DEUTSCHLANDFUNK Hintergrund Kultur / Hörspiel Redaktion: Sabine Küchler Das Feature Meine liebe Änne! Feature nach Briefen und Dokumenten aus den Jahren 1933 bis 1983 Von Ricarda Bethke Anna: Corinna Harfouch Änne: Frauke Poolman Richard: Bernt Hahn Regie: Thomas Zenke Wiederholung vom 21.03.2008 Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. © - unkorrigiertes Exemplar - Sendung: Donnerstag, 24. Dezember 2009, 23.05 ? 23.57 Uhr Anna: 1. Nie mehr gehe ich mit Änne auf dem Bahn-Damm unter den Kastanien nach Hause. Ich habe an Zügen das Zählen gelernt. Berlin ? München, München ? Berlin. 1944, wen oder was transportierten sie? Änne lauschte dem Schienenschlag. Ängste und Hoffnungen ihres Lebens verband sie damit. Später fuhr auch ich jahrzehntelang hin und her, her und hin. Berlin - Zuhause, Zuhause ? Berlin, und immer der Weg auf dem Damm. Eine aufgeregte, glückliche Änne holte mich ab, wenn ich sie besuchte. 1990 konnte man wieder von Berlin bis nach München reisen und auch nach Italien hinunter. Änne war alt, sie kam nicht mehr zum Bahnhof, um mich abzuholen. Weicher Wind im Februar 1994. Sie war gestorben. Ich stand auf dem Damm und sah über die Stadt hin auf den hellen Leib des Schlosses. Der Turm führte immer noch den langen Südflügel an wie eine ideale Lokomotive aus dem Barock. Mir war mein Zuhause verloren. Ansage: MEINE LIEBE ÄNNE! Feature nach Briefen und Dokumenten aus den Jahren1933 bis 1983 Von Ricarda Bethke 2. Anna: In Ännes Schrank fand ich zwei Taschen mit Briefen und Dokumenten. Die eine war aus feinem Schlangenleder, mit Seide gefüttert, zimtbraun, abgerieben, manche Nahtstellen gelöst, der Verschluss ausgerissen. Darin lagen Richards Karten und Briefe und drei schmale , schwarze Kalender! Unter ein ausgeleiertes Gummiband waren noch drei Diarien geklemmt, zwei davon Anatomie und Physiologie der Schwesternschülerin Änne T. Änne: "Geisteskrankheiten": Ein Mensch, der geisteskrank ist, muss es nicht unter allen Umständen bleiben, soweit sich die unnormalen, ihn krank machenden Zustände nicht immer schwerer werdend wiederholen. Anna: Und weiter unten ... Änne: " ... dann ist eine Änderung nur durch künstlich erzieltes Aussterben möglich". Anna: Auf den letzten Seiten des dritten, schmaleren Diariums, einem Tagebuch aus den Jahren 1943 bis 45, fand sich mit Bleistift in Sütterlin den Bericht über Ännes Zwangssterilisierung. Nie hat sie mit jemandem darüber gesprochen oder etwa eine juristische Anklage erhoben. Entsprechende amtliche Schreiben nach 1945 hat die Familie unterdrückt, so jedenfalls haben sie es mir nach Ännes Tod erzählt. Sie schämten sich, oder sie fürchteten sich, oder sie wollten Änne vor der Erinnerung schützen. Ich weiß es nicht. 3. Anna: Ein Polizist kam eines Tages in das Kinderheim in Kühlungsborn, in dem meine Mutter 1942 als Säuglingsschwester arbeitete. Einmal hatte sie mich, ihre kleine Tochter, mit in dieses Heim genommen, glücklich, dass sie mir das Meer zeigen konnte. Es gibt Fotos, die eine lächelnde Änne mit ihren neun kleinen Waisen im Hansahaus zeigen. Änne: Die Oberschwester Elisabeth rief mich und sagte:"Schwester Änne, da ist einer von der Polizei. ... Wir wissen, worum es sich handelt, wir sind sehr betroffen und können selbst nicht fassen, dass das mit Ihnen geschehen soll. Aber da ist nichts zu machen." Ich zog die Schwesterntracht aus, das dunkelblaue Kostüm an, nahm den Mantel und folgte dem Mann. "Das wird sich klären", dachte ich, "wieso sterilisieren"? Anne: ... sterilisieren? Änne: Plötzlich blieb ich halsstarrig stehen und ging nicht mehr weiter. Eine ohnmächtige Wut stieg in mir auf, und ich redete auf den Polizisten ein: "Wissen Sie, ich wollte keinen Skandal im Kinderheim machen und deshalb bin ich mit Ihnen gegangen, aber das lassen Sie doch nicht zu, das müssen doch auch Sie einsehen. Finden Sie nicht, dass hier etwas nicht stimmt?" Der Polizist war ein einfacher Mann, er beruhigte mich mit seiner tiefen Stimme: "Kommen Sie und sprechen Sie in der Klinik mit dem Arzt, das wird sich dann schon aufklären. Kennen Sie Rostock? Es ist eine sehr schöne Stadt, ich bin hier geboren. Würden Sie den Weg zur Klinik alleine finden?" " Nein", sagte ich und wunderte mich, Anna: wieso fragte der das? wieso? Änne: Sollte ich "Ja" sagen und dann weglaufen, oder was? Im unteren Flur der Klinik stand ein Mann im Kittel und in Schaftstiefeln am Fenster, müde wendete er den Kopf, aber er wich meinem Blick aus. Der Polizist brachte mich die Treppe hinauf zu einer jungen Ärztin. Sie hatte ein rundes, weiches Gesicht. Ich redete auf sie ein, dass das doch nicht im Ernst angewiesen sein könne, ich sei gesund und habe nur seelisch so stark unter dem Verlust des geliebten Mannes gelitten. Inzwischen hätte ich Arbeit gefunden, sei ausgeglichen und geheilt. "Ich will es versuchen", meinte die Ärztin: "Ich werde noch einmal mit dem Oberarzt Dr. Serne sprechen. "Gehen Sie inzwischen zur Anmeldung bitte!" Wozu? Sollte ich allein wieder die Treppe hinunter gehen? Sollte ich vielleicht einfach zur Tür hinausgehen, aus der Stadt weg, wo man mich unfruchtbar machen wollte, davon gehen? Der große Mann im Kittel war nicht mehr da. Anne: Ein Wachmann? Sie war alleine im Flur, draußen nieselte es. Sollte sie einfach so davon gehen? Wohin sollte sie gehen, eine von der Polizei Gesuchte. Änne: In das mir zugewiesene Bett legte ich mich nicht, ich zog mich auch nicht aus. Ich saß im Mantel und im Kostüm auf dem Bettrand und wartete. Ich wollte nur so lange bleiben, bis sich der Irrtum aufgeklärt hätte. Die kleine Ärztin kam: " Es ist nichts zu machen, das ist eine Anweisung, der Beschluss steht fest. Sie können froh sein, dass Sie das eine Kind haben. Anne: ... das eine Kind ... Änne: Dr. Serne trug mir auf, ich solle dem jungen Mädchen sagen, dass wir alle nur ausführende Organe sind." Sie war nicht mehr so freundlich wie vorher und versteckte sich hinter ihren Tabellen. Plötzlich stürmte mit wehendem Kittel ein junger Arzt zu mir herein, der mich fröhlich anlachte. Ich lachte nach Richards Tod selten, Anne: ... Richards Tod ... Änne: aber ich musste auch lachen und vergaß meinen Kummer. Ich glaubte, wenn der so flink und fröhlich zur Tür herein kommt, dann hat der eine gute Nachricht. Er sah sich die Akten an. Ich sagte: "Was man da mit mir vorhat, das ist doch ein Frevel, nicht wahr?" Er nickte, lächelte mir zu und ging. Und dann überrumpelten sie mich. Drei Weißbemäntelte kamen herein, hielten mich an Armen und Beinen fest, gaben mir die einschläfernde Spritze. Ich weinte und schrie noch bei Bewusstsein: "Das ist nie wieder gut zu machen!", Anne: ... nie wieder gut zu machen ... Änne: da kam die große Wehrlosigkeit über mich. Ich erwachte spät in der Nacht, vergebens rief ich: "Durst! So feuchten Sie doch wenigstens meine Lippen an!": Niemand kam. Ich hörte die Sirenen, Bombeneinschläge, die Flak, roter Widerschein, die Stadt wurde bombardiert. Der junge Arzt, der mich so angelacht hatte, kam an mein Bett. Er neigte sich über mich, hielt meine Hand, sah mir in die Augen und sagte ganz ernst: "Nicht! Weinen sie nicht, es kann noch sehr schön sein:" "Das ist jetzt vorbei", sagte ich und drehte mich weg. Er ging. Der hatte mich so lieb angelacht und hat doch mitgemacht. Die Tränen flossen mir aus den Augenwinkeln in den Mund. Auch in der zweiten Nacht wiederholten sich die schweren Angriffe auf Rostock, die Stadt brannte. Alles, was entlassungsfähig war, wurde entlassen. Die kleine Ärztin mit den braunen Augen hatte mir versichert, dass der Eingriff keine Folgen für meine soziale Stellung habe. Sechs Wochen danach erhielt ich meine Kündigung. 4. Anna : Die zweite, Dokumente enthaltende Tasche, stand unten in Ännes Schrank Sie war von einem stumpfen Grau. Eingerissene Schnellhefter aus blassen Pappen enthielten Zeugnisse, amtliche Schreiben, polizeiliche Meldeformulare und ein großes Heft aus den Jahren 1981 bis 1984, dicke , mit Filzstiften hastig hingeworfene Eintragungen durchtränkten das schlechte Papier. Viele der Zettel lösten sich auf, vergilbten, zerfielen, obwohl sie nur wenige Jahre alt waren. Richards Briefe und Karten dagegen von vor sechzig Jahren zeigten keinerlei Zeichen von Alter oder Zerfall. 5. Anna: Es gab in der Schlangenledertasche auch alte Briefumschläge mit dem Absender. Dr. Richard Schmincke, Tempelhof, Wiesener Straße 39. 1990 bin ich aus Ostberlin nach Tempelhof gefahren. Die Nr. 39 war ein Eckhaus, im Krieg zerbombt, in den Sechzigern wieder aufgebaut. Eines Sonntag nachmittags im Sommer 1929 klingelte Änne dort an der Haustür. Dr. Schmincke öffnete. Vor ihm stand ein großes Proletariermädchen, Bubikopf, hohe Wangenknochen, graue Augen, blasse bräunliche Haut, feines mittelblondes Haar. Ich bin die Änne, sagte sie, sie wolle zur Edith, seiner Hausangestellten, die hätte sie eingeladen. Änne und Edith tranken Kaffee im Garten. Zum Abschied sagte Richard, so selbstverständlich, wie er das zu allen sagte: "Komm doch mal wieder vorbei!" Änne kam wieder vorbei. Das Haus hatte immer viele Gäste. Einmal war Edith nicht da. Änne freute sich, dass Richard sie nicht wegschickte. Er legte ihr seinen Arm um die Schulter, sie lehnte ganz kurz ihren Kopf in seine Armbeuge und rieb ihn ein wenig hin und her, ehe sie sich losmachte. Das war schon viel. Von Änne sagte man:"die geht nicht in die Burschen". Ich stelle es mir so vor: Änne war nicht berechnend oder kokett, das gefiel ihm. Er war aufrichtig, fröhlich und klug, das gefiel ihr. Sie saßen auf einer sogenannten Chaiselongue, die später noch lange im Wohnzimmer meiner Großmutter stand. Sie war mit grünem Plüsch überzogen, der damals schon Stellen hatte, die in ein undefinierbares Goldgrün übergingen. Sie liebten sich. Alles war gut. Änne roch nach Gras und nach Wald. Sie muss ihn an sein hessisches Zuhause erinnert haben, an Altenritte, an den Apfelgarten. Meine Mutter hat mir vom Leben der Männer mit Frauen wenig erzählt, nur dass mein Vater ihren Geruch sehr gern hatte. 6. Anna: Der Neuköllner Stadtrat Dr. Schmincke war geschieden, ein allein erziehender Vater. Als er 1924 zum kranken Sun yat sen nach China fuhr, hat seine Frau ihn verlassen. Der bekannte Badearzt, im Winter in Bad Elster, im Sommer in Rapallo, war seit 1919 Kommunist, sächsischer Landtagsabgeordneter, Arzt im Mitteldeutschen Aufstand, verhaftet, freigelassen, schließlich Komintern -Beauftragter. Das hielt seine Frau Doris nicht aus. Den Jungen behielt er, und der Junge war schwierig. "Kein Wunder, so viele Frauen und keine Mutter", soll die Großmutter in Frankfurt immer gesagt haben. Ich weiß, dass meine Mutter auf einige Kolleginnen und Genossinnen Richards eifersüchtig war. Dr. Schmincke hatte als Stadtrat in Neukölln durchgesetzt, was er für die Mindestleistungen eines Gesundheitswesens überhaupt hielt: Fürsorge und Kuren für Lungenkranke, kostenlose, anonyme Behandlung für Geschlechtskranke, sexuelle Aufklärung, Milch für werdende Mütter und bedürftige Kinder. Zugang für Arbeitermädchen zum Schwesternberuf. Bei vielen Kollegen war er verhasst, weil er ihre Privilegien angriff. Er hatte linke, jüdische und ausländische Kollegen eingestellt und den Pflichtgottesdienst in den Krankenhäusern abgeschafft. Sie kannten sein Gutachten gegen die Ärzte im Lübecker Impfprozess und seine Verurteilung der Polizeigewalt vom Blutmai 1929. Er gehörte zu den Begründern des antifaschistischen "Klubs der Geistesarbeiter". Änne, die aus einer kommunistischen Familie kam, liebte und achtete ihn. Er förderte sie. Sie lernte Steno, Schreibmaschine, Englisch, schrieb Richards Reden mit, lernte Auto fahren. Sie ließ ihre Locken abschneiden. Das Seidige verschwand. Herrenschnitt. 28.2. 1933 Am Morgen nach der Reichstagsbrandnacht wurde Dr. Schmincke wie viele linke Prominente, die lange schon auf Goebbels' Listen standen, verhaftet. Seine Zelle in Spandau lag neben der von Egon Erwin Kisch. Die Gefangenen morsten sich über die Heizungsrohre zu. Sie hörten die Schreie aus den Kellern. Richards Briefe an Änne sind mit Bleistift auf sehr dünnem Papier geschrieben. Mit der Schere sind am oberen Rand viereckige Stücke ausgeschnitten, Häftlingsnummer und Zellennummer vermerkt. Richard: Spandau , Strafanstalt 1108 / Zelle 32 , 23. März 33 Liebe Änne! Deinen Brief vom 20. habe ich erhalten. Ich ersehe daraus, dass Du Arbeit bekommst. Sieh nur zu, dass Du durchhalten kannst, wenn es am Anfang auch schwer ist ... Wenn Du schreibst, möglichst mit Schreibmaschine schreiben, damit die Beamten die Briefe leicht lesen können. Suche auf alle Fälle um Sprecherlaubnis nach ... Anna: Änne hat ihm später seinen Gebetsteppich gebracht. Seine nackten Füße liebkosten das Muster. Manche seiner Freunde waren schon erschlagen. 7. Anna: Meine Mutter war im Virchow-Klinikum untergekommen. 1995 habe ich dort einen Todkranken besucht. Es bedrückte mich, wie hilflos er in seinen Schläuchen hing! Stumm lief ich im Gelände herum und dachte an Änne. Im ersten Hof suchte ich die Fassade ab, wo hat sie hinaus gesehen? Auf der zentralen Allee stellte ich mir vor, wie sie im weißen Häubchen eiligen Schrittes zu den Stationen abgebogen ist. Und weiter hinten? Dort hat man sie Jahre später in der Psychiatrie eingesperrt. 8. Anna : Als Richard nach dem Reichstagsprozess entlassen und unter Polizeiaufsicht gestellt wurde, fuhr er mit Ruth Lubliner nach Frankfurt zu seiner Schwester und seinem Sohn, " mit dem Wagen!" Was für ein Wagen? Das hat Änne mir nie erzählt. Das habe ich auf einer Postkarte an Hermann Duncker im Bundes - Archiv gelesen. Richard und Ruth versprachen Hilfe. Duncker, der Herausgeber marxistischer Literatur, war noch in Haft. Meine Mutter hat die jüdische Hautärztin und Kollegin Richards oft erwähnt, sie sagte immer -"die Lubliner", darin lag eine Mischung aus Abstand, Achtung und Angst. Ich befürchtete manchmal, dass diese Ruth umgekommen sei. Erst 1995 wandte ich mich an die Archive der jüdischen Gemeinde. Ich erhielt die schriftliche Auskunft, dass Frau Dr. Lubliner 1942 nach den USA ausgereist sei, als eine der letzten. Nur über Deckadressen bekam die Schwesternschülerin Post von Richard. Er, der Verfolgte, machte Änne Mut, mahnte sie zu Geduld und Fleiß und versicherte ihr, sie beide würden allen Widrigkeiten zum Trotz eines Tages wieder zusammen leben können. Änne lebte eingeschlossen im Schwesternheim mit Disziplin und Hitlergruß. Ich fand zwei nicht abgeschickte Briefe. Änne: Berlin, den 24. 2. 34. Lieber Richard! ...Ich sehe immer ganz ungewisser Zukunft entgegen. Eigentlich ist es eher gut, dass Ruth bei Dir ist. Sie muss Dich vor vielem schützen. Anna : Er war in Italien, auch in Rom, Capri, Florenz, reiste herum, verunsichert, wie gehetzt und scheinbar von verbilligten Fahrkartenangeboten beeinflusst. Als ich selber in Rom war, sah ich im Garten der Bäder des Domitian viele Reliefs römischer Elternpaare, Laren, Hausgötter. Ich will Richard und Änne zu so etwas wie meine Laren machen, die mich schützen und denen ich opfern kann. Keine marmornen Ideale, nein, wahrhaftige, nüchterne, hellgraue Porträts wie die im Garten des Domitian, aus einfachem Travertin! 9. Anna: Dr. Schmincke wollte oder konnte nicht emigrieren. Ein Angebot aus Russland lehnte er ab. Was ihn hinderte, das weiß ich nicht genau. Meine Mutter erzählte, dass er schon 1931 traurig und enttäuscht von seiner letzten Russlandreise zurück kam. Emigrierte er auch wegen Änne nicht? Sie trug an dieser Vorstellung später wie an einer Schuld. Im Februar 34 schrieb sie: Änne: Vernunftmäßig, Richard, weiß ich nicht, was das mit uns beiden noch werden soll, ich wünsche halt doch, dass Du wiederkommen möchtest, recht bald. Ich möchte manchmal aber auch, dass Du Ruth heiraten solltest, damit alles Ruhe hat . Änne. Richard: Capri, den 19.Februar 1934, Villa Floridiana. Meine liebe Änne! Du weißt, ich bin nach Italien gefahren, um zu sehen, ob ich hier wie vor dem Krieg praktizieren kann. Ich ging zuerst nach San Remo. Als ich etwa 14 Tage dort war, kam Frl. Lubliner an. Ich bin dann nach vier Tagen abgereist und habe alle meine Pläne dort aufgeben müssen. Nun bin ich einige Tage hier auf Capri. Ich habe mir ein Zimmer in einer leer stehenden Villa genommen und lebe von Milch, Obst, Makkaroni, Butterbrot und Käse. Wie schön wäre es, hier mit Dir zu sein. Aber in diesen für uns so schweren Zeiten muss man zuerst daran denken, wie jeder von uns eine Erwerbsmöglichkeit findet. Ich darf unter keinen Umständen die Ursache sein, dass Du Deinen Beruf aufgibst. Du weißt ja am besten, wie gerne ich mit Dir zusammen sein möchte. Aber es kommt ja nicht auf meine Wünsche an, sondern auf Dich und Deine Zukunft. Ich muss mit Fräulein Lubliner endgültig Schluss machen, denn sie schiebt sich wie ein Riegel zwischen uns beide. Was ich in der nächsten Zeit tue, ob ich schon nach Berlin komme, steht noch nicht fest. Es hängt auch viel von Dir ab. Deshalb bitte, schreibe mir einen recht langen ausführlichen Brief über Dich und Deine Gedanken. Für heute sei herzlich gegrüßt und geküsst von Deinem Richard. 10. Anna : Änne bestand 1935 ihr Staatsexamen. Richard freute sich darüber sehr. Sie lebten zusammen in Berlin, zwei Zimmer zur Untermiete. Richard war ohne Arbeit, das quälte ihn. Änne nahm Vertretungen an. Jedesmal, wenn es Hinweise auf ihr Verhältnis zu dem nun verfemten Neuköllner Stadtrat gab, wurde sie entlassen. 1937 mieteten sie am Kurfürstendamm eine kleine teure Wohnung und eröffneten eine Privatpraxis. Sein weißes Emailleschild "Dr. Richard Schmincke" habe ich auf einem der Fotos entdeckt, die er von Änne und seinem Sohn vor dem Haus Kurfürstendamm 178 gemacht hat. Zwei riesige Herkulesgestalten aus Stein bogen sich um einen prunkvollen Eingang. Er hat sich wohl viel versprochen von dieser Umgebung: Schutz durch scheinbaren Reichtum, Stille im Auge des Taifuns. Als ich 1990 diese Stelle aufsuchte, gehörte die ganze Ecke Bayer, IG Farben , die Nr. 178 aber war ein magerer Neubau mit einer rot bemalten Russenkneipe, dort trank ich Wodka mit Eis. Die Praxis brachte fast nichts ein. Verfolgte, die kaum zahlen konnten, alte jüdische Freunde, suchten Dr. Schmincke auf. Er bekam keine Kassenzulassung. Die ansässigen Ärzte wollten ihn los sein. Sie zeigten ihn an. Änne wurde zur Gestapo bestellt, sie erwies sich als klug und umsichtig. Ende 37 aber zog sie offiziell bei Richard aus und nach Weißensee in ein möbliertes Zimmer in die Buschallee. Wie viele An- und Ab-Meldeformulare habe ich in Ännes grauer Tasche gefunden! Trennungen oder Tarnungen ? In den drei Kalendern 37,38,39, fand ich ihre Notizen; Ausgaben , Telefonnummern, und immer ein großes M für Menstruation und viele große C's für Coitus neben vielen kleinen o's für ohne Präservativ und großen R's für Richard. Am 12. März, gibt es den Eintrag Österreich, Änne vermerkt Hitlers Annektion gleich neben einem C.o.R. Wie verzweifelt muss R. an diesem Abend gewesen sein! Er zögerte eine gemeinsame Italienreise hinaus. Änne: 14. März, Richard immer noch ohne Reiseentschluss, Anna: dann: 17. März Änne: gemeinsam nach Italien. ... Bolzano, Hotel Centralo, Sonnabend Milano, abends Rapallo. Anna: 21. März, mit Richard in Genua, 22. März, Pensione Zuagli, 24. März, Änne: Aurora, la mare, MS Margareta nach Portofino. Anna: Meine Mutter hat diese italienischen Worte immer sehr klangvoll ausgesprochen, wenn sie mir davon erzählte. Änne: Albergo Villa Reggio, , isola bella, pensione Julia, Anna: Rathenau hat 1922 die Rapallo-Verträge mit dem Leben bezahlt. Die russischen Delegierten haben den Genossen Schmincke konsultiert und nach Räterussland eingeladen. Er wird seine Rapallo-Illusionen später auch mit dem Leben bezahlen. Aber daran wollte Änne nicht denken. Sie war 28 Jahre jung. Die Sonne schien, der Himmel war blau, der italienische. 11. Anna: Ihr Urlaub war zu Ende. Ihr Dienst begann damit, dass einer ihrer kleinen Patienten starb. Änne: Immer friere ich , wenn ich eins in die Halle trage. Anna: Nach dem Dienst ging sie in Richards Wohnung die Post durchsehen. Es lag viel hinter dem Briefschlitz im Flur, die Telefonrechnung, Briefe der Bank, eine Karte, anonym: " Wir kriegen dich noch, du rote Sau!" Richard schrieb jeden Tag Richard: San Remo 4.4. 38 Liebe Änne!. Ich war heute bei dem Sekretär der Ärztekammer. Er sagte, dass ich wahrscheinlich wieder aufgenommen werde. Wenn es gelänge, wie wäre es mit einer Übersiedlung, una piccola villa etc. etc. Du siehst, mir scheint mein Himmel so blau wie der italienische. Ich warte sehnsüchtig auf ein Lebenszeichen.. Anna : Er sei einsam, sitze in der Sonne, trinke Kaffee, lese Zeitung. Inzwischen waren die Zeitungen, die er las, wohl voll von Berichten über die Säuberungen in Russland. Die Begründer der Komintern wurden hingerichtet. Dr. Martha Ruben Wolf seine enge Mitstreiterin, wurde in Moskau verhaftet, ihr Mann umgebracht. Von vielen erfuhr er nichts. Was glaubte er, was wusste er? Ob er noch für die Genossen arbeitete, das sagte er Änne nicht, besser, sie wüßte nichts. Ich habe 13 Postkarten nach Weißensee gefunden, auch eine vom 8.4. Im Bundesarchiv aber gibt es den Gestapobericht über Rote unter Polizeiaufsicht: Nr.3543 Schmincke, Richard, Aufenthalt z.Zt. Karlsbad CSR, Stapo Zwickau Tagesrapport: Nr.2, vom 8.4.38. Wieso Karlsbad? War er da? 15.4. Am sonnigen Karfreitag kam die 13. Karte. Er sei erkältet. Nichts von einer Ankunft in Berlin. Änne lag in Weißensee im Bett und weinte. Nervenzusammenbruch. Im Kalender eine Adresse: . Signora Lubliner , Positano, Provinzia Salerno, Pensione Mira mare. Sah Änne denn nicht, wie weit das von Rapallo entfernt war? 12. Anna: In den Ostertagen 38 hat sich das goldene italienische Projekt una piccola villa an der Riviera als Luftschloss erwiesen. Abgemagert, schlaflos, arbeitsunfähig, depressiv verbrachte Änne die Ostertage in Weißensee oder in Richards schattiger Wohnung. Sie wollte mit ihm leben, aber sie wollte keine leichtfertige Geliebte sein und sein Geld an der Riviera verprassen, wie man so sagt. Das verbot ihre Moral und seine auch. Jeder ist für den anderen verantwortlich, hilft dem anderen, wo er nur kann, aber jeder verdient sich seinen Lebensunterhalt selber. Ich dachte auch so, aber heute denke ich, diese Prinzipien waren für sie beide selbstmörderisch. 13. Anna: Dr. Schmincke kam am 24 April 1938 zurück ohne die erhoffte Zulassung von der italienischen Ärztekammer. Änne war vorläufig arbeitsunfähig. Ihr Arzt riet zu einer Kur, zur Erholung bei ihren Eltern. Richard besuchte sie dort, sein eigner Umzug nach Thüringen wurde erwogen. Aber er fuhr wieder nach Italien, vergeblich, der Antikominternpakt schloss ihn aus, und der kommende Krieg rückte näher. Richard: Liebe Änne, ich bin voller Sorge Es sieht sehr böse aus, wenn auch der Wille besteht, den Weltzusammenstoß zu verhindern. Sehr böse. Ach, wenn es Krieg gibt, werde ich ja beschäftigt und habe mein Auskommen. Aber das wollen wir doch nicht hoffen. ... Es war und ist noch dicke Luft. Heute waren Pümers, die jüdischen Kaufleute von nebenan, bei mir und fragten, ob ich ihre Wohnung wolle. 160.- RM, im ganzen 5 Zimmer und eine große Diele. Sie werden emigrieren. Dieselbe Wohnung kostet eine Etage höher 250 RM. Anna: Richards Hoffnungen, im Krieg Arbeit zu bekommen, wie auch seine Idee, die Wohnung seiner jüdischen Nachbarn zu mieten, erschreckten mich. Am 1.10. wurde das Sudentenland besetzt. Änne und Richard erlebten den Terror des 9.November 1938 auf dem Kurfürsten-damm. Am 23. 11. stellt Richard die Schwangerschaft fest. Änne freut sich auf das Kind. Richard bittet sie, ihren Arierpass zu besorgen, eine Eheschließung wird ins Auge gefasst. Er verbreitet immer noch Zuversicht, Zuversicht, die er selber gar nicht mehr hat. Notizen im Kalender 39 15.Januar, 2. Italienreise. Ich glaube, Richard ist illegal nach Paris gereist, in einem Pariser Vorort gab es Ende Januar die Berner Konferenz, ein Treffen der Illegalen KPD. Änne erledigte die Bankpost in Italien und wartet auf ihn. Änne: 28. 2. weitere Devisen abgeschlagen, 2.3. Paris zurück, franz. Grenze, Ventimilia, 6.3. Nizza, 7.3. Wohnung in Bordighera gekündigt. 8.3. Richard in Zürich, Anna: ... ohne Devisen konnten sie nicht in Italien bleiben, in Berlin war die Wohnung vermietet. Änne wartete mehrere Tage in Meran im Hotel Rosa d' Óro, keine Nachricht von R. Richard erhielt Anfang April einen Bescheid des Polizeipräsidenten über den Entzug seiner Approbation. . "...ich muss vielmehr als erwiesen ansehen, dass Sie auch heute noch nicht Ihre seinerzeit kommunistische Einstellung aufgegeben haben. Es fehlt Ihnen demnach die für die Ausübung des Berufes als Arzt notwendige nationale Zuverlässigkeit..." Am 26. April schickte Richard eine "Anfechtung" der Verfügung des Polizeipräsidenten ab. Für die Monate Mai bis August des Jahres 39 fand ich immer beunruhigendere Notizen: Änne: Änne: 15. Mai "Richard hat depressive Zustände". 18. Mai. "Mit Richard an der Havel". 20. Mai, "Richard ist manisch" 29. Mai "Spaziergang nach Schildhorn".4 .Juni . "mit Richard in Finkenkrug, hochschwanger". 24. 25. Juni, "sehr schlechte, schlaflose Nächte." Anna: Anna: Am 4. Juli wurde ich geboren. Auf einem Blatt von Richards Tischkalender steht neben dem Foto von einem neugeborenen Rehkitz: Änne:Richard: "15. Juli , Sitzen im Sprechzimmer und reden über die Zukunft", Richard und Änne." 9. August , "Entziehung der Praxis nach der Rechtskraftzusprechung" Anna: Dr. Schmincke war immer ein Bürger. Seinen bürgerlichen Beruf zu verlieren, das konnte er nicht ertragen. Dazu kam die Vorbereitung des Hitler-Stalin-Paktes und die geplanten erneuten Verhaftungen. Illegale Nachrichten zerriss er über dem Klobecken und murmelte: "Nicht zu fassen, nicht zu fassen". Änne stillte mich und fürchtete sich. Änne: 12. August "Richard versucht sich umzubringen". 13. August, "Richard geht zum ersten Male mit mir und dem Kind spazieren." "schwerer Sonntag!" Anna: Am Sonnabend, 19. August ... steht ein Kreuzzeichen neben einem R. Änne malte seltsame Kreuze, die hatten Haken nach rechts und nach links. Mein Vater hatte sich in seinem Badezimmer erhängt, ich war acht Wochen alt. Die Eintragungen Ännes in den schmalen, schwarzen Kalendern enden. P A U S E 14. Anna: Meine Mutter lebte im Herbst 1942 wieder bei ihren Eltern. Sie war arbeitslos. Man hatte sie "aufgrund der Aktenlage" nach Jena zu einer psychiatrischen Untersuchung bestellt, und Schizophrenie diagnostiziert. Daraufhin wurde ihr das Schwesternexamen entzogen. Wenige Monate später war sie "gesund" genug, um eine Luftwaffenhelferinnen-Ausbildung mitzumachen. Deutsche Städte wurden jetzt nachts von britischen, am Tage von amerikanischen Bomberstaffeln heimgesucht. Fliegerabwehr und Luftwaffen Meldesysteme wurden ausgebaut. 15. Anna: Änne trug Uniform. Bluse, Jacke, Hose, Mantel, Schirmmütze, plumpe Schuhe und graue Socken, vorn auf der Mütze der Adler mit dem Hakenkreuz. Ich habe als Kind meine Mutter in dieser Uniform umarmt und geküsst. Sie zog sie oft aus, sogar im Dienst. Auf einem Gruppenfoto steht sie groß und fremd mit hängenden Armen im dunklen Kleid neben neun Mädchen, die wie Varietédamen eine kokette Kniedrehung machen, eine Hand in die Tasche ihrer Militärhosen stecken und lächelnd ihre unterschiedlich dicken Hüften und Busen herzeigen. Änne: .Ach, wenn ich doch einmal wieder richtige Menschen um mich hätte Ich muss immer an den Ausspruch vom Obergefreiten Kies denken: "Wer denken Sie denn, wer Sie sind?" Also sagen wollte er mir, dass ich ein Nichts, ein Niemand bin. Und gerade hier in Deutschland eben ein Niemand!? Ganz ganz klein und nichtig. Anna: Sie war wohl gänzlich isoliert, im Dienst und zu Hause auch. Sie hatte keine eigene Wohnung, keinen Ehemann, keinen Liebsten, nur mich. Schon als Kind dachte ich, dass ich für sie verantwortlich sei. Sie schlief all die Jahre im Krieg in irgendwelchen fremden Betten, in Heimen und Pensionen, in Kammern bei Bauern, in Kasernen und Baracken, in Doppelstockbetten in Gemeinschaftsquartieren, unter schweren grauen - Decken aus Zellwolle mit harten, blaukarierten, grobgewebten Militär- Bezügen. Ich habe neben ihr gelegen in solchen Betten, wenn ich sie besuchen durfte. Nur auf Urlaub zu Hause bei der Großmutter, da gab es ein Bett von meinem Vater, Daunensteppdecken weißes Stangenleinen, Schlaraffia-Matratzen. Ännes Schwestern und Schwägerinnen in der kleinen Stadt schliefen in ihren winzigen Wohnungen. Sie lagen unruhig auf ihrer Seite der Ehebetten, die vom Ehe - Kredit gekauft waren.. Ihre Männer waren im Krieg. Änne tat Dienst hoch oben im Thüringischen Schiefergebirge, Änne: Lehesten, den 20. April, 1943 Hitlers Geburtstag, Sonderration , die Mädchen trinken den spendierten, süßen Wein. Aber sie reden nicht vom Krieg. 60 000 in Stalingrad .Richard hat es lange vorher gewusst. "Wenn sie so viel vom Frieden reden, dann gibt es Krieg" Und ich, ich warte, ich warte im Wald auf das Ende. Anna: Lehesten. Dort gab es Bergwerke, in denen 1943 eine Außenstelle des Lagers Dora errichtet wurde, ein Testgelände für V 2 Raketen, auf dem Häftlinge aus Buchenwald sich zu Tode schufteten. Änne: Lehesten, den 4.5. 1943 Als ich gestern in der Absicht nach Hause zu fahren durch das Sormitztal marschierte, sah ich rechts vom Henneberg einen Mann herunter kommen. Ich erkannte ihn nur flüchtig. Als ich noch einmal hinschaute, kam er nicht weiter nach unten , sondern er kroch, wie mir schien, auf allen vieren den Berg wieder hinan. Am Bahnhof Lichtentanne legte ich mich ausruhend ins Gras und sah einer Stopfkolonne an den Gleisen zu. Ich machte mir Vorwürfe und begann zurück zu gehen. Und wieder ging der Mann von rechts nach links schräg den Henneberg hinan. Ich sah ihm nach, wagte aber nicht, ihm zu folgen oder ihn zu rufen. Anna: 7. Mai 1943 Änne: Und heute kommt erst die Meldung vom entflohenen Myslowitz. Ob er mit dem Mann, den ich gesehen habe identisch war? Immer kann ich nur etwas annehmen und finde die Wahrheit nicht heraus. Wem könnte man vertrauen? Niemandem kann man vertrauen. Da ist bei allen ewig nur stumpfer Sinn! Helfen will ich und weiß nicht wo, es muss doch eine Möglichkeit geben! An meinem Leben liegt mir nichts, aber das Kind wird mich brauchen. Anna: Nach den Maitagen des Jahres 1945 taucht der Name Myslowitz im Tagebuch noch einmal auf: Änne: Ich muss an den Myslowitz im "Fröhlichen Tal" denken, wie der vor mir floh und den Berg hinauf kroch, kahlköpfig. Richard, du weißt, dass ich dem helfen wollte, aber nicht wusste, wie ich dem helfen sollte. Ich hätte zumindest etwas Essbares bei mir haben müssen. Warum habe ich nicht irgend etwas getan? Richard, gib mir eine andere Gelegenheit, wo ich zeigen kann, dass ich ein gutes Herz habe. Anna: In Steno geschrieben, als schäme sie sich des Pathos. 16. Anna: 1943 werden viele tägliche Schrecken und nächtliche Albträume notiert. Änne: Ich träume oft von Blut, und mir ist, als hätte ich jemanden bloß so aus lauter Angst angelacht, ... Aber auf der Straße und im Zug lachen die Leute nicht mehr so viel. Gestern Abend gab es einen großen Angriff, Kassel, Frankfurt am Main, in breiter Front. In der Nacht sah ich drei Flugzeuge brennend abstürzen , wie große planetenartige Sterne fielen sie, es bildete sich aus einem horizontalen und einem vertikalen Strich ein großes Kreuz am Himmel. Anna: Meine Mutter wurde ständig versetzt und nie befördert, es blieb bei dem einen Winkel. Änne: 2.2. 44, Ich bin umgezogen nach Alach, und ich habe ein neues Quartier bei Familie Hess. Dumpf , muffig, feucht. Dickes Federbett, oben kariert und unten weiß wie ein Schwalbenbauch, Strohmatratze. Eine Kuh, zwei Ziegen, eine Katze, ein Hund und 17 Hühner, 2 alte Leute, 70 Jahre alt. Sie kennen kein Kino. In der ersten Nacht im neuen Quartier habe ich geträumt: Richard hielt mir eine kleine runde Kapsel hin, ich fragte, ob da Gift drin sei und ob das für uns beide reiche. Er war, wenn er es wirklich selber getan hat, der edelste Charakter von uns allen, er hat sich ihnen entzogen, für immer. Schreckliche Träume, eine unverhoffte Kommission kam und zeigte mir ein Flugzeugmodell mit dreiwinkligem Rumpf, ich kannte es nicht, dann sah ich eine Stuka , die erkannte ich. Eine Ma 109 F erkannte ich nicht gleich, und der eine sagte: "Also das ist ein Zeichen, dass sie von der ganzen Sache keine Ahnung haben." Ich hörte noch: "Was ist denn das für eine?" und etwas Kaltes, Rundes wurde mir an die Backe gedrückt. ... am Morgen wieder Stimmen. Worte wie:" Also sie kann weg, Um Hilfe hat sie nicht gebeten!" Anna: 31. Mai 44 Änne: Ich habe heute Nacht geträumt, dass man mir einen sechseckigen Stern auf den Bauch zeichnet. 17. Anna: Später häufen sich die Eintragungen über Bombardierungen. 3.8. 43, Änne: Hamburg ist bombardiert , 40000 Tote, so viele Kinder. Die Schulen sollen jetzt evakuiert werden, weil sie "luftgefährdet" sind. Anna: 20.2. 44. Änne: Schwerer Bombenangriff auf Erfurt, am Sonntag 100 Tote. Wir hatten die Bomber anfliegen sehen, wir hörten die Aufschläge. Anna: 28.2.44 Änne: Alach Ich habe einen Brief von Meiners erhalten, ihr Kind, mein Peter ist gefallen, die Nachbarn Paschers sind ausgebombt, meine liebe Tangastraße , alles hin. Anna: 29.2. 44 Änne: Heute früh bin ich ab Fliegerhorst mit dem Oberfeld im Auto nach Erfurt gefahren. Gesprochen wurde wenig; gar nicht über die furchtbaren Angriffe. Anna: 16.3. 44, Änne: Ich habe einen Brief von der Wirtin aus Berlin erhalten, große Bombenangriffe auf Charlottenburg, Kurfürstendamm 178, die Wohnung und auch das Lagerhaus mit den abgestellten Sachen von Richard sind hin. Anna: 2.5. 44 Änne: Richards Bruder Bernhard hat mir geschrieben. Sein Ältester ist gefallen. Richards Haus in der Wiesener Straße 39 in Tempelhof ist zerstört . Der Krieg kommt mit den Bombern zurück nach Deutschland, sagt der Vater, und dann fragt er mich wieder, zu welchen Flakstellungen wir gehören. Wozu will er das wissen? Anna: Vom Oktober 44 bis zum April 1945 gibt es keine Eintragungen im Tagebuch mehr. Immer häufiger wurde Erfurt und seine Umgebung bombardiert: am 11. November 44, am 26. November 44, am 6. Dezember 44, am 9. Februar 45, am 19. Februar 45, am 3. März 45, am 17. März 45, am 30. März 45, am 31. März 45 und am 10.April 45. Von diesen Angriffen fand ich in Ännes Tagebuch nichts. Dort steht erst wieder, gesperrt in Druckbuchstaben am 28. Oktober 1944: Änne: E i n m a l w e r d e n s i e k o m m e n ? e i n m a l s i n d s i e d a ! Anna: Änne wurde Anfang 45 versetzt, ganz in die Nähe ihrer Familie, auf den Marienturm. Der Krieg, die Bomben kamen in die kleine Stadt, sie hatte Angst um mich und hat mich mit zum Dienst genommen. Eine Bombennacht habe ich mit ihr in einer Baracke im Wald überlebt. In gesperrten Druckbuchstaben steht schließlich im Tagebuch: Änne: U n d s i e k a m e n , Anna: a m 13. A p r i l w a r e n s i e d a. P A U S E 18. Anna: Im Jahre 1946 trat meine Mutter, die vorher nie organisiert war, in die SED ein. Man holte sie ins Amt, ins Gesundheitsamt. Man brauchte sie dringend im Amt, die Macht musste ergriffen werden. 14 Stunden und mehr war sie mit ihrem alten Rad unterwegs, Kinderheime versorgen, Hebammen helfen, gegen Seuchen impfen, Waisenkinder unterbringen. Hungrig und müde kam sie nach Hause, glücklich. Nichts mehr von Depression oder Schizophrenie. "Schwester Änne?" hallte es durch das Haus . "Ja!" rief sie mit heller Stimme. Ihre Gestalt blieb schlank und jugendlich. Sie nahm keine Schminke, ging nie zum Friseur. Sie wusste nicht, was Mode ist, sie rauchte nicht, sie trank nicht, sie aß am liebsten süßen Brei. Sie hatte einen Geschmack wie ein Kind. Manchmal, wie als ob sie sich einen Scherz erlaube, zog sie ein elegantes Kostüm an, setzte einen Hut auf, wählte Schuhe mit hohen Absätzen. Ihre Figur, ihre schönen Beine wurden sichtbar. In solchen Augenblicken sahen sie alle verblüfft an und verlangten, dass sie immer diese Dame sei. Änne amüsierte sich einen Tag lang über die Wirkung, danach ließ sie das wieder für Monate bleiben. Als ob es darauf ankäme. Sie hatte keine Augen mehr für Männer, es waren ja doch die Männer der anderen. Der Mann, den sie geliebt hatte, erschien ihr immer noch in ihren Träumen. Sie merkte gar nicht, an keinem Zeichen, dass sie die Fünfzig weit überschritten hatte, als ein junger Arzt ins Amt kam, ein Arbeiterkind, das es geschafft hatte, Medizin zu studieren. Der dachte so, der lachte so, der sah so aus, der war so frei und so offen wie Richard gewesen ist. 19. Anna: Änne begann, diesen jungen Doktor zu lieben. Sie weihte ihn in das Amt ein, sie weihte mit ihm Kinderkrippen und Kindergärten ein. In diesen Jahren war für sie die Arbeit wie ein Fest vom ersten "Guten Morgen" bis zum " Auf Wiedersehen bis morgen". Vieles wurde so, wie Richard sich das vorgestellt hatte in der Gesundheits-Fürsorge ihres Staates DDR. Änne glaubte das jedenfalls. Dabei merkte sie gar nicht, dass immer von "unseren Menschen" wie von einem Besitz geredet wurde. Sie verhielt sich selber so, als ob die Gesundheit der Menschen, die zu ihr kamen, ihr Eigentum sei, das sie verwalten müsse. Der junge Arzt Eduard K. bot Änne das Du an. So habe ich es erlebt, ihre Tür flog auf und Eduard rief: "Du, Änne, komm doch mal!" "Ja!" antwortete sie hoch und klingend, sprang auf und lächelte selig. 20. Anna: Eines Tages erhielt sie Post aus Bremen. Linke Medizinhistoriker hatten sie entdeckt. Die baten um Briefe und Fotos von Richard und um ein Interview. Da begann Änne den lebenden Dr. K. am toten Richard Schmincke zu messen. Es passte manches nicht. Richard war nie zynisch. Eduard wurde es immer mehr. Richard hatte sich nie betrunken. Eduard trank. Änne begann auch ein wenig zu trinken, das konnte sie gar nicht. Aber ihre Lage nüchtern sehn, das wollte sie auch nicht. Sie wollte ihre Gefühle behalten, und die Aufmerksamkeit, die man ihr als der Lebengefahrtin des toten Richard erwies, sollte sie in den Augen von Eduard wertvoll machen. Immer mehr störte meine aufgeregte Mutter nun die behäbige und gemeine Ordnung in der Kleinstadt. Wenn sie von den Kontakten bis nach Bremen und Berlin sprach, sagten die Leute verächtlich: "Was will die denn noch, das ist doch ewig her", und dann senkten sie die Stimme und zwinkerten sich zu: "Das war doch überhaupt ein Jude." Änne verlor die allgemeine Beliebtheit und Achtung, an die sie gewöhnt war. Man vergiftete ihre Katze. Wenn ich jetzt zu Besuch kam, sagte sie, sie hätte das Wichtigste im Leben 30 Jahre lang vergessen, die Liebe. Sie holte die Schlangenledertasche aus dem Schrank und las in Richards Briefen. Änne: Liebe Tochter! . Rudolstadt, den 5. April 1981 Die Abschriften der Briefe von Richard, die ich dir mitschicke, sind die, die mich auf den Boden gestellt haben, wohin ich gehöre. Aber so etwas kann ja unmöglich ein halbes Jahrhundert vorhalten. Man darf auch nicht 35 Jahre an einer Stelle hocken, wie ich es getan habe. Jetzt bin ich alt, und es ist zu spät. Mein D., der ähnelt in seinem offenen Wesen sehr deinem Vater, schade, dass ich jetzt in Rente gehe und ihn nun weniger sehen und sprechen kann. Anna: Der Tag kam, an dem Änne aus dem Dienst ausscheiden musste, in Ehren. Sie war eine Rentnerin. Dann kamen die Tage, an denen Änne aufstand, am Küchenfenster ihren Kaffee trank, ein wenig in der Zeitung las und dann stundenlang hinaus starrte auf das Amt, dessen Rückfront über die Gärten hin ihr genau vor Augen lag. Sie meinte, das weiße Auto ihres geliebten Eduard dort zu sehen. Das weiße Auto sah sie bald überall, in der Stadt, in Berlin, bei den Kindern, an der Ostsee. Er musste ihr nachgefahren sein; so glaubte sie. "Wahrnehmungen" nannte sie das. Ihre Liebe machte sie erfinderisch. Änne erfand jeden Tag einen Grund, Eduard im Amt aufzusuchen. Er empfing sie in der ersten Zeit noch freundlich, nannte sie Ännchen, ließ sich von ihren Herzschmerzen erzählen, die sicher "seelisch" seien und schrieb ihr ein Rezept aus. Der Dr. hatte jetzt manchmal eine Freundin, seine Ehe scheiterte. Änne sorgte sich um ihn, schrieb ihm Briefe, die sie nicht abschickte. Einige fand ich in der grauen, hässlichen Tasche. Bei allem Wahn fühlte sie genau, diese Briefe würden nur als Zeugnisse ihres "Verrücktseins" angesehen werden. Er würde sie nicht lesen. Änne: 24. 10. 1980 Lieber Eduard! Was fange ich mit den fünfzig Briefen, die ich Dir geschrieben und nicht abgeschickt habe, nun an? Ich glaube, ich bin eine Frau aus einer ganz anderen Zeit, in der sich die Menschen noch Briefe schrieben. Ihr seid alle so viel härter, ihr Jungen, ihr seid leichtfertiger, fast ohne Gewissen - ein Wort, das man gar nicht mehr gebraucht. Ja, es ist wahr, ,ich bin eine alte Frau, von einer Liebe besessen, deren Größe und Tiefe niemand glaubt. Was war das bei der Brigadefeier, zu der ihr mich eingeladen hattet? Was habe ich da falsch gemacht. Ich habe nur still in mein Weinglas gesehen und mich später mit dem Fahrer unterhalten .Ich habe gar nicht gemerkt, dass du dich neben mich gesetzt hast, bis du mich auf die Wange küsstest und sagtest: "Änne, du bist mir doch die liebste von allen". Ich weiß, du hast nur die ehemalige Kollegin gemeint, aber ich habe es als eine liebende Frau gehört. War das nun eine Wahrnehmung, waren das Stimmen oder war es die Realität? Wenn das die ganze Realität sein soll, dass ich zu alt bin, dann pfeife ich auf die Realität. Änne." 21. Anna: Seit Änne das Amt verlassen hatte, ging es mit dem Doktor deutlicher begab. Immer öfter ließ er sich krank schreiben. Er floh auf seine Hütte " vorm Walde" hoch oben über dem Schwarzatal. Auf der Datsche besuchten ihn voller Sorge seine frühere Frau, sein Sohn, manche Geliebte und mancher alte Freund. Sie konnten ihm alle nicht helfen. An einem einsamen Sommertag des Jahres 1982 hielt Änne es nicht mehr aus. Sie stieg in den Bus, fuhr ins Schwarzatal und wanderte hinauf zu ihm. Es war ein weiter Weg, Sie holte tief Atem, wie Richard ihr immer geraten hatte. Die Vorfreude, Eduard zu sehen, besiegte die Atemnot. Sie wanderte an duftenden Wiesenhängen und dunklen Fichtenwäldern vorbei. So war sie ihr ganzes Leben lang gelaufen, weite Wege durch den Wald . Änne: Donnerstag, den 22. Juli 1982 . Ich war bei Eduard auf dem Berg. Er nahm mich mit in die Gaststätte. Fünf Männer saßen um den Tisch, die junge Wirtin, Eduard und ich. Wir tranken mehrere Schnäpse, die der Dr. spendierte. Er spendiere mir auch den alten Reinhard dazu als meinen Mann, sagte er. Und dann gingen wir los, Richtung Datsche, alle zusammen. Der alte Reinhard hakte mich unter, drängte mich auf der Straße von den anderen weg in die entgegen gesetzte Richtung, er redete fast eine Stunde lang auf mich ein, ich solle mit zu ihm kommen. Ich habe ihm erklärt, dass ich nur wegen Eduard herauf gekommen bin, habe mich mit großer Mühe von ihm losgerissen und bin wieder in Richtung der Datsche gelaufen. Das Gartentor war weit offen. Ich ging bis zum Haus, ins Haus hinein und in das Zimmer rechts, da lag er. Nackt lag er auf der Couch, er schlief. Wie schön er war, ich habe mich still daneben gesetzt. Alles war ganz ruhig. Es verging eine lange Zeit. Irgendwann schrie Eduard plötzlich auf, sah mich erschrocken an und schob mich aus dem Zimmer. Anna: Immer weiter rief Änne mitten in der Nacht ihren Eduard an, natürlich wegen Schmerzen, wegen unaushaltbarer Herzschmerzen, seelischen, sicher. Mehrmals ermahnte er sie freundlich, später legte er sofort auf, noch später schrie er sie an. Änne: Rudolstadt , den 8. Februar 1983 Liebe Tochter! Das Schicksal will mir mein ohnehin tristes Leben noch mehr vergällen. Es werden mir parteipolitische Vorwürfe gemacht. Auf Grund meiner spärlichen "Ehrenrente" hätte ich mich besonders aktiv zu zeigen .Ich wollte also bei meinem Eduard Klarheit darüber schaffen. Ja, ich bin einfach in sein Dienstzimmer gegangen, aber er hat mich nur angeschrien. Das ist so traurig. Er ist jetzt im Krankenhaus. Ich sei schuld, sagen sie. Du fragst, was ich tue? Vor allem mache ich meinen "Beobachtern" viel Arbeit und Scherereien. Es ist da eine Bewusstsein in mir, auf Schritt und Tritt beobachtet zu werden. Ich denke, dass die Briefe, die ich dir schreibe, geöffnet werden. Manchmal fehlt von meinen Notizen ein Blatt. Ich habe auch schon einen Faden gezogen an meiner Stubentür, um zu prüfen, ob da jemand rein geht, wenn ich nicht da bin. Ich fürchte mich wie früher, und ich denke, die Ärzte haben wieder einen sehr willkommenen Grund wegen meines nervösen Zustandes an mir eigenmächtige Handlungen vorzunehmen. Rudolstadt, den 6.7. 83 Liebe Tochter! Mich hat einer in jungen Jahren so mit Liebe überschüttet, dass diese große Leere nicht zu verkraften ist. Schon ein paar freundliche Worte würden mich wieder in die Reihe bringen, doch keiner hier gönnt sie mir Vielleicht muss man wirklich für sich auf alles verzichten, um einen anderen zu retten. Mein Eduard hat eine schwere Depression, Nun kann ich erst recht nicht froh werden. Anna: Änne versuchte, ihre Neigung zu besiegen, bis sie eines Tages von Kollegen hörte, wie schlecht es ihm ginge. Er war krank, Leberzirrhose, er brauchte ihre Hilfe, so glaubte sie. Sie musste ihm doch wenigstens etwas bringen, das musste sie. Säfte, Obst, Blumen, Kuchen. Man wehrte sie ab, aber es gelang ihr dennoch, etwas abzugeben, einen Blick in sein Zimmer zu erhaschen, manchmal mit einem anderen Besucher bis an sein Bett vorzudringen. Sie hatte ihm einen Schlafanzug gekauft. Mein Gott, Änne! Als sie das letzte Mal ins Krankenhaus kam, sah er sie müde an und drehte ihr demonstrativ den Rücken zu. Ich weiß nicht, was ihn zerstörte. Alkohol? Die gescheiterte Ehe? Er arbeitete auch als Pathologe. War es das? War es der anwachsende Zynismus unter seinen Genossen und Kollegen? Stasigeschichten? Frauengeschichten? Oder hatte auch Änne Schuld, weil sie nicht nachließ mit ihrer Liebe und ihrem Ideal, dem er nicht entsprechen konnte? Er war ja so viel jünger als sie! So viel war sie damals jünger als Richard gewesen. In Ännes besonderem Fall schien die Übereinstimmung des gesellschaftlichen Ideals mit der idealen Liebe schon am Abstand der Generationen zu scheitern. Eduard starb. Nach seinem Tode lebte Änne noch zehn Jahre. Die eleganten Kostüme wurde zu eng und die Absatzschuhe zu unbequem. Sie träumte von ihm, wie sie von Richard geträumt hatte. 22. Anna: Änne ist genau in der halben Stunde, in der ich im Büro des Klinikleiters saß, gestorben, genau in dem Augenblick, als ich einen Transport der Kranken nach Berlin verlangte und schreiend vor Aufregung forderte, dass sie nicht in ihrem Bett fixiert werde, auf keinen Fall, das wäre ihr Tod. Sie verlöre darüber den Verstand. Sie hatten sie gefesselt, wie 1941 im Virchow, 42 in Rostock. Der Herr Professor wies mich ab, kein Transport nach Berlin und auf alle Fälle eine Fixierung. Er sprach leise, kalt und drohend. Die Sicherheit der Patientin! Im Übrigen wüsste man sich vor falschen Anschuldigungen juristisch zu schützen. Das alles stieß der Professor gepresst hervor, die Hände ausgestreckt auf dem langen Konferenztisch, an dessen anderem Ende ich saß. Als ich wieder über den Hof des Krankenhauses ging, überfiel es mich, Ich blieb stehen, wankte, ahnte ihren Tod. Ännes Zimmer war verschlossen. Der junge Assistenzarzt sagte fast wie im Vorübergehen, mit seinen Blicken ausweichend: "Sie ist gestorben." Ich schrie: "Ich will sie sehen!" "Das geht jetzt nicht." Nicht nur die Tür, alles verschloss sich vor mir, alle Gesichter und alle Türen des Hauses verschlossen sich. Meine Mutter war doch hier eine Kollegin gewesen, angesehen und beliebt. Sie kam mir hintergangen und besiegt vor, und mit ihr war auch ich besiegt. Aus diesem Krankenhaus hatte Änne 1942 die erste Aufforderungen zur Sterilisation erhalten. Hier hatte man ihr auch das Schwesternexamen entzogen ... Da war er wieder, der Verfolgungswahn, die Verdächtigungen, das Misstrauen, ich kannte das schon. Ich stand lange auf dem Damm neben den Gleisen, erstarrt zwischen Pfützen auf dem schwarzen, ungepflasterten Weg. Der Zug Berlin-München sauste vorbei. Ende Februar, der weiche Vorfrühlingswind blies mir ins Gesicht und über den Fluss. Ich lief den Damm entlang, stürzte wie blind in das Haus, in Ännes Wohnung, in das Schlafzimmer, riss den Kleiderschrank auf und warf mich schluchzend hinein, ihr Geruch, darin wollte ich bleiben. 2