DEUTSCHLANDFUNK Sendung: Hörspiel/Hintergrund Kultur Dienstag, 25.02.2014 Redaktion: Hermann Theißen 19.15 ? 20.00 Uhr Zwischen Front und Exil Syrische Flüchtlinge und der Krieg Von Dominik Bretsch Co-Produktion SWR/DLF URHEBERRECHTLICHER HINWEIS Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. ? Deutschlandradio - Unkorrigiertes Manuskript - O-Ton (Rashad): arabisch Rashad Stell dir vor, du bekommst eine Tasse bitteren Tee. Du schüttest Zucker hinein, aber rührst nicht um. Wirst du die Süße des Zuckers im Tee schmecken? Ich denke nicht. Starre den Tee eine Weile an und probiere ihn noch einmal. Hat sich etwas geändert? Ich denke nicht. Der Tee wird kälter und kälter und noch immer hast du nicht getrunken. Letzter Versuch: Dreh die Tasse einmal um sich selbst und wünsche dir dabei, dass der Tee süß wird. Ansage: Zwischen Front und Exil. Syrische Flüchtlinge und der Krieg Feature von Dominik Bretsch Atmo: Motorgeräusche, Hupen, Rufen, ein Hahn Sprecher: Die ?Garage? ist eine staubige Baugrube nahe des Zentrums der türkischen Stadt Gaziantep. Zwei Dutzend Minibusse quetschen sich aneinander vorbei, parken sich gegenseitig zu. Die Fahrer stehen in Grüppchen herum, rauchen, diskutieren, telefonieren und rufen von Zeit zu Zeit die Fahrtziele aus. Der Bus nach Kilis ist in fünf Minuten voll. Kilis ist einer der Hauptgrenzübergänge zwischen der Türkei und Syrien. Jaffer sitzt schon auf der Rückbank. Unruhig rutscht er hin und her. Dann geht es los. O-Ton (Jaffer): I really feel I am going back home. I am feeling homesick. Everytime you go back to the border you are going back in your memories about your home and the way you came here. Only to visit, not to live. Jaffer: Es fühlt sich wirklich so an wie nach Hause zu fahren. Ich habe Heimweh. Jedes Mal wenn ich an die Grenze fahre, denke ich zurück an unser zu Hause und wie wir hierher gekommen sind. Nur zu Besuch, dachten wir damals, nicht um hier zu bleiben. Sprecher: Jaffer lebt als syrischer Flüchtling mit seiner Familie in der Türkei. Er ist 29 Jahre alt, alle paar Wochen fährt er an die syrische Grenze, um von Verwandten und Freunden Neuigkeiten aus Syrien zu erfahren. Es ist das Frühjahr 2013. Noch immer sind bei den Anhängern der syrischen Opposition die Hoffnungen auf einen Sieg gegen das Assad-Regime groß. Die Freie Syrische Armee, die FSA, konnte sich vielerorts gegen die Offensiven der Regierungstruppen behaupten. Jaffer will sich heute mit seinen Cousins treffen, die bei der FSA in der Küstenregion um Latakia kämpfen. O-Ton (Jaffer): (my mother) was so worried that I might go to Syria but I promised her I will not go because it is so dangerous. I want to see what they (my cousins) are thinking about (the situation). Maybe they have an idea when we can go back, any good news maybe from the inside. If you hear from some people on the ground and they are related to you, (they know your) hometown and your relatives it is very important to hear what they are thinking and what is going to happen in the future. Jaffer: Meine Mutter war so besorgt, dass ich vielleicht rein gehe nach Syrien. Ich habe ihr versprochen das nicht zu tun, weil es so gefährlich ist. Ich möchte hören, was meine Cousins über die Situation im Land denken. Vielleicht haben sie eine Vorstellung davon, wann wir zurück können, irgendwelche guten Nachrichten, was drinnen im Land passiert. Es ist wichtig, Informationen von verlässlichen Leuten zu bekommen, die vor Ort sind, die deine Heimatstadt kennen und einschätzen können, wie sich die Situation entwickelt. Atmo: Kilis Stadt Sprecher: Von Gaziantep aus sind es nur vierzig Kilometer bis zur syrischen Grenze; auf einem Schild am Eingang der Stadt steht die Einwohnerzahl: 80.000. Mittlerweile sind über 40.000 syrische Flüchtlinge dazu gekommen. Viele von ihnen leben im Flüchtlingslager der türkischen Regierung, einem umzäunten Gelände mit Wachposten, Schranken und blitzeblanken Baracken. Wer es sich leisten kann, sucht eine eigene Wohnung. Der Wohnraum in Kilis und anderen türkischen Grenzstädten ist dadurch extrem knapp und teuer geworden. Bauherren scheinen von der Situation profitieren zu wollen, denn überall am Stadtrand wachsen die Betongerippe neuer Mietshäuser aus dem Boden. Kilis wirkt im Zentrum ärmlich, zweistöckige Häuser, staubige Straßen, die Zahl der Leichtmotorräder übersteigt die der Autos. Auf den knatternden Maschinen sitzt oft eine ganze Familie: der Vater steuert, die Mutter hält sich mit wehendem Kopftuch an seinen Schultern fest, dazwischen die Kinder. Ein staubiger Reisebus hält und Jaffers Cousins Souliman und Orfan steigen aus. Atmo: Jaffer und seine Cousins begrüßen sich Sprecher: Der jüngere der beiden, Souliman läuft wie ein Cowboy, breitbeinig, die Fußspitzen nach außen gekehrt, etwas steif in der Hüfte. Souliman ist 26 Jahre alt und seit Gründung der FSA dabei. Früher ist er Taxi gefahren und er besitzt ein Stück Land in seinem Heimatdorf in Syrien. O-Ton (Souliman): arabisch Souliman: Alle Bewohner meines Dorfes wurden vertrieben. Unser Dorf ist klein, vielleicht 1500 Leute. Bei der Freien Syrischen Armee fühle ich mich sehr wohl. Es ist das erste Mal, dass ich spüre, was Freiheit heißt. Jeder trägt seinen Teil zum Ganzen bei, wir handeln wie eine Hand. Sprecher: Der zweite Cousin, Orfan, ist stiller, nachdenklicher. Es ist die Zeit, in der im Westen über Waffenlieferungen an die Rebellen diskutiert wird. O-Ton (Orfan): arabisch: Sprecher: Orfan beklagt, dass auch zwei Jahre nach Beginn ihrer Revolution, die Internationale Gemeinschaft sich weigere, ihnen zu glauben. Sie habe nur dem Assad-Regime geglaubt. Aber er hofft, dass der Westen jetzt endlich die Freie Syrische Armee unterstützt. Er fürchtet aber, dass das wertvolle Zeit koste. Jeden Tag würden unschuldige Menschen sterben, jeden Tag gebe es Massaker. Jeder Tag Verzögerung schade der Revolution, sagt Orfan, während Souliman sein Smartphone aus der Hosentasche zieht und ein Video startet. O-Ton (Souliman): arabisch Atmo: Video Sprecher: Souliman zeigt auf das Video, auf dem einer seiner Verwandten zu sehen ist. Wir sollen genau hinsehen, was sie mit dem machen, selbst als er schon tot ist. Zu sehen ist eine Gruppe Soldaten, die um einen Mann herum steht, der am Boden liegt. Vielleicht ist er bewusstlos, vielleicht schon tot. Einer der Umstehenden nimmt ein Messer. Wie ein Besessener sticht er auf den Kopf des Mannes ein, dann in den Bauch. Schließlich hackt er auf den Hals ein, bis er fast den Kopf abgetrennt hat. Plötzlich Gewehrfeuer, die Kamera wackelt, das Video bricht ab. Für Souliman ist klar: Der Angreifer ist ein Assad-Mann. FSA Soldaten hätten die Soldaten des Regimes überrascht und das Handy mit dem Film erbeutet, erzählt er. Videos wie diese sind allgegenwärtig im syrischen Bürgerkrieg, sie sind das Propagandamittel Nr. 1 und ziehen die Beteiligten immer stärker in einen teuflischen Strudel aus Gewalt und Gegengewalt, Gräueltaten und Racheakten. O-Ton (Souliman): arabisch Souliman: Ich habe Angst um mich, denn jemandem der so etwas tut, werde ich nie wieder vertrauen können. Ich kann mit unseren Feinden leben, mit den Juden, mit den Israelis. Aber mit diesen Leuten ? keine Chance. Mit ihnen werde ich niemals mehr zusammenleben können. O-Ton (Jaffer): arabisch Jaffer Meinst du wir können wir wieder zu Hause leben? Können wir schon zurück? O-Ton (Orfan): arabisch Sprecher: Und was ist mit den Islamisten, will Jaffer wissen. O-Ton (Souliman): arabisch Souliman Die Islamistischen Gruppen sind angekommen. Keine Frage. Manche von ihnen kämpfen unter dem Schirm der Freien Syrischen Armee, manche nicht. Wir wollen sie nicht in unserer Einheit, wir übernehmen für sie keine Verantwortung. Wir sind gegen diese islamistischen Gruppen. Sprecher: Sobald das Assad-Regime gefallen ist, würden sich die Islamisten wieder in ihre Herkunftsländer zurückziehen, ist Souliman überzeugt. Die Syrer seien keine radikalen Eiferer und würden sie in ihrem Land auch nicht dauerhaft dulden. O-Ton (Souliman): arabisch Souliman Wir wollen Demokratie, einen Präsidenten, der alle vier Jahre gewählt wird, egal ob er Alawit oder Christ ist, oder einer anderen Religion angehört. Das interessiert uns nicht. Wir wollen nur Demokratie. Unsere Moral ist gut, wir kümmern uns nicht um Russland oder irgendein anderes Land. Wir denken nur daran, das Regime zu bekämpfen. Atmo: Bus Sprecher: Auf der Rückfahrt im Minibus ist Jaffer zufrieden mit dem, was er von Souliman und Orfan erfahren hat. O-Ton (Jaffer): It was so nice to meet my relatives in Kilis I feel so happy about this. I expected something like this but we need some things bigger to get back. But I think in a few months we can go back maybe to our hometown where we can start living. If there is water and I don?t think there are airstrikes in our area. I will try to convince them (my family) with things they don?t know. I will try to convince them with the reality what is going on. Maybe they think it?s still safer here (in Turkey) but I think it will take just a little bit more time and we can go back soon. Jaffer: Es war schön meine Verwandten in Kilis zu treffen. Ich bin sehr glücklich. Wir brauchen noch etwas mehr Sicherheit, aber ich denke vielleicht können wir schon in ein paar Monaten wieder zurück und in unserer Heimatstadt leben. Wenn es Wasser gibt und keine Bombardements mehr. Ich werde versuchen, meine Familie zu überzeugen mit dem, was ich jetzt weiß über das, was in Syrien vorgeht. Sprecher: So die Situation im Frühjahr 2013. Ein halbes Jahr später wird sich vieles geändert haben: Der Westen wird sich gegen eine militärische Intervention und gegen Waffenlieferungen an die Rebellen entscheiden. Die Freie Syrische Armee wird zwischen den Assad-Truppen und den erstarkenden Islamisten zerrieben. Noch ahnt Jaffer nicht, wie aussichtslos eine Rückkehr seiner Familie bald sein wird. Trenner ? Musik Sprecher: Jaffer Sachur lebt im Frühjahr 2013 zwei Busstunden von der türkisch-syrischen Grenze entfernt in einer türkischen Stadt, deren Name ungenannt bleiben soll. Selbst im Landesinneren der Türkei ist die Angst der Flüchtlinge groß vor den Häschern des syrischen Regimes. Gerüchte gehen um von Entführungen, dazu kommen die Sorgen um die verbliebenen Verwandten in der Heimat. Die Familie Sachur stammt aus Aleppo, sie sind sunnitische Muslime und gehören damit zu der Gruppe, die vom alawitischen Assad-Regime vor dem Krieg massiv diskriminiert wurde. Jetzt, während des Krieges, sind die Sunniten die Hauptgegner des Assad-Regimes. Vor zwei Jahren sind die Sachurs aus Aleppo in die Türkei geflüchtet: Jaffer, zwei seiner Brüder, seine Schwester mit ihrer kleinen Tochter und die Mutter. Der Vater lebt noch immer in Aleppo. Er ist 67 Jahre alt und auf die monatliche Rente angewiesen, die das Regime trotz des Krieges noch immer überweist. Einmal im Monat gibt es bei Turkcell Auslandsgespräche zum Sondertarif. Dann versucht die Familie, den Vater auf dem Handy zu erreichen. Atmo: Telefonat, Fehlversuch, Aufregung Sprecher: Am anderen Ende lacht eine Frau. Wer sie ist, sagt sie nicht. Die Aufregung bei Jaffer ist groß. Wurde das Handy gestohlen, ist seinem Vater etwas passiert? O-Ton (Jaffer, freistehend): Someone steal his?? ? Someone has his number? Sprecher: Dann klappt es doch. O-Ton (Jaffer/Vater): Dialog auf arabisch Jaffer: Hallo Papa. Vater: Hallo. Jaffer: Wie geht es dir? Vater: Gut, danke. Jaffer: Kannst du lauter sprechen? Vater: Ist meine Stimme nicht deutlich? Jaffer: Nein, sprich lauter damit ich dich verstehen kann. O-Ton (Jaffer/Vater): Dialog auf arabisch Sprecher (darüber) Jaffer will wissen, ob der Vater genug zu Essen hat, ob seine Rente pünktlich kommt. Er fragt ihn, warum er das Haus nicht vermiete und zu ihnen komme. Er könne es ja an einen Verwandten vermieten, die Tante oder ihren Mann. Und er erzählt ihm, dass sie keine Arbeit hätten ? vielleicht in 10 Jahren mal. Und dass es besser wäre, wenn er bei ihnen wäre, müssten sich nicht immer Sorgen um ihn machen. Jaffer: Wenn du hier wärst, könnten wir uns freier bewegen. Aber weil du nicht hier bist, haben wir weniger Freiraum. Vater: Ihr könnt euch eh nicht bewegen, egal ob ich hier bin oder bei euch. Jaffer: Ok das ist deine Meinung. Ok, ok. Sprecher: Jaffers 8-jährige Nichte Hanan lugt ins Zimmer. Jaffer winkt sie herbei, sie soll ein paar Worte mit ihrem Opa sprechen. Sie geniert sich ein wenig, dann greift sie nach dem Hörer. O-Ton (Hanan / Vater): Dialog auf arabisch Hanan: Hallo Opa! Vater: Wie geht es dir meine Süße? Hanan: Gut, wie geht es dir? Ich vermisse dich so sehr. Komm her! Vater: Das ist sehr schwer, mein Liebling. Ich kann das Haus nicht verlassen. Hanan: Warum? Atmo: Jaffer legt auf O-Ton (Jaffer): I wish I never called him actually. Because you get the feeling that he is really not safe and anytime something bad could happen to him. Because he is an old man and he is living on his own. So everyone can do bad things to him. Around the area I always check because I want to know what is going on around the house. So it is so close to him, the front line, the bombing and the fights. Jaffer: Ich wünschte ich hätte ihn nie angerufen. Weil ich das Gefühl habe, dass er absolut nicht sicher ist und ihm jederzeit etwas Schlimmes zustoßen kann. Er ist ein alter Mann und lebt alleine. Jeder kann ihm etwas antun. Ich versuche immer herauszufinden, was in der Gegend los ist. Ich will wissen, was um das Haus herum passiert. Die Front ist so nah an seinem Haus, die Bombardements, die Kämpfe. Atmo: Abendessen Sprecher: Nach dem Telefonat bringen Mutter und Schwester das Abendessen herein. Es gibt frittierte Kibbe, Gurken und Tomatensalat, rote Linsensuppe, Jogurt und Fladenbrot. Jaffer berichtet von seinem Treffen mit den Cousins. In wenigen Monaten schon könne die Familie vielleicht zurück, meint Jaffer. Doch die Mutter ist nicht überzeugt. O-Ton (Mutter): arabisch Sprecher: Es werde immer wieder Bombardements und Raketen geben, sagt sie. Es sei lebensgefährlich, es gebe keine Sicherheit. Jeder sehe das anders, aber sie wolle hierbleiben, bis das Regime gefallen sei. Erst dann könnten sie ohne Sorgen und in Sicherheit zurückgehen. O-Ton (Chulut): arabisch Chulut Das Wichtigste ist, dass unsere Familie sicher ist, dass niemand in Gefahr ist. Ich hoffe, dass die Familie eines Tages wieder vereint sein wird und alles wie früher wird. O-Ton (Jaffer): For me it?s more important that everyone has what he wants, than being safe. Sometimes you have to be in danger just to do what you have to do. For example for us to live in that area is not safe, but it?s better for us as a family. They can talk to people, they can go to school. Maybe I can work. For me it?s like this but we always have different opinions and I can?t change their mind. Jaffer: Für mich ist wichtiger als sicher zu sein, dass jeder sein Leben so leben kann, wie er möchte. Manchmal muss man sich in Gefahr begeben, um das zu tun, was du tun musst. In Syrien kann meine Familie mit anderen kommunizieren, meine Nichte kann zur Schule gehen. Ich könnte arbeiten. Das ist meine Meinung, aber wir haben da immer verschiedene Ansichten und ich kann ihre Meinung nicht ändern. Atmo: Familie Sachur Sprecher: Die fünfköpfige Familie Sachur lebt auf engstem Raum in drei kleinen Zimmern. Eins für Jaffer und seinen 21-jährigen Bruder Haider. Eins für die Frauen und ein Wohnzimmer, dessen Einrichtung aus einem abgewetzten Sofa, einem verblichenen Teppich und einem kleinen Fernseher besteht. Atmo: Straße, Kinder tollen herum Sprecher: Draußen vor der Tür: staubige Gassen im Schachbrettmuster, die Nummern statt Namen haben. Bis in die Abendstunden tollen Kinder in abgewetzten Kleidern herum, spielen Fußball und Verstecken. Die achtjährige Hanan bleibt lieber im Haus. O-Ton (Hanan): arabisch Sprecher Wenn Hanan versucht mit den türkischen Kindern zu reden, erklärt sie, würden sie immer denken, dass sie sie beschimpfe. Sie hat das Gefühl, dass sie sie nicht mögen, und weiß nicht warum. Sie tue ihnen doch nichts, werfe nicht mit Steinen. Und dennoch hätte ein Mädchen gesagt, sie sei gemein. Sie vermisst ihr Fahrrad und ihre Spielsachen, die großen Kuscheltiere, den Teddy. Sie vermisse ihr Zuhause, sagt Hanan. O-Ton (Chulut): arabisch Chulut Ich konnte nur unsere Kleider mitnehmen, es war eine schlimme Situation. Wir hatten nicht vor, das Land zu verlassen und von einem Ort zum nächsten zu ziehen bis wir hier ankommen. Wir konnten nur das Wichtigste mitnehmen. Ich habe einige Urkunden eingepackt, unsere Papiere, und ein paar Fotos. Weil ich Angst hatte, dass sie zu Hause von den Bomben zerstört werden. Sprecher: Chulut ist Mitte Dreißig. Sie ist Jaffers Schwester und die Mutter der kleinen Hanan. In Syrien hat sie als Lehrerin gearbeitet. Hier in der Türkei einen Job zu finden, ist für sie so gut wie unmöglich. Chuluts größte Sorge aber gilt der Zukunft von Hanan. O-Ton (Chulut): arabisch Chulut Wie alle syrischen Kinder leidet auch meine Tochter unter der Situation und es wird sicherlich ihre Bildung, ihre Erziehung und ihre Zukunft beeinflussen. Wir warten bis wir zurückkehren können, unsere Zukunft ist nicht hier, unsere Zukunft ist in Syrien. O-Ton (Hanan): arabisch Chulut Hanan sagt, sie möchte zur Schule gehen, weil sie immer noch in der ersten Klasse ist. Sie müsse lernen, um voranzukommen! Sprecher: Die Familie Sachur lebt von dem, was Jaffers ältester Bruder monatlich überweist. Er arbeitet als Maschinenbauingenieur in Saudi Arabien. Mal sind es 400 Euro, mal 150. Jaffer und sein jüngerer Bruder Haider sind beide arbeitslos. Bis zu 700.000 syrische Flüchtlinge, so schätzt die türkische Regierung, leben mittlerweile im Land. Für die türkische Wirtschaft sind sie billige Gastarbeiter, die oft schamlos ausgenutzt werden. Eine Erfahrung, die auch Jaffer und Haider gemacht haben: wochenlange Arbeit ohne Entlohnung. Wer meckert oder sich beschwert, kann jederzeit ersetzt werden. O-Ton (Haider): I can?t choose my destiny. My destiny choose what I will do. I had work in a restaurant. I worked for one month and half. Then I quit because the restaurant owner didn?t give me my money. After that I quit because I don?t want to work for free. After 3 months I worked in a cloth shop. I quit too. There weren?t any customers so the shop owner didn?t have money to give to me. I wish to help the Syrian people like me. I don?t want to work with people who don?t need me. Haider: Ich kann mein Schicksal nicht bestimmen. Mein Schicksal bestimmt mich. Ich hatte Arbeit in einem Restaurant, ich habe dort für eineinhalb Monate gearbeitet. Dann habe ich aufgehört weil der Besitzer mir nicht mein Gehalt gegeben hat. Ich wollte nicht umsonst arbeiten. Drei Monate später habe ich es in einem Modegeschäft versucht. Ich habe auch dort aufgehört. Es kamen keine Kunden und der Ladenbesitzer konnte mich nicht bezahlen. Ich würde mit meiner Arbeit gerne Syrern helfen, die in der gleichen Situation sind wie ich. Ich möchte nicht für Leute arbeiten, die mich nicht brauchen. Sprecher: Eine schwierige Situation für die Brüder, denn sie sind in die Rolle der Familienoberhäupter aufgerückt. Sie schlafen zusammen in einem Raum, auf durchgesessenen Sofas. Der Computer, der auf einem zum Tisch umfunktionierten Wandschrank vor sich hin rödelt, ist den Brüdern das Tor zur Welt. Internet gibt es dank USB Stick von Vodafone. Facebook und youtube sind für die beiden die Hauptnachrichtenkanäle. O-Ton (Jaffer): Sometimes you hear very optimistic news and you think we can go back in one month at least. That makes you go back to the news and check every day. Your mind is busy what is going on there. But sometimes you try to stay away from it and continue your life. But in the end it?s impossible. Jaffer: Manchmal hörst du gute Neuigkeiten und du denkst ?vielleicht können wir spätestens in einem Monat zurück?. Dann beginnst du wieder jeden Tag die Nachrichten zu durchforsten. Du denkst an nichts anderes mehr. Dann wieder versuchst du alles fernzuhalten und dich auf dein Leben hier zu konzentrieren. Aber am Ende ist es unmöglich. Sprecher: Der jüngere Bruder Haider dagegen ist ein Pragmatiker. Er hat sich auf das Leben im Exil eingelassen, lernt Türkisch, sucht den Kontakt zu gleichaltrigen Türken. O-Ton (Haider): I have to protect myself and protect my family because there are many Syrian people over here that were send from the government. You can?t trust anyone. I am making friendship with Turkish friends because they can help us to protect my family from these people. Haider: Ich muss mich und meine Familie schützen, weil es hier viele Syrer gibt, die mit der Regierung unter einer Decke stecken. Du kannst niemandem trauen. Ich freunde mich mit diesen Türken an, weil sie uns helfen können die Familie zu schützen! Atmo: Fitness-Center Sprecher: Jaffer hat in Aleppo vier Jahre lang Wirtschaftsinformatik studiert. Er stand kurz vor dem Abschluss, als der Krieg die Stadt erreichte und die Familie fliehen musste. Jetzt versucht er Wege zu finden, sein Studium abzuschließen. O-Ton (Jaffer): I have certain things to do in my mind. To study in Turkey of course I need Turkish. If I want to study abroad first of all I have to get my papers from my University which is so hard. It makes me feel so much uncomfortable and lost somehow. To get my paper I need to send my ID to the university and beg one of my friends to get my papers from the uni. But they ask everyone to make a blood donation which makes it so hard for the people living outside Syria to get these papers. Jaffer: Ich habe verschiedene Pläne. Um in der Türkei zu studieren, muss ich natürlich Türkisch können. Für ein Studium im Ausland muss ich als allererstes die Scheine von meiner alten Universität bekommen. Das ist sehr schwer. Ich fühle mich oft so unwohl und verloren deswegen. Dafür muss ich meinen Pass einreichen und einen Freund bitten, sie abzuholen. Aber die Universität verlangt dafür von jedem, dass er Blut spendet, was es unglaublich schwer für die Leute außerhalb Syriens macht, ihre Unterlagen zu bekommen. Sprecher: An der Wand im Zimmer der Brüder hat Jaffer einen Kalender aufgemalt. Jedes Ereignis trägt er dort akribisch ein, einen Verwandtenbesuch zum Beispiel oder einen Bewerbungstermin. O-Ton (Jaffer): There is so much empty time and we are wasting a lot of time. If we do not work and do not study. I decided to make a timetable for my own study and my own planning. Jaffer: Es gibt so viel Leere und wir verschwenden so viel Zeit, wenn wir nicht arbeiten oder studieren. Ich habe beschlossen, einen Kalender zu führen, damit ich besser planen kann. Sprecher: Jaffers Traum ist es, ein Stipendium und einen Studienplatz im Ausland zu ergattern. Doch um sich dafür überhaupt bewerben zu können, braucht er einen Pass, sein alter ist abgelaufen. Deshalb muss er ins 1000 Kilometer entfernte Istanbul reisen und in die Höhle des Löwen gehen ?die syrische Botschaft, die Vertretung des Assad-Regimes. O-Ton (Jaffer): You feel like you are going to some enemies embassy. You are seeking help from your enemy. Jaffer: Es fühlt sich an, wie zur Botschaft des Feindes zu gehen. Du suchst Hilfe bei deinem Feind. Sprecher: Er fährt dennoch hin. Atmo: Istanbul (Großstadt, Autos, Verkehr, Fußgänger) Sprecher: Die syrische Botschaft liegt an einer belebten Geschäftsstraße im Zentrum Istanbuls. Von außen deutet nichts auf ein Konsulat hin, keine Flagge, kein Schild. Jaffer hatte am Morgen einen ersten Termin. Jetzt sitzt er in einem Restaurant und rührt in seinem Cay. O-Ton (Jaffer): I felt really that I am lucky because everybody has to wait like two months to get acceptance from the Syrian government because all the paper goes there and comes back after security checking if they are able to get renewing or not. I am lucky because he asked me: all your papers is ready and I said ?yes?. And he said just go to the bank, pay money like little amount like six Euro. But this little money has to pay AFTER the confirmation of the Syrian government. They thought I already have the confirmations so they just said go and copy your passport, the army id and everything and come back at 4 to get the confirmation. But they might find out that I just applied today. If they call to the Syrian government they sure will get the right information Jaffer: Ich hatte Glück. Jeder Antragsteller muss normalerweise zwei Monate warten, um für die Passerneuerung von der syrischen Regierung zugelassen zu werden. Alle Papiere werden dorthin gesendet und kommen nach einer Sicherheitsprüfung zurück. Ich hatte Glück weil mich der Sachbearbeiter gefragt hat: Sind deine Papiere schon fertig? Und ich habe einfach ?ja? gesagt. Daraufhin meinte er, geh zur Bank und zahl die Gebühren. Ein kleiner Betrag so um die sechs Euro. Aber diese Gebühr bezahlt man normalerweise NACH der Bestätigung durch die syrische Regierung. Sie dachten, dass ich die schon habe und meinten nur, mach die Kopien und komm um vier zurück. Vielleicht finden sie es bis dahin heraus. Wenn sie bei der syrischen Verwaltung anrufen, werden sie es auf jeden Fall merken. Sprecher: Die Zeit will nicht verrinnen. Sechs Stunden lang muss Jaffer bangen, ob sein Bluff auffliegt. Dann endlich ist es kurz vor vier. Atmo: Treppenhaus Sprecher: Das Botschaftsbüro befindet sich im 1. Stock eines düsteren Geschäftshauses. Neonlicht . Ein schlaksiger Typ lehnt an der Wand im Treppenhaus und spielt mit seinem Handy, hinter ihm warten eine junge Frau und ein älterer Herr. Eine Holztür schwingt von Zeit zu Zeit auf, dann steckt eine Türkin mit Kopftuch die Nase heraus und keift etwas. Nacheinander dürfen die Wartenden eintreten. Atmo: Warteraum Sprecher: Hinter der Tür wird es eng: Ein Dutzend Männer zusammengepfercht in einen Warteraum, am Schalter sind die Rollläden heruntergelassen. Als der Sachbearbeiter auftaucht, wird er sofort von einer Traube aufgeregter Syrer umringt. Wie ein Ertrinkender reckt er eine Hand mit Formularen in die Höhe und versucht sich Gehör zu verschaffen. Plötzlich taucht Jaffer aus dem Tumult auf, freudestrahlend. Er flüchtet aus dem Raum, rennt das Treppenhaus hinunter. Atmo: Jaffer rennt die Treppe hinunter O-Ton (Jaffer): Great! yes, I got it finally ! I still have two years. .. So everything is finished for the passport (lacht) It?s cool, it?s good! I can go out, everywhere I want. Without this confirmation my passport is expired and not any country will accept any visas. So now opportunities are available for me. If I don?t want to stay in Turkey anymore I can go to any other Arabic country or any other place to start work. It?s a big day for me today! It is better than my birthday! Jaffer: Ich habe es tatsächlich bekommen! Jetzt habe ich für weitere zwei Jahre einen Pass. Das ist cool, das ist gut! Ich kann damit reisen wohin ich will. Ohne die Verlängerung wäre der Pass abgelaufen und kein Land der Welt würde mir irgendein Visum ausstellen. Jetzt gibt es Möglichkeiten für mich! Wenn ich nicht in der Türkei bleiben will, kann ich in jedes andere arabische Land gehen und anfangen zu arbeiten. Das ist ein großer Tag für mich! Das ist besser als mein Geburtstag! Musik Sprecher: Ein halbes Jahr später, Dezember 2013. Es ist Winter geworden. Amerika hat nach einem Giftgasangriff mit militärischer Intervention gedroht, die UN in der Folge die Verhandlungen mit dem Regime vorangetrieben und einen symbolischen Erfolg davon getragen: Assad muss seine C-Waffen unter internationaler Aufsicht vernichten. Doch der Bürgerkrieg tobt immer grausamer weiter und eine diplomatische Lösung ist ferner denn je. Die verfeindeten Gruppen radikalisieren sich, viele Gegenden werden von Warlords beherrscht, die nur ihre Macht und ihren Reichtum steigern wollen. Die säkularen Rebellen von der Freien Syrischen Armee sind überall auf dem Rückzug, zurückgedrängt auf der einen Seite von den Assad-Truppen, die Russland und den Iran im Rücken haben, und auf der anderen Seite von den immer stärker werdenden islamistischen Kampfverbänden aus dem Ausland. Aleppo steht unter Dauerfeuer, wahllos lässt Assad mit Sprengstoff und Nägeln gefüllte Fässer aus Hubschraubern über Wohngebieten abwerfen. Atmo: Kriegsvideo (Gewehrfeuer, Handgranate, Gelächter) Sprecher: Jaffer schaut sich ein Video aus Aleppo an, das ein Bekannter bei der FSA gemacht hat. Eine Gruppe bewaffneter Jugendlicher zieht durch eine verwüstete Häuserschlucht und versucht einen Scharfschützen zu vertreiben. O-Ton (Jaffer): This street used to be very crowded it used to be like market. It is the neigbourhood where Haider used to go to school. This area used to be frontline, now the regime got it back. So the FSA has to get it back again. It never ends. Jaffer: Diese Straße war früher sehr belebt. Sie liegt in unserer Nachbarschaft, Haider ist dort zur Schule gegangen. Die Frontlinie verlief eine ganze Weile da, jetzt hat das Regime die Straße zurückerobert. Also kämpft die FSA erneut darum. Es hört nie auf. Sprecher: Der Vater lebt noch immer in der umkämpften Stadt. O-Ton (Jaffer): He was never be convinced by my side at all. No way he can be convinced. Otherwise he could have come with us in the early times. He was not so much hopeful because he said one day everything will be ok. But we don?t know when this day will come. Jaffer: Mein Vater hat sich noch nie von mir überzeugen lassen. Er lässt sich von nichts überzeugen. Sonst hätte er mit uns flüchten können. Zuletzt klang er nicht besonders hoffnungsvoll. Er sagt ?eines Tages wird alles in Ordnung sein.? Aber wir wissen nicht, wann dieser Tag kommt. Wir sprechen in der Familie immer darüber, an einen anderen Ort zu gehen. Und nie kommen wir zu einem Ergebnis. Es gibt nichts Greifbares. Ich fühle mich nutzlos, gebrochen. Du kannst nichts tun, du verschwendest deine Zeit, dein Geld, und du bekommst nichts zurück. Atmo: Ping-Pong Sprecher: Tischtennis spielen, im Internet nach Jobs suchen, die Hoffnung am Leben halten. Der Kampf gegen die Langeweile, gegen die uferlose Zeit, den strukturlosen Alltag, ist für Jaffer und seine Familie im türkischen Exil zur größten Herausforderung geworden. Noch immer sind die Sachurs abhängig von den Unterhaltszahlungen des ältesten Sohnes in Saudi-Arabien. All die Pläne, die Jaffer vor einem halben Jahr gemacht hat, sind zunichte, der Kalender an der Wand ist verschwunden. O-Ton (Jaffer): It is done, without any results. I was arranging my time to apply for universities and work but it is finished and nothing accomplished yet. I got one chance to go to a university in turkey but they said you have to do it from the beginning. I was in the fourth year in Syria and now I have to restudy again in Turkish. And if I could not get the classes in Turkish language I would have to take another year in Turkish as well. So I decided finally not to do it at all. I wanted also to see if I can get scholarships. But not one of them was a success. I was making myself busy to find things to do. I gave it a try and nothing happened yet. I also applied on many jobs on the internet. Here in turkey in different cities. But none of them also succeeded. I applied for human relief work next to the border. They called me and asked: are you graduated? And because I am not graduated they never called again. Jaffer: Er ist abgelaufen, ohne Ergebnisse. Ich habe versucht mich zu organisieren, mich für Universitäten zu bewerben und zu arbeiten. Aber nichts hat geklappt. Ich hatte die Chance, auf eine Uni in der Türkei zu gehen, aber dann hieß es, dass ich mit dem Studium von vorne beginnen muss. Ich war im vierten Jahr in Syrien und jetzt müsste ich alles noch mal machen. Auf Türkisch. Und wenn mein Türkisch dafür nicht reicht, muss ich davor noch ein Jahr lang einen Türkischkurs machen. Deswegen habe ich mich dagegen entschieden. Atmo: Bus Sprecher: Die Abstände, in denen Jaffer nach Kilis an die syrische Grenze fährt, um sich dort mit Verwandten und Freunden zu treffen, werden größer. Von der Hoffnung auf gute Neuigkeiten, die ihn noch vor einem halben Jahr unruhig auf dem Sitz hin- und her rutschen ließ, ist nichts mehr geblieben. O-Ton (Jaffer): Some of them got married, some of them got engaged. They get adapt to the situation. No more complaining about the life. Now I feel different from the last time. Because this time I am going to see my friends and I will go back. This time I am sure I will not have good news, I am sure we are not going back very soon. Jaffer: Manche von ihnen haben geheiratet, manche haben sich verlobt. Sie haben sich angepasst. Sie beschweren sich nicht mehr über ihr Leben. Ich fühle mich anders als beim letzten Mal. Dieses Mal ist es einfach nur ein Treffen, und dann fahre ich wieder zurück. Ich weiß, dass es keine guten Neuigkeiten gibt, ich weiß, dass wir nicht bald zurückkehren können. Atmo: Jaffer, Souliman und Mohammed unterhalten sich Sprecher: Jaffer ist heute noch einmal an die Grenze gefahren, um sich mit Souliman, seinem Cousin bei der Freien Syrischen Armee und Mohammed, einem Bekannten aus dem Flüchtlingslager in Kilis zu treffen. Souliman hat mittlerweile geheiratet. Seine Frau, die ebenfalls in einem Flüchtlingslager an der Grenze lebt, erwartet das erste Kind. Wochenweise pendelt Souliman zwischen dem Lager und seiner Truppe. Die Situation auf Seiten der Rebellen hat sich im vergangenen halben Jahr dramatisch verändert. Islamisten haben das Ruder übernommen. Al-Kaida nahe stehende Gruppen wie die ?al-Nusra Front? oder ?Islamischer Staat im Irak und der Levante? kurz ISIL, übernehmen ein Gebiet nach dem anderen von der Freien syrischen Armee. Den FSA Truppen bleibt gar nichts anderes übrig, als mit ihnen zu kooperieren. Souliman hat damit kein Problem. O-Ton (Souliman): arabisch Souliman Solange niemand außer den Islamisten das Assad-Regime bekämpft, sind sie mir 100 Mal willkommen. Ich hatte auch Zweifel bis ich mich selber überzeugen konnte. Ich kenne sie sehr gut, die sind in Ordnung, viel besser als das, was so berichtet wird. Die tun niemandem was, sie wollen das Land nicht regieren, sie wollen nur den Islam lehren und den Leuten den richtigen Weg zeigen. Sprecher: Vor einem halben Jahr kämpfte Souliman noch für die Demokratie in Syrien, für Meinungsfreiheit und einen gewählten Präsidenten egal welcher Coleur. Inzwischen will auch er, der ehemals säkulare Kämpfer, dass Syrien ein islamisch-sunnitischer Staat wird. O-Ton (Souliman): arabisch Souliman Der Islam ist Demokratie. Ungerechtigkeit im Islam ist verboten, deswegen wollen wir ein islamisches Land. Und wenn ich sterbe und Gott mich fragen wird: Souliman wofür bist du gestorben? Werde ich nicht sagen: Ich habe für die Demokratie gekämpft. Ich werde sagen: Ich habe für dich gekämpft, Gott, für die Religion und den Islam. Sprecher: Es ist eine schleichende Radikalisierung, die in Syrien und der türkischen Grenzregion stattfindet. Das bemerkt auch Mohammed, Jaffers Bekannter aus dem Flüchtlingslager. Er ist 25 Jahre alt und arbeitet ehrenamtlich als Lehrer im Lager. Dort versucht er die Jugendlichen für Geographie und Staatsaufbau zu begeistern. Vergeblich. O-Ton (Mohammed): arabisch Mohammed Meine Schüler sind zwischen 14 und 15 Jahre alt. Sie sagen mir immer: Wir wollen raus aus der Schule. Wir wollen nicht lernen, wir wollen mit den Islamisten gegen das Regime kämpfen. Wissen wird uns nicht weiterhelfen. Ich sage ihnen: Nein, Syrien braucht euch, ihr müsst Wissen erwerben, lernen. Aber sie gehen nach Hause und sehen im Fernsehen, was in Syrien passiert. Tod und Zerstörung, nichts bleibt verborgen. Und sie sehen, dass die ganze Welt dazu schweigt. Musik Atmo: Haider komponiert, rappt Sprecher: Es scheint so, als bedürfe es räumlicher und zeitlicher Distanz zum Krieg, damit die Gemüter ruhiger werden. Die Brüder Jaffer und Haider sind im vergangenen halben Jahr gemäßigter in ihren Ansichten geworden. Haider hat begonnen, Rap-Songs zu schreiben, um Friedensbotschaften nach Syrien zu senden. Mit Hilfe eines Computerprogramms bastelt er die Sounds zusammen. Atmo: Haider rappt O-Ton (Haider): arabisch Haider Ich möchte die Aufmerksamkeit auf Dinge lenken, die den Leuten nicht bewusst sind, ich möchte ihnen sagen, dass sie Fehler machen. In den Songs kann ich nur ansatzweise all meine Gefühle ausdrücken. Ich möchte den Menschen in Syrien klar machen, dass wir alle aus demselben Land sind, dass wir denselben Glauben haben, dass wir Geschwister sind, die sich gegenseitig umbringen, ohne zu wissen, was das Ziel ist und wann das je enden wird. Sprecher: Jaffer, der im Moment kaum Perspektiven für seine eigene Zukunft sieht, versucht sich auszumalen, wie Syrien nach dem Bürgerkrieg aussehen könnte. Für ihn ist klar: Die persönlichen Beziehungen müssen wieder mehr gelten, als Ideologien und Religionszugehörigkeiten. Über facebook hält er noch immer Kontakt zu früheren Freunden, auch zu solchen, die das Assad-Regime unterstützen. O-Ton (Jaffer): The first year of the revolution I was like so strict and couldn?t accept anyone supporting the regime. I was so much emotional of defending the opposition. But it chanced by time. I am now more accepting the other people. I became more accepting because I saw that not all Syrian are against the regime. Some people they will still be with the regime even when it steps down. It?s a fact. We cannot deny this. the regime will go and they will stay in my place where I am living I will see them in the streets. Jaffer: Im ersten Jahr der Revolution war ich sehr streng. Ich konnte nicht akzeptieren, wenn irgendjemand das Regime unterstützt hat. Ich war so emotional, wenn es darum ging, die Opposition zu verteidigen. Ich bin gemäßigter geworden, weil ich gesehen habe, dass nicht alle Syrer gegen das Regime sind. Einige werden immer auf Seiten des Regimes bleiben, selbst wenn es gestürzt wird. Das ist eine Tatsache, die wir nicht verleugnen können. Das Regime wird gehen, aber sie werden bleiben und dort leben, wo ich lebe. Ich werde sie in den Straßen sehen. Sprecher: Viele Syrer im Exil beginnen einzusehen, dass sie ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen müssen. Dass es eine friedliche Heimat nur geben wird, wenn sie sich und vor allem die nächste Generation darauf vorbereiten, das Land wieder aufzubauen und Wege der Versöhnung zu finden. Atmo: Pausenhof, spielende Kinder, Musik Ein erster Schritt in diese Richtung ist die neu eröffnete Schule für syrische Flüchtlingskinder in der Stadt. Chulut, Jaffers Schwester, hat hier kürzlich eine Anstellung als Lehrerin gefunden. Atmo: Klassenraum, Chulut im Unterricht O-Ton (Chulut): arabisch Chulut Das ist die einzige Jobmöglichkeit, die ich habe, und ich werde so lange hier unterrichten wie wir in der Türkei bleiben. Durch den Job habe ich das Gefühl, dass ich etwas Sinnvolles für die syrischen Kinder tue. Etwas für ihre Zukunft. Sprecher: Auch Chuluts achtjährige Tochter Hanan geht auf die neue Schule und lebt dort sichtlich auf. Gleich ist Tanzstunde auf dem Pausenhof. Aber vorher erzählt sie noch, dass es ihr sehr gut gehe und sie endlich Freundinnen gefunden habe. Atmo: Pausenhof, Musik O-Ton (Hanan): arabisch Sprecher Die türkischen Kinder mögen sie nach wie vor nicht, sagt sie, aber mit den syrischen gehe es viel besser. Mit ihnen könne sie wenigstens syrisch sprechen, sie könnten sich verstehen. Und sie würden den ganzen Tag spielen, sagt Hanan. In den Pausen käme sie gar nicht zum Essen. Sie mag Sport, Mathe, Naturkunde und Lesen. O-Ton (Chulut): arabisch Chulut Ihr Leben hat sich sehr verändert. Sie wacht ganz von alleine auf, davor war sie immer sehr faul. Sie wollte nicht aus dem Haus. Sie war ganz durcheinander. Jetzt hat sie Energie, sie steht früh auf und möchte immer zur Schule gehen, selbst wenn sie krank ist. Atmo: Schulgebäude Sprecher: Die Schule ist in einem dreistöckigen Gebäude am Stadtrand untergebracht. Die Flüchtlingsfamilien haben es selbst hergerichtet, zuvor stand es viele Jahre leer. 750 Kinder kommen täglich zum Unterricht. 250 weitere warten auf einen Platz. Es ist der Initiative von Sanabl Marandi zu verdanken, dass es diese Schule gibt. Die Direktorin ist 30 Jahre alt, auch sie ist aus Syrien mit ihrem Ehemann und den zwei Söhnen in die Türkei geflüchtet. Sanabl Marandi wollte nicht zusehen, wie ihre Kinder im Exil zunehmend passiv und lethargisch wurden und gründete aus dem Nichts heraus die ?Fackeln-der-Freiheit-Schule?. O-Ton (Sanabl Marandi): arabisch Sanabl Marandi Wir wollen kein Essen, wir wollen keine Kleidung, wir wollen keine Waffen. Wir wollen einen Stift. Wir verlieren die jetzige und die nächste Generation. Diese Schule soll Wissen verbreiten, sie soll zu Humanismus erziehen. Wir arbeiten daran, den Kindern moralische und ethische Grundsätze zu vermitteln, und wir versuchen, sie aus der schlimmen Situation zu befreien, in der sie sich befinden. Sprecher: Äußerlich hat sich das Leben der Kinder zum Positiven verändert, doch wenn sie Bilder malen, treten ihre seelischen Verletzungen deutlich hervor. Einige sammelt die Rektorin Sanabl Marandi in einer Mappe in ihrem Büro: Darauf sind weder Vögel, noch Blumen oder lachende Sonnen zu sehen. Stattdessen Raketen, Krankenwagen, Blut, Tränen und Leichen. Um zu verhindern, dass sich die Traumata der Kinder in neuen Hass verwandeln, und sie Opfer von religiösen Fanatikern oder Assads Propagandisten werden, setzt Sanabl Marandi in ihrer Schule ganz im Sinne der Aufklärung auf die Ausbildung der Persönlichkeit. O-Ton (Sanabl Marandi): arabisch Sanabl Marandi Das Curriculum ist im Kern das Gleiche wie in Syrien. Aber wir haben einige Fächer hinzugefügt wie humanitäre Erziehung und Charakterbildung. Unsere Absichten sind nicht politisch oder gar extremistisch. Wir wollen, dass aus den Kindern selbstständige Menschen werden, die nicht parteiisch sind. Menschen mit den Fähigkeiten, ein neues Syrien aufzubauen. Sprecher: Der Glaube von Menschen wie Sanabl Marandi durchbricht die unsichtbaren Mauern des Exils. Und die Duldsamkeit von Menschen wie Jaffer Sachur und seiner Familie ermöglicht, dass daraus Gutes erwächst. In den kommenden Jahren wird sich zeigen, ob es den Syrern gelingt, einen Keim jener vielschichtigen, toleranten Kultur zu bewahren, die das Land vor dem Krieg geprägt hat. Ob Sunniten und Alawiten, Christen und Drusen, Araber und Kurden, Säkulare und Gläubige wieder zu einer Gesellschaft zusammenwachsen können. Es ist Zeit aufzubrechen, Abschied zu nehmen, von Jaffer, Haider, Chulut und Hanan, von Sanabl Marandi und den syrischen Flüchtlingskindern. Da klopft es an die Tür des Rektorenzimmers, und ein Schüler kommt schüchtern herein. Er sei der 11-jährige Rashad, sagt er, und möchte dem Besucher gerne etwas vortragen: O-Ton (Rashad): arabisch Rashad Stell dir vor, du bekommst eine Tasse bitteren Tee. Du schüttest Zucker hinein, aber rührst nicht um. Wirst du die Süße des Zuckers im Tee schmecken? Ich denke nicht. Starre den Tee eine Weile an und probiere ihn noch einmal. Hat sich etwas geändert? Ich denke nicht. Der Tee wird kälter und kälter, und noch immer hast du nicht getrunken. Letzter Versuch: Dreh die Tasse einmal um sich selbst und wünsche dir dabei, dass der Tee süß wird. Nichts tut sich, der Tee wird immer kälter und am Ende wirst du ihn niemals trinken. So ist es auch mit unserem Leben. Es ist wie eine Tasse bitterer Tee. Das, was Gott uns mitgegeben hat, unsere Fähigkeiten, sind der Zucker. Wenn du den Zucker nicht selbst umrührst, wirst du die Süße niemals schmecken. Deswegen solltest du hart arbeiten, um den Erfolg und die Süße deiner Arbeit zu schmecken, und auf diese Weise wird dein Leben wie die beste Tasse Tee. Absage: Zwischen Front und Exil. Syrische Flüchtlinge und der Krieg Feature von Dominik Bretsch Es sprachen: Jonas Baeck, Bijan Zamani, Anne Leßmeister, Boris Burgstaller, Marcus Michalski und Sebastian Mirow Ton und Technik: Johanna Fegert und Kerstin Hucker Regie: Nikolai von Koslowski Redaktion: Wolfram Wessels Eine Produktion des Südwestrundfunks mit dem Deutschlandfunk 2014. 24