Deutschlandradio Kultur, Zeitfragen 12. Juli 2010, 19.30 Uhr Nichts wie weg! Die Deutschen und ihr Urlaub Eine Sendung von Paul Stänner Spr. vom Dienst Nichts wie weg! - Die Deutschen und ihr Urlaub Eine Sendung von Paul Stänner Regie Tunesische Musik O-Ton Spode Als ich das Abitur hatte, bin ich für Monate in Nordafrika rumgefahren mit Freunden und wir saßen dann in einer Oase im Süden von Tunesien und weil es ja - wie man sich denken kann - dort sehr warm war, haben wir uns den ganzen Tag in solche schönen kleinen Flüsse gesetzt und ließen das Wasser an uns vorbei laufen. Wir waren sehr vorsichtig, dass wir uns da nicht irgendwie eine Krankheit einfangen und haben immer nur Cola oder Mineralwasser getrunken... Autor Wenn einer eine Reise tut, so sagte man früher, dann kann er was erzählen... O-Ton Spode ... kaum waren wir aus der Oase raus, kriegten wir eine ganz, ganz gefährliche Krankheit, keiner weiß, was es ist. Die andern beiden mussten mit einem Notarzt nach Deutschland gebracht werden, ich selbst war damals so stolz oder dämlich, dass ich gesagt habe ich bleib jetzt hier, ich steh das so durch und ich sehe mich noch in einem ganz billigen tunesischen Hotel in der Innenstadt von Tunis, ich hab so gezittert, ich hatte so einen Schüttelfrost dass das ganze Bett so gewackelt hat. Und im Nachhinein hab ich dann erfahren, da hätte man auch gut dran sterben können. (lacht.) Regie Musik endet Autor Natürlich ist es schöner, wenn der Reisende seine Geschichte am Ende selbst vortragen kann - wie in diesem Fall Hasso Spode, Professor für Soziologie in Hannover und Leiter des Historischen Archivs zum Tourismus in Berlin. Alles andere wäre einer Urlaubsnation wie der deutschen nicht angemessen. Jedes Jahr fahren Hunderttausende von uns in den Urlaub, erleben Dinge und haben hinterher etwas zu erzählen. Wir Deutsche - Ihr Berichterstatter eingeschlossen - gelten als begeisterte Reisende, ja sogar als Reiseweltmeister. Diesen Ruf haben wir uns im Verlauf der letzten Jahrzehnte mit Fleiß erworben. Jedoch, seit zwei Jahren bedrückt uns eine Finanzkrise, man sollte meinen, die Leute würden kürzer treten. O-Ton Reinhardt An sich waren wir immer Reiseweltmeister und werden es auch in Zukunft bleiben, ... Autor Ulrich Reinhardt arbeitet für die Stiftung für Zukunftsfragen in Hamburg. O-Ton Reinhardt ...das liegt natürlich vor allem daran, dass wir die Voraussetzungen dafür haben: Relativ geringe Arbeitszeiten mit knapp unter vierzig Stunden die Woche, das ist im internationalen Vergleich relativ wenig, aber eben auch die Anzahl an Urlaubstagen, mit fast 30 Tagen durchschnittlichen tariflichen Urlaub habe ich eben die Möglichkeit, die besten Wochen des Jahres nicht daheim zu verbringen. Autor Zum Vergleich: Der Amerikaner begnügt sich in der Regel mit vierzehn Tagen Tarifurlaub, dem Japaner reichen acht Tage. Wenn die anderen mit so wenig Urlaub auskommen, warum brauchen wir Deutschen so viel davon? O-Ton Vitzthum Das Leben ist ja sehr lange, die Lebensarbeitszeit verlängert sich immer weiter, ... Autor Karin Vitzthum ist Psychologin und arbeitet am Institut für Arbeitsmedizin der Charité in Berlin. O-Ton Vitzthum ... und man braucht ja kein Prophet zu sein, das scheint ja weiter zu gehen, das bedeutet, man muss auch planen, vierzig, fünfzig Jahre lang leistungsfähig zu sein und zu bleiben. Zurzeit ist es ja so, dass psychische Erkrankungen einen Großteil der Krankenstandstage verursachen, die meistens stressbedingt sind. Um denen vorzubeugen, ist es ganz wichtig, auf sein seelische Gleichgewicht und Wohlbefinden Rücksicht zu nehmen. Autor Eigentlich denkt man, dem Menschen liege nichts näher, als auf seine Seele und seinen Körper Rücksicht zu nehmen. Schon von den alten Römern kennen wir die Gewohnheit, in Badehäusern sich ausgiebig ihrem Wohlbefinden hinzugeben. Ihr Berichterstatter befragt den Experten, den Soziologen und Tourismusforscher Hasso Spode: O-Ton Spode Die gesamte menschliche Kultur ist dadurch gekennzeichnet, dass fast alle Gesellschaften ihr Leben rhythmisieren. Wenn wir jetzt in den Urlaub fahren, haben wir natürlich kleine Riten, mit denen wir den Übergang von der alltäglichen in die außeralltägliche Existenz, nämlich die zwei, drei Wochen, die markieren wir mit bestimmten Ritualen. Und das fängt beim Kofferpacken an, der Adrenalinspiegel steigt irgendwie, kriegen wir das Flugzeug oder fliegt's vielleicht auch gar nicht und so weiter. Diese Rhythmisierung des Lebens ist eigentlich allen Kulturen eigen. Autor Die Unterbrechung des Alltags kann man als eine anthropologische Konstante ansehen oder einfach: Nichts ist für den Menschen schlimmer als immer dasselbe! Wie viele andere soziale Einrichtungen, die heute vertraglich abgesichert sind, hat auch der Urlaub als rechtlose Bettelei begonnen. O-Ton Spode Das Wort Urlaub gibt es schon sehr lange, nämlich im Mittelalter ist das entstanden und es bedeutet Erlaubnis, das ist der Sinn. Gemeint ist damit, dass Menschen, die sich am Hof eines Fürsten aufhielten, die Höflinge, oder auch Soldaten in der Truppe, eine zeitlang sich von der Truppe oder vom Hof entfernen wollten. Dann mussten sie den Offizier oder den Fürsten, im Zweifel sogar den König, um Erlaubnis bitten, für eine gewisse Zeit diese Konstellation zu verlassen. Autor Natürlich war die huldvolle Gewährung von Freizeit mit komplettem Lohnausfall verbunden. Die Urlauber mussten selbst zusehen, wie sie sich außer Dienst durchschlugen. Regie U-Musik aus der Wilhelminischen Zeit O-Ton Spode Im Laufe des 19. Jahrhunderts tritt die Idee auf, dass die Beamten, die ja sozusagen noch zivile Soldaten waren in der damaligen Vorstellung, dass die Beamten in der Zeit, wo sie Urlaub bekommen, gleichzeitig weiterhin noch ihr Gehalt beziehen. Das ist der bezahlte Urlaub. Das ist eine völlig neue Entwicklung, die sich in Deutschland eigentlich erst nach der Reichsgründung 1871 durchsetzt und am Ende des Kaiserreichs, am Beginn den ersten Weltkriegs, so um 1914 herum, hatten alle Beamten in Deutschland das Recht auf Urlaub, auf bezahlten Urlaub. Regie Musik endet abrupt mit einem Effekt, O-Ton frei O-Ton Spode ... und zwar war das ein sehr fein abgestimmtes Instrumentarium, um die Rangfolge innerhalb des Beamtenapparats anzuzeigen. Also untere Beamte bekamen drei/vier Tage im Jahr, mittlere bekamen schon mal ein/zwei Wochen, und leitende Beamte, die bekamen mehr als heute, die bekamen über sechs Wochen Urlaub damals im Kaiserreich. Autor Ausgerechnet die Nazis - die ja der Überzeugung waren, alle und jeder gehöre ihrem Staat - ausgerechnet die Nazis schufen eine Rechtsgrundlage für den "Erholungsurlaub". Zuvor war der Urlaub so begründet worden, dass der Arbeitnehmer für übermäßig geleistete Arbeit die Freizeit als Bonus bekommt. Im Dritten Reich wurde die Begründung dahingehend verändert, dass der Urlaub die Leistungskraft für die erst danach zu erbringende Arbeit schaffen sollte - also kein Bonus für vergangene, sondern eine Investition in zukünftige Leistung. Diese Idee wurde nach dem Krieg bruchlos beibehalten. "Jeder Arbeitnehmer hat in jedem Kalenderjahr Anspruch auf bezahlten Erholungsurlaub" liest ihr Berichterstatter in Paragraph 1 des Bundesurlaubsgesetzes von 1963. Hasso Spode: O-Ton Spode Bis 1960, Mitte der 60er-Jahre sogar, wurde der Urlaub überwiegend in Balkonien verbracht, das heißt man blieb zuhause und machte vielleicht Ausflüge, aber verreisen konnte die Mehrheit der Bevölkerung nicht, auch noch in den 60er-Jahren nicht. Erst Anfang der 70er-Jahre steigt die Reiseintensität über 50 Prozent, bedeutet, der Anteil derjenigen, der einmal verreist pro Jahr an der Bevölkerung von den Erwachsenen und Jugendlichen. Erst ab den frühen 70er-Jahren haben wir also einen Zustand, wo die Mehrheit der Deutschen in Ost und West regelmäßig pro Jahr verreist. Regie Catarina Valente, "Komm ein bisschen mit nach Italien", frei dann kurz unterlegen Autor Der Deutsche begab sich auf den langen Marsch. Kolonnen von untermotorisierten Volkswagen, Borgward und Isetta schnauften in den 60er-Jahren über den Brenner, um die westdeutschen Wohlstandsbürger an die Strände Italiens zu schaffen, die so zu dem Beinamen "Teutonengrill" kamen. Waren sie auf den Spuren ihres Goethe, die zweibändige Insel-Ausgabe seiner Reiseschriften im Gepäck? Ihr Berichterstatter hat so seine Zweifel. Die Gründe für die Völkerwanderung der Neuzeit liegen woanders. Ulrich Reinhardt von der Stiftung für Zukunftsfragen: O-Ton Reinhardt Es sind verschiedene Gründe, einerseits sicherlich die Erholung von der Arbeit, aber auch die Erholung für die Arbeit, andererseits natürlich die Erlebnissuche und sicherlich ist es auch eine gewisse Imagefrage getreu dem Motto: Ich kann mir einen Urlaub leisten und verbringe dann eben die schönen Sommertage nicht nur daheim auf dem Balkon oder im Garten, sondern fernab der eigenen vier Wände und lass da die Seele auch etwas baumeln. Autor Aber nicht alle können sich das leisten: Nur jeder zweite Deutsche verreiste im vergangenen Jahr. Das heißt die Hälfte der Deutschen blieb im Urlaub zu Hause, die meisten davon aus finanziellen Gründen. Was sich die eine Hälfte nicht leisten kann, sucht dagegen die andere, die reisende Hälfte der Deutschen. O-Ton Reinhardt Es ist sicherlich in erste Linie der Kontrast zum Alltag, der gesucht wird, das heißt man möchte sich einerseits körperlich, vielleicht auch etwas psychisch erholen, dass man einfach sagt, man möchte die Seele baumeln lassen, vielleicht etwas länger schlafen, vielleicht auch mal wirklich fünfe gerade sein lassen, andererseits natürlich immer das Motto, im Urlaub will ich was erleben und wenn ich dann nach Hause komm, dass ich vor den Bekannten, den Nachbarn, den Freunden, aber auch den Kollegen damit punkten kann, aber auch immer sagen kann: Wenn ich dir erzähle, was ich im Urlaub erlebt habe...! - also die Erlebnissuche etwas ganz Wichtiges und dann natürlich solche Motive wie Exotik, Erotik, Kultur, Sport, neue Leute kennen lernen, all das kommt natürlich dann dazu, ist aber eher nachgeordnet nach eben der Erholung und der Erlebnissuche. Autor Auch im Jahr 2010 wird die reisende Hälfte der Deutschen im Durchschnitt 1038 Euro ausgeben - was ungefähr dasselbe Budget ist wie vor vier Jahren. Und wie schon in den letzten zehn Jahren wird sie sich dafür im Durchschnitt 13 Tage Zeit nehmen - lediglich die Fernreisenden sind mit ungefähr 20 Tagen länger unterwegs. Regie Madonna, La isla bonita, frei und kurz unterlegen O-Ton Vitzthum Da haben verschiedene Zielgruppen sicherlich unterschiedliche Wünsche und Ansprüche an so einen Urlaub - was sicherlich für alle gilt, es sollte eine Abwechslung zum Alltag sein. Das heißt wenn man relativ lange am Computer sitzt, sollte man möglichst versuchen, sich aktiv zu bewegen, das darf jetzt gleichzeitig nicht so sein, dass man das Rad mit nach Mallorca nimmt und dann 300 Kilometer fahren möchte, das wäre der umgekehrte Effekt dazu, oder ein Skiurlaub und dann zehn Stunden am Tag auf den Brettern in der Höhe, also das wäre eher kontraproduktiv. Autor - sagt Psychologin Karin Vitzthum. Urlaubsdesign heißt die neue Fachrichtung. Die Industrialisierung der Reisekultur macht es möglich, sich den Urlaub passgenau nach seinen individuellen Bedürfnissen entwerfen. Einer leidet unter Bewegungsmangel: also wird er sich im Urlaub Sport verschreiben. Einer ist zermürbt vom Umgebungslärm: also wird er Ruhe suchen. Einer modert im dunklen Büro in der untersten Ecke des Innenhofs: also wird er für Licht und Luft sorgen. Einer ist im normalen Leben ein disziplinierter Trinker: also wird er an den Ballermann reisen. Regie Jürgen Drews, König von Mallorca Autor Ihr Berichterstatter konnte bei einem Kurzurlaub folgende Beobachtung machen: Auf dem Flugplatz Berlin-Tegel stieg ein Mann ins Flugzeug, der so schwer angetrunken war, dass er Mühe hatte, die Flugzeugtür zu treffen. In der nachfolgenden Woche wurde er auf Mallorca mehrfach gesichtet, stets aufgefüllt bis zur Höchstlademarke. Zum Rückflug trat der Mann an wie zum Hinflug - blau wie ein Avatar. Offensichtlich war der Urlaub auf der Insel einem Design gefolgt - mit dem Ziel, jegliche Erinnerung an jegliches Erlebnis auszulöschen. Karin Vitzthum hört sich die Geschichte an und meint: O-Ton Vitzthum Ja, das ist nicht so gesundheitsförderlich (lacht), also, da gibt's inzwischen auch Untersuchungen, dass gerade jüngere Urlauber da besonders riskante Verhaltensweisen an den Tag legen und dann meistens in Wirklichkeit krank nach Hause zurück kommen und nicht erholt sind. Das ist nicht zu empfehlen. O-Ton Spode Als Notwendigkeit, um die Arbeitskraft zu regenerieren, diese Argumentation gab es schon im Bürgertum um 1900, nur war die Überlegung damals: Eigentlich brauchen die Leute, die sich körperlich ausarbeiten, keinen Urlaub, sondern das ist nur eine Regeneration des Geistes. Der Schlüsselbegriff war damals die Nerven. Die Nerven würden völlig zerrüttet werden und das passiert aber natürlich nur den Geistesarbeitern und deshalb müssen die Urlaub machen. Autor Womit die gesamte Urlaubsdiskussion zur Klassenfrage erhoben wurde: Wer denkt, braucht Urlaub, wer körperlich arbeitet, eben nicht. Heute würde man das vermutlich anders sehen und eine ganze Wellnessindustrie und unzählige Sportreiseveranstalter leben davon. Aber die Debatte, ob wir überhaupt Urlaub brauchen, ist noch nicht ausgestanden. Ihr Berichterstatter schlägt vor, dass wir noch einmal zurückkehren zum Urgrund des Urlaubs. Professor Hasso Spode: O-Ton Spode Die Erholungsdebatte ist hochgradig ideologisch - wir wissen nicht, ob der Urlaub wirklich der Erholung dient, wir wissen nicht einmal, was Erholung eigentlich ist. die Haupteffekte, die unter Erholung vermessen werden, sind wahrscheinlich Placebo- Effekte. Ich geh noch mal zurück ins 19. Jahrhundert, als nur die Touristenklasse, also das Bürgertum, das Anrecht auf Urlaub hatte. Die Überlegung, dass die zerrütteten Nerven sich irgendwie erholen müssen, war damit gekoppelt, dass nicht nur eine Auszeit genommen wird, die Menschen hätten zuhause bleiben können, nein sie stressen sich auch noch. Autor Man denke nur an die Herren - selbst am Strand galt im 19. Jahrhundert, als Beamte und wohlhabende Bürger das Reisen anfingen, ein Anzug als angemessen. Das war der sogenannte Pyjama. Für Ausflüge in den Ort wurde ein weiterer, stadtkonformer Anzug gebraucht und zum Abendessen sowieso das ganz feine Stück. Urlaub war eine logistische Herausforderung und harte Arbeit. O-Ton Spode Trotzdem ist es dieser entstehenden Arbeitswissenschaft gelungen, die Ermüdung, die man damit heilen will, die Zerrüttung der Nerven, dadurch den Leuten schmackhaft zu machen oder zu legitimieren. Autor Ulrich Reinhardt, der Forscher für Zukunftsfragen, stimmt vorsichtig zu - Mediziner vertreten die Meinung, dass der wahre Erholungseffekt erst nach drei Wochen Urlaub eintritt. O-Ton Reinhardt Es ist sicherlich mehr ein gefühlter Effekt, Urlaub in Deutschland dauert in der Tat nur zehn Tage, wenn wir dann ins Ausland fliegen, immerhin knapp vierzehn Tage, das ist schon etwas besser - aber es ist noch nicht die optimale Erholung aus medizinischer Sicht. Dafür bräuchten wir in der Tat etwas mehr Tage vor Ort, das wird sich aber eben aus verschiedenen Gründen kaum noch gegönnt, einerseits finanzielle Gründe, andererseits ist dann auch irgendwann eine Frage, man möchte ja schon lieber ein zweites Mal pro Jahr verreisen, also da stoßen wir ganz klar an unsere Grenzen. Autor Für den bloß gefühlten Erholungs-Effekt spricht auch, dass eigentlich nur die in die Ferien fahren, denen es ohnehin am besten geht, sagt Hasso Spode: O-Ton Spode Wir haben im Weltmaßstab die reichen Länder mit der hohen Lebenserwartung, die 80, 90 Prozent des Welttourismus ausmachen und wenn man jetzt mal sozusagen zoomt, dann werden wir auch sehen, es sind immer noch die gebildeten Schichten, die wohlhabenden Schichten, die am meisten verreisen, und die Alten - oder wie man jetzt marketingmäßig sagt: die best ager. Also Leute, die gar nicht mehr arbeiten. Also die Regeneration der Arbeitskraft spielt dabei eigentlich nur die Rolle, den Urlaub oder die Lust am Urlaub zu begründen, pseudowissenschaftlich zu begründen. Autor Und auch, was die Arbeitspsychologin sagt, weist eigentlich darauf hin, dass Urlaub mit Erholung nichts zu tun hat. Urlaub wird immer häufiger Herausforderung, Stress und selbst initiierte Überlastung. Karin Vitzthum: O-Ton Vitzthum Eine dieser Ausdrucksformen dieses gewandelten Urlaubsverhaltens sind sicherlich diese Kurztrips, von denen ich persönlich nicht so viel halte. Das ist meistens in der letzten Sekunde in den Flieger reinspringen, sofort die Sachen im Hotel abschmeißen und schnell in den Bus springen, um ja alles mitzumachen und dann mit der allerletzten Maschine schnell zurück und dann wieder sofort an den Schreibtisch - das kann man mal machen, aber das ist kein Urlaub im engeren Sinn. Da hat man eigentlich mehr Stress, womöglich auch noch schlechte Flugverbindungen, zu wenig Schlaf, sodass da eigentlich wenig Erholungseffekt zu erwarten ist. Regie Musik Commedian Harmonists , Wochenende und Sonnenschein... kurz zur Unterbrechung Autor Das war's dann wohl mit dem wohl begründeten Urlaub. Einerseits behaupten Mediziner, man müsse mindestens dreißig Tag frei machen, um sich zu erholen. Laut Statistik nehmen wir aber im Durchschnitt nur zehn. Und dann ist da noch die Frage, ob die Urlaubsreise medizinisch nicht eigentlich nur ein Placebo ist und die erholende Wirkung eingebildet. Ihr Berichterstatter ist verwirrt - braucht er nun Urlaub, weil er ihn braucht, oder hat er nur schlicht die Nase voll und will mal was anderes sehen, weil er es sich leisten kann? Urlaubsforscher Ulrich Reinhardt: O-Ton Reinhardt Es sind sicherlich bestimmte Grundmotive, die viele Reisende suchen, Erholung, Kontrast, aber auch die Erlebnissuche und dann differenziert es sich sehr stark. Die junge Generation will natürlich Spaß haben, viel erleben, die Tassen hoch fliegen lassen, Singles haben oftmals eher ein Interesse an Kultur, Paare dann auch eher an Sport, die ältere Generation eher an Geselligkeit, vielleicht auch dann etwas den Kontakt zu Einheimischen kennen zu lernen, also das muss man wirklich sehr stark unterscheiden, aber einige Grundmotive sind sicherlich übergreifend für alle Reisenden feststellbar, das ist die Erholung und das ist die Erlebnissuche. Regie Musik: das typische Bond-Motiv Autor Die hektische, manchmal skurrile Suche nach der Aufregung: Da hat der Urlauber zum Beispiel in der Schweiz die Möglichkeit, in einem Massenlager auf Stroh zu nächtigen. Er gibt teueres Geld aus für eine juckende Nacht ohne Schlaf. Oder er steht in Brandenburg beim Fallschirmspringen Todesängste aus wie er sie noch nie in seinem Leben erlebt hat. Oder schwimmt im flachen Wasser der Bahamas mit Rochen und Haien und fühlt sich wie Bond, James Bond. Regie Musik Ende O-Ton Spode Jetzt kommen wir zu den beinharten, grundsätzlicher Fragen. Autor Spode, Hasso Spode: O-Ton Spode Wir leben in der sogenannten Moderne. Das hat die Gesellschaft abgekoppelt von allen Gesellschaften, die es vorher gegeben hat. Dazu gehört ein Wachstum der äußeren und inneren Sicherheit, ein Wachstum der Sicherheit der Menschen im Umgang miteinander. Also denken Sie mal daran, dass noch vor 250 Jahren viele Menschen nur bewaffnet aus dem Haus gingen. Autor Das ganze 17. und noch 18. Jahrhundert ist voll von Berichten über Angriffe auf Reisende. Italien war auf all seinen Straßen berühmt für die Überfälle der grausamen Briganten, den blutigen Vorläufern jener betrügerischen Kellner, mit denen sich heute der Reisende in Venedig herumschlagen muss. Aber auch Deutschland: Ihr Berichterstatter als Bildungsbürger erinnert an Goethes Werther und die Folgen. Für eine Reise leiht sich der liebeskranke Werther zwei Pistolen und ausgerechnet die benutzt er nicht gegen Wegelagerer, sondern sich selbst. O-Ton Spode Wir leben heute in einer sogenannten pazifisierten Gesellschaft, obwohl natürlich ganz schlimme Sachen passieren, aber der Alltag ist pazifisiert. Das ist der eine Punkt. Und das hat aber auch seinen inneren Preis. Um in einer solchen Gesellschaft funktionieren zu können, müssen wir innere Verhaltenszwänge aufbauen, wir müssen eine konstante Selbstbeherrschung ausüben. Autor Die Affektkontrolle gilt als eine der herausragenden Leistungen in der Geschichte der Zivilisierung der Menschheit. Der Arbeitgeber darf seine Angestellte nicht anbrüllen, weil sie im Urlaub nicht gestört werden will. Liebeskranke Priester dürfen ihre Messdiener nicht belästigen. Ein schlecht gelaunter Ehemann darf seine Frau nicht erschlagen. Das Zusammenleben unserer Gesellschaft beruht auf der permanenten Selbstkontrolle jedes Einzelnen. O-Ton Spode ... und all das erzeugt etwas, was Siegmund Freud das Unbehagen in der Kultur genannt hat. Autor Und aus dem Unbehagen in der Kultur - so die These - entsteht der Wunsch nach dem vermeintlich ursprünglichen Leben, wo wir die Freiheit haben, uns zu benehmen, wie wir wollen, und gleichzeitig auch die großen Gefühlen auszuleben, die wir im geregelten Leben der modernen Leistungsgesellschaft nicht mehr empfinden. Der Urlaub als Abenteuerfilm. Ulrich Reinhardt: O-Ton Reinhardt Das Motto ist sicherlich vorherrschend, dass man sagt, entführt mich in eine Traumwelt, vielleicht auch in eine andere Welt, aber hol mich zum Abendbrot wieder zurück an meinen eigenen Tisch. Man hat durchaus Interesse für Neues, möchte auch neue Eindrücke sammeln, aber das Ganze soll natürlich in gesicherten Bahnen ablaufen und nicht gar zu fremdländisch sein. Wir dürfen nicht vergessen, dass lediglich jede zehnte Urlaubsreise überhaupt nur außerhalb Europas stattfindet, und daran dann der Anteil, der das Abenteuer sucht, ist fast schon verschwindend gering. Autor Der deutsche Reisende als Abenteurer ist also nur ein Spießer auf Abwegen: Ein bisschen gefühltes Risiko, aber abends dann doch bitte ein gepflegtes Bier und Rippchen mit Sauerkraut, obwohl der Türke an sich das nicht so original hinbekommt wie der Koch in Stuttgart. Regie Musik: Fronkreisch, Fronkreisch Autor Dennoch, nach mehreren Umfragen sind die Deutschen als Reisende sehr beliebt. Zwar rutschten sie beim Best Tourist Ranking des online-Reisebüros Expedia im vergangenen Jahr abwärts von Platz 2 auf 4, aber innerhalb Europas konnten sie ihre Position behaupten. Wie im Vorjahr gehören sie nach den Japanern zu den beliebtesten Nationen. Dazu beigetragen hätten vor allem die - wie es heißt - typisch deutsche Sauberkeit, das ruhige Verhalten und allgemein gutes Benehmen. Seit Jahren zählen die Deutschen auch zu den Nationen, die sich am meisten Mühe geben, Kenntnisse in der Landessprache zu erwerben. Regie Musik: Fronkreisch, Fronkreisch O-Ton Reinhardt Das stimmt. Wenn man das auf dem Niveau sieht, ist sicherlich jede Reise ein Zugewinn, man lernt etwas Neues kennen, aber es hält sich doch in engen Grenzen. Es ist eben nur das kurze Eintauchen und selbst der Urlaub in Spanien, Italien, Türkei hat dann am Abend wieder das deutsche Buffet und vielleicht auch das deutsche Frühstück, das ist, was der Deutsche im Urlaub sucht. Und das Einlassen auf die Kultur des Gastlandes, das ist leider nach wie vor eher die Ausnahme als die Regel. Autor Wer, wie Ihr Berichterstatter, glaubte, der Urlaub als Risikobereich - das sei Bungeespringen von hohen Brücken, Sangria-Saufen auf Mallorca oder Autobahnfahren im Ruhrgebiet wird nun auf ein besonders bitteres Thema verwiesen - der Urlaubsforscher Ulrich Reinhardt: O-Ton Reinhardt Es ist in der Tat so, dass nach der Weihnachtszeit die Urlaubszeit die Zeit ist, in der die meisten Scheidungen stattfinden. Das liegt natürlich daran, dass viele an den Urlaub zu hohe Erwartungen knüpfen. Die Ehe soll gekittet werden, der Vater soll sich mit den Kindern beschäftigen und alles soll Friede-Freude-Eierkuchen sein, das kann sicherlich nicht der Anspruch an den Urlaub sein. Autor In was für einer Welt leben wir? Wenn nicht einmal im Urlaub alles Friede-Freude- Eierkuchen sein kann, wann dann? Wir hatten Weihnachten schon abgeschrieben, seit wir in die Pubertät kamen, und nun ist auch noch der Urlaub verloren? Gibt es denn keine Illusionen mehr? Die Psychologin Karin Vitzthum: O-Ton Vitzthum Es gibt sicherlich ähnliche Problematiken wie auch um die Weihnachtszeit, dass da viele Erwartungen und Hoffnungen aufeinanderprallen, gerade wenn das der einzige Jahresurlaub ist, den man zusammen macht, und dass dann Konflikte, die schon länger schwelen, leichter ausbrechen, das ist tatsächlich so. O-Ton Reinhardt ... was im Alltag nicht funktioniert, wird auch im Urlaub nicht funktionieren und die Erwartungen an den Urlaub dürfen nicht hoch gesteckt werden. Wer das tut, der geht in der Tat ein Risiko ein, sich danach auch vor dem Scheidungsanwalt wieder zu treffen. O-Ton Vitzthum (Lacht) Ich hoffe nicht, dass nur der Urlaub dann schuld ist, aber sicherlich, wenn man dann mehr Zeit mehr oder weniger freiwillig miteinander verbringt, sind natürlich diese Konflikte auch präsenter. Autor Allmählich verliert Ihr Berichterstatter den Glauben an die Auszeit. Es heißt: Die Erwartungen an den Urlaub dürften nicht zu hoch gesteckt werden. Es heißt, man solle das Gegenteil von dem tun, was man normalerweise macht - aber in Maßen! Die Wissenschaft sagt dem Berichterstatter auf den Kopf zu, dass er abends deutsches Essen haben will, wo immer er auch sein werde. Und ob er sich erholt, ist ohnehin umstritten. Andererseits hat das Gesetz der Bundesrepublik den Deutschen einen Urlaub verordnet. Wie also verhält sich der pflichtbewusste, Urlaub nehmende Staatsbürger? Die Arbeits-Psychologin Karin Vitzthum vertritt die Häppchen-Theorie: O-Ton Vitzthum Es ist schon günstiger, wenn man die Urlaubszeit über das ganze Jahr verteilt und nicht alles auf einmal nimmt, einfach weil man zwischendurch immer wieder Pausen braucht, günstig natürlich ist es immer, wenn man auch mit einem guten Gefühl die Firma verlassen kann, das heißt wenn ein Projekt abgeschlossen ist, verreisen und nicht mitten drin, wo man sich schwer losreissen kann, wo man auch im Urlaub angerufen wird, weil noch was Dringendes zu erledigen ist. Autor Urlaubs- und Zukunftsforscher Ulrich Reinhardt vertritt die Theorie der Ballung: O-Ton Reinhardt Ein optimaler Urlaub würde so aussehen, dass man rechtzeitig bucht, denn Vorfreude ist bekanntlich die schönste Freude, dass man drei vier Tage vor der eigentlichen Reise schon aufhört zu arbeiten, stressfrei in den Urlaub rübergleitet, vor Ort dann sich einige Zeit nimmt, um auch wirklich anzukommen, es akzeptiert, dass jeder Tag nicht schön sein muss, sondern dass man durchaus mal den Urlaubsblues in der Mitte haben kann, das Bergfest, wo man dann das Gefühl hat, es geht jetzt schon wieder runter, dass man dann im Urlaub Zeit für jeden Reisenden selber nimmt, also wenn man als Familie reist, sollte es einen Tag geben, wo die Kinder bestimmen, wo die Mutter bestimmt, dann wo der Vater bestimmt, alsodass man sich dort wirklich abwechselt. Es sollte möglichst kein klassische Rollenverständnis vor Ort vorherrschen, also nicht nach dem Motto, die Mutter ist dann aber fürs Frühstück zuständig, und der Vater bringt die Kinder nur ins Bett. Es sollte gleichzeitig die Möglichkeit geben, dass jeder etwas für sich selbst tun kann, aber eben auch eine gemeinsame Zeit verbracht wird, und dann, wenn man wieder zuhause ist, möglichst noch drei, vier Tage, bevor es dann wieder in den Alltag geht. Autor Ihr Berichterstatter hat gelernt: Mit dem Urlaub ist es wie mit dem Geld. Man braucht ihn nicht, aber man hat nie genug davon. In diesem Sinn: Schöne Ferien! Regie Musik: La mer Spr. vom Dienst Nichts wie weg! - Die Deutschen und ihr Urlaub Eine Sendung von Paul Stänner Es sprach: der Autor Ton: Barbara Zwirner Regie: Gabi Brennecke Redaktion: Stephan Pape Produktion: Deutschlandradio Kultur 2010 2