DEUTSCHLANDFUNK Sendung: Hörspiel/Hintergrund Kultur Dienstag, 16.11.2010 Redaktion: Hermann Theißen 19.15 ? 20.00 Uhr Der Weg des Urans Eine Recherche in Russland Von Andrea Rehmsmeier URHEBERRECHTLICHER HINWEIS Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. ? Deutschlandradio * Unkorrigiertes Manuskript - * Atmo: Propaganda-Film + Musik "Radioaktivität" Übersetzer: Am 28. August 1958 hat das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei ein Atom-U-Boot neuentyps in Auftrag gegeben. Die Entwickler haben die gestellten Anforderungen übertroffen: Erst mals erreichte ein U-Boot eine Höchstgeschwindigkeit von über 43 Knoten. Damit ist es schneller als jedes U-Boot ausländischer Produktion. Atmo: Geige mit Sprecherstimme Erzählerin: Schneller, schlagkräftiger, abschreckender. Die Nordmeerflotte war einmal der Furcht einflößende Propagandastar der Militärsupermacht Sowjetunion: Die mit Abstand größte U-Boot-Flotte der Erde. U-Boote, groß wie Kasernen, jedes einzelne angetrieben von zwei Atomreaktoren, und bestückt mit Nuklearsprengköpfen. Atmo: Propaganda-Film ? Bombeneinschlag Übersetzer: Gefechtsalarm! ? Ein Raketenangriff, er kommt im 35 Grad-Winkel! Erzählerin: Am Ende hat sich die Sowjetunion selbst zugrunde gerüstet. Und auch den NATO-Staaten ist die eigene nukleare Potenz längst zum Fluch geworden. Neben rund 25 000 einsatzbereiten Nuklearsprengköpfen, die es weltweit geben soll, lagern heute an die 2500 Tonnen waffenfähiges Nuklearmaterial in fast 40 Staaten der Erde ? genug für 200 000 weitere Sprengköpfe. Und die größte Sorge der internationalen Sicherheitspolitik ist es, diese riesigen Mengen vom Erdboden verschwinden zu lassen, bevor sie Unheil anrichten. Musik Ansage: Der Weg des Urans Eine Recherche in Russland Von Andrea Rehmsmeier. O-Ton: Obama (englisch) Übersetzer: Gerade habe ich ein sehr konstruktives Telefonat mit Präsident Medwedew geführt. Und ich freue mich, Ihnen mitteilen zu können, dass Russland und die USA Übereinkunft erzielt haben über das umfassendste Rüstungskontrollabkommen seit 20 Jahren. Es gehört zu meinen wichtigsten Prioritäten, das Risiko zu begrenzen, das von Atomwaffen ausgeht. Erzählerin: New START: Das Nachfolgeabkommen des ausgelaufenen Abrüstungsvertrags für Nuklearwaffen, START I, wurde am 8. April 2010 von den Präsidenten Barack Obama und Dmitrij Medwedew unterzeichnet. Darin haben sich Russland und die USA verpflichtet, ihre Sprengköpfe auf je 1550 zu begrenzen. Die Anzahl der Trägersysteme soll auf je 800 halbiert werden. O-Ton: Obama Übersetzer: In vielerlei Hinsicht repräsentieren Atomwaffen die dunkelsten Jahre des Kalten Krieges, und die beunruhigendsten Bedrohungen unserer Zeit. Heute unternehmen wir einen wichtigen Schritt, das Erbe des Kalten Krieges hinter uns zu lassen ? für die sichere Zukunft unserer Kinder. Erzählerin: Doch das ist eine Herkulesaufgabe. Allein auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion sollen etwa 1250 Tonnen Waffen-Uran und bis zu 150 Tonnen Plutonium lagern. Hoch radioaktiv, schwer gesundheitsschädlich schon in kleinsten Dosen, und begehrt von Diktatoren, Terroristen und Fanatikern. Wer soll das alles abrüsten? Wer soll das kontrollieren? Und wer soll dafür bezahlen? Musik "Radioactivity" Atmo: Polarwind Erzählerin: Die Kola-Halbinsel, Nordwestrussland, Polarkreis. Meine Reise beginnt an der zerklüfteten Nordküste. Hier hat die Nordmeerflotte ihre Stützpunkte: militärisches Sperrgebiet. Meine Zugangsberechtigung ist ein außergewöhnliches Zugeständnis der russischen Behörden - selbst wenn heute von den ehemals 200 Atom-U-Booten noch höchstens 20 im militärischen Einsatz sind. Monatelange Bürokratie und Geheimdienst-Überprüfungen habe ich hinter mir ? und trotzdem hatte ich befürchtet, dass mir das russische Militär noch am Schlagbaum die Einreise verweigern könnte. Doch nichts dergleichen: Mit freundlichem Nicken hat der Soldat unseren Kleinbus durchgewinkt. Atmo: fahrendes Auto, Männer sprechen Erzählerin: Hinter dem Wagenfenster erstreckt sich arktische Tundra: eine schneebedeckte Einöde. An den Straßenrändern patrouillieren Soldaten. Die beiden Männer, die mir gegenüber sitzen, sehen zufrieden aus: Detlef Mietann und Lutz Riemann sind Angestellte der Energiewerke Nord GmbH aus Lubmin bei Greifswald. O-Ton: Riemann (deutsch) Das hier sind die Eisbrecher-Flotten der Russischen Föderation, die hier auf den nördlichen Seeweg Richtung Sibirien, Richtung Kamtschatka freifahren. Praktisch die ganze nördliche Fahrt durch das nördliche Eismeer. Kara-See, sibirische See, bis hin nach Kamtschatka. Wo die großen Städte angelaufen werden, die am Nordpolar-Meer liegen ... . Atmo: Autofahren, Autoradio, Gespräche Erzählerin: Die Nordmeerflotte hat in dieser Gegend überall ihre radioaktiven Spuren hinterlassen. In den Buchten Andréjeva und Gremícha etwa hatten die Militärs flüssigen Nuklearmüll verklappt und außer Betrieb gestellte Atom-U-Boote geankert und verrotten lassen. Radioaktive Schiffswracks zu Dutzenden, die abgebrannten Brennelemente teilweise noch an Bord. Das strahlende Erbe einer Supermacht, die nicht mehr Herr über ihre eigenen Massenvernichtungsmittel wurde. Bis heute zählen die beiden Buchten zu den für die Gesundheit gefährlichsten Orten der Erde. Mein Reiseziel ist die Saida-Bucht, wo es - direkt an der Küste der Barentssee - ein eigentümliches russisch-deutsches Gewerbegebiet zu besichtigen gibt. Atmo: Auto, Betonmischer Erzählerin: Vom Dach eines Betriebsgebäudes herab kann ich den Blick schweifen lassen über das, was das Team von Projektleiter Detlef Mietann in sieben Jahren Arbeit geleistet hat. In der fernen Uferregion ragen Teile von U-Boot-Rümpfen aus dem Wasser und warten darauf, an Land gewuchtet zu werden. Die Zerlegung von 110 weiteren U-Booten in lagerfähige Sektionen liege in der Verantwortung der russischen Staatsholding Rosatom, sagt Detlef Mietann. Musik "Radioactivity" Erzählerin: Das Abwracken der U-Boote auf der Kola-Halbinsel ist das Aushängeschild des Programms "G-8-Globale Partnerschaft gegen die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen und ?materialien." Was umständlich klingt, ist die wohl bedeutendste internationale Abrüstungsinitiative überhaupt. Ein Weltprojekt mit einem Gesamtbudget von 20 Milliarden Dollar: Damit wollen die G-8 und weitere Staaten die Nuklearsicherheit auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion wieder herstellen. Die Bundesrepublik gehört mit einer 1,5 Milliarden Dollar-Beteiligung zu den größten Geldgebern. Im Rahmen dieses Programms werden die sowjetischen Chemie-Waffen vernichtet und moderne Sicherheitssysteme in russischen Kernanlagen finanziert. Musik "Radioactivity" Erzählerin: Detlef Mietann leitet den dritten großen Bereich: Die U-Boot-Abwrackung. Das Gewerbegebiet besteht im Wesentlichen aus einer fünfeinhalb Hektar großen Betonlagerfläche. Das ist das Langzeitzwischenlager für den radioaktiven Teil der U-Boot-Rümpfe: die Reaktoren. 40 Tonnen stehen hier bereits - jede von der Größe eines Einfamilienhauses, jede mit zwei Atommeilern im Inneren. Die besonders verstrahlten Bereiche, berichtet Detlef Mietann, mussten mit einer speziellen Betonschicht isoliert werden. O-Ton: Mietann Das ist an den verschiedenen Reaktorsektionen auch unterschiedlich. Am zweiten hier, von der Marinewerft, da ist der Bereich, wo das Radioaktiv-Zeichen dran ist, sehr hochgezogen. In dem Bereich war die Strahlung sehr stark. Und deswegen musste die Betonabschirmung in dem Bereich sehr hochgezogen werden, um die zulässige Dosisleistung an der Oberfläche der Reaktorsektion zu gewährleisten. Da, wo kaum Strahlung war, da brauchten wir auch nicht groß schirmen. Atmo: Betonmischmaschine Erzählerin: Wir besichtigen Anlagen zur Dekontaminierung und Zerlegung, zum Abstrahlen und Versiegeln, außerdem Verwaltungsgebäude, Schwerlasttransportsysteme, Transformatoren, Strahlenmessanlagen, Laboratorien ? und eine Großbaustelle mit Kränen, Zementmischern und Dutzenden Bauarbeitern in dicken Daunenjacken. Hier baut das Bundeswirtschaftsministerium, zusätzlich zum Langzeitzwischenlager, ein Behandlungs- und Entsorgungszentrum für den radioaktiven Schrott aus der gesamten Region. Atmo: Hintergrundgespräche, Gelächter + Musik "Radio Sterne" Erzählerin: Was aber ist aus den Nuklearsprengköpfen geworden? Und aus dem Kernbrennstoff der U-Boot-Reaktoren: hoch angereichertes Uran, geeignet zum Bau von Atombomben? Als ich Detlef Mietann diese Fragen stelle, lächelt der nur diplomatisch, und auch die anderen wollen das Vertrauen der russischen Behörden offensichtlich nicht durch unbedachte Geschwätzigkeit aufs Spiel setzen. Ich schalte mein Aufnahmegerät aus. Die Sprengköpfe seien bereits in den 90er-Jahren abtransportiert worden, erfahre ich schließlich, im Rahmen eines russisch-amerikanischen Abrüstungsprojekts. Wohin? An den Ural wahrscheinlich, sagt einer der Männer, ins Chemiekombinat Majak. Ich bohre weiter. Was ist mit dem Kernbrennstoff? Diese Frage, scheint es, ist weniger brisant. Als wir unsere Besichtigung fortsetzen, nimmt mich Sergej Schewaronkin, der Vertreter einer regionalen Umweltorganisation, beiseite. O-Ton: Sergej Schewaronkin (russisch) Übersetzer Hier werden nur die Reaktorteile gelagert. In der Andreewa-Bucht wird gerade eine Infrastruktur für den Abtransport des Kernbrennstoffs vorbereitet, los geht es voraussichtlich im nächsten Jahr. Aus Gremicha wurde der Brennstoff bereits abtransportiert ? soweit das möglich war mit den dort vorhandenen technischen Anlagen. Danach wird der Kernbrennstoff in Transportcontainern auf Atomeisbrecher verladen, die haben die nötige Krantechnik und die Sicherheitsinfrastruktur an Bord. Mit der Eisenbahn geht es dann weiter nach Majak. Erzählerin: Majak ? deutsch: Der Leuchtturm: Die Kernanlage ist berühmt und berüchtigt. Zu Sowjetzeiten war sie die wichtigste Produktionsstätte für Waffenplutonium. Der Name steht für jahrelange Atommüllverklappung und einen der folgenschwersten Nuklearunfälle der Geschichte. Die Nuklearsünden, die hier in den 50er und 60er-Jahren begangen wurden, haben weite Landstriche am Südural unbewohnbar gemacht. Majak also ist meine nächste Station. Atmo: Flugzeug/Flughafen Erzählerin: Am Flughafen der Industriemetropole Tscheljabinsk werde ich schon erwartet. Den Kontakt hat mir eine Bürgerrechtsorganisation vermittelt. Ich soll ihn Vassilij nennen, bittet mich mein Kontaktmann. Seinen richtigen Namen möchte er geheim halten, denn als ehemaliger Majak-Mitarbeiter ist er eigentlich zur Verschwiegenheit verpflichtet. Atmo: Auto von innen Erzählerin: In Vassilijs Toyota fahren wir Richtung Osten. Nach zwei Stunden tauchen am Straßenrand die ersten Hinweisschilder auf: "Osjorsk" ? Sitz der Kerntechnischen Anlage Majak. Vassilij holt einen Geigerzähler aus dem Handschuhfach. Im Jahr 1957, erzählt er, sei hier ein Tank mit 80 Tonnen Atommüll explodiert. Dabei sei mehr Radioaktivität freigesetzt worden als bei dem GAU von Tschernobyl. O-Ton: Vassilij Übersetzer Von Osjorsk aus ist die radioaktive Wolke damals langsam und mit sanftem Niederschlag nach Nordosten gewandert. Hier an der Straße ist es sauber. Aber schon da hinten, wo die Wälder beginnen, ist alles verstrahlt. Wir fahren hier mitten durch das radioaktive Zentrum ? aber sehen Sie hier irgendwo Warnschilder? Die Leute kommen zum Pilze sammeln hierher! Ich steige immer aus, um sie zu warnen. Aber sie glauben es einfach nicht. Atmo: Auto von innen Erzählerin: Gerne würde Vassilij mir auch die Kernanlage Majak zeigen ? aber er kann mich ja nicht einmal in seine Wohnung in Osjorsk einladen. Die gesamte 90 000-Einwohner-Stadt ist von einem Hochsicherheitszaun umgeben und wird von bewaffneten Uniformierten gesichert. Nur registrierte Bewohner mit einem speziellen Ausweis dürfen die Durchfahrtsschleusen passieren. Also fahren wir weiter durch dieses eigentümliche Naturidyll aus radioaktiven Herbstwäldern, Sümpfen und Seen. Atmo: Autotür, Schritte und Muh Erzählerin: Das Tataren-Dörfchen Karabolka liegt mitten in einer menschenleeren Einöde. Nach dem Nuklearunfall von 1957 waren alle von Russen bewohnten Ansiedlungen auf Anweisung der Bezirksregierung evakuiert worden. Die tatarische Bevölkerung aber muss bis heute auf dem verstrahlten Gelände leben, sie hat kein Geld für die Umsiedlung erhalten. In den bunten Holzhäuschen, den Kuhställen, den Gemüsebeeten ? überall misst Vassilij die Radioaktivität. Atmo: Geigerzähler, Muh, Gerede Erzählerin Der zulässige Grenzwert liegt bei 20 Mikroröntgen - überschritten ist er überall, mal knapp ? mal deutlich. Mehr zufällig hält Vassilij seinen Geigerzähler an ein kleines Geweih, das eine Eingangstür ziert. Interessiert gesellen sich die Hausbewohner dazu. O-Ton: Vassilij Übersetzer Schauen Sie! 100 Mikroröntgen ? und die Anzeige klettert weiter! Jetzt sind es schon 217! Das ist ein Albtraum! Das ist zehn Mal höher als der Grenzwert! Atmo: Geigerzähler Geweih Musik "Cabaret Modern" Erzählerin: Ungläubig starrt die Bewohnerin auf die Messziffern im Display, die weiter und weiter nach oben klettern. Endlich, bei 400 Mikroröntgen, pendelt sich der Wert ein ? es ist das Zwanzigfache des zulässigen Grenzwerts. "Hab ich's dir nicht gesagt", sagt ihr Ehemann, "darum sind wir hier dauernd krank." Ob das denn wirklich so schlimm sei, fragt die Frau. Vassilij nickt. O-Ton: Vassilij Übersetzer Offensichtlich hat der Hirsch im Wald etwas Falsches gefressen. Radioaktivität lagert sich in Knochen und Horn besonders gut ab. Das Geweih ist radioaktiv - und Sie laufen ungeschützt darunter herum! Atmo: Auto fährt los Erzählerin: Auf dem Rückweg nach Osjorsk überqueren wir die Brücke über das Flüsschen Tjetscha: Hier hatte die Betriebsleitung in den 50er und 60er-Jahren flüssigen Nuklearmüll ungefiltert eingeleitet. Die Dorfbewohner, die an seinen Ufern leben, gehören heute zu den biomedizinisch bestuntersuchten Strahlenopfern neben den Hiroshima-Überlebenden. Majak selbst, berichtet Vassilij, habe seine Produktion von Waffenplutonium eingestellt, heute gehören die Kernanlagen zu den weltgrößten Herstellern von Nuklearmaterialien für Medizin und Industrie. Atmo: Blinker / vorbeifahrender Pkw Erzählerin: Auf einer Anhöhe parkt Vassilij seinen Wagen: Jetzt liegt Majak vor mir wie eine Spielzeuglandschaft. Ich bin enttäuscht: Mit 30 Quadratkilometern Fläche und weit über 10 000 Beschäftigten zählt die Kernanlagen zu den größten nuklearen Gewerbegebiete der Welt - doch außer ein paar Gewerbehallen und Industrieschornsteinen ist nichts Interessantes zu sehen. Die technischen Anlagen lägen zum großen Teil unter der Erde, erklärt Vassilij: eine Wiederaufbereitungsanlage, zwei Reaktoren und diverse Atommüll-Lager. Majak sei Russlands wichtigster Umschlagplatz für Nuklearmaterial. Atommüll aus zivilen Kernkraftwerken, Uran und Plutonium aus abgerüsteten Nuklearsprengköpfen, die abgebrannten Kernbrennstäbe aus den U-Boot-Reaktoren ? Spaltstoffe aller Art und aller Produktionsstufen werden hier in Eisenbahnwaggons an- und wieder abtransportiert. Atmo: Auto fährt los Erzählerin: Bis vor fünf Jahren war Vassilij hier als leitender Ingenieur angestellt. Anfang der 90er-Jahre, während der schweren Wirtschaftskrise nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, hatte er die Stelle angenommen ? etwas anderes gab es nicht. Aber über die Zustände in der Kernanlage war er entsetzt. O-Ton: Vassilij Übersetzer: Die Mitarbeiter verdienten damals, Anfang der 90er-Jahre, umgerechnet 10 Dollar im Monat ? zu wenig, um eine Familie zu ernähren. Die moralische Verfassung war schlecht. Sie haben als Taxifahrer oder Kleinhändler dazuverdient, und am Arbeitsplatz sind sie eingeschlafen. Andere haben die Rohre aus den Reaktoren abmontiert und den Stahl verscherbelt oder in ihren Datschen verbaut. Einmal habe ich beobachtet, wie vier Kollegen einen betrunkenen Ingenieur an seinen Arbeitsplatz getragen haben - und der wachhabende Soldat hat es zugelassen. Atmo: Auto von innen Erzählerin: Glück im Unglück, dass der Betriebsleitung in der schweren Wirtschaftskrise der 90er-Jahre die Kraft für Vertuschungen fehlte. Der Blick in die Trümmer der kollabierten Atomsupermacht war für die Nato-Staaten die Initialzündung für Hunderte Hilfsprogramme: Reaktoranlagen mit modernen Warnsystemen ausstatten, Spaltmaterial mit Videoüberwachung und Zugangskontrollen vor Diebstahl schützen, Personal in internationalen Sicherheitsstandards schulen, Atomwaffen-Spezialisten in Lohn und Brot bringen, bevor sie ihr Wissen an Diktatoren und Terroristen weiterverkaufen ? dafür legten die Industriestaaten Millionenprogramme auf. Majak war eine der ersten Kernanlagen, die davon profitierte: O-Ton: Vassilij Übersetzer Im Jahr 1996 kamen aus den USA die ersten Gelder, damit wurde die Sicherheitstechnik auf einen modernen Stand gebracht. Zu der Zeit wurden auch die Gehälter erhöht. Damit kehrte die Disziplin schlagartig zurück. Musik "Ohm Sweet Ohm" Erzählerin: Wie ist es heute bestellt um die Nuklearsicherheit in der Kernanlage Majak? Gerne hätte ich das die Betriebsleitung selbst gefragt ? aber meine Interviewanfrage bleibt ohne Antwort. Das wundert mich nicht: Längst droht der Kreml wieder mit Megabomben, die martialische Namen tragen wie "Bulawa" ? die Keule. Da ist Auslandspresse in Militäranlagen nicht mehr willkommen. Dafür werde ich im Internet fündig: Für stolze 413 Millionen Euro, lese ich in einem amerikanischen Portal, haben die USA auf dem Betriebsgelände von Majak ein modernes Spaltmateriallager gebaut. Darin soll das hoch angereicherte Uran und das Waffenplutonium aus den abgerüsteten Nuklearsprengköpfen eingelagert werden, geschützt von einem sieben Meter dicken Schutzmantel ? sicher vor Feuersbrünsten, Erdbeben und Terroranschlägen. Das klingt gut! Ich surfe weiter, dieses Mal durch das russische Internet. Dort stoße ich auf einen Offenen Brief, den ein gewisser German Lukaschin an Premierminister Putin geschrieben hat. Lukaschin stellt sich als langjähriger Strahlenschutzbeauftragter in russischen Kernanlagen vor. Und er schreibt, die Sicherheitslücken in der Kernanlage Majak seien so gravierend, dass sie alles Leben auf der gesamten Nordhalbkugel bedrohten. Atmo: Parkplatz, Bistro mit Lukaschin, Radiomusik Erzählerin: Treffpunkt ist ein menschenleeres Bistro auf einem Fernfahrer-Parkplatz, auf einer Landstraße vor den Toren von Sneschinsk. Sneschinsk ist der Sitz einer nuklearen Forschungsanlage, und ebenfalls eine geschlossene Stadt. Da ich nicht hereinkommen kann, muss Lukaschin herauskommen. Ein schmächtiger Rentner mit übergroßer Brille steigt aus dem Taxi. Auf dem klebrigen Bistro-Tisch klappt er seinen Laptop auf. Darin gibt es die Apokalypse als Powerpoint-Präsentation. O-Ton: Lukaschin (russisch) Übersetzer Hier, hier schauen Sie, ich habe extra eine Animation erstellt. Darin geht es ausschließlich um das Plutonium, das in Majak lagert. Los geht's: So also könnte sich die radioaktive Wolke verbreiten, je nach Windrichtung. ... . Schauen Sie nur, hier verschwindet Ihr Heimatland Deutschland ? und von dort aus könnte es weitergehen nach Finnland ? nach Schweden ... Atmo: Bistro mit Lukaschin Erzählerin: In Form einer schnell wachsenden Träne kriecht eine radioaktive Wolke über die Landkarte des eurasischen Kontinents. Mit einem Mausklick unterstellt Lukaschin eine andere Windrichtung: Jetzt verschwinden der Baikalsee, Pakistan, Indien, Japan. O-Ton: Lukaschin Übersetzer Alles hängt stark von den meteorologischen Bedingungen in diesem bestimmten Moment ab. Aber seien Sie sicher: Gegen die Radioaktivität, die in Majak freigesetzt werden könnte, würde Tschernobyl verblassen zum unbedeutenden Störfall in ferner Perestrojka-Zeit. Erzählerin: Lukaschins Horrorszenario: Ein Passagier-Flugzeug stürzt in eine der Nuklearlagerstätten ? ob Pilotenfehler oder Terroranschlag. Einem solchen Aufprall, das haben seine Berechnungen ergeben, würde nicht einmal das moderne amerikanische Spaltmateriallager standhalten ? geschweige denn alle anderen. Sein Berufsleben lang hat sich Lukaschin mit der Wirkung von Radioaktivität auseinandergesetzt. Als junger Ingenieur hat er für sowjetische Atomwaffenprogramme geforscht, später überwachte er als Strahlenschutzbeauftragter die Sicherheit in sowjetischen Kernanlagen. Als "Tschernobyl-Liquidator" errechnete er direkt nach dem GAU vor Ort die Strahlendosen der Bauarbeiter des Sarkophags. Ende der 90er-Jahre dann wurde er in eine Expertenkommission berufen, die den Bau des amerikanisch-russischen Spaltmateriallagers überwachen sollte. Seitdem plagen ihn Schlafstörungen. In seinem Laptop ruft er eine Luftaufnahme der Kernanlage Majak auf. O-Ton: Lukaschin Übersetzer Das hier ist das amerikanische Lager für Spaltmaterial. Es enthält 25 Tonnen Waffen-Plutonium, außerdem 255 Tonnen hoch angereichertes Uran, aber das ist weit weniger gefährlich. Das Lager wurde mit amerikanischem Geld finanziert, es ist geschützt durch eine sieben Meter dicke Betonwand ? das ist tatsächlich ordentlich. Aber hier, in diesem Reaktorgebäude, lagern weitere 38 Tonnen Plutonium, das aus zivilem Atommüll abgetrennt wurde. Es wurde im Jahr 1948 gebaut ? da kann keine Rede sein von irgendeinem Schutzmantel. Erzählerin: Lukaschin hält es für fahrlässig, große Mengen Hochrisikomaterial auf einem einzigen Betriebsgelände zu lagern - noch dazu überirdisch, in unmittelbarer Nähe der Flughäfen in den Ural-Metropolen Jekaterinburg und Tscheljabinsk. Doch der Expertenkommission waren diese Einwände zu prinzipiell. Schon nach wenigen Monaten hat man ihn ausgeschlossen. O-Ton: Lukaschin Übersetzer Das ist der Komplex S: Hier lagert flüssiger, hoch radiaktiver Atommüll mit einer Strahlenkonzentration von 350 Megacurie, das ist das Siebenfache dessen, was während des Tschernobyl-GAUs frei wurde. Und das dort ist der See Karatschai, der gilt als der radioaktivste Ort der Erde. Dort wurde Strontium und Cäsium eingeleitet mit einer Konzentration von 120 Millionen Curie. Und all dieser Dreck befindet sich auf einem Gebiet von 30 Quadratkilometern. Wahnsinn: so eine Konzentration! Erzählerin: Lukaschins Albträume handeln von Plutonium. Was aber ist mit dem hoch angereicherten Uran aus den Nuklearsprengköpfen und U-Boot-Brennstäben, das ja in sehr viel größeren Mengen in Majak gelagert ist? Der Strahlenexperte winkt ab: Weit weniger gesundheitsgefährlich. Vor allem aber gebe es für das Uran ? im Gegensatz zum Plutonium - eine erprobte Verwendungsstrategie: Die Verwandlung in Kernbrennstoff für Atomkraftwerke. O-Ton: Lukaschin Übersetzer Hochangereichertes Uran, das ist ein Schwermetall mit einem extrem hohen Anteil des spaltbaren Waffen-Isotops 235. In Nuklearsprengköpfen ist es bis auf 90 Prozent angereichert. Kernkraftwerke aber können nur Brennstoff mit einem Anreicherungsgrad von vier Prozent verarbeiten. Man muss es also abreichern. Zu diesem Zweck wird es zunächst in Gasform umgewandelt, das geschieht in verschiedenen Kernanlagen Sibiriens. Dann wird es zurücktransportiert in den Ural, nach Novouralsk, dort wird es abgereichert. Danach muss es wieder in Metallform gebracht werden, sodass es zu Kernbrennstoff verarbeitet werden kann. Das Grundproblem aber ist das gleiche wie beim Plutonium: Die Zwischenlagerung ? das können Jahre oder Jahrzehnte sein. Wie lange das Spaltmaterial unter zweifelhaften Umständen herumliegt, bis es endlich an die Reihe kommt, das weiß der Herrgott allein. Musik "Ätherwellen" Erzählerin: Novouralsk also ist mein nächstes Ziel. Das "Uraler Elektrochemische Kombinat" war zu Sowjetzeiten eine Produktionsanlage für Nuklearsprengköpfe. Heute ist das Kombinat der wichtigste Zulieferer für den US-amerikanischen Atomkraft-Sektor, lese ich auf seiner website. Hier sei das sogenannte HEU-LEU-Verfahren entwickelt worden. Highly Enriched Uranium wird abgereichert zu Low Enriched Uranium: Von diesem Abkommen habe ich bereits gehört, bekannter ist es unter dem Namen: "Megatons to Megawatt" Es ist Teil des Start II-Vertrags, abgeschlossen im Jahr 1993 von den Präsidenten George Bush sen. und Boris Jelzin. Das Abkommen ist ein Liefervertrag, in dem Russland sich verpflichtet hat, 500 Tonnen hoch angereichertes Uran ? Rohstoff für 20 000 Nuklearsprengköpfe - in kernkraftwerks-tauglichem Zustand an die USA zu verkaufen. Kurzum: Das Novouralsker Kombinat verwandelt sowjetische Atombomben in Strom für Amerika. Atmo: Auto von innen Erzählerin: Auch Novouralsk, 70 Kilometer nordwestlich der Ural-Metropole Jekaterinburg, ist eine geschlossene Stadt. Auch hier bleibt meine Interviewanfrage ohne Antwort. Ich muss dahin, wo Entscheidungen getroffen, und vor einer internationalen Öffentlichkeit vertreten werden. Nach Moskau. Atmo: Autoverkehr Moskau + Musik "A slow one" Erzählerin: Wenn ein Nuklearsprengkopf demontiert wird ? sei es als Folge eines Abrüstungsabkommens, sei es, weil er seine Betriebsdauer überschritten hat - dann wechselt er vom Zuständigkeitsbereich des Verteidigungsministeriums in die Hände von Rosatom ? zu jener verzweigten Nuklearholding in Staatshand, die sich innerhalb weniger Jahre vom geheimnisumwitterten Atomministerium zum Global Player gewandelt hat. Bei Rosatom wird die Massenvernichtungswaffe zum Wirtschaftsobjekt. Atmo Rosatom Foyer Erzählerin: Das imposante, säulenverzierte Gebäude ist vom Kreml aus fußläufig zu erreichen. Männer in Sakkos, Frauen in dezentem Großstadtchique fluten über die Grünfläche zum Eingangsportal. Ich selbst komme nicht einmal bis ins Foyer, freundlich komplimentiert mich das Sicherheitspersonal hinaus. Aber immerhin: Der oberste Rosatom-Sprecher lässt ausrichten, zu einem Interview über das Abrüstungsprogramm "Megatons to Megawatt" sei er gerne bereit. Er bestellt mich in ein nahe gelegenes Cafe. Atmo: Kaffeehaus Erzählerin: Das ist mehr, als ich erwartet habe: Latte Macchiato mit Sergej Novikov, von dem ich gehört habe, dass er die rechte Hand von Rosatom-Chef Sergej Kirienko sein soll. O-Ton: Novikov (russisch) Übersetzer Bis zum Jahr 2013 stellt Russland über die amerikanische Monopol-Agentur Usec den USA bis zu 50 Prozent ihres Jahresverbrauchs an Kernbrennstoff aus abgereichertem Waffen-Uran zur Verfügung. Die USA beziehen 20 Prozent ihres Energieverbrauchs aus Atomenergie. Und so brennt heute jede zehnte amerikanische Glühbirne mit Hilfe eines Brennstoffs, der aus einem sowjetischen Nuklearsprengkopf stammt. Atmo: Kaffeehaus Erzählerin: Novikov ist jung, höflich, gut aussehend. Der perfekte Repräsentant eines Konzerns, der zum Sprung auf den globalen Nuklearmarkt ansetzt. Fragen zum heiklen Militärbereich beantwortet er mit konzentrierter Bedachtsamkeit. Aber dass er kein Fan von "Megatons to Megawatt" ist, das ist deutlich zu merken. O-Ton: Novikov Übersetzer Der Vertrag ist im Jahr 1993 abgeschlossen worden, als Russland praktisch jeder andere Weg der Devisenbeschaffung verwehrt war. Es gibt die Expertenmeinung, dass "Megatons to Megawatt" die russische Nuklearindustrie damals gerettet hat. Wir haben quasi unser Startbudget aus den USA bekommen. Heute können wir es selbständig erweitern. Erzählerin: Ein Liefervertrag als Lockmittel: Die USA hatten eine neue Herangehensweise an die alte politische Abrüstungsdebatte gefunden. Die Idee: Wenn man nutzlos gewordene Nuklearsprengköpfe zu Energieträgern umdeklariert, dann bergen sie statt unkalkulierbarer Endlagerkosten ein Rentabilitätsversprechen. Mit dem politischen Qualitätssiegel der "Abrüstung" ließ sich das amerikanische Importverbot für kommerziell gehandelten russischen Kernbrennstoff umgehen. Wenn der Abrüstungsvertrag im Jahr 2013 regulär ausläuft, dann wird es auf der Welt Rohmaterial für 20 000 Atombomben weniger geben. O-Ton: Novikov Übersetzer Unter heutigen Bedingungen würde Russland einen solchen Vertrag nicht mehr abschließen. Es ist zweifelhaft, ob die Abreicherung von hoch angereichertem Uran wirtschaftlich rentabel ist. Die Frage ist offen. Erzählerin: Lieber würde Novikov es sehen, Rosatom könnte den USA Uran zu Marktpreisen verkaufen: Kein abgereichertes Waffen-Uran, sondern angereichertes Natururan. Jetzt also wartet der Staatskonzern darauf, dass das Abkommen mit seinem eingefrorenen Abnahmepreis nicht mehr den Kernbrennstoff-Markt blockiert. Dann, da ist Novikov optimistisch, werde der Handel mit den USA richtig in Schwung kommen. Dennoch hat die amerikanische Strategie, Russland die Abrüstung mit Finanzzusagen zu versüßen, ganz offensichtlich Schule gemacht. Im April diesen Jahres, auf dem Nuklearsicherheitsgipfel in Washington, haben die Präsidenten Obama und Medwedew beschlossen, 34 Tonnen Waffenplutonium auf jeder Seite waffenunfähig zu machen. Barack Obama will Russland dabei mit bis zu 400 Millionen Dollar unterstützen. Aber Plutonium ist kein Uran: Es ist radioaktiver, giftiger, unberechenbarer. Wie also, frage ich Novikov, will Russland diesen vermutlich gefährlichsten Stoff der Welt vernichten? O-Ton: Novikov Übersetzer Die Frage ist, ob die technische Weiterentwicklung von Mischoxyd-Brennstoff erfolgreich sein wird - MOX-Brennstoff also, der hauptsächlich aus Uran besteht, aber einem bestimmten Plutonium-Anteil hat. Plutonium kann man ja auch als Brennstoff für die gängigen Druckwasserreaktoren benutzen. Russland aber hat besonders viel Erfahrung mit Schnellen Reaktoren ? und die versprechen einen geschlossenen Brennstoffkreislauf. Auch Schnelle Reaktoren können schließlich mit Mischoxyd-Brennstoff arbeiten. Erzählerin: Schnelle Reaktoren ? diesen Reaktortyp kenne ich unter dem Schlagwort Schneller Brüter. Schnelle Brüter sind eigentlich seit Jahrzehnten weltweit tabu: zu unwirtschaftlich, zu störanfällig. Vor allem aber sind sie verpönt, weil sie sich allzu leicht in hoch effektive Rüstungsmaschinen umfunktionieren lassen, und damit in dem Verdacht stehen, der Atomwaffenverbreitung Vorschub zu leisten. Das zumindest hatte ich bislang gedacht. Ausgerechnet den Schnellen Brüter also will Russland jetzt zur Atomwaffen-Abrüstung einsetzen. O-Ton: Novikov Übersetzer Bei uns wird das im Jahr 2014 passieren, dann wird ein neuer Brutreaktor-Block ans Netz gehen: der Reaktor BN-800 im Kernkraftwerk Beloyarsk am Ural. Dieser wird mit MOX-Brennstoff arbeiten. Wenn wir von einer mittleren Perspektive reden, dann beginnt die Einführung von Plutonium in den Brennstoffkreislauf jetzt. Musik "Radioactivity" Erzählerin Um mehr zu erfahren, reise ich zurück an den Ural. In einem Waldgebiet, 70 Kilometer östlich von Jekaterinburg, am Rande einer Kleinstadt namens Zarétschny, liegt das Kernkraftwerk Beloyarsk. Es ist der einzige Schnelle Brüter weltweit, der seit 30 Jahren ununterbrochen am Netz ist. Bislang läuft Beloyarsk auf Uran-Basis, Erfahrung mit dem Kernbrennstoff Plutonium gibt es nicht. Waffenplutonium zu Strom: eine verlockende Perspektive. Statt Hochrisikomüll mit unkalkulierbaren Endlagerkosten besäße Russland dann große Mengen eines hochkarätigen neuen Energieträgers. Atmo: im fahrenden Auto Erzählerin: Der Straßenposten winkt durch. Und während der Mann hinter dem Steuer redet, rollt unser Lada auf das Betriebsgelände. Über eine kleine Nebenstraße ist ganz leicht, was mir mit meiner offiziellen Presseanfrage an die Werksleitung nicht gelungen ist: der Zugang zu "Beloyarsk". Der Fahrer möchte nicht erkannt werden. Dima ? eigentlich heißt er anders ? ist der Bekannte eines Bekannten. Wie alle Beschäftigten des Kernkraftwerks ist er zur Verschwiegenheit verpflichtet. O-Ton: Dima (russisch) Übersetzer Dieser Reaktorblock ist einzigartig. Es gab hier zwar mal einen Versuchsreaktor, einen BN-300, ebenfalls ein Schneller Brüter. Und bei Moskau, in Obninsk, gibt es einen weiteren experimentellen Brutreaktor. Das hier aber ist ein ganz normales Atomkraftwerk. Der einzige kommerzielle Schnelle Brüter Russlands. Mit einem Reaktor, der als Kühlmittel flüssiges Metall nutzt. Atmo: Im Auto Erzählerin: Es ist ein eigentümliches Industriegebiet, inmitten der Wälder des Ural: eine Landschaft aus Rohren. Kreuz und quer laufen sie über das Betriebsgelände, verbinden die Gebäude der Reaktoren mit den Kühltürmen. Block Drei ist 1980 ans Netz gegangen. Erst kürzlich hat Rosatom die Laufzeit um weitere 15 Jahre verlängert. Auch der vierte Block wird ein Brutreaktor sein. O-Ton: Dima Übersetzer: Schnelle Brüter können den abgebrannten Kernbrennstoff aus anderen Atomanlagen verarbeiten. Das wäre ein geschlossener Energiekreislauf: Es wird weniger Müll produziert, und der Reaktor selbst arbeitet sehr sauber. Das Gefährliche ist nur, dass das Kühlmittel Natrium heftig reagiert, wenn es mit Wasser in Berührung kommt. Auch in unserem Reaktor ist es schon mal zum Wasseraustritt gekommen, das ist kein Geheimnis. Aber damals ist es gelungen, das Wasser vom Natriumkreislauf fernzuhalten. Atmo: Im Auto Erzählerin: Und was hält Dima von der Idee, hier ab 2014 Waffenplutonium als Kernbrennstoff einzusetzen? Der junge Ingenieur lässt vor Erstaunen das Lenkrad los: Plutonium? Was denn für Plutonium? Von Kernbrennstoff, murmelt er dann, versteht er nichts. Und von so etwas habe ihn die Werksleitung noch gar nicht unterrichtet. Musik "Uran" Erzählerin: Plutonium ? der vielleicht gefährlichste Stoff der Welt - als Kernbrennstoff in einem besonders störanfälligen Reaktortyp, verarbeitet in einem Verfahren, mit dem es kaum Betriebserfahrung gibt. Wenn nicht einmal die Angestellten des Kernkraftwerks informiert sind, frage ich mich, wie ahnungslos mögen dann erst alle anderen sein? Meine Bekannten aus Jekaterinburg und Tscheljabinsk jedenfalls haben noch nichts von dem Plutonium-Programm ihrer Regierung gehört. Atmo: Pressekonferenz Erzählerin: Aber in einem Jekaterinburger Nobelhotel gibt es eine Pressekonferenz zum Thema Plutonium. Organisiert ist sie von "Ecodefence", einer russlandweit bekannten Umweltorganisation. O-Ton: Slíviak (russisch) Übersetzer : Danke für das große Interesse, dass Sie unserer Pressekonferenz entgegenbringen. Wir werden heute den ersten unabhängigen Vortrag über das russische Plutonium-Programm seit 10 Jahren halten. Allerdings ist etwas Unvorhergesehenes eingetreten: Gerade eben haben wir erfahren, dass die Leitung des Kernkraftwerks Beloyarsk ebenfalls eine Veranstaltung in diesem Raum plant, darauf waren wir nicht vorbereitet ... Atmo: Durcheinander auf Pressekonferenz Erzählerin: Der Zufall ist mehr als kurios. Ein Hotelangestellter hatte den Konferenzraum versehentlich doppelt vergeben ? und jetzt sitzen sich Atomgegner und Kraftwerksbetreiber unerwartet Auge in Auge gegenüber: Vladimir Slíviak, der Vorsitzende von Ecodefence, und Nikolaj Oschkánov, der ehemalige Direktor des Kernkraftwerks Beloyarsk, der künftig einmal den bereits geplanten fünften Reaktorblock leiten soll. Die Stimmung ist gereizt als Slíviak das Wort ergreift. O-Ton: Slíviak (russisch) Übersetzer Als Ökologen können wir die Nutzung von Plutonium als zivilen Brennstoff nicht unterstützen. Plutonium ist eines der schrecklichsten Gifte überhaupt, wenn es durch einen Störfall nach draußen geriete, dann wäre das verheerend! Vor zehn Jahren hieß es noch, diese Zeitbombe solle entschärft werden! Damals ging es noch nicht ums Geld verdienen! Aus Waffenplutonium Brennstoff zu machen, das ist aus unserer Sicht die gefährlichste Methode überhaupt, das Erbe des Kalten Krieges zu vernichten. Was für ein riskantes Experiment! Dabei gibt es doch die Alternative, das Plutonium einzuglasen und endzulagern. Aber daran würde Rosatom natürlich nichts verdienen - soviel ist sicher. Atmo: Pressekonferenz Erzählerin: Endlagern. Es ist das erste Mal während meiner gesamten Recherche, dass ich diesen Begriff höre. Für den Kreml war das Endlagern von Spaltstoffen noch nie eine Option ? zu Sowjetzeiten nicht, und heute, wo die Endlagerkonzepte anderer Staaten reihenweise an explodierenden Kosten und rebellierenden Anwohnern scheitern, erst recht nicht. Im Westen dagegen galt die sogenannte "Immobilisierung" ? die Endlagerung in einer Matrix aus Glas oder Keramik ? lange als die einfachste und risikofreieste Methode, das Hochrisikomaterial Plutonium loszuwerden. Doch davon redet heute niemand mehr. Heute bestimmen Themen wie Klimawandel, Energiesicherheit und Renaissance der Atomenergie die öffentliche Debatte, sogar in den USA gelten Schnelle Brüter wieder als Zukunftstechnologie. Kernkraft-Befürworter Barack Obama hat das Tabu endgültig gebrochen: Er gab dem Drängen der Russischen Regierung nach und erklärte Waffenplutonium zum Kernbrennstoff. Im Schnellen Brüter Beloyarsk haben die Testläufe bereits begonnen, erklärt Nikolaj Oschkánov. O-Ton: Oschkánov (russisch) Übersetzer: Sollen wir es wirklich einglasen? Und wer garantiert, dass das Glas nicht irgendwann bricht? Warum nicht im Schnellen Reaktor verbrennen, wenn das gefahrlos möglich ist? Uran geht zur Neige, Öl und Gas gehen auch zur Neige. Schnelle Brüter sind der einzige Ausweg, denn sie verbrennen nicht nur Plutonium, sondern auch das Uran, das in den abgebrannten Brennstäben übrig geblieben ist. Der Schnelle Brutreaktor Beloyarsk ist von seiner Natur her risikofrei. Ich war dort 8 Jahre Direktor, davor 16 Jahre Ingenieur. Habe ich mich in dieser Zeit ein einziges Mal vor Ihnen rechtfertigen müssen? Atmo: Journalistenfrage auf Pressekonferenz Erzählerin: Wie er denn darauf komme ? fragt Vladimir Sliviak Nikolaj Oschkánov - dass ausgerechnet der Brutreaktor von Beloyarsk ungefährlich sei, während alle anderen Industrienationen ihre Brüter-Programme wegen Sicherheitsbedenken eingestellt hätten? Oschkánov hat eine einfache Antwort: O-Ton: Oschkánov Übersetzer: In Russland hat es geklappt! Ja! In den USA, Japan und Frankreich haben sie Jahrzehnte lang erfolglos herumprobiert, und dann gesagt: Was soll's, das ist sowie eine schreckliche Technologie. Sie ist nicht schrecklich, das sieht man in Russland, es ist dieselbe! Nur bei uns hat es geklappt! Erzählerin: Und deshalb kämen jetzt aus aller Welt Delegationen an den Ural, um sich über den aktuellen Forschungsstand zu informieren. Jetzt muss nur noch ein standardisierter Kernbrennstoff mit hohem Plutoniumanteil entwickelt werden ? und der Schnelle Brutreaktor aus dem Hause Rosatom ist reif für den globalen Markt. Musik "Radioaktivität" Absage: Der Weg des Urans Eine Recherche in Russland Ein Feature von Andrea Rehmsmeier Sie hörten eine Produktion des Deutschlandfunks 2010. Es sprachen: Frauke Poolman und Philipp Schepmann Ton und Technik: Hendrik Manook und Beate Braun Regie: Wolfgang Rindfleisch Redaktion: Hermann Theißen Musikausklang 27