Manuskript Kultur und Gesellschaft Kostenträger : P 62100 Organisationseinheit: 46 Reihe : Forschung und Gesellschaft Titel : 20 Wörter für Wind Wie Sprachen sich verändern, aussterben oder neu entstehen Autor/in : Jan Lublinski Redakteur/in : Kim Kindermann Sendung : 14.06.2012 / 19:30 Uhr Regie : Besetzung : Urheberrechtlicher Hinweis: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. (c) Deutschlandradio Kultur Funkhaus Berlin Hans-Rosenthal-Platz 10825 Berlin Besetzung für : Sprecher Übersetzer Übersetzerin ATMO Hafen Sprecher: Am Hafen der senegalesischen Hauptstadt Dakar sind viele Menschen unterwegs. Straßenhändler bieten Sonnenbrillen an, auch Plastikbälle, Nüsse, Autoreifen. Eine Gruppe bärtiger Männer breitet Teppiche am Rande des Gehwegs aus. Die Männer knien nieder und beginnen, Gebete in Richtung Mekka zu sprechen. Unterdessen spazieren zwei schlanke Mädchen in kurzen Lederröcken und bunten Pumps vorbei. Im Jahr 1980 hatte Dakar etwa eine Million Einwohner, heute sind es fast drei Millionen: Menschen aus verschiedenen Kulturen, die viele verschiedene Sprachen sprechen. OTON 1 BECK Das ist eines der interessantesten Phänomene zurzeit in Afrika, das die Städte unglaublich wachsen. Mit Wachstumsraten, die viel höher sind als anderswo. Sprecher: Rose Marie Beck, Afrikanistin an der Universität Leipzig, hält die rasante Entwicklung der Städte für den entscheidenden Motor sprachlicher und kultureller Entwicklung in Afrika. OTON 2 Wir haben um die 2000 Sprachen in Afrika. Da kann man sich vorstellen, dass in den Städten, wo sich die Menschen verdichten, sich auch die Sprachen verdichten. Lagos beispielsweise. In Nigeria werden 400 Sprachen gesprochen. Wenn man dann noch die Migrationsbewegungen aus den umliegenden Ländern berücksichtigt, haben wir garantiert 500, 600 Sprachen in Lagos. Im Prinzip. ATMO Hafen mit vielen Stimmen OTON 2b In der Regel findet man eine Lingua Franca. Eine gemeinsame Sprache. Häufig sind das die Ex-Kolonial-Sprachen: Französisch, Englisch. Aber noch häufiger sind das überregionale, lokale Linguae Francae. Für Kenia wäre das Swaheli, für Südafrika gibt es Zulu und Afrikaans. Und wir haben im Senegal schon lange eine ganz starke Wolof-Präsenz. Gerade in Dakar kann man sehen, wie dieses Wolof sich ausbreitet. MUSIK Senegalesischer Rap in Wolof Sprecher: Die Sprache Wolof kommt ursprünglich aus ländlichen Gegenden Westafrikas. Die Senegalesen sprechen vom Wolof "Pur", dem "reinen Wolof". In Dakar hat sich diese Sprache verwandelt zum "Urban Wolof", zum Wolof der Städter. Eine Sprache, die Elemente aus zahlreichen anderen Sprachen enthält und sich sehr schnell verändert. - Großen Anteil an dieser Entwicklung haben die jungen Leute in Dakar und ihre Musik. ATMO AUTO OTON 3 NDIAYE C'est en tout cas du Wolof fonctionel. Est ce que c'est du bon Wolof, je ne sais pas. Mais c'est un Wolof qui perment de se faire comprendre. ÜBERSETZER: Es ist auf jeden Fall ein funktionelles Wolof. Ist es ein gutes Wolof? Ich weiß nicht. Aber es ist eine Wolof, mit dem man sich verständlich machen kann. Sprecher : Der senegalesische Verleger Seydou Nourou Ndiaye. OTON 5 SCHLOBINSKI Sprache ist gar nicht denkbar ohne Variation. Das ist immer der Punkt. Sprecher : Peter Schlobinski, Sprachwissenschaftler an der Universität Hannover. OTON 6 Jeder spricht anders. Auf der lautlichen Ebene, im Wortschatz. Wir haben nicht nur die vielen sozialen Faktoren, sondern bis hin zum sogenannten Ideolekt haben wir Variation: selbst die Einzelperson spricht abhängig vom Thema, vom Interaktionspartner unterschiedlich. Sprecher. Aber es gibt auch Veränderungen und gesellschaftliche Prozesse, die Sprachen gefährden können. Mache Sprachschützer sehen eine Bedrohung für ihre jeweilige Sprache in der Ausbreitung von Weltsprachen wie Englisch und Französisch. Auch irritiert sie der Sprachumgang von Jugendlichen in der Musik und bei der Nutzung neuer Medien. ATMO alt Trenner Laut UNESCO sind derzeit 3000 Sprachen vom Aussterben bedroht. Nur noch wenige Kinder lernen sie als Muttersprache, und es wird befürchtet, dass die letzten Sprecher dieser Sprachen bis zum Ende des Jahrhunderts gestorben sein werden. Meist existieren keine Unterrichts-Materialien für diese Sprachen, und ihr Erhalt wird politisch nicht unterstützt. Als Gründe für die Bedrohung der Sprachen nennt die UNESCO: Krieg, Vertreibung, Stigmatisierung und Migration. Sind also aufgrund der globalen und lokalen Veränderungen weltweit die sprachliche Vielfalt und damit der Reichtum unserer menschlichen Kultur insgesamt bedroht? RYTHMISCHES MUSIKBETT (FÜR DEN FOLGENDEN O-TON, er kommt im Feature 3 mal, jeweils anders vor) OTON 7 BECK Das ist ein schwieriges Thema, weil es auch mit einem ganz bestimmten Sprachbegriff einhergeht. Wir sehen Sprachen so als Systeme an, als geschlossene Systeme. Das ist ein Blick aus der Linguistik, aber auch aus unserer Gesellschaft. Und da muss ich natürlich sagen: wenn jetzt alle das Urban-Wolof sprechen, dann ist das pure Wolof ausgestorben. Und dann frage ich mich manchmal, ja ist das schlimm? OTON 8 + MUSIK Trommeltanz ALJAKKO Sprecher (über die Männerstimme): Aljakko Mitiq singt ein Lied, an dass er sich kaum mehr erinnern kann. Er hat es gesungen, als er als junger Mann auf der Rentierjagd war. Musik hoch Sprecher: Aljakko Mitiq ist ein alter Jäger aus Qaanaaq (sprich: Kanak) im Nordwesten Grönlands. Er hält eine kleine, flache Trommel in der einen Hand und einen Schlägel in der anderen. Sein Oberkörper bewegt sich im Rhythmus der Musik. Die Sprache, die er spricht und singt, nennt sich Inuktun. Nur etwa 770 Menschen beherrschen sie. Noch. Stimme am Ende des Liedes hoch, dann weg. Aljakko Mitiqs Musik ist in einer Video-Dokumentation zu sehen, die der linguistische Anthropologe Stephen Leonard von der Universität Cambridge aufgezeichnet hat. Um die Sprache der Inugguit (sprich Innuchei) zu lernen und zu dokumentieren, hat er ein Jahr im Nordwesten Grönlands verbracht. OTON 9 LEONARD I love learning languages. That is my passion. And I had never taken on a challenge like this before. 11:22-5 I never tried to learn a language that wasn't standardized. That wasn't a written language. There was no language whereby you could say. - What is that? Narivik - table. And you ask someone how they spell it - and they shrug their shoulders and say nalhachuei I don't know. ÜBERSETZER: Sprachen lernen ist meine Leidenschaft. Aber einer solchen Herausforderung habe ich mich noch nie gestellt: eine Sprache zu lernen, zu der es keine Aufzeichnungen gibt. Wenn man also fragt: "Was ist das?" sagen sie: "Ein Tisch." Und wenn man dann wissen will, "Wie schreibt man das?" Dann zucken sie mit den Schultern und sagen: "ich weiß nicht." Sprecher: Stephen Leonard wohnte in einer einfachen Hütte in Qaanaaq, verbrachte aber auch viel Zeit in kleineren Gemeinschaften wie etwa Savissivik, wo die Männer noch immer der traditionellen Jagd nachgehen. Auch für grönländische Verhältnisse herrschen hier harte Bedingungen, im Winter dreieinhalb Monate lang kein Sonnenlicht, Temperaturen bis minus 50 Grad. Achtung: KÜRZUNG!! O-Ton 10 entfällt!!! (In March ... bear was killed. ))) OTON 11 LEONARD 5'38 Er liest INUKTUN (Kurz hoch dann weg) Sprecher: Genähert hat sich Leonard dieser Sprache zunächst mit Übersetzern. Er war oft mit den Jägern unterwegs; auch die Kinder haben ihm viel beigebracht. In der Schule haben die Inugguit gelernt, West-Grönlandisch und Dänisch zu sprechen und zu schreiben. Sie sprechen aber lieber Inuktun. Leonard hat nun versucht, geeignete Schreibweisen für die Wörter dieser rein mündlich vermittelten Sprache zu finden. Leicht war es nicht, denn allein für das Wort Wind gibt es in dieser Sprache 20 verschiedene Varianten. Varianten, die nicht alle beherrschen. OTON 12 LEONHARD III 7'40 If you asked the average teenager in Qaanaq if they could tell you what a Koro-ra- nekdok is - a mild wind that blows along side or down a river. It is pretty unlikely that they know what it is. ÜBERSETZER: Wenn sie Teenager in Qaanaq fragen, ob sie wissen, was ein Koro- ra-nekdok ist, also ein milder Wind, der entlang eines Flusses weht, dann wissen sie es in aller Regel nicht. Sprecher: Mit der Vielfalt des Vokabular verschwindet auch die große Tradition des Geschichtenerzählens, die bei den Inugguit vor allem während der Jagd gepflegt wird. Aber gejagt wird immer seltener. Ein wichtiger Grund dafür ist der Klimawandel. Denn die Geschichten der Inugguit sind eng verknüpft mit dem Eis auf dem Meer. Und das Eis zieht sich immer weiter zurück. OTON 13 LEONARD 25'23 Every hunter will tell you up in the early 90ies something happened to the climate. Up until that point they knew with 90% certainty when the sea ice would come. It would come in September and leave in July. That left you a window of 6 weeks of open water. So most of the year the hunters were hunting on sea ice. When I was there I was out on the sea ice for the first time on the 5th of December. From September to Dec we had this very long period of sea trying to form. Certainly you could not go out on it, it was like a soup. That period was usually 2 weeks. But now it can be two months or more. ÜBERSETZER: Jeder Jäger dort wird Ihnen sagen, dass sich das Klima Anfang der 90er verändert hat. Früher wussten sie mit großer Sicherheit, dass das Meereis im September kommen und im Juli verschwinden würde. Das Einfrieren und Schmelzen dauerte etwa zwei Wochen. Das ist jetzt nicht mehr so. Als ich dort war, dauerte es von September bis Dezember bis das Eis sich gebildet hatte: es war wie eine Suppe, die nicht richtig fest werden wollte. Die Jäger müssen also zwei Monate oder mehr warten, bevor sie wieder aufs Eis gehen können. KÜRZUNG!!! OTON 14 fällt weg!!! (Maybe I had a slightly ... rapid one.) Sprecher: Stephen Leonard war mit großen Idealismus nach Qaanaaq gereist. Er wollte ein Buch schreiben über und für die Inugguit und ihre Sprache. Doch das Interesse der Einheimischen an einer gedruckten Dokumentation hielt sich in Grenzen. OTON 15 LEONHARD #00:15:17-2 They did not want that. They can read but they tend to chose not to. Its rare that you'll find books when you go into their homes. ÜBERSETZER: Sie wollten das aber nicht. Sie können lesen, aber sie bevorzugen es in der Regel, dies nicht zu tun. Wenn sie die Inugguit in ihren Häusern besuchen, werden sie selten Bücher finden. MUSIK TROMMELTANZ Sprecher: Also versprach Stephen Leonard den Inugguit, dass er für sie eine DVD machen wird. Mit Filmen von Personen, die Geschichten erzählen und Dinge erklären, mit Gesängen und Tänzen. Diese Dokumentation könnte für Menschen in Qaanaaq in Zukunft wichtig werden - und ihre kulturelles Selbstbewusstsein stärken. Die Zukunft ihrer Sprache aber bleibt ungewiss. OTON 16 LEONARD We loose a language every two weeks of the year. Linguistic diversity is disappearing very rapidly and I think it is important to document these languages. ÜBERSETZER: Wir verlieren alle zwei Wochen eine Sprache. Die sprachliche Vielfalt verschwindet sehr schnell. Ich denke darum, dass es wichtig ist, diese Sprachen zu dokumentieren. Sprecher: Aber nicht jede Sprache, die bedroht ist, stirbt am Ende wirklich. Die deutschen Dialekte zum Beispiel werden vom Hochdeutschen bedroht. Schon in den 70iger Jahren prognostizierten Sprachwissenschaftler darum, dass die Dialekte in Deutschland verschwinden würden. OTON 17 SCHLOBINSKI Und trotzdem ist heute so, dass überall auch Dialekte gesprochen werden. Der Druck ist zweifelsohne da. Trotzdem scheint der Wert des Dialektes, so stark zu sein für die Menschen, dass der Druck nicht so stark ist, dass diese ganzen Varianten verschwinden - und ich glaube und hoffe auch, dass das so bleibt. Sprecher: Viel hängt daran, ob die Eltern mit ihren Kindern in der jeweiligen Sprache sprechen, ob die politischen Bedingungen für die Sprache und ihre Sprecher förderlich sind und ob die Sprache in der Schule unterrichtet wird. Sprachexperten sind heute der Meinung, dass es ein ganzes Bündel an Maßnahmen braucht, um eine Minderheitensprache langfristig zu stärken. Aber nicht immer ist das möglich. OTON 20 BECK Und dann frage ich mich manchmal, ja ist das schlimm? Ich denke Humboldt würde sagen ja, selbstverständlich, ist das schlimm. Und viele meiner Kollegen sagen auch, das ist ganz schlimm. Weil in Sprache auch kulturelles Wissen, soziales Wissen semantisch verankert abgelegt ist. Und das stimmt schon. Das ist schon schade, wenn Sprachen verschwinden. Aber auf der anderen Seite entsteht eben tatsächlich etwas Neues! MUSIK Senegalesischer Rap ATMO HAFEN BOOT, GOREE ATMO File 90 10'53 Schiffshupen Sprecher: Im Hafen von Dakar hat sich eine Menschenschlange gebildet. Einheimische und Touristen wandern langsam durch ein Schiffsfahrts-Terminal und von dort auf eine kleine Fähre, die in frischem Weiß gestrichen ist. Sie bringt die Menschen zur Insel: Île de Gorée. Dort befindet sich, direkt am Ufer, die berühmte Maison d'Esclaves, das Sklavenhaus, ein Gebäude aus dem 18. Jahrhundert, mit zwei schwungvollen Treppenaufgängen. Touristenführer erzählen, dass von hier aus Hunderttausende von Sklaven nach Nordamerika verschifft wurden. Manche Historiker bezweifeln das, sie halten das Sklavenhaus nur für einen eindrucksvollen Ort, an dem die Erinnerung gepflegt wird. ATMO Hafen, Terminal Sprecher: Unbestritten ist jedenfalls, dass es an der afrikanischen Westküste damals zahlreiche solche Sammelstellen für Sklaven gab. Hier wurde in großem Stil die Massen-Verschleppung organisiert. Französische und afrikanische Händler trafen sich hier, pflegten enge Beziehungen, Ehen wurden geschlossen. Über die Jahre flossen so immer mehr französische Elemente in das Wolof ein. In Dakar nahm die Sprache dann eine rasante Weiterentwicklung - bis zum heutigen städtischen Wolof. ATMO Hafen Stimmen MUSIK Rap OTON 22 NDAIYE La c'est la grande difficulté pour nos langues Africaines. Pour le Wolof, le Pular et les autres. En fait ce ne sont pas des langues d'instruction. Ils ne sont pas tres formalisé. Il n y a pas de contraintes. Alors pour le Français il y a des contraintes ! Si on le dit mal tout le monde rit. Mais au Wolof, il y a des erreurs, et les gens continuent, meme des chanteurs l'on fait. Par exemple : Pour la clé : Caabi. Caabibi c'est comme tu dis un clé au lieu de une clé - tu dis un clé. Eux il le font et personne ne rit. Les gens pense que c'est normal, alors que c'est pas normal. ÜBERSETZER: Das große Problem für unsere afrikanischen Sprachen, Wolof, Pular, und all die anderen, besteht darin, dass sie nicht an der Schule unterrichtet werden. Sie sind also nicht sehr formalisiert, und es gibt keine Grenzen. Im Französischen ist das anders. Wenn da jemand einen Fehler macht, lachen die Leute ihn aus. In Wolof aber machen die Leute, was sie wollen. Nehmen wir das Wort "Der Schlüssel" zum Beispiel: "Caabi" (sprich: Cha-bi) Die Leute sagen plötzlich Caabibi (sprich: Cha-bibi) Das heißt "Die Schlüssel". Ich habe sogar schon bekannte Sänger gehört, die diesen Fehler machen. Sie machen das und denken sich nichts dabei. Und die Leute denken irgendwann, es sei normal. Aber es ist es nicht normal! Sprecher: Seydou Nourou Ndiaye ist Inhaber eines kleines Verlags in Dakar mit Namen "Edition Papyrus Afrique". Der 50jährige verlegt Bücher von Autoren, die in den verschiedenen Landessprachen Senegals schreiben, und er ist Herausgeber einer kleinen Zeitung in den Sprachen Wolof und Pular. OTON 22 NDAIYE La colonisation a contribué a minimiser. Même la médicine traditionelle, Africaine, la musique Africaine traditionelle, tout est dévalrisoé. Au profit du Français qui est modern. Tout-ce qu'il font c'est moderne. Tout ce que font les autres c'est vieux c'est les autres. Moi je trouve ce qu'on devrait faire c'est comme les chinois : Nous dire que on a un substrat culturel qui est la, par rapport a la medicine, par rapport a nos langues. Et non a dire que tous ce que avons nous est mauvais. Et tous ce que les autres nous apportent c'est bon. C'est comme si on s'arrache un pied. Avec un seul pied on ne pourrait jamais marcher. ÜBERSETZER: Die Kolonialisierung hat unsere Kultur verdrängt und entwertet: Die traditionelle Musik, die traditionelle Medizin, die Kultur insgesamt. Und das alles zugunsten des Französischen, das als modern gilt. Alles was SIE tun, ist modern. Alles was wir selbst tun ist alt. Wir müssen aufhören zu glauben, dass unsere eigenen Dinge schlecht sind und alles, was die Leute uns von außen, bringen gut ist. Wir sollten uns die Chinesen zum Vorbild nehmen und sagen: wir haben ein kulturelles Substrat in unserer Medizin aber auch in unseren Sprachen, das wir bewahren wollen. Aber mit uns ist es so, als hätte man uns ein Bein ausgerissen. Und auf einem Bein kann niemand laufen. ATMO 6'02 Hupen ATMO 7'10 im Auto Sprecher: Seydou Nourou Ndiaye fährt mit dem Auto durch Dakar, zu Terminen mit Autoren, Händlern, Freunden. Er fährt durch Straßen mit Bürgersteigen, auf denen sich die Menschen drängen und auf denen Künstler ihre Bilder an Zäunen ausstellen, vorbei an Slum-Siedlungen. In dieser vielsprachigen Metropole, für die "Schmelztiegel" nur eine unzureichende Metapher ist, entwickelt sich das städtische Wolof. OTON 24 BECK Es gib tatsächlich so eine Spannung zwischen diesem "Wolof Pir", pir ist pur, ja, da hört man das schon, das pure Wolof wird mit einem französischen Wort bezeichnet. Und diesem Urban-Wolof. Ich glaube, dass diese Spannung Ausdruck ist dieser städtischen Veränderung. Der Veränderung von Gesellschaft. Wo man sich sieht zwischen Tradition und Moderne. ATMO 20' Schritte, Stimmen Leute ATMO 1'10 Muezzin, Frauenstimme, Schritte, Autos, Sprecher: Im Viertel HLM (sprich Asch-el-Em), in dem Seydou Nourou Ndiaye aufgewachsen ist, schieben sich Pferdekarren und moderne Geländewagen über die Straßen. Der Asphalt ist immer wieder von hellem Sand überdeckt. Ndiaye begrüßt einen alten Schulfreund, Abdul Khader, den Imam des Viertels, der eine franco- arabische Koranschule betreibt. OTON 25 IMAM Cette maison est uniquement pour ca. Pour que les enfants aprennent au meme temps l'arabe et le francais. Les deux. Des enfants de 3 ans. Il y a 2 classes la haut. 5'56 Non ca ne suffit pas. On les a ici pour des cours de rattrapage. Même jusqu'au niveau de bac. ÜBERSETZER: Dieses Haus ist dazu da, den Kindern Arabisch und Französisch beizubringen. Wir beginnen im Alter von 3 Jahren, geben ihnen Nachhilfe in Sprachen und begleiten sie bis zum Abitur. ATMO 6'20 Imam im Inneren Stimmen ATMO 1'40 SG Stimmen ATMO 3'50 Espagnol: Un pocco. Si. (Kleiner Junge liest aus dem Koran vor.) Sprecher: Indes gibt es für das städtische Wolof keine politische oder religiöse Lobby, keine strengen Lehrer, keine bemühten Eltern. Aber es gibt die Schule der Straße, und die Kreativität der jungen Leute. MUSIK RAP OTON 26 IMAM Il font n'importe quoi. Il font du tout un peux. L'Anglais, l'Allemand, Wolof. (...) 12'50 Ils ont leur propre expression. Ca differe completement, parce que il ont leur language a apart. (..) Tres different du notre. ÜBERSETZER: Sie tun alles Mögliche, machen irgendeinen Quatsch. Sie bedienen sich überall. Bei allen Sprachen. Sie haben eine ganz eigene Art sich auszudrücken. Völlig anders als unsere Sprache. OTON 27 SCHLOBINSKI Das ist das Prinzip der Brickolage. Das spielt bei Jugendlichen eine große Rolle. Man zitiert immer wieder etwas. Dann kann man das zitieren, das wäre so eine Art mimetische Zitation. Oder ich kann das verfremden. Es erhält sozusagen eine neue Bedeutung, oder eine Bedeutungsnuance. Und dann wird mit dem Material gespielt. Brickolage heißt ja Bastellei. Und dieses Bastel spielt eine große Rolle bei Jugendlichen in der Sprache. - Und das Pendant in der Musik ist das Sampling. Auch da ist es ja so, dass vieles übernommen wird, in einen neuen Kontext gestellt wird und erhält dadurch auch eine neue Bedeutung. MUSIK, Senegalesisch Rap OTON 28 IMAM FORTS Et c'est dans toutes les domaines. Même dans l'enseignement Français. Ca a tendance a se devaloriser. ÜBERSETZER: Und dieser Sprachumgang betrifft bei uns alle Lebensbereiche. Bis hin zum Französisch-Unterricht. Ich sehe hier einen Trend zur Entwertung der Sprache. Sprecher: Die US-amerikanische Afrikanistin Fiona McLaughlin hat diese Skepsis gegenüber den neuen Formen des Wolof in Dakar untersucht und kommt zu dem Schluss, dass es vor allem die Senegalesen mittleren Alters sind, die etwas gegen die gegenwärtige Entwicklung des urbanen Wolof haben. Die älteren Menschen haben damit offenbar weniger Probleme, und die unter 30-jährigen wissen oft gar nicht, was das Problem sein soll. Rose Marie Beck. OTON 29 Die Jugendlichen heute, auch hier in Deutschland, die interessiert doch nicht, wie klassisches Deutsch aussieht. Die machen das einfach. Die sind auch daran interessiert, sich von der älteren Generation abzugrenzen. Und sagen sich: "Das ist das, was die Alten machen, das machen wir gar nicht mehr". Sprecher: In Deutschland hat der Rechtscheibratsvorsitzende Hans Zehetmair das Wort von der "Fetzenliteratur" geprägt. Er kritisiert damit die Kommunikation der Jugendlichen über SMS und Twitter. Aber ist es tatsächlich so, dass die Jugend die Sprache zerfetzt, dass die neuen Medien die Sprache in ihrer Tiefenstruktur zerstört? Nein, sagt der Sprachwissenschaftler Peter Schlobinski OTON 30 SCHLOBINSKI Also allein wegen dieser kleinen Kommunikationsformen Twitter und SMS auf Internet-Sprache zu schließen, das ist schon mal der erste Fehler. Und dann einen Kausalzusammenhang herzustellen zur Sprachkompetenz oder zur Schreibkompetenz ist der zweite Fehler. Sprecher: So hat etwa eine neuere Studie von Sprachforschern um Christa Dürscheid von der Universität Zürich hat ergeben, dass junge Leute die verschiedenen Schreibwelten - also Kommunikation mit neuen Medien einerseits und Schulaufsätze andererseits - durchaus voneinander trennen können. Die Eigenarten der modernen digitalen Kommunikation haben ihre klassische Schriftsprache nicht verändert. Offenbar unterschätzen die Sprachschützer die Jugendlichen und ihre sprachlichen Möglichkeiten. Sprachwissenschaftler hingegen nutzen aufwändige Forschungsmethoden, um zu ihren Urteilen zu gelangen: Sie führen methodisch trickreiche Interviews, und sie zeichnen umfangreiche Ton-Aufnahmen von Jugendlichen auf, die frei miteinander sprechen. Dieses authentisches Material lässt sich gewinnen, wenn ein Wissenschaftler sich über viele Monate einer speziellen Gruppe nähert und ihr Vertrauen gewinnt. Die Ton-Aufnahmen analysieren die Sprachforscher dann in mühsamer Detailarbeit. ATMO G 2'44 Leute vor der Radiostation, Treppen Sprecher: Sprachforscher und Ethnologen nutzen also ein besonderes Handwerkszeug, um mehr über die Entwicklung von Sprachen zu erfahren: Beobachtung, Interviews und Aufzeichnungen. OTON 31a MARIEME A 18 h, le match n'a pas encore commencé, le priemier, jo. OHNE ÜBERSETZUNG Sprecher: Beim lokalen Fernsehsender RDV in Dakar bereitet sich Marième Dieng auf ihre Sendung vor. Die 30-jährige Moderatorin ist stark geschminkt und wird bald die Nachrichten in französischer Sprache präsentieren. Marième Dieng ist stolz auf ihr klares, sicheres Französisch. Sie erzählt, dass ihre Mutter zu Hause immer großen Wert darauf gelegt hat, nicht nur Wolof, sondern auch Französisch zu sprechen. OTON 31 MARIEME " Pour parler bien Français ! Pour l'école. Pour avoir le verbe facile. Elle insistait en ca. En fait, c'était pour l'avenir quoi ! " Sprecher: Die Mutter wollte, das es ihre Kinder in der Schule leichter hatten und lernten, sich gut auszudrücken. In der französischen Sprache sah sie die Zukunft für ihre Familie. OTON 32 SERNIN (in Wolof / Kall (nur kurz hoch) Sprecher: Im Büro der Moderatorin sitzt, auf einem Sofa, noch ein weiterer Mitarbeiter des Senders: Der 26-järige Sernin Nyo. Er kommt ursprünglich aus einem Dorf in der Louga-Region, nordöstlich von Dakar. Neben der vornehm gekleideten Moderatorin wirkt der 26-jährige schmächtig, was vielleicht auch an seiner Jeans- Jacke liegt, die einige Nummern zu groß ist. Er arbeitet als "Security" bei dem Sender, sagt er. Französisch kann er nicht, dafür aber Wolof schreiben und lesen. Er wäre gern Wolof-Lehrer geworden, erzählt er, aber nun sei er nach Dakar gekommen. Und dann bringt er die Moderatorin zum Lachen - mit einer Wolof- Variante, die sie nicht versteht. OTON 33 SERNIN MARIEME Er spricht. LACHEN. Il dit qu'il peut me parler sans que je sache que il me dit des choses que je devrais pas savoir. ÜBERSETZERIN: Er sagt, dass er mir Dinge sagen kann, ohne dass ich merke, dass er dabei Dinge sagt, die ich nicht wissen darf. OTON 34 SERNIN MARIEME (Er redet, sie lacht.) Il me dit que je vais au marché mais je ne comprends pas ce qu'il me dit. (Sie lacht.) Sprecher : Kall oder Wolof-Codé heißt diese Jugend-Sprache, bei der die Silben der Wörter in Wolof vertauscht werden. Das Wort "Dakar" heißt plötzlich "Kar-da". OTON 35 SERNIN MARIEME Comme Dakar il dit : kar-Da. Voilá. (Sie lacht.) OTON 36 BECK Das ist natürlich ein typisches Jugendsprachenphänomen in Afrika insgesamt. Diese Sprachkreativität. Wo man zurück greift auf Sprachspiele, die vor allem von Kindern und Jugendlichen gepflegt werden. Das ist das Verdrehen von Silben, das kennt man aus dem französischen Kontext als Verlan, aber das beobachte ich quer über alle Jugendsprachen in Afrika, dass solche Sachen gebastelt werden. Oder man kürzt die Wörter ab. Und hängt noch ein O hintendran. Oder überhaupt neue Worte zu erfinden. Das ist eine unglaubliche Sprachkreativität, die mir da entgegen tritt. Wo ich sagen muss, das finde ich in Deutschland, da findet sich diese Kreativität auch. Aber nicht in diesem überbordenden Maße. Sprecher: In den Städten Afrikas treffen Menschen sehr unterschiedlicher Herkunft aufeinander. Meist sind es junge Menschen, 60 Prozent der Stadtbewohner sind unter 25 Jahre alt. Die Städte wachsen, sie werden zu Zentren der Kulturproduktion: Musik, bildende Kunst, Sprachen. Die neuen Sprachen, die dort entstehen und sich weiterentwickeln, sind nicht mehr die Sprache der Kolonialherren oder die Sprache der nationalen afrikanischen Eliten. Es sind die Sprachen der jungen Menschen in der Stadt. OTON 37 BECK Wir können sehen, dass in manchen afrikanischen Ländern sich Stadtsprachen anfangen auszubreiten - über das ganze Land. Es gibt so Tendenzen, Nationalsprachen zu werden. Das können wir sicherlich beim Wolof sehen, obwohl es in Konkurrenz zum Französischen steht. Klar, es gibt eine Bildungselite, die sagt, Französisch ist unsere Nationalsprache. Aber de facto, wenn man schaut, wer die Sprachen am meisten spricht, dann ist es Wolof. Ähnlich können wir so einen Prozess in Kenia sehen, wo Sheng erst mal eine Jugendsprache gewesen ist - und nach wie vor ist. Und daraus entwickelt sich so ein allgemeineres Sheng. Man kann dann sehen, dass Sheng sich weiter ausbreitet auf andere Städte in Kenia. Wie in einem Prozess von unten, in einem Alltagsprozess eine Nationalsprache entsteht, ein nationales Gefühl, über diese Sprache. Wir können das sehen in der Elfenbeinküste mit Nouchi, wir können das sehen in Kamerun mit Camfranglais. Sprecher: Eine wichtige Entwicklung für Afrika, diesem Kontinent, auf dem die Nationalstaaten schon immer schwach waren: Die Städte und ihre Kulturen werden zu den entscheidenden Impulsgebern der Gesellschaften. Rose Marie Beck. OTON 38 BECK Da, finde ich, entsteht eine eigene, eine eigenständige afrikanische Moderne. Die nicht mehr unbedingt mit Modernitätsbegriffen aus Europa beschrieben werden kann. Da gibt es wieder die Parallele zur Stadt. Nach europäischen Stadtkriterien gibt es keine Städte in Afrika. Es gibt keine funktionierende Infrastruktur, es gibt keine funktionierende Verwaltung, es gibt keine funktionierende Lebensmittelversorgung, usw. Aber trotzdem funktioniert es. MUSIK : Y'en a marre: " FAUX ! PAS FORCÉ " Sprecher: (darüber) Der Titel "Faut par forcer ", "Du sollst es nicht erzwingen" der Band "Y'en a marre" spielte eine wichtige Rolle im senegalesischen Präsidentschafts-Wahlkampf Anfang 2012, auf den Straßen aber auch auf der Internet-Platform "Youtube". Die Sänger beschrieben in Wolof den Machtmissbrauch des langjährigen Präsidenten Abdoulaye (sprich: Abu-lei) Wade. Sie sagten ihm den Kampf an, forderten ihn auf zurück zu treten. "Abdoulaye, Du sollst es nicht erzwingen". Abdoulaye Wade verlor die Wahl. RYTHMISCHES MUSIKBETT OTON 39 SCHLOBINSKI Wenn ich mir Globalsprache anschaue. Ich sehe das fast wie einen Organismus, als Ganzes. Natürlich ist es so: Manche Sprachen sterben aus. Auf der anderen Seite haben wir immer noch eine unglaublich Sprachenvielfalt. Es entstehen neue kulturelle Zusammenhänge, es entstehen neue Medien, neue Techniken. Es entsteht auch sprachlich immer was Neues. OTON 40 BECK Und das stimmt schon. Das ist schon schade, wenn Sprachen verschwinden. Aber auf der anderen Seite entsteht eben tatsächlich etwas Neues! (...) Man muss auch sehen: die Menschen selber sterben nicht, sie tragen natürlich ihr kulturelles Wissen weiter. Und verankern das neu, in einer neuen Sprache. ENDE 2