COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Sendereihe: Zeitreisen Datum: 25. Januar 2012 Zeit: 19:30 Uhr Titel: lechts und rinks (3/3) Was heißt heute sozialistisch? Autor: Matthias Greffrath Redaktion: Jana Wuttke O-Ton Hannes Das längerfristige Ziel ist für mich (...) eine Welt, in der die Grundbedürfnisse eines jeden Menschen gestimmt werden, und sich keiner über einen andern Menschen erheben kann....Der Kapitalismus, also dieses Prinzip Geld ist Macht, und wer die Macht hat, hat das Geld, muss abgeschafft werden (...) eine befreite Gesellschaft kann in den nächsten 20, 30, 40 Jahren entstehen, wenn wir uns jetzt anstrengen dafür...das Bewusstsein der Menschen zu verändern. Autor: Das Occupy-Camp am Berliner Hauptbahnhof, wo Hannes und seine Genossen über die große Umwälzung diskutiert haben, ist geräumt, der Winter und die Privatrechtsordnung haben sie vertrieben, aber das "Bewußtsein der Menschen" scheint ein wenig mehr zu vibrieren als noch vor ein paar Jahren, und das auch dort, wo man es nicht vermutet. Zitator: Ich beginne zu glauben, dass die Linke recht hatte. Autor: Vier Jahre, nachdem die Klimakanzlerin das Recht aller Menschen auf die gleiche Menge CO2 verkündete, drei Jahre nach dem Beginn der Weltwirtschaftskrise, ein Jahr nach dem der Eurokrise rief Frank Schirrmacher, Herausgeber des Zentralorgans der Besitz- und Bildungsbürger dieses Landes, nach einer Renaissance linker Gesellschaftskritik. Kurz darauf setzte die "große liberale Wochenzeitung" in Hamburg nach, und fragte, "Gibt es eine Alternative zum Kapitalismus?" Knappes Resümee einer gleich sechsteiligen Serie: Das Wachstum kommt ans Ende, schon aus Klimagründen muss es das auch, und damit endet auch der Kapitalismus. Es ist ja auch schon genug da, wir müssen es nur anders verteilen. Informationstechnologie hilft bei der Planung, und kluger Konsum macht zufrieden. Nun, so weit sind wir noch nicht, einstweilen werden nicht Umverteilungs- sondern Wachstumsbeschleunigungsgesetze gemacht. Aber kommt da etwa nicht doch etwas in Bewegung? Zumindest im Denken? Wenn in der Zeitung, der vor kurzem noch die kleinste Regulierung der Finanzmärkte als Orwellsche Greuelfantasie erschien, nun, unter dem Titel "Der Krieg der Banken gegen das Volk", folgendes zu lesen ist: Zitator: Was wir heute sehen, ist eine Art Krieg. Es geschieht in der Form eines Finanzkrieges, aber die Ziele dieser Aneignungen sind die gleichen wie bei militärischen Eroberungen - zuerst Land und Bodenschätze, dann die öffentliche Infrastruktur, deren Nutzen kostenpflichtig gemacht wird, und schließlich andere staatliche Unternehmen oder Vermögenswerte. Dieser neue Finanzkrieg zwingt Regierungen, im Auftrag der Eroberer gegen die eigene Bevölkerung vorzugehen....Der alte Klassenkampf ist also wieder da." Autor: So, in der FAZ vom 3. Dezember der US-amerikanische Ökonomieprofessor Michael Hudson, einer der intellektuellen Väter der amerikanischen Occupy-Bewegung. Zitator: Ich beginne zu glauben, dass die Linke Recht hatte ... Autor Der Stoßseufzer in der FAZ ertönt in einer Zeit, in der die Krise das Bewusstsein und den Alltag auch derjenigen ergreift, die zu den Trägern der Gesellschaft gehören: Zitator Es sind Lehrer und Hochschullehrer, Studenten, Polizisten, Ärzte, Krankenschwestern, gesellschaftliche Gruppen, die in ihrem Leben nicht auf Reichtum spekulierten, sondern in einer Gesellschaft leben wollten, wo eindeutige Standards für alle gelten, für Einzelne, für Unternehmer und für Staaten, Standards von Zuverlässigkeit, Loyalität, Kontrolle. Autor Die Illusion, es werde immer so weiter gehen, und soziale Verteilungskämpfe würden durch kontinuierlichen Wachstum neutralisiert, ist geplatzt. Denn seit den Siebziger Jahren ist dieses Wachstum in den alten Ländern des Westens kontinuierlich abgeflacht. Zunächst war das im Alltag der Wohlstandsbürger nicht zu spüren. Denn die Produktivität der Arbeit wuchs weiter, die Löhne stiegen moderat, und über dem saturierten Markt der Grundbedürfnisse öffnete sich das glitzernde Reich des kleinen Massenluxus: Textilien, immer raffiniertere Autos, Billigflüge, immer neue Geräte für Küche, Garten, Hobbykeller, immer mehr abgesunkene Edelmarken - wenn nicht für alle, so doch für viele. Wer in diesen Jahren an ein Ende der Party dachte, ob nun Altmarxist oder Club of Rome, Wertkonservativer, Naturschützer oder Christ, der war Außenseiter, der argumentierte gegen den Lebensalltag in einem Kapitalismus, der zur Kultur geworden war, der hierzulande zudem so kräftig schien, dass er sich ein zweites Deutschland ohne größere Anstrengung einverleiben konnte. Aber die Balance zwischen den Profitbedürfnissen der Kapitaleigner und dem zur Selbstverständlichkeit gewordenen Sozialstaat - einer historischen Errungenschaft, so sagte es der Soziologe Pierre Bourdieu, so unwahrscheinlich und so kostbar wie Kant, Beethoven oder Mozart - diese Balance trug immer weniger. Und auch wenn alle Regierungsparteien - rechte wie linke - nicht daran glaubten und durch rabiate Steuersenkungen zugunsten der Unternehmen und der Wohlhabenden die Maschine wieder ins Laufen bringen wollten - es reichte nicht. Das "Modell Deutschland" war zunehmend auf Pump angewiesen. Das schafft Unzufriedenheit, ebenso wie die Intensivierung der Arbeit, die Flexibilitäts- und Mobilitätszwänge. Keine Woche ohne einen Magazintitel zum Thema Stress, Burnout oder Depression - psychisches Elend auf höchstem Niveau. Es bebt im menschlichen Faktor, das abendländische Aktivitätskommando brennt aus. Wenn gleichzeitig 80 % der Ostdeutschen und 72 % der Westdeutschen den Demoskopen anvertrauen, sie könnten sich vorstellen, in einem sozialistischen Staat zu leben, wenn der für Arbeitsplätze, Solidarität und Sicherheit sorge, 88 % aller Bürger sich eine "neue Wirtschaftsordnung" wünschen, und mehr als die Hälfte der unter Dreißigjährigen glaubt, der "Kapitalismus richtet die Welt zugrunde" - ist das mehr als ein rabiater Ausdruck von Skepsis und Unzufriedenheit? Steht damit der Sozialismus wieder auf der Tagesordnung? O-Ton Precht: Sozialismus ist für mich ein Begriff aus dem 19. Jahrhundert. Er ist etwas, das seit der Zeit seiner Entstehung im 19. Jahrhundert noch nie realisiert worden ist. Einen wirklichen Sozialismus hat es noch nie gegeben .... Ich würde sagen, gegenwärtig ist das Wort hinderlich, da es mit soviel Blut besudelt ist. Es weckt sofort bei sehr vielen Menschen negative Gefühle und negative Gefühle gegen Dinge, die ich als negativ betrachten würde, und deshalb können wir uns einen puren ode reinen gereinigten Sozialismus kaum noch vorstellen. Autor: So der Philosoph Richard David Precht über das Unwort, mit dem sich nur eine der drei linken Parteien schmückt und mit dem die Piraten gar nichts anfangen können. O-Ton Wagenknecht: Für viele ist Sozialismus ein Begriff, bei dem viele an die DDR und an die SU denken, und ich glaube es ist wichtig, zu verstehen, das Sozialismus überhaupt nichts damit zu tun hat, zurückzukehren in Zeiten einer zentralen Planwirtschaft, einer Einparteienherrschaft, sondern sich wirklich der großen Ideen des Sozialismus zu erinnern, da steht Marx dafür, da steht auch Theoretiker wie Rosa Luxemburg dafür, da steht eine ganze Bewegung, eine ganze Tradition, die auch noch viel älter ist als Marx. Selbst in Goethes Faust ist diese Frage ja schon thematisiert, diese Dialektik von Barbarei und Fortschritt im Kapitalismus und dass das nicht das Ende der Geschichte sein kann. Autor: Das ist es mit Sicherheit nicht. Aber helfen uns die großen Ideen aus der Vergangenheit, an die Sahra Wagenknecht, die stellvertretende Vorsitzende der Linkspartei erinnert, noch, eine Zukunft zu bauen? Sicher, die marxistisch inspirierten Analysen können uns die vierdimensionale Krise in der wir stecken, immer noch am besten erklären - die Verschlingung der Wachstumskrise mit der globalen Ungleichheit, der Erschöpfung der Natur und des menschlichen Faktors. Rosa Luxemburg verdanken wir die Einsicht, dass der Kapitalismus ohne politische Opposition erst an sein Ende kommt, wenn der letzte Winkel der Erde ausgebeutet ist, und der Frankfurter Schule, dass die Warengesellschaft auch in die letzten Winkel der Seele dringt. Wer die Sache kritisch durchdringen will, der möge lesen, aber - können uns die alten Modelle des Sozialismus noch entzünden? Die rätedemokratische Organisation der Pariser Kommune etwa, die Karl Marx im Sinn hatte? Oder die zündende, radikaldemokratische, weit vorgreifende, deshalb abstrakte Formel des Kommunistischen Manifests, im Sozialismus sei "die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller"? Das ist vielleicht interessanter Stoff für Seminare, aber kann man damit Politik machen? Und, warum sollten wir uns an all die Utopien des Sozialismus erinnern? An den Grafen St.Simon, der das Modell eines hochzentralisierten, hochproduktiven Industriestaates entwarf, in dem die Kapitalisten nicht mehr als die ersten Diener der Nation sind, an den Fabrikanten Robert Owen, der mit kulturrevolutionären Produktivgenossenschaften beweisen wollte, dass eine Gesellschaft ohne Privateigentum, Kirche und Ehe - "die das Glück vernichten" - möglich sei. Oder an den größten unter allen Utopisten, Charles Fourier, der eine mathematisch berechnete Gesellschaft phantasierte, in der die Arbeit zur Lust wird, weil jeder die ihm gemäße findet. Vielleicht aus dem selben Grund, aus dem wir uns daran erinnern, dass Immanuel Kant, den Gedanken in die Welt setzte, dass Zitator: "alle Menschen ursprünglich in einem Gesamtbesitz des Bodens der ganzen Erde sind, mit dem ihnen von Natur zustehenden Willen eines jeden, denselben zu gebrauchen". Autor: Oder an Aristoteles Zitator: So ist der Wucher hassenswert, weil er aus dem Geld selbst den Erwerb zieht und nicht aus dem, wofür das Geld da ist. Denn das Geld ist um des Tausches willen erfunden worden, durch den Zins vermehrt es sich dagegen durch sich selbst. [...] Diese Art des Gelderwerbs ist also am meisten gegen die Natur." Autor: Oder an John Stuart Mill: dieser Säulenheilige des Liberalismus, der, wie später der Großbürger und Spekulant Keynes, als das Ziel all der Geschäftemacherei eine Gesellschaft wollte, in der das Wachstum zum Erliegen kommt, die wachsende Produktivität den Menschen vor allem eines gibt: Zeit für Muße, menschliche, kulturelle und moralische Vervollkommnung. All das, nenne man es nun Sozialismus oder anders, ist europäisches Erbe, seit den Renaissancedenkern Campanella und Bacon, mehr als genug für eine europäische Identität. Das Erbe der christlichen Sozialdenker, der Aufklärer, der Bürger. Und - eben auch das Erbe der CDU, auf das sich Sahra Wagenknecht bezieht, wenn sie für einen erneuerten Sozialismus wirbt - mit den geistigen Vätern der "Sozialen Marktwirtschaft": O-Ton Wagenknecht 004/ 009: Ich glaube, wenn man Walter Eucken und MüllerArmack wirklich ernst nimmt und liest, ohne Scheuklappen, in jeder Hinsicht, dann findet man da einen Kerngehalt, der, wenn man ihn zu Ende denkt, bedeutet, dass man die heutige Wirtschaftsordnung überwinden muss. Also ich meine Grundsätze wie bei Eucken z.B. das Prinzip Haftung: Wer den Nutzen hat, muss auch den Schaden tragen, das ist ein prinzip, das in der heutigen Wirtschaftsordnung nicht nur auf den Finanzmärkten, aber vor allem dort nur mit Füssen getreten wird. Oder eine andere Warnung von Walter Eucken: private Wirtschaftsmacht lassse sich nicht kontrollieren, man muss verhindern dass sie entsteht, oder aber wir haben keine Demokratie. (...) Und das gilt auch für Ludwig Erhardt, im Sinne von Äußerungen, wo er sagt, der Gehalt einer Gesellschaft, der Wert einer Gesellschaft lässt sich daran messen, ob die Reallöhne mit der Produktivität steigen, ob wir einen wachsenden Wohlstand für immer breitere Schichten bekommen, ob wir die alte Teilung in eine grosse Unterschicht, eine kleine Oberschicht überwinden können, und das sind ja alles Grundsätze, die die heutige Politik längst in den Wind geschrieben hat. Also ich glaube, auch insoweit ist es immer wieder legitim, auch Parteien wie die CDU immer wieder mit diesen Traditionen zu konfrontieren. Sie schmücken sich gern mit den Theoretiker der Sozialen Marktwirtschaft, sie sehen sich in dieser Tradition, und in dem Fall muss ich wirklich sagen: Sie sind nicht in dieser Tradition, sie machen eine Politik, die dieser Tradition voll ins Gesicht schlägt. Autor: Die Soziale Marktwirtschaft aber, dieser Nachkriegs-Kompromiss zwischen Liberalen und Sozialdemokraten, war eben nur solange mehr als eine Phrase, wie eine starke Gewerkschaftsbewegung mit Verhinderungsmacht existierte, die Wirtschaft wuchs, und der Sozialstaat nicht als Verteilung von "Wohltaten" denunziert wurde, sondern als Grundrecht galt. Diese Geschäftsgrundlage der Bundesrepublik wird nun zunehmend von den Renditezwängen der Großunternehmen und den globalen Finanzmächten durchlöchert. So werden die Artikel des Grundgesetzes allmählich zu radikalen Parolen: Artikel 20, der den Sozialstaat festschreibt; Artikel 106, der ihn verpflichtet, einheitliche Lebensverhältnisse herzustellen - die Grundlage einer Bürgerdemokratie - ; Artikel 20 a, der dem Staat aufträgt, "in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen" zu schützen - eine Aufgabe, die angesichts der Klimakrise nicht nur erhebliche Kosten, sondern starke Staatseingriffe erfordern wird - und in einer Demokratie hieße das: nicht ohne Zustimmung und substantielle Mitwirkung der Bürger. Zitator: Demokratie wäre es, Autor: so glaubt nicht nur der Schriftsteller Ingo Schulze, Zitator: . wenn die Politik durch Steuern, Gesetze und Kontrollen in die bestehende Wirtschaftsstruktur eingriffe und die Akteure an den Märkten, vor allem an den Finanzmärkten, in Bahnen zwänge, die mit den Interessen des Gemeinwesens vereinbar sind. Autor: Mit der Herrschaft der Banken und der großen, weltumspannenden Konzerne droht schon die existierende Demokratie zu scheitern, ganz zu schweigen von einer mit mehr Bürgerbeteiligung oder Arbeitnehmerrechten, wie Wutbürger sie fordern und Linke aller Provenienz sie fordern. Ein "Vorkaufsrecht" der Finanzmärkte auf die Demokratie stellt, in realistischer Ironie, Wolfgang Streeck fest, der Direktor des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung. Zitator: Wenn man die Entwicklung der demokratisch-kapitalistischen Krisen seit den 70er Jahren überblickt, kann es einem nur grauen vor der Möglichkeit einer neuen, wie immer befristeten, Befriedung der sozialen Konflikte im fortgeschrittenen Kapitalismus, aber diesmal vollständig zu Gunsten der besitzenden Klassen, ...(von) Akteuren, denen die demokratische Institutionen kein Selbstzweck sind, wie sie es Politiker oder Theoretiker des sozialen Ordnung sehen, sondern ein Mittel, das man benutzt, umgeht, umdefiniert, missbraucht - - oder abschafft.(...) Autor: Man wäre geneigt, solche sozialwissenschaftlichen Analysen für Alarmismus zu halten, gäbe es nicht diese Kanzlerinnenwendung von der "marktkonformen Demokratie", gäbe es nicht einschlägige Erfahrungen mit der kalten Umgehung des Parlaments oder Äußerungen wie die der IWF-Chefin Christine Lagarde: Zitatorin: Demokratische Prozesse verhindern oft schnelle Entscheidungen. Das ist ein Zielkonflikt (zwischen der Politik und den Finanzmärkten), der mit ganzheitlichen Schritten gelöst werden muss. Autor: Gegen eine solche "ganzheitliche Lösung" nach den Bedürfnissen der Investoren steht die Forderung nach dem Primat des Gemeinwohls über die Profiterwartungen der Privaten. Aber die kann man auch stellen, ohne Sozialist zu sein. Der Unterschied, an dem sich die Differenz zeigt, ist der heilige Gral des Bürgertums: O-Ton Wagenknecht 005 Ich glaube ein Grundunterschied ist, dass Sozialisten die Frage des Eigentums in den Mittelpunkt stellen. ... Wem gehören Kernbereiche der Wirtschaft, da rede ich jetzt nicht von kleinen und mittleren Betrieben, die kapern keine Politik und die erpressen auch keine Bundesregierung, sondern ich rede über große Banken und Konzerne. Da, denke ich, ist privates Eigentum nicht mehr verträglich mit einer demokratischen Gesellschaftsordnung, weil es eine solche extreme Machtposition verbirgt und damit auch die Vorherrschaft besonderer Interessen, dass eine Gesellschaftsgestaltung im allgemeinen Interesse nicht mehr möglich ist. Autor: Sie wollen das Eigentum abschaffen - das ist das stereotype Argument gegen alles, was sich "sozialistisch" nennt - und sie wollen die Allgewalt des Staates, die Herrschaft der Bürokratie. Mit der Erinnerung an den russischen diktatorischen Staatssozialismus, den Enteignungsterror der DDR, können die besitzindividualistischen Ideologen immer noch kurzfristig am besten punkten, im Parlament und in Talkshows. Aber wenn die Klemme zwischen Profit und Demokratie enger wird, könnte sich das ändern. Denn für die Forderung, dass das Gemeinwohl einer Gesellschaft über der Kapitalmacht einzelner oder von Gruppen stehen soll, muss man nicht Karl Marx oder das Parteiprogramm der Linken lesen: Zitator: Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen. Autor: So steht es im Artikel 14, Absatz 2 unseres Grundgesetzes. Dort folgt der Artikel 15, und der heisst "Sozialisierung": Zitator: Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel können zum Zweck der Vergesellschaftung ... in Gemeineigentum oder in andere Formen der Gemeinwirtschaft überführt werden. Sozialisierung, Vergesellschaftung, Gemeinwirtschaft - die Wörter könnten eine Renaissance erfahren - und damit die Forderung, das Gemeineigentum im Grundgesetz unter ähnlich starken Schutz zu stellen wie das Privateigentum an Produktionsmitteln. Denn die Privatisierung der öffentlichen Dienste, die Rationalisierung von Post und Bahn, der Verkauf von kommunalem Grund, Wohnungsbaugesellschaften und Krankenhäusern wird von einer steigenden Zahl der Bürger als eine Enteignung von Volkseigentum wahrgenommen, das ja schließlich aus den Steuergeldern der Vorgängergenerationen, also durch deren Arbeit geschaffen wurde. Kommunaler Sozialismus, so nannte es der durchaus bürgerlich-liberale Historiker Thomas Nipperdey. Und, wenn jede zu Ende gedachte Demokratie, mit dem schönen sozialdemokratischen Wort eine Wirtschaftsdemokratie ist - was wären Sozialisten dann anderes als die Testamentsvollstrecker der bürgerlichen Revolution von 1789 und der christlichen Soziallehre, die beide darauf zielen, das Recht der Arbeit dem des arbeitslosen Eigentums zumindest gleichzustellen? Nur, wenn dem so ist, und wenn sich heutzutage auf gleich zwei Seiten der ZEIT Sarah Wagenknecht und Heiner Geissler rhetorisch umarmen: warum muss das alles - wenn doch das Wort so ungute Assoziationen weckt - noch "sozialistisch" heißen? O-Ton Wagenknecht: . Ja, weil ich glaube, dass es auch Etikettenschwindel ist, wenn man sich aus seinen Traditionen stiehlt, und damit meine ich jetzt nicht die von dem sogenannten Realsozialismus, sondern die großen Tradition der Sozialisten des 19. Jahrhunderts, die von Marx, die Tradition auch der Arbeiterbewegung. Das sind ja große wichtige Traditionen, aus denen sollte man sich nicht einfach wegstehlen und sagen: Damit wollen wir nichts zu tun haben, wir fangen jetzt mit neuen Begriffen an. Ich glaube und sehe auch die Chance, den Sozialismusbegriff so mit Inhalt zu füllen, dass er für viele Menschen wieder attraktiv wird: indem man Konzepte entwickelt für eine andere Wirtschaftsordnung, wo die Leute sehen: Das ist ja doch etwas völlig anderes als in der Vergangenheit, das ist etwas, das es so noch nie gab. Aber das wird ja oft als Vorwurf verwandt: Was Sie vertreten, hat ja noch nie funktioniert, das hat ja noch keiner realisiert. Aber faktisch ist es ja so, das in der Geschichte immer was Neues passiert. (...) Ich glaube, das ist die entscheidende Frage: dass man den Begriff mit Inhalten füllt, nicht einfach nur so vor sich her trägt, aber auch eben nicht so etwas peinlich berührt mit diesem Begriff nichts mehr zu tun hat. Das hielte ich auch für geschichtsvergessen. Autor: Geschichtsvergesssenheit: Vielleicht liegt hier ja das wesentliche Unterscheidungsmerkmal zwischen sozialistischen Linken und anderen sozialen oder radikaldemokratischen Bewegungen der Gegenwart: in der Bindung an, in der Treue zur Geschichte, nicht der offiziösen, sondern der, wie hieß es früher: die der arbeitenden Massen. Die Geschichte der 99 %, wie Occupy es heute nennt. Die Geschichte der Wertschöpfung, die kein Werk von Individuen ist, sondern eines der gesamten Gesellschaft. Zitator: An der Arbeit, die in unsichtbarer Verkettung alle leisten, sind alle berechtigt. ... Eigentum, Verbrauch und Anspruch sind nicht Privatsache ... Besitzverteilung ist ebenso wenig Privatsache wie Verbrauchsanrecht. Autor: So nicht Karl Marx, sondern der bürgerliche Denker und Politiker Walter Rathenau. Der Satz drückt zweierlei aus: die aus der Erfahrung des Unternehmers stammende Vorstellung von Gesellschaft als einem arbeitsteiligen, kollektiven, alle Arbeitenden umfassenden Netz der Wertschöpfung, in dem keine einzelne Leistung messbar ist; und zum anderen die historische Erkenntnis: dass für den gegenwärtigen Reichtum die Gesellschaften der Vergangenheit in Vorleistung gegangen sind: es war die Arbeit von Generationen, die Straßen, Schulen, Universitäten, Theater, Bibliotheken, Forschungslaboratorien, Krankenhäuser, Städte schuf. Aus solchen Überzeugungen heraus wollte der plutokratische Großbürger Rathenau, Anfang des vorigen Jahrhunderts - und vor seinen Katastrophen - die Monopole verstaatlichen, das Erbrecht abschaffen, die Vermögen, die Einkommen, den Raumverbrauch und den Luxus besteuern, Aktiengesellschaften in Stiftungen verwandeln, und die Produktivitätssteigerungen zur Verkürzung der Arbeitszeit nutzen. Heute findet man diese Forderungen, nur ergänzt um die nach Belegschaftseigentum, allenfalls im Programm der Linkspartei. Sie scheinen unrealistisch, utopisch, verblasen. Aber sind sie unhistorisch? Sicher, der Kapitalismus ist nicht mehr der von 1900. Er hat unvorstellbaren Wohlstand für viele geschaffen, sich ein gewisses Maß an Gleichheit abringen lassen. Aber der Fortbestand all dessen ist nicht sicher. Mit der Globalisierung des Reichtums sind auch die Krisen und die Ungleichheiten gewachsen, die Machtzusammenballungen größer geworden. Aber nicht nur sie stehen als Mauer gegen die Forderungen von Sozialisten und radikalen Demokraten. Gegen sie stehen die gewachsenen Denkgewohnheiten, in einer Gesellschaft, die bei allem Wohlstand kein "Wir" mehr formulieren kann, in der zeitweise sogar die Ideologie festsetzen konnte, es gäbe nur Individuen und Märkte - wie die klassische Formulierung von Margret Thatcher lautet. Aber ist es absurd, anzunehmen, solche Gewohnheiten könnten sich ändern und neue Ideen, oder wiederbelebte Alte entstehen in den Zeiten, auf die wir zusteuern? Zeiten, in denen die Verteilungsfrage in einem Kapitalismus ohne Wachstum auf der Tagesordnung steht, ebenso wie eine grundlegende Umgestaltung unserer Art zu produzieren, wenn es eine "Wende zum Weniger" zu bewältigen gilt, eine gleichmäßige Verteilung der Krisenlasten und der Kosten der Zukunftsbewältigung. Und mehr noch. Die Auswirkungen der Finanzkrise auf die westlichen Sozialstaaten ist zurzeit für uns das schmerzhafteste, aber mit Sicherheit nicht das gravierendste Problem einer tiefgehenden, weltweiten Krise des Kapitalismus. Eine schier "unüberwindliche Kluft", so schon Marx, tut sich auf "zwischen dem Kapitalismus und den natürlichen Gesetzmäßigkeiten des Lebens selbst". Zitator: Er ist das einfache, das schwer zu machende. Autor: Brechts Satz über den Sozialismus klingt angesichts all dessen heute fast schon optimistisch. Ja vermessen. Aber die Linke, so sagt es der Philosoph Peter Sloterdijk, hatte schon immer zwei Flügel: einen irdischen und einen himmlischen. Ihr Erbe ebenso ihre Analyse der Gegenwart nötigt sie, zu vereinen, was schwer zu vereinbaren ist: der Kampf um die Verbesserung der unmittelbaren Lebensbedingungen in Fabrik, Büro, Werkstatt, Kommune und Nation hier und jetzt, und die Sorge um die Zukunft des globalen Ganzen. Eine Art globaler sozialer Marktwirtschaft, eine ökumenische Internationale, eine, um noch einmal Kant zu zitieren, Weltgesellschaft aus Republiken aber - angesichts eines von 150 Großkonzernen und Banken kontrollierten Weltmarkts, angesichts der Waffenarsenale, die Reichtum und Privilegien verteidigen - angesichts dieser massiven Realitäten klingt das wie eine romantische, schlecht utopische, zu einfache, für "Realisten" gar kitschige Vorstellung. O-Ton Precht: Ich glaube, dass die Durchkapitalisierung des Planeten dafür sorgt, dass die Länder zu stark untereinander zu Konkurrenten geworden sind. Ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, dass es eine sehr grenzübergreifende Solidarität gibt. Ich kann mir nur vorstellen, dass es Ansteckungseffekte gibt. Das heißt, wenn in einem Land eine solche, quasi revolutionäre Bewegung entsteht, dass sich andere Länder dann anschließen. Dass der Funke überspringt. Aber eine Solidarisierung, im Sinne, wie sich das 19. Jahrhundert die Welt vorgestellt hat - ich muss auch sagen, die Welt war kleiner als heute. Also wenn die Proletarier aller Länder sich vereinigen sollten, dann hat Marx nicht an Taiwan gedacht, oder an Malaysia oder an Chile - also aller Länder, das war, glaube ich, Mitteleuropa. Autor: Bleiben wir also in Mitteleuropa, und zunächst in Deutschland, mit einer Sozialistischen Partei, die knapp bei wenig mehr als 5% steht, und das inmitten einer Krise, deren Massivität auch die FAZ fragen lässt, in einer Atmosphäre, in der die Forderungen nach Kommunalem Eigentum und Verstaatlichung der Banken, nach mehr Verteilungsgerechtigkeit, Gleichheit und staatlicher Zukunftssicherung anwachsen. Warum kommen all die gelegentlichen Manifestationen von Wutbürgern, jungen Menschen und Kapitalismuskritikern, wie die tausende von Bürgerinitiativen, in denen neue Formen des Konsums, der Produktion, der Arbeit, des Gemeinbesitzes schon erprobt werden, schließlich: die Occupy-Bewegung nicht zu einer wirkungsvollen politischen Vertretung? Denn nur Gesetze könnten einen Bewusstseinswandel auf Dauer stellen, Institutionen schaffen, in denen sich auch das Verhalten ändert. O-Ton Precht 003/012:. Ich glaube dass eine ganz wichtige Voraussetzung der sozialistischen Bewegung der Hunger war. Es war das Ausgeschlossensein von den Früchten der Gesellschaft, dh. ein materieller und ein immaterieller Hunger. Und wir haben die Situation, dass die Abgespeisten der Gesellschaft bei uns nicht hungrig sind, sondern als Abgespeiste mit Unterhaltungselektronik und billigem Essen so gut versorgt sind, dass wir überhaupt kein revolutionäres Potential in der Unterschicht mehr haben. D.h. wenn es ein revolutionäres Potential gibt für eine Utopie einer anderen Gerechtigkeit, einer Umverteilung, eines anderen Zeitmanagements, einer Loslösung von der Geiselhaft, in wir uns durch die Finanzmärkte befinden, dann kann das nur die Mittelschicht sein. Die Mittelschicht hat noch einen gewissen Hunger, und zwar einen Hunger nach Moral, nach Anstand und nach Fairness, und das werden die Hauptbeweggründe sein. Sie wird sich aber nicht in einer vergleichbaren Organisationsform befinden wie früher das Proletariat, (...) dh. es wird eine andere Sprache dafür geben. Aber das revolutionäre Potential, wenn es das noch gibt, liegt in der Mittelschicht, nicht in der Unterschicht. Autor: Nur aus dieser Mittelschicht - woher auch sonst -, könnte sich eine neue Bewegung rekrutieren, die die erlahmten Parlamente, die schlappen Redaktionen, die kaputten Schulen und Kommunen instand setzt? Bis auf weiteres ist die Mittelschicht immer noch eher die Nutznießer als die Opfer eines globalen Kapitalismus. Warum also sollten sie für einen grundlegenden Umbau der Wirtschaft Opfer bringen, an Geld und an Zeit, für mehr Gleichheit und weniger Konsum? Für höhere Steuern und gleiche Löhne? Was könnte ihrem moralischen Hunger ein reales Fundament geben? Zitator: Es ist offensichtlich, dass die alten Lösungen, die in den Jahrzehnten nach 1945 funktionierten, obsolet sind. Autor: schreibt der Gesellschaftsforscher Streeck. Aber gegen die Erkenntnis, dass auch die individuellen Lösungen, die es für sie jetzt noch gibt: die Privatschule für die Kinder, das Erste-Klasse-Ticket in der Bahn, die Zahn-Zusatzversicherung, die Riesterrente, der Garten zur Selbstversorgung - dass all das die Zukunft auch für sie nicht mehr sicher macht. Und für ihre Kinder schon gar nicht - gegen diese Erkenntnis... Zitator: ... ist die kulturelle Anziehungskraft eines Lebens, das sich in individueller Leistung und fortschreitendem Konsum erschöpft, groß. (...) So kann man pessimistisch sein und die Zeit voraussehen, in der die Gesellschaft keine Antwort mehr findet. Aber andererseits stimmt es auch, dass Menschen Spezialisten für das Unerwartete sind; dass Leute die erstaunlichsten Dinge unternommen haben; und dass es sich immer lohnen könnte, zu kämpfen. Autor: Vielleicht würde Marx heute sagen: Die Mittelschichten haben wenig mehr zu verlieren als ihren Mercedesstern - aber sie haben eine Zukunft zu gewinnen, in der ihre Erkenntnisse, "das Ändern der Umstände" und die "menschliche Tätigkeit der Selbstveränderung" zusammenfallen. So gesehen, könnte man Sozialismus, auf den einzelnen Mitwirkenden am Weltgeschehen bezogen, auch als das Streben nach solcher Kohärenz verstehen. Das ist eine kostbare, seltene Eigenschaft, aber sie ist irgendwie unausrottbar. Dass es sie gibt: das immerhin ist keine Utopie. 1