COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Deutschlandradio Kultur Forschung und Gesellschaft am 8. November 2007 Redaktion: Peter Kirsten Gegen Beliebigkeit und Werterelativismus Die Rolle der Vernunft in der Gesellschaft Der Philosoph Vittorio Hösle im Gespräch mit Ralf Caspary Übernahme vom Südwestrundfunk / 2. September 2007 Ansage: Heute mit dem Thema: Gegen Beliebigkeit und Werterelativismus - warum die Vernunft eine neue wichtige Rolle spielen sollte. Es gehört mittlerweile zum Konsens vieler postmoderner Denker, dass sie der Vernunft nicht mehr trauen. Oftmals verweisen sie auf den deutschen Faschismus, der im Namen der Vernunft, der kalten Ratio eine grausame Diktatur installiert habe, oder sie verweisen auf die kalte ökonomische Vernunft, auf der angeblich das System des Kapitalismus basiere. Diese Denker setzen Vernunft mit Unterdrückung der Fantasie und der Emotionen gleich, mit Eurozentrismus, mit Macht und Repression. Doch damit manövrieren sie sich in eine Sackgasse, denn ohne Berufung auf eine überindividuelle Vernunft lassen sich kaum universelle Werte formulieren. Das meint Vittorio Hösle, Professor für Philosophie an der University of Notre Dame in den USA. Hösle ist einer der einflussreichsten Vertreter eines modernen objektiven Idealismus, der der Vernunft im Sinne Hegels die zentrale Rolle zuweist. Hösle galt übrigens mal in seinem Fach als so eine Art Boris Becker, er promovierte mit 22 Jahren, habilitierte mit 24, war mit 26 Universitätsprofessor. Hören Sie in Forschung und Gesellschaft ?Gegen Beliebigkeit und Werterelativismus ? Die Rolle der Vernunft in der Gesellschaft? ? Vittorio Hösle im Gespräch mit Ralf Caspary: Caspary: Herr Hösle, wir sollten uns der Bedeutung der Vernunft in der Gesellschaft nähern, indem wir Ihre Kritik an der Gegenwartsphilosophie thematisieren, sie werfen ihr ja vor, die Vernunft zerstört zu haben, welche Philosophie, welche Richtung meinen Sie konkret? Hösle: Es ist eine der Auffälligkeiten des 20. Jahrhunderts, dass es innerhalb dieser Philosophie, die ich meine, kaum eine starke Ethik gegeben hat. Die beiden einflussreichsten Philosophen des 20. Jahrhunderts sind sicher Martin Heidegger und Ludwig Wittgenstein, und beide gehen davon aus, dass es so etwas wie eine rationale Ethik gar nicht geben kann. Das steht in großem Kontrast zu der Tradition, besonders zu Kant. Die ganze Aufklärungsphilosophie ist auf den Gedanken gegründet, dass wir Vernunft in die Moral bringen müssen und dass eine rationale Ethik das Heilmittel ist für die Übel der Gesellschaft, dass wir auf ihrer Grundlage Gesellschaften umstrukturieren müssen. Der tiefe Skeptizismus hinsichtlich der Möglichkeiten der praktischen Vernunft, das heißt desjenigen Teils unserer Vernunft, der eine Antwort zu geben versucht auf moralische Fragen, ist, so glaube ich, in der Tat eine der Hauptmerkmale der Philosophie des 20. Jahrhunderts, die eben damit sich weit von der Aufklärung und ihrer Philosophie verabschiedet hat. Caspary: Sie schreiben in diesem Zusammenhang auch, es geht um einen Prozess der Selbstzersetzung der wertrationalen Vernunft. Hösle: Damit ist folgendes gemeint: Der Terminus ?wertrationale Vernunft?, wie ihn etwa Max Weber verwendet, ist unterschieden von dem der zweckrationalen Vernunft. Zweckrationale Vernunft ist jener Teil unserer Vernunft, der die Frage zu beantworten sucht, was sind Mittel für einen bestimmten Zweck. Ein Beispiel: Sie wollen eine Straße bauen. Der Ingenieur fragt sich nun, was sind die besten Baumittel, um etwa die Sicherheit des Straßenverkehrs zu erhöhen. Wertrationale Vernunft ist hingegen jener Teil unserer Vernunft, der die Frage zu behandeln versucht, was sind eigentlich legitime Werte. Denn die zweckrationale Vernunft ist natürlich kompatibel mit allen möglichen Werten. Sie können auf zweckrationale Weise die Frage angehen, wie bringe ich die größtmögliche Zahl von Menschen um, wie kann ich die größtmögliche Umweltverschmutzung verursachen usw. Da können Sie jedes mal die zweckrationale Vernunft einsetzen. Intelligente Verbrecher sind zweckrational, aber nicht wertrational - wenn man davon ausgeht, dass es so etwas wie eine richtige Zwecksetzung gibt. Caspary: Wir sollten darüber sprechen, wie es zu dieser Zersetzung der wertrationalen Vernunft eigentlich gekommen ist seit dem deutschen Idealismus. Denn das ist ja Ihre These. Hösle: Das ist eine sehr interessante Frage, und ich glaube, es gibt verschiedene Gründe dafür. Ein ganz wichtiger Aspekt ist die sogenannte ?historistische Überhitzung?. Damit meine ich folgendes: Die Geisteswissenschaften entstehen im wesentlichen im 18. Jahrhundert. Das Werk, das als erstes versucht, eine Methodologie der neuen Wissenschaften, nämlich der Geisteswissenschaften, zu entwickeln ist die ?Scienza Nuova?, die neue Wissenschaft von der gemeinsamen Natur der Völker des Italieners Giambattista Vico. Und eine der großen Entdeckungen der Geisteswissenschaften bei Vico und dann besonders der späteren deutschen Entfaltung des Programms der Geisteswissenschaften ist, dass in der Tat andere Kulturen und auch unsere eigene Kultur in früheren Zeiten ganz unterschiedliche Werte haben. Man kann nicht bestreiten, dass die Griechen die Sklaverei für völlig normal hielten. Aristoteles, der ohne Zweifel einer der Größten, Intelligentesten aller Zeiten war, hielt es für völlig legitim, einen Krieg zu führen, der zum Ziel hat, andere Staaten zu versklaven. Sie greifen andere Staaten an und nehmen Menschen gefangen, die, wie er sagt, von Natur aus Sklaven sind. Wenn dabei Menschen, die sich verständlicherweise dagegen wehren, ums Leben kommen, so ist das trotzdem ein gerechter Krieg, meint Aristoteles. Die enorme Leistung des Historismus war, dass er unsere hermeneutischen Fähigkeiten erhöht hat. Er hat uns sensibilisiert, Dinge in früheren Kulturen oder in gegenwärtigen, aber anderswo angesiedelten Kulturen wahrzunehmen, die für uns höchst befremdlich sind. Aber er zugleich folgendes Credo radikalisiert: ?Na ja, wenn die Werte in den einzelnen Kulturen so unterschiedlich sind, kann es keinen eigentlich richtigen Wert geben?. Das hat besonders im deutschen Raum zum Niedergang der Naturrechtstradition geführt. Die Naturrechtstradition basiert auf den Gedanken, dass bestimmte Normen der Gerechtigkeit allem legitimen Recht zugrunde liegen müssen. Nun sagen die Historisten, es gibt doch gar keine allgemeinen Normen, sondern das ändert sich je nach Zeit und Kultur, und im angelsächsischen Raum ist sicher der Gedanke des Naturrechts viel präsenter geblieben im 20. Jahrhundert. Und das erklärt meines Erachtens, warum der angelsächsische Raum sich als wesentlich immuner gegenüber dem Totalitarismus erwiesen hat als der radikale Historismus der deutschen Kultur. Caspary: Sie meinen, der Historismus hat sozusagen den Relativismus eingeführt, indem er auf die Vielfalt der Kulturen geschaut hat. Hösle: Ja, ich glaube, dass das ohne Zweifel nachweisbar ist. Denken Sie an eine Figur wie Dilthey, der auch ein Begründer der modernen Geisteswissenschaften ist, einer der Väter des modernen Historismus. Er sieht das Relativismusproblem unmittelbar kommen. Noch Tröltsch, der große evangelische Theologe, hat sich ja am Ende seines Lebens mit dem Problem des Historismus beschäftigt und den Möglichkeiten und Schwierigkeiten, ihn vor einem Übergang in den Relativismus zu retten. Das ist sicher ein Faktor. Ein anderer Faktor, den ich als bedeutend einstufe in diesem Zusammenhang, ist der mit dem Historismus häufig einhergehende Aufstieg des Nationalismus. Der Nationalismus, der Gott sei Dank inzwischen wieder im Schwinden begriffen ist, erreicht im 19. Jahrhundert seinen Höhepunkt. Ihn gibt es ja in dieser Form vor dem 19. Jahrhundert praktisch nicht. Heute haben die Menschen sehr viele Identitäten, aber vor dem 19. Jahrhundert war die nationale Identität eine unter vielen, bei weitem nicht die zentrale. Wenn sie aber im 19. Jahrhundert zu den zentralen Identität wird, wird die allgemein menschliche Natur, die wir als Menschen haben, demgegenüber herabgesetzt. Und das führt auch zu relativistischen, perspektivistischen Folgen. Wenn man hingegen davon ausgeht, dass es etwas gibt, was uns Menschen als Menschen gemeinsam ist und dass das viel bedeutsamer ist als unsere Deutschheit oder Französischheit oder was auch immer, dann tendiert man zu einer Kritik am Relativismus. Caspary: Dieser Historismus ist also für Sie ein ganz wichtiger Baustein bei der Selbstzersetzung der wertrationalen Vernunft oder - sagen wir - bei der Abkehr vom deutschen Idealismus, von den Systemen von Fichte, Kant und Hegel. Jetzt könnte man ja überlegen, Herr Hösle, vielleicht war diese Zersetzung aber auch eine natürliche Reaktion auf ein philosophisches System, das der Vernunft eigentlich viel zuviel Macht und Einfluss zugeschrieben hatte. Ich denke dabei an Hegel, der ja sogar soweit ging, die Geschichte sich gemäß Vernunftgesetzen entfalten zu lassen. Und dieses Projekt scheiterte doch. Hösle: Da ist etwas Wahres dran. Ohne Zweifel hat der deutsche Idealismus die Möglichkeiten der Vernunft überschätzt. Er hat den Bogen überspannt. Aber wie häufig in der Welt ist die Reaktion darauf ein Übergehen in das andere Extrem, das nicht minder gefährlich und falsch ist. Ich glaube übrigens, dass der Versuch, eine Art Logik in der Geschichte zu suchen, nicht als solcher zu verwerfen ist. Er ist ja immer wieder aktuell. Denken Sie an Fukuyama, der 1990 diesen berühmten Aufsatz veröffentlichte ?The end of history?, in dem er die Thesen vertritt, dass eben der Kampf der Totalitarismen im 20. Jahrhundert, zuerst des Nationalsozialismus, dann des Kommunismus, mit dem liberalen Modell einer demokratischen Marktgesellschaft ein Teil eines Geschichtsprozesses ist und dass der Sieg des liberalen Modells letztlich notwendig war. Also wenn man davon ausgeht, dass die Geschichte der Platz für die Verwirklichung des moralisch Gebotenen ist, dann kann man nicht einfach sagen, alles, was in der Geschichte passiert, könnte auch ganz anders, völlig unvernünftig sein. Sondern man muss versuchen, in der Geschichte eine Art Annäherung an bestimmte moralische oder Rechtsprinzipien zu finden. Jedenfalls meine ich, eine intelligente Geschichtsschreibung begnügt sich nicht einfach damit, Fakten auf Fakten zu häufen, sondern sie versucht, Entwicklungsperspektiven aufzuzeigen, Annäherungen an ein bestimmtes Ziel. Darum kommen wir letztlich nicht herum, auch wenn das nicht heißt, dass wir alle konkreten Konstruktionen des deutschen Idealismus im Bereich der Geschichtsphilosophie übernehmen sollten. Caspary: Wie schätzen Sie die Rolle von Nietzsche bei diesem Prozess ein? Nietzsche hat ja den berühmten Satz gesagt, ?ich denke?, das sei eine ?Illusion?, eigentlich müsste man sagen ?es denkt?. Er meint damit das Unvernünftige, das Unbewusste, das der deutsche Idealismus doch eher nicht wahrgenommen hat. Er bringt ins Kognitive ein Element hinein, das mit der Vernunft, mit der Ratio schwer zu vereinbaren war. Hösle: Ohne Zweifel ist Nietzsche eine der zentralen Figuren in dem Übergang von der klassischen deutschen Philosophie zu den Strömungen des 20. Jahrhunderts. Da ist überhaupt kein Zweifel daran. Nietzsche ist eine komplexe Figur. Denn einerseits ist besonders der frühe und auch der mittlere Nietzsche stark in der Aufklärung verwurzelt. ?Menschliches, allzu Menschliches? steht in der Tradition der französischen Moralisten, er ist am Anfang ein moderner Voltaire. Aber was man bei Nietzsche eben sehr genau beobachten kann, ist der Umschlag der Aufklärung, die Dialektik der Aufklärung. Nietzsche beginnt als einer, der im Namen der Vernunft Absurditäten unserer Gesellschaftsordnung, unseres Verhaltens kritisieren möchte, aber sich dann jeden rationalen Standards beraubt, um zu sagen, etwas ist besser oder schlechter. Was am Ende übrig bleibt, ist die reine Macht und sind rein subjektive Wertsetzungen, die durch nichts mehr begründet werden können. Insofern meine ich, dass Nietzsche in der Tat eine große Verantwortung trägt für den Niedergang der Vernunft. Das ändert nichts daran, dass Nietzsche ein großer Psychologe war. Ich glaube manchmal, als Psychologe ist er bedeutender denn als Philosoph. Die Ersetzung des ?ich denke? durch ?es denkt? ist meines Erachtens keine große geistige Leistung. Erstens hilft es ja nicht zu sagen ?es denkt?, wir wollen ja wissen, wer da denkt. Es muss dann wenigstens ergänzt werden: ?Es denkt in mir.? Und damit ist gezeigt, wir kommen nicht um die Ich-heit herum. Es muss ja irgendwo individualisiert werden, wo gedacht wird. Und dazu ist der Ich-Begriff unausweichlich. Ohne Zweifel ist Denken ein merkwürdiger Prozess. Denn auf der einen Seite ist es so, dass ein volitives Moment da im Spiel ist. Ich will zum Beispiel einem bestimmten Gedanken nachgehen, ich will mich jetzt mit Ihnen über Nietzsche unterhalten. Wenn man also das Ich-Zentrum als ein volitives Zentrum deutet, ist es vollkommen richtig zu sagen, dass ich es bin, der denkt, weil mein Wille die Gedanken hervorbringt. Andererseits weiß jeder, der denkt, auch und gerade der rationalistischste Philosoph, dass immer wieder Gedanken plötzlich auftauchen. Insofern machen wir alle die Erfahrung, dass es etwas gibt, das in uns denkt, etwas, das uns sozusagen Gedanken anbietet, von denen wir selbst überrascht sind. Eine präzise Analyse des Denkprozesses muss meiner Meinung nach anerkennen, dass volitive, also bewusste, gesteuerte Momente mit aus dem Unbewussten plötzlich aufsteigenden, gleichsam als ein Geschenk des Es sich erweisenden Gedanken auf faszinierende Weise verwoben sind. Caspary: Das wäre schon eine Weiterführung von Nietzsche. Bleiben wir bei Ihrer Kritik an der Gegenwartsphilosophie. Sie haben gesagt, es gäbe keine Ethik, keine rationale Ethik, keine Vernunft in der Moral. Kann man denn zeigen, wie sich diese Selbstzersetzung der Vernunft, so nennen Sie es, in der Gesellschaft spiegelt, also nicht nur im Bereich der Philosophie bei den Denksystemen, sondern etwa in der Ökonomie oder in bestimmten Wertehierarchien. Hösle: Zweifellos ist die große Frage der Geschichtsphilosophie des 20. Jahrhunderts, wie war es möglich, dass die europäischen Kulturnationen, die unter dem Banner der Aufklärung angetreten waren, die im 19. Jahrhundert Standards der Rechtsstaatlichkeit erreicht hatten, die es vorher in der Welt noch nie gegeben hatte, im 20. Jahrhundert zu einem beträchtlichen Teil in den Mahlstrom des Totalitarismus geraten sind. Insbesondere, wie war es möglich, dass die deutsche Nation einer Bande von Mördern auf den Leim gegangen ist und weltgeschichtlich unaussprechliche Verbrechen begangen hat. Das ist ein ganz großes geschichtsphilosophisches Problem. Natürlich gibt es viele Gründe für dieses Verhalten, aber eine Ursache, die man nicht unterschätzen soll, ist das, was ich die ?moralische Lähmung? nenne. Damit meine ich die Auffassung, dass im Grunde alle unsere Normen letztlich nichts anderes sind als Ausfluss von Macht, dass es leider keine Moral gibt jenseits faktischer Machtverhältnisse. Deswegen glaubt man, wenn man die Macht hat, kann man die Moral umsetzen, man kann dann erklären, dass die Ermordung von Millionen von Zivilisten gut ist, weil man ja die Macht hat, das zu tun. Ich behaupte nicht, dass Nietzsche die einzige Quelle der Nationalsozialisten ist, aber es scheint mir offenkundig, dass zentrale Lehrbestandteile der nationalsozialistischen Weltanschauung sich aus dem Relativismus Nietzsches speisen. Caspary: Bitte erklären Sie noch mal den Zusammenhang zwischen Normen und Macht. Vielleicht gibt es noch andere Beispiele dafür. Hösle: Das Phänomen, über das wir reden, die gesamtgesellschaftlichen Resultate des Verlustes des Glaubens an Wertrationalität, ist nicht auf den Totalitarismus begrenzt. Einer der entscheidenden Aspekte des 20. Jahrhunderts ist die Ersetzung von Wertrationalität durch Zweckrationalität. Gemeint ist damit, dass die Frage nach dem letzten Zweck der eigenen Tätigkeit sich gar nicht mehr stellt, dass man aber darauf guckt, was als Mittel günstig ist, um einen aus irgendwelchen Gründen gewollten Zweck zu erreichen, ohne sich Rechenschaft über die Frage abzugeben, ob dieser Zweck überhaupt legitim ist. Lassen Sie mich ein Beispiel geben: Wirtschaftswachstum wird zum Zweck an sich, ohne dass man sich fragt, ob Wachstum prinzipiell eher mit einem bedeutenden ökologischen Niedergang verbunden oder legitim ist, ob eine weitere Stillung von Bedürfnissen, die nicht natürlich sind, die den Menschen nicht glücklicher machen, wirklich sinnvoll ist. Wir haben eine Verselbständigung der einzelnen Sub-Systeme: ?business as business?, ?l?art pour l?art?. Die Auffassung, dass das Politische im wesentlichen der Logik des Machterwerbs unterworfen sei und nicht der Durchsetzung moralisch auszuzeichnender Ziele, das ist das Problem. Das alles sind Aspekte dieser Paralyse der wertrationalen Vernunft, die bedeutende gesellschaftliche Konsequenzen im 20. Jahrhundert hat. Caspary: Ihre These lautet, es geht um eine gefährliche Ersetzung von Wertrationalität durch Zweckrationalität. Heißt das dann auch, dass Tür und Tor geöffnet wird für puren Egoismus, weil jeder seine eigenen Zwecke verfolgt? Hösle: Ja, natürlich. Wenn man davon ausgeht, dass es keine verbindliche Wertordnung mehr gibt, dann versucht man, entweder von oben durch reine willkürliche Setzung einen neuen Wertekanon zu schaffen. Das haben die Totalitarismen versucht und sind Gott sei Dank gescheitert. Aber wenn man immer noch in den Kategorien der Auflösung der Wertrationalität denkt, dann muss man sagen, warum sollte ich mich irgendeiner ideologischen Großkonstruktion unterwerfen, ich mache das, was mir Spaß macht. Das ist relativ natürlich. Also die Hemmungslosigkeit im Ausleben des Egoismus muss dort zunehmen, wo eine der wichtigsten Kontrollinstanzen wegfällt, nämlich der Glaube an eine übergeordnete Wertordnung. Caspary: Kann man sagen, dass wir auch jetzt eine Gesellschaft haben, in der der Relativismus vorherrscht, in der wir sehr viele individuell gesetzte Werte haben, die sehr persönlich und subjektiv gefärbt sind, und diese Werte sind alle gleich gültig und damit eigentlich auch gleichgültig? Hösle: Absolut. Sie schildern die Situation sehr gut. Teilweise ist der Relativismus psychologisch als Reaktion auf die Bedrohung des Totalitarismus entstanden, aber dabei begreift der Relativismus nicht, dass er auch dem Totalitarismus selber zugrunde liegt. Lassen Sie mich Ihnen eine kleine Anekdote erzählen: Bei einem Vortrag, den ich als Student hörte, sprach jemand über Karl May. Ich bin kein Kenner von Karl May gewesen, ich hatte als Schüler kein einziges Buch von ihm gelesen und mochte ihn nicht. Aber der Redner sagte, im Grunde sind die Rachefantasien, die Karl May offenbar beim Schreiben bestimmten, dieselben wie die Rachefantasien in Dantes ?Inferno?. Ich hatte Dantes ?Inferno? schon gelesen, und fand das Buch ein bisschen besser als Karl May. Ich empörte mich über den Satz und sagte, es gebe doch unglaubliche ästhetische und moralische Differenzen zwischen Dante und Karl May. Und da rief einer aus dem Publikum: ?Rufen Sie doch gleich: ?Ins Feuer! Ins Feuer!?? Das heißt, er unterstellte, wenn man davon ausgeht, dass es ästhetische Wertdifferenzen zwischen Dante und Karl May gibt, dann hat man Neigungen zum Zensieren und zum Verbrennen von Büchern. Natürlich will kein intelligenter Mensch Karl May zensieren oder verbrennen. Das liegt mir völlig fern. Aber man muss das Recht haben sagen zu dürfen, dass der literarische Wert Dantes höher ist als der Karl Mays. Und das ist in der Tat mit der relativistischen Ideologie unserer Gesellschaft nicht mehr ohne weiteres verträglich. Caspary: Ich bleibe auf dem Pfad, den Sie bis jetzt gegangen sind. Haben Sie nicht oft schon den Vorwurf gehört, wenn Sie die Gegenwartsphilosophie auf diese Art kritisieren, dass Sie ein eher konservativer, vernunftgläubiger, rückwärtsgewandter Philosoph sind? Hösle: Wissen Sie, in der Aufklärung waren die Vernunftgläubigen diejenigen, die meinten, die Konservativen auf intelligente Weise herausfordern zu können. Ich sehe gar keine Möglichkeit, intelligenten Fortschritt zu betreiben, als auf der Grundlage der Vernunft. Wer nicht mehr an die Vernunft glaubt, wird im wesentlichen akzeptieren, dass die faktische Macht das letzte Geltungskriterium ist, und dazu gehören auch Traditionen. Insofern denke ich, dass Vernunftgläubigkeit und Konservatismus in Wahrheit nicht so zueinander passen, wie diese Kritiker das zu unterstellen scheinen. Wahrscheinlich ist intelligenter Fortschritt nur möglich, wenn man sich zur Vernunftgläubigkeit bekennt. Caspary: Wo liegt für Sie der Ausweg, Herr Hösle? Welche Art von Philosophie und welcher Vernunftbegriff kann und soll uns aus der Misere helfen, denn eine Misere ist es ja ohne Zweifel aus Ihrer Sicht? Hösle: Ein ganz entscheidender Aspekt ist anzuerkennen, dass es Fragen gibt, die wir nicht mit Mitteln der zweckrationalen Vernunft beantworten können, die aber trotzdem legitime Fragen sind. Anzuerkennen ist, dass die Frage ?Ist menschliches Leben ein Wert?? eine rationale Frage ist und dass wir sie nicht ungestraft dem subjektiven Belieben anheim stellen dürfen. Wenn Sie den Unterschied zwischen der modernen Ethik, wie sie sich in der Aufklärung entwickelt, und den vormodernen Ethiken am prägnantesten zusammenfassen wollen, werden Sie sagen, die moderne Ethik ist universalistisch, das heißt, sie geht davon aus, dass im Prinzip, wenn Sie einem Menschen, etwa sich selber, bestimmte Rechte zusprechen, Sie das auch allen anderen Menschen gegenüber tun müssen. Wir können also nicht sagen, ich habe ein Recht auf Leben, wenn wir nicht sagen, dann haben auch alle anderen ein Recht auf Leben. Das nennt man das Generalisierbarkeitspostulat. Ich denke, dass das Generalisierbarkeitspostulat, wie Kant schon erkannt hat, das Rückgrat der Moral ist. Ich denke, dass das Generalisierbarkeitspostulat letztlich wesensverwandt ist mit dem Satz vom Widerspruch, der in der kyrillischen Philosophie das Minimalrequisit für Rationalität ist. Wenn Sie sich widersprechen, können Sie nicht etwas mit Wahrheitsanspruch behaupten. Caspary: Welcher Vernunftbegriff ist also für Sie wichtig? Hösle: Für mich ist ein ganz zentraler Aspekt des Vernunftbegriffes, dass wir Widersprüche vermeiden wollen. Ich unterscheide semantische von performativen Widersprüchen. Semantische Widersprüche sind Widersprüche, wie sie zum Beispiel in der Mathematik aufgewiesen werden. Sie behaupten etwas, und jemand zeigt Ihnen, dass daraus ein Widerspruch zu der Annahme folgt. Performative Widersprüche sind nicht Widersprüche zwischen Sätzen, sondern Widersprüche zwischen dem Inhalt dessen, was sie sagen, und dem Akt der Aussage. Zum Beispiel wenn Sie sagen: ?Es gibt keine Wahrheit?. Implizit lautet ja Ihre Aussage, ich behaupte hiermit als wahr, dass es keine Wahrheit gibt. Ich denke, dass man mit Argumenten dieser Art dem Problem der Begründung des entscheidenden ethischen Prinzips nahe kommen kann. Caspary: Das heißt, man kann mit den Werkzeugen der wertsetzenden Vernunft universalistische Werte begründen? Hösle: Ja. Ich glaube, dass der Übergang zur universalistischen Ethik letztlich analog ist zu dem enormen Abstraktionsschritt, der in der Wissenschaft geschieht. Die moderne Wissenschaft ist abstrakter gegenüber der antiken Wissenschaft und die moderne Ethik ist ebenfalls abstrakter gegenüber der antiken Ethik. Dieser hohe Abstraktionsgrad ist ein entscheidender Aspekt für Vernunft, für Rationalität. Ich betone noch mal: Es ist nicht der einzige! Ich sage nicht, dass Ethik auf das Generalisierbarkeitspostulat allein zurückgeführt werden kann. Aber ohne dieses Postulat geht es nicht. Und ich denke, dass es einer der entscheidenden Pflichten eines gerechten Menschen in unserer Zeit ist, daran festzuhalten, dass wir für eine Gesellschaft arbeiten müssen, in der dieses Prinzip verwirklich ist. Wenn jemand etwa sagt, wir haben in Europa oder in den USA einen bestimmten Lebensstandard, den wollen wir halten, auch wenn das bedeutet, dass es nicht möglich wäre, dass alle anderen Menschen auf dem Planeten denselben Lebensstandard haben, weil sonst der Planet ökologisch kollabieren würde, dann widerspricht er dem Generalisierbarkeitspostulat. Das einzige Prinzip, das moralisch akzeptabel wäre, wäre zu sagen: Jeder Mensch hat den gleichen Umweltraum, er darf die gleichen ?ökologischen Fußspuren? hinterlassen. Wir müssen einen Schwellenwert festlegen, jenseits dessen es zu Zusammenbrüchen von ökologischen Kreisläufen kommt, und dann teilen wir das durch die Zahl der Weltbevölkerung und sagen: Jeder Mensch hat den Anspruch auf den gleichen Umweltraum. Wenn aber eine Nation sagt, wir haben das Recht auf einen größeren Umweltraum, weil wir de facto zuerst gekommen sind, wir wollen unseren Lebensstandard nicht aufgeben, und die anderen dürfen nicht zu unserem Lebensstandard aufsteigen, weil das sonst die Erde kaputt macht, dann verlässt man den Boden einer universalistischen Ethik. Das enorme Problem, vor dem wir heute stehen, Herr Caspary, ist folgendes: Der Gedanke an die universalistische Ethik ist sehr komplex. Es gibt mindestens drei Dimensionen des universalistischen Gerechtigkeitsbegriffs. Eine Dimension, die relativ leicht zu verwirklichen war im Laufe der europäischen Geschichte, ist die der Gerechtigkeit zwischen den Klassen. Wir haben einen relativ weitgehenden Ausgleich zwischen den sozialen Klassen im 20. Jahrhundert erreicht, den es in dieser Form in keiner anderen Kultur gegeben hat. Gleichzeitig aber gibt es auch das Problem der Gerechtigkeit zwischen den Nationen und das Problem der Gerechtigkeit zwischen den Generationen. Und diese drei Gerechtigkeitsbegriffe können in strenger Spannung zueinander stehen. Jemand kann zum Beispiel sagen, wir wollen einen bestimmten Lebensstandard für alle Klassen aufrechterhalten, auch wenn das bedeutet, dass die spätere Generation die Zeche dafür bezahlen muss, indem wir uns etwa verschulden. Das ist sehr nett für die Ärmeren, die heute existieren, wenn sie dann von den entsprechenden Transferleistungen profitieren. Aber das ist nicht gerecht gegenüber kommenden Generationen. Oder wir sagen, wir haben einen Lebensstandard, wir erlauben allen möglichen Leuten in unserem Lande den mehrfach jährlichen Flug in die Karibik, auch wenn das bedeutet, dass dann einige Inseln im Pazifik versinken werden aufgrund des Steigens des Wasserpegels der Weltmeere durch den Treibhauseffekt. Das ist eine Verletzung internationaler Gerechtigkeitspflichten, die dazu dient, eine größere Gleichheit innerhalb eines Landes zu erreichen. Ich denke, die eigentlich Aufgabe, vor der wir heute stehen, besteht darin, einen Gerechtigkeitsbegriff auszuarbeiten, der Gerechtigkeit zwischen den Klassen mit der Gerechtigkeit zwischen den Generationen und den Nationen vereint und zusammenbringt. Das scheint mir die eigentliche Aufgabe. Und das kann man nur tun auf der Grundlage des Generalisierbarkeitspostulates und aufgrund des Glaubens an die Möglichkeit einer rationalen Ethik. Wenn wir keinen universalen Gerechtigkeitsbegriff haben, wenn wir davon ausgehen, dass zum Beispiel Vernunftnormen nicht für die ganze Welt gelten, sondern nur für uns, dann haben wir ja gar keine moralische Verpflichtung, die Menschenrechte anderer zu respektieren. Es ist immer der Appell an einen allgemeinen Vernunftbegriff, an universale Menschenrechte gewesen, der die Menschen motiviert hat, gegen die Verbrechen der Kolonialisierung zu protestieren. Wenn man der Ansicht ist, wir können sowieso die Leute in Afrika nicht verstehen, warum sollten wir uns dann darüber echauffieren, wenn wir sehen, dass sie Opfer von Kriegen, von Hunger, von Umweltkatastrophen sind, dann wird damit die universalistische Ethik demontiert. Die Voraussetzung eines universalistischen Gerechtigkeitsbegriffs ist, dass es bestimmte Grundrechte gibt, die allen Menschen als Menschen zukommt. Caspary: Könnten Sie einen Wertekatalog skizzieren, der für Sie oberste Priorität hätte? Hösle: Wie ich gesagt habe, ist für mich das entscheidende Werkzeug einer rationalen Ethik das Generalisierbarkeitspostulat, und das Generalisierbarkeitspostulat ist die moderne Ausformulierung des Gedankens der Gerechtigkeit. Vormoderne Kulturen haben häufig einen voruniversalistischen Gerechtigkeitsbegriff, das heißt, sie gehen davon aus, dass Menschen verschiedene Rechte haben, je nachdem zu welcher Kaste sie gehören, aber sie wenden trotzdem innerhalb derselben Kaste zum Beispiel einen Gerechtigkeitsbegriff an, wollen etwa Gleichbehandlung von Leuten innerhalb derselben Kaste haben. Der Gerechtigkeitsbegriff ist also die Grundlage von allem. Dann, meine ich, kommt ganz entscheidend als Wert dazu, der durch Gerechtigkeit zu verwirklichen ist: das menschliche Leben. Wir können gar nicht anders, als dem menschlichen Leben einen Wert zuzuschreiben, weil die Voraussetzung unseres eigenen Nachdenkens über Gerechtigkeit, jedenfalls soweit wir das wissen können, unser Leben ist. Da ich mir selber ein Lebensrecht nicht abstreiten kann, wenn ich über philosophische Fragen diskutiere, muss ich aufgrund des Generalisierbarkeitspostulates dieses Lebensrecht jedem anderen Menschen zuerkennen. Aber menschliches Leben bedeutet natürlich Leben nicht nur als biologischer Vollzug, sondern auch als geistiger Vollzug. Das unterscheidet das menschliche vom tierischen Leben. Von daher gehört als entscheidender Wert dazu, dass der Mensch sich geistig ausbilden, sich geistig erheben kann. Deswegen genügt es nicht, ein Rechtssystem zu haben, das dem Menschen das bare Überleben sichert, sondern das Rechtssystem und das politische System muss dem Menschen die Möglichkeit geben, sich selbst geistig weiterzuentwickeln. Caspary: Wie sieht denn Ihr praktischer Beitrag aus, um diese gerechte Gesellschaft realisieren zu können? Sind Sie eher dem akademischen Elfenbeinturm verhaftet, oder engagieren Sie sich auch auf soziale Weise? Hösle: Sehen Sie, es ist natürlich so, dass ich primär Professor bin. Aber ich bin insofern sozial aktiv, als dass ich sehr großzügig bin gegenüber karitativen Organisationen und dass ich dort, wo ich gefragt werde, in gesellschaftlichen Gruppierungen gerne mitwirke und Impulse gebe. Aber es ist immer eine Frage der Abwägung herauszufinden, wo man mehr erreichen kann. Erreichen Sie mehr, wenn Sie kurzfristig sich einer Organisation anschließen und dort innerhalb der nächsten zwei, drei Jahre einen bestimmten Fortschritt erzielen? Oder ist es für Sie doch besser, an einem komplexen Buch zu arbeiten, das kurzfristig sicherlich nicht viel erreichen kann, aber vielleicht über 50 Jahre lang wirkt und zu einer komplexen Gerechtigkeitstheorie beiträgt. Mein eigenes Buch ?Moral und Politik? war ein Versuch, eine Gerechtigkeitstheorie zu entwickeln, die den Komplexitäten und Herausforderungen des 21. Jahrhunderts gerecht wird. ******************** * Zum Autor: Professor Vittorio Hösle wurde 1960 in Mailand geboren. Mit 17 Jahren machte er Abitur in Regensburg. Er studierte Philosophie, Allgemeine Wissenschaftsgeschichte, Klassische Philologie, 1982 Promotion, 1986 Habilitation. Ab 1989 bis 90 war er Gastprofessor an mehreren Universitäten im In-und Ausland, er war u. a. Direktor des Forschungsinstituts für Philosophie in Hannover, seit 99 ist er Professor an der University of Notre Dame in den USA. Hösle gilt als wichtigster Vertreter eines objektiven Idealismus in der Tradition Hegels, der auf einer starken wertsetzenden Vernunft basiert. Buchauswahl: - Woody Allen. Versuch über das Komische. dtv - Die Philosophie und die Wissenschaften. Beck - Moral und Politik. Beck - Die Kritik der Gegenwart und die Verantwortung der Philosophie. Beck - Philosophie der ökologischen Krise. Beck - Philosophiegeschichte und objektiver Idealismus. Beck ******************** 1