, worauf die Slowenen so lange warten mussten, nahm die Zahl der Verlage ab. CUT 10: 1-A) 337-387 1:01 (Dolgan, slowenisch) Übers.: Die Literatur in Slowenien besaß in hohem Maße eine national-emanzipatorische Funktion. Die Slowenen lebten jahrhundertelang unter der Herrschaft Österreich-Ungarns. Die Literatur ersetzte ihnen genau genommen eine Reihe von Institutionen, die sie nie hatten. Die Literaten waren zeitweise Ersatz für Heilige, zeitweise Ersatz für Kaiser und Könige, und sie waren Träger politischer Ideen und Programme. Die Slowenen verehrten ihre Schriftsteller, weil ihnen ein eigener Staat vorenthalten blieb. CUT 11: 9:31-10:04 0:35 (Scherber, deutsch) Man muss wissen, dass am Ende des 1. Weltkrieges die Slowenen vor allem raus aus dem Verband Österreich-Ungarns wollten, was damals möglich war. Das erste war das Königreich Jugoslawien, das als ersten Namen auch hatte Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen. Aber es war dann nicht so, es war serbisch dominiert gewesen. Man hat sehr bald gemerkt, dass man in diesem Verband, diesem ersten Jugoslawien bis 1941sehr wenig Rechte hatte. CUT 12: 10:05-10:28 1:27 (Dolgan, slowenisch) Übers.: Im sogenannten zweiten Jugoslawien, dem sozialistischen und, wie man sagte, selbstverwalteten Jugoslawien hatte das ausschlaggebende Wort die kommunistische Partei. Sie orientierte sich anfangs strikt und sehr konsequent an der Sowjetunion unter Stalin. CUT 13: 15:51-16:40 0:50 (Scherber, deutsch) Literatur wurde natürlich auch kontrolliert. Es war auch so, dass nicht nur die Emigrantenliteratur, die vor allem aus Argentinien kam, tabuisiert und verboten war, auch die Literatur in Triest, wo auch viele Slowenen leben, oder die Kärtner-Slowenen, da wurde nur reingelassen, was man für möglich hielt. Ein Musterbeispiel dafür ist das Schicksal Drago Jancars Anfang der 70er Jahre, als er ein Buch von Klagenfurt nach Maribor gebracht hat, das ihm vom Zoll requiriert wurde, deshalb wurde er drei Monate ins Gefängnis gesetzt. CUT 14: 20:00-21:14 1:11 (Dolgon, slowenisch) Übers.: Nach der staatlichen Selbstständigkeit 1991 gab es keine Verbote mehr. Über alles, konnte nun geschrieben werden. Und diese Themen arbeitet mit großer künstlerischer Überzeugungskraft Drago Jancar auf, also alle die Themen, die mit dem 2. Weltkrieg zusammenhängen und der Zeit danach. Natürlich ist da auch ein Generationsunterschied zu bemerken. Die älteren Autoren, die den Kommunismus erlebten, haben natürlich einen stärkeren Bezug zu historischen und politischen Themen, während sich die jüngere Generation, beispielsweise Andrej Blatnik, für diese Dinge nur am Rande interessiert. Sie schreiben über die Menschen heute und über ein Leben, das von Globalisierung und Kommerzialisierung geprägt ist. Atmo 6: 2-A) 90-114 1:28 (Cafe, Stimmen, Radio, Frauenstimmen, Markt) SPR. : Ljubljanas Stadtkern ist überschaubar. Das rechteckige Straßennetz hilft dem Besucher, sich schnell zurecht zu finden. Viele der historischen Gebäude erstrahlen im Glanz herausgeputzter und restaurierter Fassaden. Die Gründerzeit-Villa, die den slowenischen Schriftstellerverband beherbergt, fällt da ein wenig auf. Die Steinstufen, die zum Portal führen, ausgetreten; das Holz der zweiflügligen Eingangstür vom Sonnenlicht verblichen; ein Eck an der Fensterbank abgebrochen. Atmo 7: 2-A) 148-161 0:15 (Schritte auf Kiesweg) SPR. : Ein Kiesweg führt hinters Haus in den Garten. Unter dem dichten Blätterdach der Kastanien und Linden stehen Tische und Stühle eines Cafés. Ein beliebter Treffpunkt der rund 300 Schriftsteller und Übersetzer, die sich im Verband zusammengeschlossen haben. Andrej Blatnik wartet bereits. CUT 15: 2-A) 168-180 0:14 (Blatnik, slowenisch) SPR. : Von einer Schriftsteller-Kollegin, die gerade vorbeikommt, erfährt Andrej Blatnik, dass draußen im Garten in fünf Minuten eine Pressekonferenz anberaumt ist. Er schlägt vor, ins Haus zu gehen. Atmo 8: 2-A) 192-197 0:41 (Schritte auf Marmor, dann Holzdielen) SPR. : Das Foyer mit dunklem Holz-Paneel, der Boden mit Marmorplatten ausgelegt. Links die Tür zum Sekretariat, dahinter der Saal. Grün bezogene Stühle stehen in Reih und Glied vor dem Podium, das eingerahmt ist von weißen Bücherregalen, die bis unter die Decke gefüllt sind mit den Werken slowenischer Autoren. CUT 16: 2-A) 168-180 0:25 (Blatnik, slowenisch) Übers.: Hier versammelte sich die Bewegung, die 1991 zu einem selbstständigen Slowenien führte; hier artikulierten sich die ersten Proteste gegen die Verhaftung slowenischer Dissidenten; und hier wurde die erste slowenische Verfassung niedergeschrieben. Damals war der Saal immer zu klein für alle, die den Schriftstellern zuhören wollten, heutzutage ist er eher zu groß. SPR. : Andrej Blatnik wurde 1963 geboren. Ende der 70er Jahre war er Punkmusiker. Die Musik gab ihm und seinen Gleichgesinnten eine Plattform für Unmut und Kritik. Als 20jähriger veröffentlichte er seine ersten literarischen Texte. Später arbeitete er als Lektor in einem Verlag. Heute ist er Hochschullehrer. Vom Schreiben allein würde er wohl kaum leben können. Sein letzter, auf Deutsch übersetzter Roman kam 2009 in den Buchhandel ? ?Ändere mich? heißt er und erzählt von einer großen Liebe und dem Wunsch auszubrechen, eingebettet in eine Zeit, die weit in die Zukunft vorverlegt ist. Drago Jancar würde sagen, es sei einer dieser Romane, die wegen der Beliebigkeit und Austauschbarkeit von Ort und Zeit das Ende der spezifisch slowenischen Literatur einläutet. Andrej Blatnik stört sich nicht daran. CUT 17: 2-A) 421-444 0:25 (Blatnik, slowenisch) Übers.: Dieser Roman bezieht sich vor allem auf mein bisheriges Werk, das sich mehr mit mitmenschlichen Beziehungen beschäftigt. In diesem besonderen Fall habe ich die Notwendigkeit verspürt, die Handlung meines Romans in eine fiktive Zukunft zu verlegen. Aber nach 1991 war es auch an der Zeit, die Literatur von der Forderung zu befreien, immer politisch zu sein. Musik SPR. : Borut, Vater zweier Kinder, arbeitet erfolgreich in der Werbebranche. Er verlässt Hals über Kopf Monika, seine Frau. ZITATOR: Sie rief in seinem Büro an. Das tat sie sonst nie; fast nie. Die Arbeit war heilig. Das war die letzte intime Sphäre. "Guten Tag, hier Monika. Wissen Sie, was Borut gerade macht?" Boruts Sekretärin schwieg. "Ich meine, ich kann ihn nicht erreichen. Wissen Sie vielleicht - " Los, du Ziege, red' schon! Ich komme mir vor wie ein totaler Trottel, dass ich den eigenen Mann in seinem eigenen Büro suche - Endlich machte die Ziege doch den Mund auf. "Aber Monika - " "Ich höre." "Monika, wie soll ich das wissen? Borut arbeitet schon seit drei Monaten nicht mehr bei uns. Er hat sich selbstständig gemacht." Monika glaubte, ohnmächtig zu werden. Leg auf leg auf leg schnell auf - "Danke", sagte sie und legte auf. Du dumme Gans hast Danke gesagt, was für ein Fehler, du hättest zu ihr sagen müssen, oje entschuldigen Sie ich habe mich geirrt ich habe die alte Nummer angerufen oje wie bin ich zerstreut zu viel Arbeit Sie wissen ja. SPR.: Andrej Blatniks Roman ?Ändere mich? ist die Chronik einer gescheiterten Selbstverwirklichung. Zwar kehrt Borut letztendlich zur Familie zurück, doch im selben Moment verlässt Monika das gemeinsame Haus und die Kinder. Die Geschichte könnte eingestandenermaßen in Ljubljana wie in jeder anderen Stadt dieser Welt spielen, würde Blatnik auf die, wenn auch wenigen Bezüge zum eigenen Land und seiner zwiespältigen Geschichte verzichten. Zitator: In der nächsten Baracke lebten Afroserben. Als auf ihre Hauptstadt Bomben gefallen waren, hatten sie das Land, den Kontinent verlassen, waren nach Süden aufgebrochen und hatten sich in der Heimat eines freundlich gesinnten Diktators angesiedelt. Er hatte ihnen Heimatscheine verkauft und ihnen erlaubt, Anwesen zu erwerben, die von den weißen Ureinwohnern verkauft wurden (...) Doch waren dem Diktator die Einkünfte aus diesen Verkäufen nicht genug gewesen, (...) und so hatte er beschlossen, das Land ein zweites Mal zu verkaufen, diesmal an seine Bewohner. Den Afroserben erlaubte er gnädig, sich Ausreisevisa zu kaufen. ( ... ) Und so hatten sich etliche bis hierher durchgeschlagen, in diese sahneweiß gestrichenen Baracken, die von der Konditorenindustrie gesponsert wurden ( ... ) und warten auf den nächsten Krieg. Musik weg CUT 18: 24:30-25:01 0:16 (Blatnik, slowenisch) Übers.: Auf diesen Gedanken bin ich gekommen, weil ich in Simbabwe, was ja ein diktatorischer Staat ist, tatsächlich auf eine Gruppe von Serben gestoßen bin, die sich dort angesiedelt haben. SPR. : Andrej Blatnik entstammt einer Familie, die ohne Sozialismus nicht vorstellbar gewesen wäre. Sagt er. Die Mutter kommt aus gutbürgerlichen Verhältnissen, der Vater wuchs in ländlicher Armut auf. Und es scheint ihm, sie hätten auch heute wieder Schwierigkeiten sich zu begegnen. Eine Sehnsucht nach sozialistischen Zeiten will Andrej Blatnik daraus nicht abgeleitet wissen. Doch er registriert gerade unter jüngeren Menschen den Wunsch nach einem leichteren Leben, nach mehr Gelassenheit und Vergnügen, während den Slowenen schon immer der Ruf als die Preußen des Balkans vorauseilte. CUT 19: 24:30-25:01 0:33 (Blatnik, slowenisch) Übers.: Wir haben da einen sehr erfolgreichen Roman ??efurji raus!? von Goran Vojnovi?, der in Slowenien in großer Auflage verkauft wurde, und der so ein Leben beschreibt, nämlich die Geschichte des Sohnes eines Bürgerkriegs-Flüchtlings aus Bosnien, der wie viele Migranten in einer Vorstadtsiedlung Ljubljanas lebt. Er steht im ständigen Konflikt mit der eher geordneten westlichen Mentalität der Slowenen. Er will leben und Spaß haben. Und die pflichtbewussten Slowenen verstehen das nicht. SPR. : 20.000 Exemplare wurden von dem Buch verkauft. Das ist für das kleine Slowenien enorm. Goran Vojnovi?, der Autor, erhielt für sein Werk den Kresnik-Preis, die wichtigste literarische Auszeichnung des Landes. 2011 ist der Preis an Drago Jancar gegangen, als bisher einziger slowenischer Schriftsteller hat er ihn zum dritten Mal erhalten. Drago Jancar ist sich treu geblieben. Sein Roman, der in Slowenien ungefähr 2.000 mal verkauft wurde, mittlerweile in dritter Auflage in den Buchläden ausliegt, nimmt sich der Wirrungen und Irrungen der Kriegs- und Nachkriegsjahre an. Peter Scherber, der auf slowenische Literatur spezialisierte Wissenschaftler, hat ihn bereits gelesen. CUT 20: 1-A) 44-74 0:55 (Scherber) Das ist der Roman ?To noc (notsch) sem jo videl?, ich übersetze den jetzt schon mal so ins Deutsche ?Ich sah sie diese Nacht?. Es ist ein Roman genau aus dieser Zeit von 1938 bis 1945. Es ist die Geschichte von zwei Menschen, die auch gebeutelt werden durch diese Ereignisse. Die zentralen Figuren, eine Veronika und ihr Mann Leo, ein Großindustrieller, sie stammt auch wie man sagt aus gutem Hause. Diese Veronika will reiten. Ihr Mann vermittelt ihr einen Reitlehrer und beide verlieben sich ineinander. Dieser Reitlehrer ist ein Rittmeister aus der serbischen Kavallerie. Der Kavallerie-Major wird strafversetzt wegen dieser Affäre, und sie zieht mit ihm. SPR.: Die Liebe erkaltet in der Fremde; Veronika und Leo, nach der Befreiung der Kollaboration bezichtigt, werden von Partisanen im eigenen Schloss schrecklich dahingemetzelt. Drago Jancar, berichtet Peter Scherber, nennt es ein Schlachthaus. Die Rache war grausam. Atmo 9: 2-A) 10-18 0:57 (Straßen-Atmo, Cafe, Kind) CUT 22: 2-B) 392-413 0:18 (Jancar, slowenisch, in der Stadt) Übers.: Die Vergangenheit lebt noch in uns und dies besonders in einer Gesellschaft wie der slowenischen. Ein Teil der Geschichte ruht in Geschichtsbüchern, der größere Teil aber lebt in den Erinnerungen der Menschen weiter und schmerzt. Atmo 10: 2-A) 10-18 1:26 (Männer-Stimme, Moped, Markt) SPR.: Drago Jancar ist von seinem Büro am Kongressplatz die paar Schritte hinunter zum Fluss gegangen. An der Ufer-Promenade zeigt sich Ljubljana von der schönsten Seite. Steintreppen führen zur mittelalterlichen Burg hinauf. An beiden Seiten des Flusses laden Cafes und kleine Geschäfte zum entspannten Flanieren ein. Drago Jancar will mit seinen Romanen und Erzählungen die Leser aufrütteln, sie auffordern, über den eigenen Tellerrand zu blicken. Er will die Finger in die Wunden legen, die die Tito-Diktatur in die slowenische Volksseele geschlagen hat. Das Elitäre und die Schwere der ?großen? und ?tiefen? Literatur werde zu seinem Bedauern aber mehr und mehr ersetzt durch Kategorien wie Leichtigkeit, Lesbarkeit, Verkäuflichkeit. Für Drago Jancar bedeutet die Urbanität der neuen Literatur das Ende der spezifisch slowenischen Literatur. CUT 23: 2-B) 100-160 0:40 (Jancar, slowenisch) Übers.: Ja, das könnte so sein. Aber damit beginnt die Literatur langweiliger zu werden. Ich selbst habe schon mit dem Gedanken gespielt, mich von diesen historischen Themen, von diesen traumatischen Erinnerungen zu verabschieden. Aber nachdem ich meinen letzten Roman geschrieben habe, der jetzt in die dritte Auflage geht, merke ich, wie die Leute nach wie vor an der Zeit des 2. Weltkrieges und den Jahren danach interessiert sind. SPR. : Drago Jancar beschreibt die Verbrechen, die im Namen eines indoktrinären Antifaschismus verübt wurden, in ähnlich deutlichen und drastischen Worten wie das Liebesspiel zwischen der Lehrerin Zala und Aleksij, einem antikommunistischen Offizier der slowenischen Landwehr. Beide laufen sich 1943 in den Bergen vor den Toren Ljubljanas zufällig über den Weg. Die Begegnung bildet den Auftakt zu Jancars Roman ?Baum ohne Namen, der 2010 ins Deutsche übersetzt wurde. Aleksij, der nach dem Krieg nach Australien auswandert, führt Buch über sein Liebesleben. Die Aufzeichnungen landen schließlich auf dem Schreibtisch des Archivars Lipnik, der in Zala seine eigene Lehrerin wiedererkennt und deren himmelblaues Fahrrad ihm noch in Erinnerung geblieben ist. CUT 24: 2-B) 301-323 0:46 (Jancar, slowenisch, in der Stadt) Übers.: Jetzt stehen wir an der Ljubljanica. Einmal im Jahr holen Taucher aus dem Fluss Gegenstände, die die Menschen in das Wasser geworfen haben. Und an einem ruhigen sonnigen Samstagvormittag sieht mein Held zusammen mit seiner Frau, wie ein blaues Fahrrad aus dem Fluss gezogen wird. Später beschleicht ihn der Gedanke, dass dieses Fahrrad mit einigen historischen Ereignissen in Verbindung stehen könnte, auf die er kurz zuvor im Archiv gestoßen ist. Und es zeigt sich in der Tat, dass das Fahrrad einer jungen Frau gehörte, die während des 2. Weltkrieges in einem kleinen Ort in den slowenischen Bergen lebte. Und über dieses unscheinbare Ereignis treten wir ein in das Chaos der Geschichte. SPR. : In Rückblenden und Vorwegnahmen entwickelt Drago Jancar raffiniert gesponnene Handlungsstränge, in die sich der Archivar immer tiefer verstrickt, bis er sich selbst im abgelegenen Haus in den Bergen wiederfindet, wo Zala ihren Geliebten empfängt. Der Baum ohne Namen entspringt einem alten slowenischen Volksglauben, wonach sich der, der diesen Baum besteigt, Ort und Zeit entzieht. Nach dem Krieg war Zala dem üblichen Spießrutenlauf ausgesetzt, mit kahlgeschorenem Kopf jagte eine johlende Menschenmenge sie durch die Straßen. Später überkamen sie immer wieder Panikanfälle und sie riss sich selbst die Haare vom Kopf. Zala, verrät Drago Jancar, hieß auch seine erste Lehrerin. Mit politischen Gegnern und denen, die die Kommunisten dafür hielten, rechneten sie mit unerbittlicher Härte ab. In den Jahren nach dem Krieg herrschten Vergeltung und Rache. Die, die sich den Nazis angeschlossen und sich der Kriegsverbrechen schuldig gemacht hatten, wären unter regulären rechtsstaatlichen Verhältnissen, wie wir sie heute kennen, wohl zu Recht zu hohen Freiheitsstrafen verurteilt worden. Aber es gab auch Unschuldige. Sie sind es, die Drago Jancar zurückholen will ins öffentliche Gedächtnis. Woran er derzeit schreibt? Nein, das will er nicht verraten. Abergläubisch sei er. Nur so viel: Die Jahre seiner Jugend würden ihn interessieren, die Zeit in Maribor, der Stadt, in der über viele Jahrhunderte Slowenen und Deutsche friedlich neben- und miteinander gelebt hatten. CUT 25: 2-B) 246-268 0:30 (Jancar, slowenisch) Übers.: Es war ein sehr kompliziertes, verwickeltes Leben. Die Schicksale der Menschen waren miteinander verwoben. Das ist ein Thema, was noch über kurz oder lang auf mich wartet. Drago Jancar: Nordlicht. Folio-Verlag Wien, 2011; aus dem Slowenischen von Klaus Detlef Olof Andrej Blatnik: Ändere mich, Folio-Verlag 2009; aus dem Slowenischen von Klaus Detlef Olof 17