HINTERGRUND KULTUR UND POLITIK Organisationseinheit 39 Reihe Literatur Kostenträger P.3.3.03.0 Titel Ich bin nicht ganz so, wie ich scheine - Täuschen als Gesellschaftsspiel AutorIn Ursula Gassmann RedakteurIn Sigried Wesener Sendetermin 27.01.2019 (Whlg. v. 29.06.2004) Ton Regie Beatrix Ackers Besetzung Liv-Juliane Barine, Nadja Schulz-Berlinghoff, Ingo Hülsmann, Christian Standtke Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden, insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandfunk Kultur benutzt werden. © Deutschlandradio Restaurant-Atmo, Gläserklingen, gedämpfte Tafelmusik einblenden darüber Sprecherin: Darf ich vorstellen … Madame, Sie sehen heute wieder wunderbar aus, Madame … Zitatorin: Madame Mata Hari Sprecherin: Herr Gottfried Keller und Graf Strapinski Sprecher: Sehr angenehm. Harry Domela Sprecherin: Guten Abend, Hoheit! Einen trockenen Sherry, wie immer? Ah, ich sehe heute auch einige neue Gesichter. Interessant. Ist das nicht die berühmte Psychotherapeutin, die unseren F. von seiner Pseudologica phantastica befreit hat? … Zitatorin: Ganz unbekannt scheint mir auch der junge Mann in dunkelgrün an der Bar links neben Graf Cagliostro nicht zu sein. Die Haltung, das Lächeln und dieser welterfahrene Blick … in dem Alter! Wahrscheinlich IT-Branche … Zitator: Da kommt Felix Krull, elegant wie immer. Sehn Sie, dort an der Bar, der Herr mit dem Glas Champagner rosé, das ist der schöne Konsul. Er wartet sicher auf Comtesse von W. Sie soll seine neueste Errungenschaft sein … Geräusche und Musik langsam ausblenden Sprecher: leise wer mag das sein, die Dame im schwarzen Spitzenkleid, die hinter Manulescu … Eine illustre Gesellschaft aus Dichtung und dem „richtigen Leben“. Sie würden sich sicher viel zu erzählen haben: Die Dichter und ihre Schöpfungen und die Hochstapler und die, die sich einfach dazwischen gemengt haben. Sprecher: Einer der Spezialisten in Sachen Lebensgenuß und Hochstapelei ist der Schriftsteller Walter Serner. Wie er seinen Lebenswandel finanziert hat, liegt zum Teil immer noch im Dunkeln. In seinen Romanen und Geschichten erzählt er von kleinen Betrügern, die trotz scheinbar ausweglosen Situationen dem Leben ein Schnippchen schlagen. Sie ignorieren ihre finanziell-desolate Situation und spielen ihrer Umgebung etwas vor. Sie „tun so als ob“. Zitatorin: Sein und Schein bedingen sich in der Existenz des Glücksritters gegenseitig, und sind auseinander ableitbar, die zwei Seiten einer nicht vorhandenen Goldmünze. Sprecherin: Serner zeichnet seine Figuren in Momentaufnahmen ihres Daseins, gleichsam wie sie im Anrennen gegen eine chaotische Welt um die Ecke gehen und dann nicht mehr da sind. Eine seiner Kriminalgeschichten, Das Zéro beginnt so: Zitator: Mit Semmelhug wollte es, seit er in Stuttgart war, nicht vorwärts gehen. Schon nach acht Tagen hatte er das Hotel Marquardt mit dem Hotel Wörner vertauschen müssen und wenige Tage darauf dieses mit einem kleinen Zimmer in der Rosenbergstraße. Da er einsah, dass es mit ihm bald so weit sein würde wie vor fünf Jahren, als er, zu sehr seinem Glück vertrauend, plötzlich gepäcklos auf der Straße stand, überzählte er zähneknirschend den Rest seiner Barschaft: ´Fünfunddreißig Mark! Entsetzlich!` Wohl wissend jedoch, dass ein Zustand solch negativer Art am wenigsten dazu geeignet ist, eine miserable Situation durch einen schmucken Einfall zu sanieren, stieg Semmelhug resigniert auf die Straße hinunter, gleichsam um sich selbst aus dem Weg zu gehen. Sprecherin: Der existentielle Mangel an finanziellen Mitteln darf nie zur Resignation führen. Serner warnt vor einem „unbegabten Zustand“, in den Melancholie und Depression führen können. Luftige Gebilde“, positive Empfindungen sollte man sich schaffen, wenn sie sich nicht von selbst einstellen. Und dann im entscheidenden Augenblick ohne zu Zögern die günstigste der sich bietenden Möglichkeiten ergreifen! Brauchbarkeit ist das einzige Kriterium, an dem Haltungen und Verhaltensweisen gemessen werden. Das Zéro ergreift seine Chance und verschwindet nach einigen Seiten in die nächste Stadt – mit 3000DM und dem Bewusstsein, zwei Damen sehr erfreut zu haben. Zitator: Wozu dient das Wissen, wenn es nicht praktisch ist? Und zu leben verstehen ist heutzutage das wahre Wissen. Sprecher: Inzwischen gehört Hochstapelei immer mehr zum Alltag, und längst nicht jeder ist im Sinne des Gesetzes ein Krimineller, der sich für einen anderen ausgibt, als er von Herkunft ist. Heute ist fast jede Ver-Kleidung möglich. Und es hat seinen Reiz, mit mehreren Identitäten zu spielen. Die Grenzen zwischen Schein und Sein sind fließend geworden. Erzähle-dich-selbst lautet das Motto der Postmoderne. In den Feuilletons liest man Überschriften wie Zitatorin: Ich bin viele! Sprecherin: Oder das Rimbaud-Zitat Zitator: Ich ist ein anderer! Zitatorin: Zahlen kann ich, wenn ich tot bin! Evtl. Atmo/Musik Sprecher: Im Berufsleben wird in vielen Bereichen ein spielerischer Umgang mit Schein und Sein, Lüge und Wahrheit gefordert. Multinationals erwarten keine biederen Angestellten mehr. Jeder Jobsuchende kennt Accessmentcenter, in denen Flexibilität geschult und abgefragt wird. Verhandlungsgeschick wird erwartet, das heißt, man muss Informationen zurückhalten können, sich selbst aufblasen und andere unter der Vorspiegelung falscher Tatsachen manipulieren können. Bei einem coaching für Arbeitslose wurden die Teilnehmer aufgefordert, eine Geschichte über sich zu erzählen, in der kein Wort der Wahrheit entspräche. Wenn aber alle lügen, oder sich zum lügen gezwungen sehen, ist das Funktionieren von Gemeinschaften gefährdet. In seinem Beitrag zum Hochstaplerkongress, der 1999 in Berlin stattfand, rät der Literaturwissenschaftler Fabian Störmer: Zitator: Lerne den Schwindel! (…) Übe den unsicheren Stand in einer Welt, in der du nicht sicher sein kannst, wo oben und unten, wo rechts und links ist, was wahr und falsch, was gerecht und ungerecht ist, und in der dir trotzdem genau dies ganz und gar nicht gleichgültig sein kann. Musik Sprecherin: In der Geschichte trat der Hochstapler das erste Mal im 17. Jahrhundert auf. Es handelte sich zunächst um vereinzelte und ansatzartige Phänomene. „Hochstapler“ ist eine Weiterbildung zu rotwelsch „Stabler“ = (gleicht) „Bettler“, der gaunerhaft einen höheren Stand vortäuscht. Im 19. Jahrhundert hat der Hochstapler dann seinen großen Auftritt. Fast gleichzeitig in Wirklichkeit und Dichtung. In der heutigen Kriminalpsychologie bezeichnet „Hochstapler“ einen Menschen, der sich für eine Person ausgibt, die einen höheren gesellschaftlichen Rang bekleidet als er selbst. Die Vortäuschung dieser Person ist zum Habitus geworden. Um die Mittel zu erlangen, die der Lebensführung seines angenommenen Ichs entsprechen, sieht er sich notwendigerweise gezwungen, andere mutwillig zu täuschen, zu betrügen, zu bestehlen etc. Sprecher: Das Leben im19. Jahrhundert mit seinen weitreichenden Änderungen, bedingt vor allem durch die industrielle Revolution, stellte an die Menschen hohe Anforderungen. Das rasante Wachstum der großen Städte und die Armut großer Teile der Bevölkerung nährten in jeder Gesellschaftsschicht Sehnsüchte, dem Alltag wenigstens für einige Stunden zu entfliehen. Der heute fast vergessene Schriftsteller und Reporter Gustav Rasch hat seine Beobachtungen in Berlin bei Nacht gemacht, wo sich junge Frauen aus einfachen Verhältnissen für eine Nacht in Ballköniginnen verwandeln und von ihrem Märchenprinz träumen. Das kleine Buch erschien 1871. In Berlin gab es damals eine große Anzahl im Geschmack der Zeit eingerichteter Tanzsäle. Goldbronzierte Kronleuchter schwebten an bunten Schnüren von der reichlich mit Stuck verzierten Decke. Die Räumlichkeiten waren in Gold und Weiß gehalten. Allabendlich vergnügten sich Hunderte von Tänzerinnen und Tänzern auf dem Parkett. mit Walzermusik unterlegen: Zitator: Das Leben der Mädchen, welche hier tanzen, wird schnell und stürmisch verlebt. Und wie die weißen Schultern, die weißen vollen Arme im Gaslichtschimmer aus den knappen, dunklen Seidenkleidern hervorglänzen, wie die vollen, üppigen Gestalten sich ihren Tänzern anschmiegen. … Die meisten sind in reicher Balltoilette oder in seidenen Kleidern. Die Tänzerinnen der Villa Colonna sind durchschnittlich treffliche Tänzerinnen. … Aber die Tänzer! Gewöhnliche grobe Gestalten in Straßenanzügen mit groben Stiefeln, schlechte Röcke, die Gesichtszüge roh und gemein, die Bewegungen ohne Schönheit … Die Erklärung dieser Kontraste ist leicht. Eigentlich sind die Tänzer und Tänzerinnen dieselben. Sie gehören sämtlich zu der Klasse der „Armen und Elenden“ der großen Stadt. Aber die Anzüge der Männer, die schlechten Röcke und Jacken, die zerdrückten Hüte und Mützen, die groben Stiefel und die schlecht sitzenden Beinkleider sind das Eigentum derselben; sie bilden ihren täglichen, gewöhnlichen Anzug. Die prächtigen Kleider, die Spitzentücher, die Perlen und Schmucksachen der Mädchen, ja sogar der weiße Strumpf und der zierliche schwarze Stiefel, die Glacéhandschuhe und das gestickte Taschentuch – alles ist dagegen geliehen, für den Abend, für die Nacht; morgen um Mittag kommt die „Lehnfrau“, die Stück für Stück zu hohem Mietzins den Mädchen geliehen hat, und holt sich mit dem Mietzins die ganze „Kluft“, wie es in der Berliner Verbrecher- und Diebessprache heißt, wieder ab, und um Mittag erscheint die geputzte Tänzerin, wie heute Abend die Männer, im gewöhnlichen Straßenanzuge der „Armen und Elenden“, im Kattunkleid, im dunklen Unterrock, im fadenscheinigen Umschlagtuch, in groben Schuhen – dann passen sie alle wieder zueinander, die Tänzer und die Tänzerinnen dieses Abends! Sprecherin: Die Welt des schönen Scheins, des Theaters, der Maskerade wird der Wirklichkeit entlehnt und dient den Kolportageromanen, dem Massenmedium der Zeit, als Vorlage. Und sie wird mit aktueller Politik verknüpft. Frauen geben sich als Männer aus und umgekehrt. Da ziehen verliebte Bräute als Soldaten verkleidet ihren Männern in den Krieg nach oder besuchen sie in Uniformen, die sie auf abenteuerliche Weise organisiert haben, im Gefängnis. Einer der bekanntesten Fortsetzungsromane um 1900 thematisiert die Dreyfus-Affäre. General Boislieu, einer der Hauptschuldigen, zwängt sich nachts in die Kleider seiner Frau, um unerkannt zu geheimen Zusammenkünften seiner Mittäter zu gelangen. Sprecher: Falsche Gräfinnen, verkleidete Herzöge, leidenschaftliche Revolutionäre, vertauschte Dienstmädchen an verfeindeten Höfen, Schurken, die mit der Augenmaske selbst von ihren Geliebten nicht wiedererkannt werden, Jesuiten, die gemäß ihres Wahlspruchs „Der Zweck heiligt die Mittel“ in jeder Verkleidung zu überzeugen wissen – Täuschung und Verrat lauert überall. Aber nicht nur in den Fortsetzungsromanen, sondern auch in der Realität verbirgt man seine Identität gerne. Um die Zeit der 1848-er Revolution gab es manches Treffen Politisch-Gleichgesinnter, das maskiert besucht wurde. Die Turbulenzen der Gründerzeit reizten zu abenteuerlichen Aktionen am Rande oder jenseits der Legalität. Musik Sprecherin: Tummelplatz für alle möglichen Spielarten von Schein und Sein waren die Maskenbälle. In der westlichen Gesellschaft sind nur noch zwei Formen der Maske bekannt: die Halbmaske und die groteske Maske des Karnevals. Die Halbmaske, die aufs wesentliche reduzierte, elegante und sozusagen abstrakte Maske galt lange Zeit als das Attribut des galanten Festes und der Verschwörung. Sie bezeichnet die zweideutigen Spiele der Sensualität und das Mysterium der Komplotte gegen die Macht. Sie ist das Symbol der amourösen oder politischen Intrige. Sie beunruhigt und lässt einen leichten Schauer den Rücken herunterrieseln. Sie gewährt gleichzeitig die Anonymität, schützt und deckt unerlaubte Freiheiten. Es sind nicht nur zwei Unbekannte, die sich auf dem Ball begegnen und miteinander tanzen; es sind zwei Wesen, die ein Geheimnis zu verbinden scheint. Die Maske befreit sie in gewisser Weise von gesellschaftlichen Zwängen. Sprecher: Die meisten Maskierungen dienten dem Eigennutz, dem Aufstieg in eine höhere soziale Schicht oder dem Ausleben von Liebesbeziehungen zwischen Menschen aus unterschiedlichen sozialen Schichten. Ein berühmtes Beispiel für einen Hochstapler in der Maske des Gelehrten ist Cagliostro. Dem Grafen, der im 18. Jahrhundert in Italien lebte, wurden riesige Reichtümer nachgesagt, die er sich auf undurchsichtige Weise angesammelt hatte. Seine Macht soll sich auf ein feingesponnenes Netz aus Intrigen gegründet haben. Er war Alchemist, „Geisterbeschwörer“ und Tüftler auf verschiedenen wissenschaftlichen Gebieten. Alexandre Dumas nahm ihn zur Vorlage seines gleichnamigen Romans: Cagliostro, alias Giuseppe Balsamo verschafft sich durch einen erschwindelten Titel Zugang zu den höchsten Kreisen Europas. Seine charismatische Erscheinung weiß er geschickt einzusetzen, um andere zu manipulieren. Besonderen Einfluss hat er auf Frauen, die er in eine Art hypnotischen Zustand zu versetzten vermag und die ihm dann als Medium auf alle seine Fragen Auskunft geben. Im Zustand der Hypnose lieben und begehren diese Frauen ihren Meister. Aber der schöne Balsamo muß sich hüten, denn wenn er ihren Avancen nachgibt, bricht seine Macht über die Frau und sie könnte zu seiner Verräterin werden. Sprecherin: Cagliostro hat viele Schriftsteller beeinflusst, sowohl in der Unterhaltungs- als auch in der Hochliteratur. 1890 erschien ein Lieferungsroman unter dem Autoren-Pseudonym „Ewald“ mit dem Titel Zitator: Graf Cagliostro und seine Spiritisten-, Giftmischer-, Betrüger-, Alchimisten-, Falschmünzer- und Hochstapler-Bande Sprecherin: Sogar Goethe und Schiller haben sich von Cagliostro inspirieren lassen. Bei Goethe zerplatzt allerdings die Größe des bestrickenden Magiers wie eine Seifenblase. Friedrich Schiller, der zeitlebens von Geheimbünden und Betrügern fasziniert war, hat den Einfluß von Cagliostro in der Figur des Armeniers in Der Geisterseher einem Romanfragment aus dem Jahre 1787, eingefangen. Bei ihm wird der jesuitische Verführer zu einer echten Bedrohung des ihm verfallenen Prinzen. Zitator: Nie in meinem Leben sah ich so viele Züge, und so wenig Charakter, so viel anlockendes Wohlwollen mit soviel zurückstoßendem Frost in e i n e m Menschengesichte beisammen wohnen. Alle Leidenschaften schienen darin gewühlt und es wieder verlassen zu haben. Nichts war übrig als der stille durchdringende Blick eines vollendeten Menschenkenners, der jedes Auge verscheuchte, worauf er traf. Es wird wenig Stände, Charaktere und Nationen geben, davon er nicht schon die Maske getragen. Wer er sei? Woher er gekommen? Wohin er gehe? Weiß niemand. Sprecher: Es folgen geheimnisvolle Andeutungen und seltsame Begebenheiten, darunter auch eine Geisterbeschwörung, die der Prinz, ein freundlicher, zurückhaltender Mensch, als Gaukeleien entlarvt. Aber der Täuscher fasziniert ihn zunehmend. Zitator: Dieser Mensch ist alles was er sein will, und alles, was der Augenblick will, dass er sein soll. Was er wirklich ist, hat noch kein Sterblicher erfahren. Sprecher: Eine generelle Zweifelsucht an allem und jeden bemächtigt sich des Prinzen. Zufall und Augenblick spielen in seinem Denken eine immer größere Rolle. Er entwickelt sich zum Freigeist. Er beneidet den Verführer um dessen Verwandlungskunst. „Der Mensch hat keinen anderen Wert als seine Wirkungen“ lautet sein neues Credo. Und er entdeckt den Genuss. Zitatorin: Nie wurde seine Schwelle leer, wenn er zu Hause war. Eine Lustbarkeit drängte die andere, ein Fest das andere, eine Glückseligkeit die andere. Er war die Schöne, um welche alles buhlte, der König und der Abgott aller Zirkel. So schwer er sich in der vorigen Stille seines beschränkten Lebens den Weltlauf gedacht hatte, so leicht fand er ihn nunmehr zu seinem Erstaunen. (…) Auch machte ihn dieses ihn überall verfolgende Glück, dieses allgemeine Gelingen wirklich zu etwas mehr, als er in der Tat war, weil es ihm Mut und Zuversicht zu ihm selbst gab. Sprecher: Alles, was ihn sich selbst entführte, war dem Prinzen willkommen. Und er zahlt den Preis für das Leben im schönen Schein. Die Vergangenheit liegt wie versteinert hinter ihm. Gedanken an die Zukunft werden verdrängt. Zwar ist der Prinz sich nicht sicher, ob und wie er seine Erziehung und frühe Erfahrungen aus seinem Gedächtnis tilgen kann, aber Zitator: Jeder will doch g a n z der sein, der er i s t, und unsere Existenz ist nun einmal, g l ü c k l i c h s c h e i n e n. Musik Sprecherin: In Gottfried Kellers berühmten Erzählung Kleider machen Leute ist es nicht die Entscheidung des armen Schneiders, der Welt des schönen Scheins den Vorzug zu geben. Der Grafenstatus wird ihm regelrecht aufgedrängt. Gut, er ist ein wenig eitel und weiß, dass ihm sein einziges warmes Kleidungsstück, ein dunkelgrauer, mit schwarzem Samt ausgeschlagener Radmantel, ein etwas melancholisches, romantisches Aussehen verleiht. Zitatorin: Solcher Habitus war ihm zum Bedürfnis geworden, ohne dass er etwas Schlimmes oder Betrügerisches dabei im Schilde führte; vielmehr war er zufrieden, wenn man ihn nur gewähren und im stillen seine Arbeit verrichten ließ; aber lieber wäre er verhungert, als dass er sich von seinem Radmantel und von seiner polnischen Pelzmütze getrennt hätte, die er ebenfalls mit großem Anstand zu tragen wusste. Sprecherin: Ein Zögern nur, ein Moment der Unentschlossenheit und dem hungrigen Schneider wird ein Festmahl aufgetischt, dem er nicht widerstehen kann. Noch regt sich sein schlechtes Gewissen. Er beschließt, in einem günstigen Moment abzureisen und aus einer anderen Stadt, nachdem er Arbeit gefunden hat, die Zeche zu bezahlen. Aber die Verführungen des feinen Lebens sind zu groß und als ihn auch noch die Liebe in ihren Bann zieht, beschließt er den Namen seines Gasthofs „Zur Waage“ als schicksalhaftes Symbol für den Ausgleich der Ungerechtigkeit in der Welt zu sehen. Zitatorin: Unter der Küchentüre stand die Köchin, welche ihm einen tiefen Knicks machte und ihm mit neuem Wohlgefallen nachsah; auf dem Flur und an der Haustüre standen andere Hausgeister, alle mit der Mütze in der Hand, und Strapinski schritt mit gutem Anstand und doch bescheiden hinaus, seinen Mantel sittsam zusammennehmend. Das Schicksal machte ihn mit jeder Minute größer. Sprecherin: Der Schneider erschafft sich selbst als Graf. Er beobachtet die Sitten seiner Gastgeber, Er lauscht ihnen ab, was sie von ihm halten und arbeitet dann an seinem Bild. Er lernte in Stunden, wofür andere Jahre brauchten. Er tauchte so ein in die Welt des Scheins, dass ihm eine Rückkehr in die Existenz des Schneiders unmöglich wurde. Die Enttarnung durch den Maskenzug von Bewohnern seiner Heimatstadt lässt nicht lange auf sich warten. Sie halten ihm durch das Spiel der Schneider „Leute machen Kleider“ und der Umkehrung des Satzes einen Spiegel vor. Sein erstes Gefühl ist das einer ungeheuren Schande, als sei er tatsächlich ein Graf, den nun ein verhängnisvolles Unglück getroffen hätte. Zitatorin: Ich bin nicht ganz so, wie ich scheine! Sprecherin: gesteht er seiner Braut und weint bitterlich über sich selbst. Bei Keller geht der Schneider-Graf straffrei aus. Er beschämt diejenigen, die ihn verlacht haben, indem er mit seiner Frau, die treu zu ihm hält, ein florierendes Geschäft aufbaut. Der ehemalige Hochstapler kritisiert die Welt, die so gern betrogen sein will: Zitatorin: Wenn ein Fürst Land und Leute nimmt, wenn ein Priester die Lehre seiner Kirche ohne Überzeugung verkündet, aber die Güter seiner Pfründe mit Würde verzehrt, wenn ein dünkelhafter Lehrer die Ehren und Vorteile eines hohen Lehramtes innehat und genießt, ohne von der Höhe seiner Wissenschaft den mindesten Begriff zu haben (…) wenn ein Schwindler, der einen großen Kaufmannsnamen geerbt oder erschlichen hat, durch seine Torheiten und Gewissenlosigkeiten Tausende um seine Ersparnisse und Notpfennige bringt, so weinen alle diese nicht über sich, sondern erfreuen sich ihres Wohlseins und bleiben nicht einen Abend ohne aufheiternde Gesellschaft und gute Freunde. Musik Sprecher: In Herman Melvilles Roman The confidence-man, zu deutsch Maskeraden oder Vertrauen gegen Vertrauen, erschienen 1857, geht es um das Verhältnis zwischen dem Täuschenden und seinem Opfer. Melville greift die Erscheinung des Trickbetrügers auf, die Mitte des 19. Jahrhunderts in den USA viele Menschen beunruhigte.Die Betrüger schlichen sich in das Vertrauen anderer und ergaunerten große Summen oder lancierten Scheinunternehmen. Die Opfer wurden erst durch demagogische Winkelzüge verunsichert. Dann wurde Vertrauen am falschen Platze erzeugt und am angemessenen Ort untergraben oder zerstört. Zitatorin: Sollte ich mich so verändert haben? Sehen Sie mich an. Oder bin ich es, der sich irrt? Sind Sie nicht Henry Roberts, Sir, der Fuhrunternehmer aus Wheeling in Pennsylvania? Nun, falls Sie die Gepflogenheit haben, sich mit Hilfe von Visitenkarten zu empfehlen und zufällig eine solche bei der Hand haben, dann sehen Sie doch bitte einmal darauf nach und überzeugen Sie sich, ob Sie nicht der sind, für den ich Sie halte. Zitator: Wozu? (…) Ich hoffe doch, mich selbst zu kennen. Zitatorin: Trotzdem, viele meinen, es sei gar nicht so leicht, sich selbst zu kennen. Wer weiß, mein lieber Sir, womöglich halten Sie sich schon seit geraumer Weile für einen anderen. Es sind schon viel merkwürdigere Dinge passiert. Sprecher: Der Fremde spielt mit der Identität der anderen, ist selber aber nicht greifbar. Häufig gelingt es ihm, seine Opfer, die er in der einen Maske nicht zu gewinnen vermag, in der nächsten doch noch zu überzeugen. Die Frage nach barem Geld gilt als letzter Beweis. Zitator: „Ein völlig fremder Mensch!“ seufzte er. „Ach, wer ist schon gern ein Fremder? Ich irre vergebens umher, niemand will mir sein Vertrauen schenken.“ Zitatorin: „Ich schenke Ihnen meine Anteilnahme“ sagte die gute Lady leicht überrascht. „Kann ich Ihnen irgendwie helfen?“ Zitator: “Mir kann niemand helfen, der kein Vertrauen hat.“ Zitatorin: „Aber das … das habe ich …zumindest in dem Maße … ich meine, soweit … „ Zitator: Nein, das haben Sie nicht – nicht im mindesten. Verzeihen Sie, aber ich sehe es doch. Kein Vertrauen. Narr, einfältiger Narr, der ich bin, dass ich es überhaupt suche! Zitatorin: „Sie sind ungerecht, Sir“ entgegnete die gute Lady mit gesteigerter Anteilnahme; aber vielleicht haben Sie irgendeine Widerwärtigkeit erlebt, die Sie übermäßig beeinflusst hat. Nicht, dass ich Sie tadeln will. Glauben Sie mir, ich … ja, ja … ich darf sagen … dass, … dass …“ Zitator: „Dass Sie Vertrauen haben? Beweisen Sie es. Geben Sie mir zwanzig Dollar.“ Zitatorin: (…) Die Lady war aufs äußerste betroffen. Sprecher: Der Confidenceman kann manipulieren. Er hat ein sehr gutes Gespür für individuelle Schwächen und faule Kompromisse. Ihm haftet etwas Angsteinflößendes an, etwas Schillerndes. Das Maskenspiel ist nicht heiter, sondern hat etwas von dem abgründigen, gespenstischen Flair des venezianischen Karnevals. Sprecherin: Wenn die Identität nicht mehr erkennbar ist, stellt sich die Frage, was sie eigentlich ausmacht und ob man sie wechseln kann. Der französische Psychoanalytiker Jacques Lacan hat den Satz von Rimbaud „Ich ist ein anderer“ häufig benutzt, um mit ihm die psychoanalytische Vorstellung zu umschreiben, dass das Ich Resultat von intersubjektiven Erfahrungen ist, dass Identität aus einer vorgängigen Identifizierung mit anderen resultiert. Eine andere Identität anzunehmen ist am einfachsten in einer nicht alltäglichen Situation, also auf einem Fest oder im Karneval. Auf einem Maskenfest kann ich ohne Sanktionen zu befürchten, behaupten „Ich bin Jeanne d´Arc“ und in diese Rolle schlüpfen. Es gibt aber kaum noch Maskenfeste. Früher hatte man im Karneval die Möglichkeit, sich aus seinem eigenen sozialen Zusammenhang für ein Weilchen hinauszutäuschen. Heute ist diese Täuschung auch im Karneval nicht mehr möglich, denn man erkennt jemanden vor allem dann, wenn er von sich glaubt, der andere geworden zu sein, als welcher er sich selber sieht oder der er gerne sein würde. Diese Maskierung enthüllt –und täuscht den Einzelnen über sich selbst. Die Maske ist überflüssig geworden. Musik Sprecher: Im Geisterseher geht es um die Beeinflussung einer bestimmten Person durch einen Scharlatan, bei Keller wird der Schneider durch die Umwelt zum Hochstapler verführt und bei Melville steht das Verhältnis Täuscher – Opfer im Vordergrund. Im 20. Jahrhundert wird der Hochstapler selbst der Held, manchmal auch seiner Texte. Manulescu, einer der berühmtesten Betrüger um 1900, verfasste seine Memoiren und nutzte die Medien. Gemäß dem Motto „Erzähle Dich selbst!“ erfindet er sich in seinen Büchern neu. Aus dem grobschlächtigen Abenteurer wird der elegante, feinnervige Betrüger. Verhaftet hatte man ihn als Hochstapler und Dieb, als er sich um das Brandenburger Tor herum als Fürst ausgegeben hatte. Vor Gericht gab er sich dann als Geisteskranken aus. Selbstbeherrschung, unbeugsame Willenskraft und eiserne Ruhe des Gesichts, so Manulescu, sind die unabdingbaren Voraussetzungen für seinen „Beruf“. Zitator: Ein Verbrecher muß beständig eine Rolle spielen, eine Maske tragen, die sich absolut von seiner Person unterscheidet; er muß Eigenschaften heucheln und Eindrücke erwecken, die ganz im Gegensatz zu seinem wahren Wesen stehen. Ehe ich also den Kampf gegen die Gesellschaft aufnahm, musste ich diese Kunst bis zur Vollendung beherrschen. Sprecher: Um dies zu üben, bedarf es nur eines einzigen Gegenstandes … Zitator: Zu diesem Zwecke rückte ich, bevor ich zum Louvre, Bon Marché oder Printemps ging, einen Sessel vor den Spiegelschrank und stellte mir mit Hilfe meiner Phantasie vor, wie beispielsweise der Ausdruck meines Gesichtes sein müsste, wenn ich ein Warenhaus betrat, um irgendeinen Gegenstand zu entwenden. Ich gab meinen Zügen nun den geeigneten Ausdruck, verbesserte ihn beständig nach besten Ermessen, gab ihn wieder auf und wiederholte den gedachten Diebstahl hundertmal, bis jeder Zug der Maske, die ich für diesen bestimmten Zweck brauchte, sich untrüglich in mein Gehirn eingeprägt hatte. Sprecher: Ob Manulescu immer die nötige Distanz zu seinen Masken hatte, darf bezweifelt werden. Jedenfalls war er so von sich überzeugt, dass er sein Gehirn zum Kauf anbot. Der Preis war ihm natürlich zu Lebzeiten zu entrichten. Aber niemand zeigte Interesse. Manulescu starb 1908 im Alter von nur 37 Jahren. Desto mehr Beachtung fanden seine Memoiren. Was für eine faszinierende Idee, der Schmied seines Glückes zu sein! Das private Selbst tritt zugunsten eines öffentlichen Selbst zurück. Langeweile gibt es nicht mehr. Nach der Demaskierung trifft man nur auf eine weitere, perfekt einstudierte Maske. Hauptsache, man trägt einen guten Anzug oder das richtige Kleid. Einer von Manulescus Bewunderern war der Dresdener Staatsanwalt Erich Wulfen. In seinem Roman Der Mann mit den sieben Masken lässt er sein alter ego, den jungen Staatanwalt Sperl gegen den Hochstapler Györki antreten. Györki ist Sperl in jeder Beziehung überlegen. In Gerichtssaal kommt es dann zur Katastrophe. Györky behauptet, dass eigentlich in jedem ein Hochstapler stecke. Zitator: Ich verwandle mich immer. Ich bin nie derselbe. Ich bin alles und jedermann, ich bin die Menschheit in tausend Gestalten! Sprecher: Der junge Anwalt verzweifelt an so viel selbstbewussten Schein und begeht Selbstmord. Wulffen fasziniert das Hochstaplerphänomen. 1927 veröffentlicht er seine Psychologie des Hochstaplers. Auch die Öffentlichkeit lässt es den Hochstaplern in den 20-er Jahre nicht an Aufmerksamkeit und Beifall fehlen. Für die Medien sind solche Geschichten eine Attraktion. Wenn in den Zeiten der Wirtschaftskrisen, wo Arbeitslosigkeit und Armut regieren, sich ein Habenichts aus dem Volk traut, sich mit einem falschen Titel unter die Mächtigen zu mischen, mit ihnen isst und trinkt und schläft und sie sich so einfach täuschen lassen – da kann schnell ein Heldenmythos entstehen. Harry Domela, der falsche Prinz, wurde für kurze Zeit zum Star. 1905 als staatenloser Deutscher auf dem Baltikum geboren, stand er zunächst auf der Schattenseite des Lebens. Nach Erfahrungen im Kinderheim, dann als Kindersoldat, schlägt er sich als Landarbeiter, Landstreicher und schließlich als Kleinkrimineller durch. Eines Tages legt er sich einen Adelstitel zu, in der Hoffnung, so als Zigaretttenhändler seine Ware schneller verkaufen zu können. Es folgen ein zweiter, ein dritter Titel, mit dem er es bis in die höhere Gesellschaft von Potsdam schaffte. Mit dem fünften Titel verschaffte er sich schließlich Logis in einem der besten Erfurter Hotels und wurde vom Direktor als Prinz von Hohenzollern erkannt. Domela fügte sich. Zitator: Alles fiel von mir ab, was ich von dem harmlosen Harry Domela an mir hatte. Ich meinte, es wüchse mir eine ganz neue Haut. Sprecherin: Und Harry hielt Hof, lieh sich auch gern mal kleinere Beträge. Aber größere Betrügereien waren seine Sache nicht. Die Rolle des Prinzen spielte er nur wenige Monate des Jahres 1926. Dann wurde ihm der Boden zu heiß. Er wollte sich absetzen, wurde aber auf der Flucht verhaftet. Die Presse gierte schon nach seinen Enthüllungen. Und Domela schrieb sie. Publiziert wurde das Buch bei Wieland Herzfeldes Malik-Verlag. Es wurde ein Bestseller. Der falsche Prinz soll in den nächsten drei Jahren mehr als 300.000 Mark verdient haben. Aber nach kurzer Zeit war davon nicht mehr viel übrig. Wochenlang wohnte er im Adlon gab mehr als großzügige Trinkgelder und erzählte schon 1932 seine Prinzengeschichte nur noch, wenn er danach zum Essen eingeladen wurde. Im Adlon verkehrte er mit Gerhard Hauptmann und Albert Einstein. Der Schwindler mit den Geistesgrößen seiner Zeit. Domela hatte mit ein wenig Schauspielerei nicht nur das Haus Hohenzollern blamiert, sondern auch der Gegenwart die Maske vom Gesicht gerissen. Auf Anraten von Freunden und Bekannten floh Domela 1933. Er hätte als Staatenloser, Homosexueller, KPD-Sympathisant und Hochstapler unter den Nazis wohl kaum eine Chance gehabt. Aber auch außerhalb von Deutschland stand sein weiteres Leben unter einem schwarzen Stern. Er kämpfte im Spanienkrieg für die Republik. Er wurde im Lager Gurs interniert, später im Lager Le Vernet. Er war mit André Gide befreundet, der ihm zur Flucht nach Südamerika verhalf. Dort lebte er unter falschem Namen völlig vereinsamt, bis sich seine Spur Ende der 70-er Jahre in Venezuela verliert. Musik Sprecherin: Der berühmteste Hochstapler in der Literatur ist wohl der charmante Blender Felix Krull. Thomas Mann schildert ihn schon als Kind begabt und begeistert fürs Theaterspielen. Sein Pate Schimmelpreester steckt den kleinen Felix in die verschiedensten Verkleidungen und nimmt ihn als Vorbild für seine Kunstgemälde. Zitator: Wie ich auch hergerichtet war – als römischer Flötenbläser in kurzem Gewande, das schwarze Kraushaar mit Rosen bekränzt; als englischer Edelknappe (…) jedes Mal schien es, und auch der Spiegel versicherte mich dessen, als ob ich gerade für diesen Aufzug recht eigentlich bestimmt und geboren sei … Sprecherin: Dagegen erschien der Alltag grau und öde. - Besonders gerne schlüpfte Felix in die Rolle des Kaisers. Zitator: Still und ergriffen von meiner Betagtheit und hohen Würde, saß ich im Wägelchen, aber meine Magd war gehalten, jeden Begegnenden von dem Tatbestande zu unterrichten, da eine Nichtachtung meiner Schrulle mich aufs äußerste erbittert haben würde.(…) Jeder erwies mir Reverenz. Zumal mein Pate Schimmelpreester, stets zu Possen geneigt, war mir zu Willen, wenn er mich so antraf, und bestärkte mich auf alle Weise in meinem Dünkel. „Seht, da fährt er, der Heldengreis!“ sagte er, indem er sich unnatürlich tief verbeugte. Und dann stellte er sich als Volk an meinen Weg und warf vivatschreiend seinen Hut, seinen Stock und selbst seine Brille in die Luft, um sich beinahe zu Schaden zu lachen, wenn mir vor Erschütterung die Tränen über die langgezogene Oberlippe rollten. Sprecher: Später erlaubt sich Krull keine Rührung mehr über sich selbst. Schaff deine Wirklichkeit und laß die anderen an sie glauben. Mit Phantasie und Disziplin arbeitet er an seinen Coups. Seine Glücksfälle sind erarbeitet, oft messerscharf kalkuliert. Es reizt ihn, in der heiteren Überlegenheit des Scheins zu leben. Auch als Besitzer eines Scheckbuchs bleibt er Liftboy im Hotel Saint James and Albany. Zitator: …und es entbehrte nicht des Reizes, diese Figur auf geheimen, pekunären Hintergrunde abzugeben, durch den meine kleidsame Livrée in der Tat zu einem Kostüm gestempelt wurde, wie einst mein Pate Schimmelpreester es mir hätte anlegen können (…) ja, wenn ich mich später mit verblendendem Erfolge für mehr ausgab, als ich war, so gab ich mich vorläufig für weniger aus, und es ist noch die Frage, welchem Truge ich mehr innere Erheiterung, mehr Freude am Verzaubert-Märchenhaften abgewann. Sprecher: Die Täuschung kann ganz verschiedene Motive haben. Der König mischt sich als Bettler unters Volk, um dessen Stimmung zu erkunden, oder der Journalist Wallraff tarnt sich als Fabrikarbeiter, um für seine Reportagen zu recherchieren. Dem Hochstaplers geht es ausschließlich um sich selbst. Er ist ein Selbstdarsteller. Sprecherin: Die Erscheinungsformen dieses Selbst können durchaus unterschiedlich sein. In verschiedenen Lebensabschnitten, -umständen und -situationen zeigen sich Menschen individuell, verschieden. Persönlichkeit, Charakter meint genau die Art, wie ein bestimmter Mensch reagiert, „was ihn ausmacht“. Dabei kann die Persönlichkeit einheitlich, in sich geschlossen erscheinen oder kontrastreich, schillernd, kaleidoskopartig. Sozialpsychologen schreiben der sogenannten postmodernen Persönlichkeit eine Patchwork-Identität zu, weil sie sich -für den Betrachter- nicht mehr zu einem geschlossenen Bild zusammenfügen läßt. Das ist aber eine Frage der Perspektive, der Sicht auf den Menschen. Passender erscheint das Gleichnis vom Chamäleon: es handelt sich um ein und dasselbe Tier in unterschiedlichen Farben, d.h. dieselbe Person kann mit unterschiedlichen Charaktermerkmalen auftreten. Sprecher: Thomas Mann lässt die Frage nach der Identität des Krull in der Schwebe: Zitator: Es lief dies, wie man sieht, auf eine Art von Doppelleben hinaus, dessen Anmutigkeit darin bestand, dass es ungewiss blieb, in welcher Gestalt ich eigentlich ich selbst und in welcher ich nur verkleidet war: wenn ich als livrierter Commis de salle den Gästen des Saint James and Albany schmeichlerisch aufwartete, oder wenn ich als Herr von Distinktion, der den Eindruck machte, sich ein Rennpferd zu halten, und gewiß, wenn er sein Diner eingenommen, noch mehrere exklusive Salons besuchen würde, mich bei Tisch von Kellnern bedienen ließ, deren keiner wie ich fand, mir in dieser meiner anderen Eigenschaft gleichkam. Verkleidet also war ich in jedem Fall, und die unmaskierte Wirklichkeit zwischen den beiden Erscheinungsformen, das Ich-Selber-Sein, war nicht bestimmbar, weil tatsächlich nicht vorhanden. Sprecherin: Der Mensch ist für sich verantwortlich. Er wählt seine Verhaltensweisen, kann auf sie positiv mit Freude und Stolz reagieren und hat sie im negativen Fall in Schuld, Scham und Peinlichkeit zu verantworten. Sprecher: Die Welten des Blenders leben von der Anerkennung durch andere. In solchen Momenten wird er für sein erfolgreiches Täuschen belohnt: Zitator: „Bonne nuit, à tantot, Monsieur le Marquis“ sagte er mit betrunkener Grandezza, als er mir zum Abschied die Hand schüttelte, - ich hörte die Anrede zum ersten Mal aus seinem Munde und der Gedanke an den Ausgleich von Sein und Schein, den das Leben mir gewähren, an den Schein, den es dem Sein gebührend hinzufügen wollte, überrieselte mich mit Freude. Sprecher: Täuschen als Gesellschaftsspiel. Ob an der Börse oder auf der Party. Lügen zum eigenen Vorteil ist salonfähig. Thomas Manns Felix Krull erschien 1954. Er ließ sich Zeit mit diesem Projekt. Er hatte die Memoiren des Manulescu gelesen und in den Zwanziger Jahren die auf- und abstürzenden Karrieren von Menschen beobachtet, die sich mit Hilfe von Täuschung und Betrug eine Weile im Ruhm gesonnt haben, und dann ent-täuscht wurden. Die meisten Hochstaplergeschichten, sei es in der Dichtung oder in der Realität enden tragisch. Aber das kann dauern. Der Hochstapler weiß, wie Gesellschaft funktioniert. Er durchschaut den Clichécharakter sozialer Rollen, deren Schein und Zufälligkeit. Sprecherin: Während der Nazi-Diktatur wurde solches Verhalten sowohl in den Medien als auch privat zunehmend sanktioniert. „Schuster-bleib-bei-deinem-Leisten“ war die Parole und der Spaßfaktor und das Nicht-Greifbare, das Masken und Verkleidungen auch haben, wirkte auf die Diktatur höchst verdächtig. Die Maskenfeste wurden für das Volk geschickt ersetzt durch von der Partei inszenierte Massenaufzüge. In den 50-er und 60-er Jahren gab es eine Flut von Spielfilmen, die Hochstaplerschicksale thematisierten. Täuscher, Doppelgänger, Lügner bevölkerten die Leinwand. Aber sie waren harmlos. Die kleinbürgerliche Nachkriegsgesellschaft amüsierte sich mit falschen Gräfinnen, Spioninnen à la Mata Hari und charmanten Betrügern. Natürlich gab es die auch in der Realität. Und sie wurden von den Medien nur allzu gerne gepusht. Der schöne Konsul z.B. war bis in die 90-er Jahre hinein ein Liebling der deutscher Illustrierten. In den 70-er Jahren herrschte nach der Studentenbewegung der 68-er zumindest in intellektuellen Kreisen eine andere Atmosphäre. Schein sollte allenthalben entlarvt werden. Aber das „Werde der du bist!“ war in den Achtzigern schon wieder obsolet. Mit Hochstapeln im Alltag kann man manchmal ein paar Stufen auf der Karriereleiter überspringen. In kürzerer Zeit zum Traumjob, vielleicht auch zum Traummann oder zur Traumfrau. Wenn´s gut geht. Und wenn nicht, nimmt man eine andere Rolle an. Existenzbrüche werden heute als Identitätswechsel ausgegeben. Musik Sprecher: Steffen Kopetzky publizierte im Jahr 2002 seinen Roman Grand Tour oder die Nacht der Großen Complication . Es geht um einen Studenten, dessen geplante längere Südamerikareise platzt, weil er von einer Scheinfirma um sein Geld gebracht wird. Statt nach Hause zurückzukehren, wird er Schlafwagenschaffner. Er lässt Bekannte und Freunde, auch seine alte Freundin Juliane im Glauben, in Buenos Aires zu sein. Steffen Kopetzky ( Band 286-311) „Juliane, die, äh, Compania, wir sagen nur Compania, verstehst du, das ist so etwas wie eine Art, ähem, Fremdenlegion für Zivilisten“, hatte er ihr in ihrem ersten Gespräch erklärt, mit hochrotem Kopf in der Kabine des Nagelmackers Inn stehend, berauscht davon, dass in den Adern seiner Lügengeschichten die Säfte von Aufrichtigkeit, Wahrheit und Authentizität flossen. Sie hatte ihn immer für einen Langweiler gehalten, und deswegen war es ihm früher nie gelungen, Juliane zu begeistern – jetzt gelang es ihm. Seine Vorstellung von dem, was er erfand, war so lebendig, dasss er sich immer souveräner und beliebig improvisierend in ihr bewegen konnte. Früher war es ihm schwergefallen, Juliane von sich zu erzählen, weil sie sich nicht wirklich dafür zu interessieren schien, er es besonders gut machen wollte und sich verkrampft hatte. Nicht so jetzt – eigentlich hatte er das Gefühl, dass er nicht wirklich log. Klar, er war nicht in dem Sinn in Buenos Aires, das wäre übertrieben gewesen. Was er Juliane erzählte, ließ er – der Einfachheit halber – an einem Ort namens Buenos Aires spielen, aber er erzählte wahre Dinge. Die wundervollen Romane Amleda Bradoglios, der Sekretärin aus dem Landwirtschaftministerium, machten ihn Kapitel für Kapitel mit neuen Orten, neuen Vierteln, neuen Straßenzügen und neuen Gässchen bekannt – Amleda hatte ihn großzügig an der Hand genommen, sie stellte ihm zwinkernd und nachsichtig die Kulissen zur Verfügung, zwischen denen er Juliane glaubhaft schildern konnte, was er tatsächlich erlebte. Sprecherin: Kopetzkys Held hatte seine Erlebnisse, nur an anderen Orten als er glauben lässt und in einer anderen Rolle. Viele Hochstaplerkarrieren beginnen mit einer Uniform, sagt Kopetzky. Uniformen ersetzen eine ganze Biographie. Wenn man eine Uniform anzieht wird man Teil von etwas. Uniformen sind identitätsstiftend und stärken somit das Selbstbewusstsein. Man kann heute eine andere Identität annehmen, um ein Scheitern zu verbergen. Auch der Alltag bietet Möglichkeiten alternative Identitäten auszuprobieren, indem man seine alte Rolle ablegt und eine neue annimmt. Dabei stößt man allerdings auf Grenzen: das Aussehen, die Sprache, das Geschlecht. Sprecher: Alle diese Merkmale sind auf unseren Personalausweisen festgehalten zusammen mit einem Foto, das uns in der Regel in einem wenig glücklichen Moment beim Fotografen zeigt. In Deutschland wird im Gegensatz zu anderen Ländern immer noch der Bewerbung ein Foto zugefügt, was eine eindeutige Bevorzugung der Menschen mit Übung vor dem Spiegel darstellt. Alle anderen können erst beim Bewerbungsgespräch vermitteln: Ich bin nicht ganz so, wie ich scheine! Sprecherin: Der Personalausweis ist die bürokratische Essenz der eigenen Person. Identitätspapiere aus dem wohlhabenden Westen sind Daseins-, Zutritts- und Zugehörigkeitsberechtigungen und deshalb begehrte Ware, vieltausendfach gefälscht und illegal weiterverkauft. Der Ausweis repräsentiert die Person. Aber Repräsentation weist auch immer auf etwas Abwesendes hin. Auf unseren neuen Identitätskarten ist das Foto zwar zu einem briefmarkengroßen Farbfleck geschrumpft, dafür sieht man aber nichtlesbare Magnetstreifen und schillernde Hologrammeffekte. Die Repräsentation bewegt sich aus der Bildlichkeit hinaus in die Materialität hochverdichteter technologischer Information. Sprecher: Der Personalausweis entsteht, ebenso wie der Steckbrief, im späten Mittelalter. Natürlich kannte man noch lange keine photographische Reproduktion. Man ließ sich poträtieren oder, was flüchtige Verbrecher betrifft, wurde für einen Steckbrief porträtiert. Diese Porträts drückten dann bestenfalls eine Ähnlichkeit mit der Person aus. Man weiß von der Enttäuschung des englischen Königs Heinrich VIII. als er Katharina von Kleve in persona sah, obwohl ihm das von Holbein gemalte Porträt von ihr so gut gefallen hatte. Schon im 16. Jahrhundert mahnten Kunsttheoretiker, dass kein Porträt zwischen Wahrheit und Täuschung, bzw. Gesicht und Maske unterscheiden könne. Und dann ist noch die Frage, ob der Name desjenigen, den das Papier trägt auch der Name desjenigen ist, der das Papier trägt. Sprecherin: Die Möglichkeit, viel von sich preiszugeben bei relativer Anonymität oder sich eine beliebige Identität zu schaffen und damit zu spielen, bietet heute das Internet. Der Bildschirm dient als Maske, hinter der man sich verbergen kann. Im Alltag sind Verwandlungen nur bedingt möglich. Alter, Statur, Hautfarbe, also Faktoren, die vom Individuum in der Realität kaum zu beeinflussen sind, können frei erfunden werden. Man kann also ein Ich-Ideal konstruieren und es in die virtuelle Welt schicken. Soziale Ängste und Hemmungen sind überflüssig, denn der Benutzer hinter dem Computer ist nicht real den Blicken des Anderen ausgesetzt. Dieser Umstand wird gerade von vielen jungen Leuten geschätzt: Zitatorin: …ich fühle mich online einfach ganz anders, gehe mehr aus mir heraus und bin weniger gehemmt. Fast so, als wäre ich mehr ich selbst, … Sprecher: Gerade bei der Suche nach einem Partner setzen immer mehr Menschen auf die virtuelle Kommunikation. Manche kommunizieren jahrelang online bevor sie sich real verabreden. Andere treffen sich nie. Und hatten das auch nie vor. Für sie ist es reizvoll, mit der realen oder angenommenen Identität zu spielen, sich zu spiegeln. Da wäre ein Treffen in der Realität eine Entzauberung, so ähnlich wie bei früheren Maskenbällen die Demaskierung. Sprecherin: Aber was ist Schein und Sein bei solchen Angeboten? mit Atmo Computertastatur unterlegen, evtl. Musik Zitator: Ich bin Sven, 34, Auslandskorrespondent, blond ,musikalisch, liebe das Theater, bin ein sportlicher Typ, ungebunden und möchte neue Menschen kennen lernen … Zitatorin: Ich heiße Anna, bin 40 Jahre alt, Malerin und liebe Rom. Ich würde gerne mit einem netten gleichaltrigen, dunkelhaarigen Mann in Kontakt treten, der auch im kreativer Bereich … Zitator: Kinderarzt Manfred, 43, sportlich und Hobbykoch, hat wenig Zeit, möchte aber gerne wieder mehr privat kommunizieren, am liebsten mit blonder Frau bis 30 … Zitatorin: Ich bin Kerstin, 29, schlank und sportlich, bin Puppenspielerin und studiere Germanistik. Ich suche Menschen, mit denen ich über Katzen und Existentialismus … Sprecher: Mit den neuen Medien, den TV-Talk-Shows, den Inszenierungen à la Big Brother, eröffnet sich ein Forum für grandiose Selbstinszenierungen zur Gewinnung einer virtuellen Ersatzidentität. Ich kann einfach behaupten, etwas zu sein oder etwas bestimmtes getan zu haben. Als-ob-Erfahrungen statt zu handeln, die Verdinglichung der Beziehungen, anstatt sich einzulassen werden zu einer neuen Normalität. Sprecherin: Aber die Mail, die ich an mein konstruiertes Bild bekomme, ist nur scheinbar an mich selbst gerichtet. Ich kann mich nicht spiegeln im Blick des andern, der Bewunderung, Neid oder Herablassung ausdrückt. Die Maske des Bildschirms schützt. Dafür gibt es kein Lächeln des Einverständnisses, keine Versprechen, für die keine Worte benötigt werden … Musik 30 Hintergrund Kultur und Politik Literaturredaktion T +49 30 8503 0 hoererservice@deutschlandradio.de Hans-Rosenthal-Platz, 10825 Berlin T +49 30 8503-0 deutschlandradio.de Deutschlandradio K. d. ö. R., gesetzlicher Vertreter ist der Intendant. Deutschlandradio kann auch von zwei vom Intendanten bevollmächtigten Personen gemeinsam rechtsverbindlich vertreten werden. Auskünfte über das Bestehen und den Umfang der Vollmachten erteilt der Justiziar. Gerichtsstand: Köln