KULTUR UND GESELLSCHAFT Organisationseinheit : 46 Reihe : LITERATUR 19.30 Kostenträger : P.6.2.11.0 Titel der Sendung: Der Himmel ist von tausend Freiheits- fackeln aufgehellt -Franz Pfemfert und "Die Aktion" Autor : Klaus Schuhmann Redaktion: : Sigried Wesener Sendetermin : 24.05.2011 Besetzung : 1. Sprecher : 2. Sprecher : Zitator Regie : Urheberrechtlicher Hinweis: : Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zweckengenutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig Klaus Schuhmann "Der Himmel ist von tausend Freiheitsfackeln aufgehellt" Franz Pfemfert und die Wochenschrift "Die Aktion" Zitator: Ich setze diese Zeitschrift wider diese Zeit! Als ich im vordersten Schützengraben diese Zeilen las, als ich den Titel "Die Aktion" vor mir sah, als ein Gedicht neben dem andern mein Leid, meine Angst, mein Leben und meinen voraussichtlichen Tod beschrieb, und verdichtete, als ich mich selber unter denen fand, die wirklich Kameraden waren, ohne einen höheren Befehl als den der Menschlichkeit, da wurde mir bewußt, daß kein gottgewolltes Schicksal waltete, daß kein unveränderbares Fatum uns in diesen Dreck führte, sondern daß ein Verbrechen an der Menschlichkeit und dem Menschen dazu geführt hatten. Diese Erkenntnis verdankte ich Pfemfert und seiner "AKTION"! 1. Sprecher Der Regisseur und Theaterleiter Erwin Piscator über eine Zeitschrift, die vor 100 Jahren, im expressionistischen Jahrzehnt, in der Hauptstadt des deutschen Kaiserreichs Berlin begründet worden ist. "Die Aktion" unterschied sich von bisherigen literarischen Publikationen. Die Wochenschrift erinnerte zwar in Erscheinungsweise und Format an Zeitungen, doch ihr Herausgeber Franz Pfemfert programmierte ihre inhaltliche Bestimmung anders als bis dahin üblich: "Politik, Literatur und Kunst". ?ereits auf der Titelseite annoncierte er damit unverkennbar sein Programm. Dass er "Politik" als sinntragenden Begriff an die erste Stelle setzte war ein sichtbares Zeichen dafür, dass hier ein Publizist begann, Schriftsteller um sich zu scharen und ihnen eine Tribüne zu verschaffen. 2. Sprecher Franz Pfemfert, 1879 geboren, in Berlin aufgewachsen, seiner Ausbildung nach Fotograph und auf autodidaktische Weise mit dem Wissen ausgerüstet, das ihn zum Journalisten machte, war als Herausgeber einer Wochenschrift kein Berufsanfänger mehr. Er hatte sich in den Jahren zuvor sowohl als Schreiber als auch als Redakteur lange genug erprobt und ließ in einer "Note" des ersten Heftes auch schon wissen, welchen Kurs er politisch und literarisch steuern wollte: nämlich einen ehrlichen Radikalismus als Gegengewicht zu der traurigen Gewohnheit der pseudoliberalen Presse, neue politische Regungen lediglich vom Geschäftsstandpunkt aus zu bewerten, also sie totzuschweigen. 1. Sprecher: Ein vergleichbares politisch-literarisches Potential schlummerte in der jungen, antiautoritär gestimmten Generation, die heute allzu pauschal unter dem Sammelbegriff Expressionismus rubriziert wird. Zu ihr fanden sich bald auch zwei ältere Autoren wie Heinrich Mann und Carl Sternheim, die mit ihren Romanen - 1913 erschien "Der Unter- tan" - oder mit den Komödien aus dem "bürgerlichen Heldenleben" vorgearbeitet hatten. Von diesen jungen Schriftstellern wuchs Pfemfert in den nächsten Jahren eine zweite Profession zu: die des Verlegers und Organisators, der es sich zur Aufgabe machte, seine Autoren bei öffentlichen Lesungen vorzustellen oder ihre Beiträge als gedrucktes Buch an die Leser zu bringen. 2. Sprecher Aber nicht nur die junge Autorengarde von Johannes R.Becher und Gottfried Benn bis zu Franz Werfel und Alfred Wolfenstein konnte Pfemfert im Lauf der Jahre um sich und seine Wochenschrift versammeln, eine nicht geringere Zahl bildender Künstler sorgte dafür, dass seine Editionen auch zum Blickfang für seine 7000 Abonnenten wurden, die auf diese Weise mit zahlreichen Bildschöpfungen von Ludwig Meidner bis zu Max Oppenheimer bekannt gemacht wurden und deren französische Kollegen Ludwig Rubiner unter dem Titel "Maler bauen Barrikaden" vorstellte. 1. Sprecher In jeder Ausgabe präsent war Pfemfert selbst: mit programmatischen Aufsätzen und der Rubrik "Kleiner Briefkasten". Darin " finden sich Glossen über zahlreiche Kriegs- Poeten á la Ludwig Ganghofer und über konformistische Schriftsteller wie Walter Flex und Hanns Heinz Ewers. Unter der Rubrik "Ich schneide die Zeit aus, zitierte er während des Krieges Ewers' "Das Lied von der 'Emden'". Zitator: Der Kapitän der "Emden" sprach: "Verdammt noch mal und zugenäht! Nun liegt der deutsche Handel brach! John Bull hat mächtig aufgedreht und bläht sich hinter jedem Riff.....; 1. Sprecher Diese Reime hatten es 1917 sogar bis in die 'Lesestücke für die Unter-Klassen Sexta bis Quarta des Deutschen Lesebuchs für höhere Lehranstalten'" geschafft. 2. Sprecher Der Kritiker Kurt Pinthus, der 1920 die umfassendste Sammlung expressionistischer Gedichte unter dem Titel "Menschheitsdämmerung" herausbringen sollte, porträtierte bruderschaftlich seine Freunde Franz Werfel und Wilhelm Klemm, die wiederum mit mehreren Beiträgen in der "Aktion" vertreten waren. Auch Pfemfert selbst rühmten seine Beiträger in ihm gewidmeten Gedichten. 1. Sprecher Auf diese Weise wurde der "Aktions"-Herausgeber ein Jahrzehnt lang von 1911 bis 1918/19 einer der wichtigsten Mediatoren jener deutschen Intellektuellen, die sich nach Kurt Hiller "Aktivisten" nannten und 1920 im Zeichen der "Menschheitsdämmerung" bereits wieder dabei waren, sich in der Weimarer Republik zu zerstreuen. 2. Sprecher Obwohl sich die Tagesaktualitäten auch in einer Wochenschrift spiegeln, loten die meisten Beiträge das Zeitgeschehen tiefer aus als es in der Regel in einer Tageszeitung geschieht. Es ist eine Wahrnehmung des Zeitgeschehens, die in größeren Dimensionen die Themen-Agenda Pfemferts bestimmt, was allein schon die Überschriften seiner eigenen Texte zeigen: Zitator "Europas Wahnsinn", "Mars regiert die Stunden", "Vom Patriotismus" 2. Sprecher und sein 1918 verfasster "Aufruf der Antinationalen Sozialistenpartei (ASP). Die Gruppe Deutschland der ASP hatte sich 1915 im Kreis um die "Aktion" gebildet. Unter dem Manifest stehen die Namen: Ludwig Bäumer, Albert Ehrenstein, J.T. Keller, Kurt Otten, Franz Pfemfert, Heinrich Schaefer, Hans Siemsen, Carl Zuckmayer. Ist es in diesem Aufruf das Wort "Weltrevolution", mit dem er die Dimension der von dieser Gruppierung verfolgten politischen Ziele auf den Punkt bringt, war es in den Jahren zuvor der Krieg mit dem sich der Herausgeber und seine Beiträger auseinandersetzen: Heinrich Mann 1916 mit einer Vorrede zu seinem Zola-Essay, die meist zum Militärdienst eingezogenen jüngeren Autoren mit "Versen vom Schlachtfeld". 1. Sprecher In der Wochenschrift wurden im zweiten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts bereits Fragen formuliert, vor die sich Schriftsteller und Intellektuelle in den folgenden Dezennien wiederholt gestellt sahen: "Macht und Geist". Wobei mit dem Anfangswort in der Regel all das gemeint war, wofür die exekutiven Organe des wilhelminischen Kaiserreichs standen: der Staat mit seiner Justiz, der Polizei und den für Zensur zuständigen Behörden, das Militär mit seinen Hierarchien, aber auch die in der Gestalt des Bürgers auftretenden Väter und die ihnen nachfolgenden Erzieher an den Schulen und Universitäten. 2. Sprecher Für Pfemfert als Herausgeber kam - wie für Karl Kraus in Wien - die Presse dazu, deren apologetische Rolle er besonders in den Kriegsjahren an schauerlichen Beispielen patriotischer Verblendung allein durch das bloße Zitieren desavouieren konnte. Im Lager der intellektuellen Opposition wurde dem Begriff "Geist" das Wort "Tat" beigegeben, worin sich bei Heinrich Mann der Glaube aussprach, dass es - wie einst in der französischen Revolution - die in den Köpfen der Geistigen geborenen Ideen sein werden, die wirklichkeitsverändernde Taten hervorrufen können. Dazu kam es freilich erst, als sich mit dem Kriegsende 1918 der Zusammenbruch des Kaiserreiches und die Novemberrevolution abzeichneten und sich Künstler und Intellektuelle in der "Novembergruppe" oder im "Rat geistiger Arbeiter" zusammenschlossen und Schriftenreihen gegründet wurden wie die "Tribünen der Kunst und Zeit" und Aufrufe kursierten, wie Iwan Golls "Appell an die Kunst". Zitator: Kunst ist kein Beruf. Kunst ist kein Schicksal. Kunst ist Liebe. Liebe erheischt Gegenliebe, ist eine bilaterale Angelegenheit. Kunst erheischt Publi- kum, ist eine öffentliche Angelegenheit. Kunst wird heute zur sozialen Liebestätigkeit. Darum, Künstler, tritt ins Volk und zeige ihm dein großes Herz, Deine Rufe an den Menschen, deine Volksreden, werden Gedichte sein. 1. Sprecher: Während die Intellektuellen vom Typ Pfemferts in ihren kritischen Artikeln das wilhelminische Kaiserreich mit Begriffen wie "Gottesgnadentum" für die Anmaßungen Wilhelm II. oder "Patriotismus" und "Militarismus" attackierten, machten die Schriftsteller ihren Spott oder Hass am Personal dieser Gesellschaft fest und gaben ihnen Namen und Gesicht. Die Richtung gab Jakob van Hoddis mit dem berühmt gewordenen Gedicht "Weltende" vor: Zitator: Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut, In allen Lüften hallt es wie Geschrei. Dachdecker stürzen ab und gehn entzwei, Und an den Küsten - liest man - steigt die Flut. Der Sturm ist da, die wilden Meere hupfen An Land, um dicke Dämme zu zerdrücken. Die meisten Menschen haben einen Schnupfen. Die Eisenbahnen fallen von den Brücken. 1. Sprecher: Wird hier noch ein von Naturgewalten ausgelöstes Chaos in ebenso schockierenden Bildern an die Wand gemalt, ist es in einem Gedicht von Georg Heym "Tiers État", der "dritte Stand" der französischen Revolution, der dem deutschen Bürgertyp gegen- übergestellt wird. Im Gedicht "Die Professoren" porträtierte Heym diese Spezies: Zitator: Zu vieren sitzen sie am grünen Tische, Verschanzt in seines Daches hohe Kanten. Kahlköpfig hocken sie in Folianten, wie auf dem Aas die alten Tintenfische. Manchmal erscheinen Hände, die bedeckten Mit Tintenschwärze. Ihre Lippen fliegen Oft lautlos auf. Und ihre Zungen wiegen Wie rote Rüssel über den Pandekten. Sie scheinen manchmal ferne zu verschwimmen, Wie Schatten in der weißgetünchten Wand. Dann klingen wie von weitem ihre Stimmen. Doch plötzlich wächst ihr Maul. Ein weißer Sturm Von Geifer. Stille dann. Und auf dem Rand Wiegt sich der Paragraph, ein grüner Wurm. 1. Sprecher: Keine Frage, dass es sich um Juristen handelt, wie sie Heym in seiner akademischen Ausbildung an der Berliner Universität kennen lernte. Gegen sie und Ihresgleichen bot der Mediziner Gottfried Benn in einem Gedicht "Räuber-Schiller" auf: Zitator: Ich bringe Pest. Ich bin Gestank. Vom Rand der Erde komm ich her 1. Sprecher: Auch er ist einer von denen, die mit anarchistischer Gewalt gegen die etablierte Welt angehen und die festgefahrenen Verhältnisse "aussprengen" wollen, wie es im Gedicht "Karyatide" vorgeführt wird: Zitator: Entrücke dich dem Stein! Zerbirst die Höhle, die dich knechtet! Rausche doch in die Flur, verhöhne die Gesimse --: sieh: durch den Bart des trunkenen Silen aus seinem ewig überrauschten lauten einmaligen durchdröhnten Blut träuft Wein in seine Scham. Bespei die Säulensucht: toderschlagene greisige Hände bebten sie verhangnen Himmeln zu. Stürze die Tempel vor die Sehnsucht deines Knies, in dem der Tanz begehrt. Breite dich hin. Zerblühe dich. O, blute dein weiches Beet aus großen Wunden hin: sieh, Venus mit den Tauben gürtet sich Rosen um der Hüften Liebestor - sieh', dieses Sommers letzten blauen Hauch auf Astermeeren an die fernen baumbraunen Ufer treiben, tagen sieh' diese letzte Glück-Lügenstunde unserer Südlichkeit, hochgewölbt. 1. Sprecher: In diesem Gedicht ist es die monumentale Architektur, wie sie in der Reichshauptstadt in Palästen und als statusgewordenes Zeichen von Saturiertheit manch ein Straßenbild prägte. Mit der Aufforderung: "Breite dich hin" konfrontiert er diese mit "Venus", einem Frauenbild, in das er all das inkarniert hat, was sich für ihn mit dem Begriff "Leben" verbindet. Ist es bei Benn die "Venus", in deren Zeichen die Fesseln der Konvention gesprengt werden, nennt Ernst Stadler seine in die Freiheit ausbrechende Titelfigur 1914 "Leoncita": Zitator: Der Himmel ist von tausend Freiheitsfackeln aufgehellt - Brich aus, Raubtier, Stürme an ihren erstarrten Reihen, Aufgerißnen Mäulern, schreckerstickten Schreien Vorbei In deine Welt! Brich aus, Raubtier! Brich aus! 1.Sprecher: Mit dem Beginn des 1. Weltkriegs hatte ein Großteil der deutschen Schriftsteller kein Verlangen mehr nach "Südlichkeit", sondern es wurde Wirklichkeit, was Franz Pfemfert Jahre zuvor vorausgesagt hatte: "Mars regiert die Stunden". Und auch der schon in den Vorkriegsjahren von Pfemfert beargwöhnte "Patriotismus" schäumte nun in kriegsbegeisterten Gedichten über, mit denen selbst schon betagte Schriftsteller wie Richard Dehmel und Gerhart Hauptmann bewiesen, dass sie zur Vaterlandverteidigung bereit standen. 2. Sprecher: Pfemfert dagegen stand mit seiner "Aktion" unter polizei-zensurlicher Aufsicht und hatte sich den Weisungen zu fügen, die ihm untersagten, diesem dichterischen Ansturm mit Gegenstimmen zu antworten. Er musste sich vorerst mit drei Todesanzeigen seiner Mitarbeiter Hans Leybold, Ernst Stadler und des französischen Schriftstellers Charles Peguy begnügen, der auf der anderen Frontseite gefallen war. Diesem Wort-Grabstein hatte Pfemfert den Satz beigefügt: Zitator: Ein Freund der Freiheit, ein Vertrauensmann der Völker, einer der größten lebenden Dichter mußte sterben. 1. Sprecher: 1915 mußte Pfemfert ein ganzes Heft seiner "Aktion" den inzwischen acht gefallenen Freunden widmen. Darin findet sich auch ein Gedicht mit dem Titel "Der Tod im Sommer" von Johannes R. Becher, das "Dem Andenken eines getöteten Dichters" galt: Zitator: Straßen des Sommers, Schwerter blitzende Schneiden Übers Geklüfte rasender Höllen gespannt! Half mir ein gütiger Geist nie, euch heil zu beschreiten; Bin in der Sonne stürzender Lava verbrannt. 1. Sprecher: Was tatsächlich an den Fronten geschah - Becher war nicht fronttauglich - wird von den Frontsoldaten umso drastischer ausgesprochen, so wie in Alfred Vagts' Gedicht "In der Stellung": Zitator: Tote der letzten Stürme liegen aus der zertretenen Erde hervor; Fußspuren sind auf ihnen gefroren wie Reben, aus denen die Nacht wächst, laubig über den Grabenrand 1. Sprecher: Die "Verse vom Schlachtfeld", die die Leser der "Aktion" zu lesen bekamen, entsprangen zunächst einem redaktionellen Notstand, den Pfemfert so angekündigt hatte: Zitator: Die Aktion wird in den nächsten Wochen nur Literatur und Kunst enthalten. Soweit es von meiner Kraft abhängt, von meinem Wollen, wird unsere Zeitschrift ohne Unterbrechung w e i t e r e r s c h e i n e n. Berlin, den 5. August 1914. 1. Sprecher: Es waren zwar keine explizit politisch-kritischen Gedichte, die in den ersten Kriegsjahren gedruckt wurden. Für die Ernüchterung derer, die mit dem Krieg eine "große Zeit" erwarteten, taugten sie dennoch, zumal die Kriegsdarstellungen im Lauf der Jahre mit so schonungslosen Bildern aufwarteten, wie sie der Maler Dix zeichnete und Edlef Köppen in Worte fasste: Zitator: SCHREIE Schreie brechen uns nieder. Irrende Rufe umkrallen uns. Des Weltenwahnsinns Orgeldröhnen rüttelt Tage und Nächte. Wie eine Mutter deckt sich der Himmel um seine Bäume: Sie sollen das Grauen nicht sehen! Bettet in Schnee seine Blumen: Sie sollen nicht schaudern! Aber wir stehen ganz, ganz allein. O Leben! LEBEN!! Warum hast du uns verlassen!! 1. Sprecher: Die beginnende Politisierung des Gedichts zeichnete sich seit 1916 schon sichtbarer in den Blättern der "Aktion" ab, als Johannes R. Bechers "Einleitung zu meinem neuen Versbuche" mit dem appellativen Titel "An Europa" erschien, in dem er bekundet: Zitator: Oh-: unser neues Buch, "An Europa" betitelt, begnügt sich nicht mehr damit, was wir mit "Verfall und Triumph" schon erreicht zu haben wähnen, nur weniger Eingeweihter sturmfester, immer sprungbereiter Kamerad zu sein; vor einem Parkett exzentrisch Erlesenster auf kleiner Bühne gedreht, mit dünnem Beifall zufrieden (...) Ja -: unser neues Buch, "An Europa" betitelt, stellt sich die nicht geringe Aufgabe (... zäher fanatischer Wille zur Politik, gespitzeste Technik, höllisches und himmlisches Erlebnis, so urteilt doch selbst, berechtigen es allen voraus dazu ...). Und so werden auch diese Gedichte keine andere Kritik je über sich anerkennen, als die nach der Weite tatsächlicher Wirkung. 1. Sprecher: Die anfangs noch hochpathetische Sprache des Expressionisten weicht bald einer appelativ-politischen, wie sie später auf Transparenten vorangetragen wurden: Zitator: Völker! Freunde! Ihr Angehörigen aller, aller Staaten! Provinzen des Geistes stellt euch! Erwidert. Erwidert! Haltet Versammlungen ab! Diskutiert. 1. Sprecher: So wie zu Beginn des Jahres 1918, als deutsche Munitionsarbeiter durch Berlins Straßen zogen und in den Streik traten gegen diesen Krieg. In Iwan Golls "Gedicht in Prosa" aus dem Jahr 1917 wurden vergleichbare Szenen bereits vorweggenommen: Zitator Schwelt noch gelber Schnaps in euren Mündern. Giert noch Dirnenblut in euren Augen. Hinter euch sind Schmerz und Qual und Not. Hinter euch zerschlagen liegt das Haus der Nächte. Höllen des Asphalts sind eingestürzt. Alle Winter glitschrig aufgetaut. Eure Fuselgassen sind gesäubert. Die mystischen Fabriken frieren nackt. Der Schlote steinerne Arme schleifen schlapp. Vergangene Frühlinge auf Bahndammhügeln! Hungernde ihr vor vollen Bäckereien! O ihr armen Schläfer der Sonntagmorgen! Auf! Die Sonne häuft euch brennende Scheiterhaufen. Das Pflaster singt euch unter den tanzenden Stiefeln. O ihr alle! .......... Morgenröte strahlt euch grünend um die Schläfen. Arbeit glüht nach euren starken Muskeln. Und der Menschheit Liebe ist bereit. 1. Sprecher: Im März 1918 ließ Pfemfert es sich nicht nehmen, ein Marx-Sonderheft zu dessen 100. Geburtstag herauszubringen und ihn per Zitat aus seinen Schriften zu Wort kommen zu lassen, am Schluss mit einem Satz über Ludwig Feuerbach: Zitator: Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt aber darauf an, sie zu verändern. 1. Sprecher: In den letzten Monaten des Jahres 1918 entledigte sich Pfemfert mehr und mehr den Fesseln der Zensur und ging dazu über, die aktuelle Politik wieder zu einem Thema in der "Aktion" zu machen. In mehreren Aufsätzen erreichte das Wort "Revolution" eine Spitzenposition: in Pfemferts Aufruf "Kameraden" und schließlich im "Aufruf der Nationalen Sozialistenpartei (ASP) Gruppe Deutschland", worin er noch einmal in Worte fasste, was in den Jahren zuvor geschehen war: Zitator: Wir, Volk, sind Opfer gewesen all der Verbrechen, die unter der Diktatur des Kapitalismus begangen wurden. Wir sind gestorben gräßliche Tode. Wir gingen unter mit der "Lusitania"; uns würgten und töteten die teuflischen Gase; unserer Hände Arbeit sahen wir zu "Brei" verwandeln in Flandern, an der Oise und über- all über uns ging es hinweg, als es über Luxemburg und Belgien ging; wir wurden zerrissen, als man unser Paris, unser London, unser Warschau ausgiebig mit Bomben zerstörte; wir sind die Vergewaltigten gewesen in Brest-Litowsk und in Bukarest. Immer: wir. Wir, Volk! In allen Sprachen wehschreiend, doch stets und immer wieder nur: wir! 2. Sprecher: Dass Franz Pfemfert das Fernziel "Weltrevolution" und seine Mitstreiter die Rolle der Intellektuellen als "Führer" ohne Erfahrungen in der Novemberrevolution proklamiert hatten, erwies sich alsbald in deren Verlauf, als die "Macht", personifiziert im Militär, die wichtigsten intellektuell-politischen Wortführer liquidierte: Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, mit denen Pfemfert befreundet war, und Kurt Eisner und Gustav Landauer, die Akteure der bayerischen Räte-Republik. Die Revolution verlief nicht so, wie sie sich der "Aktion"-Mitarbeiter Ernst Angel in seinem Gedicht "Der Zinn- General" erhoffte: Zitator: Armseliger Greis, in bunten Lappen schwankend, Wie wandelst du mir lächerlich entgegen: Am Boden schleppt der pensionierte Degen, Sechs Orden klimpern, deine Brust umrankend So sprengte wirklich einst auf Feindeswegen Dies Körperchen aus buntbemaltem Zinn? Zerbrach dein kaisertreuer Biedersinn Der jungen Söhne erstes Flügelregen? Und eigentlich verdrießt es mich enorm, Daß deine Stimme einst Kommandos krähte, Daß zwischen Leichen sich und Jodoform Der rote Streif an deinem Beine blähte - Bedenklich wächst die Wut: und ich zertrete Dich samt der goldgetünchten Uniform. 1. Sprecher: Wie es um das Verhältnis von Geist und Macht stand, wusste unter Pfemferts Mitarbeitern keiner besser als Carl Sternheim, der in der holländischen "Nieuwe Courant" in Haag mehrere Aufsätze publizierte, die Pfemfert zusammengefasst unter dem Titel "Die deutsche Revolution" nachdruckte. Der Herausgeber versah die Sammlung mit der redaktionellen Anmerkung: Zitator: daß er dennoch die Situation klar erkannt hat und nicht frühzeitig jubelte, freut mich... 1. Sprecher: Sternheim beschloss seine scharfsinnige Prognose, die Probleme der revolutionär ge- stimmten Schriftsteller voraussehend: Zitator: Es ist im Augenblick schwer, den exakten Sinn der sich neu bildenden radikalen politischen Gruppen zu erkennen, doch scheint uns ihr Auftreten im letzten Grund auch aus der erklärlichen Furcht erfolgt, es möchte mit neuen Namen und Schlagworten das alte kapitalistische Elend und Vorbereitung zu neuen Kriegen anheben, und ihr Hinweis auf den Terror bedeutet sicher nur die Drohung, schließlich vor nichts zurückzuschrecken, versuchten etwa die entthronten Schichten, neue Geistigkeit und ein anderes als einseitig kapitalistisch orientiertes Leben nicht annehmen, sondern wie stets bisher auch in dieser Revolution das Volk wieder durch ungeheure Mystifikationen betrügen zu wollen. 1. Sprecher: Nach 1918 begann Franz Pfemfert in der "Aktion" die zweite Etappe seiner nun ganz dem politischen Kampf gewidmeten öffentlichen Arbeit, die bis 1933 währte und ihn - wie auch für einige seiner früheren Mitstreiter - ins Exil führte. Zuerst nach Prag, wo Pfemfert wieder als Fotograph arbeitete, danach ins ferne Mexiko, wo er am 26. Mai 1954 starb. 2. Sprecher: Was Max Hermann-Neiße der Wochenschrift und ihrem Herausgeber anlässlich des zehnjährigen Bestehens bescheinigte, sichert ihr auch heute noch den Status eines Studienobjekts für Schriftsteller unserer Tage, die die bestehende Welt nicht kritiklos hinnehmen wollen und nach Wegen suchen, ihren Worten in der Konfrontation mit der Macht Geltung zu verschaffen: Zitator: Eine Zeitschrift ohne Kompromiss, ohne geschäftlichen oder sonst wie abhängigen Ehrgeiz, geleitet allein nach dem unerschütterlichen Ziel der Beseitigung jeglicher Welt- und Menschenausbeutung. Eine Zeitschrift, die auch heutigen Lesern den Blick für Kriegsverhinderung und Friedenserhalt schärfen und in den Debatten über die Bestimmung Europas im 21. Jahrhundert ein Wort mitsprechen kann. 15