COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Deutschlandradio Kultur Forschung und Gesellschaft 05.07.2012, 19.30 Uhr Operationen statt Diäten? Der Kampf gegen das Übergewicht Von Ellen Häring Atmo 1 SHG Hallo ich bin Anja, neu und bin gespannt, hallo ich bin Julia und bin auch das erste Mal da, ich bin Jens, ich erhole mich gerade von einer Krankheit und mir geht's gut. Hallo ich bin.... runterziehen und leise unterlegen A 1 Der junge Mann hebt seinen mächtigen Bauch auf die Oberschenkel und legt ihn ab. Tapfer schluckt er einmal leer, gleich muss er sich vorstellen. Auf seinem schwarzen T-Shirt klebt ein Kreppband, nur sein Vorname Markus steht darauf. Neben Markus sitzen im Kreis Jasmin, Flora, Ramona, Detlef und ungefähr 20 andere, die sich an diesem Montagabend zur Selbsthilfegruppe "Dick in Berlin" in die Charité getraut haben. Atmo 1 hochziehen und ausblenden A2 Alle Anwesenden sind adipös, also fettleibig. 40, 50, 100, bis zu 150 Kilo müssen weg, es geht ums Ganze. Und die Männer und Frauen zwischen 25 und 50 Jahren haben eine Idee, wie sie das schaffen können: sie spielen mit dem Gedanken, sich den Magen verkleinern zu lassen. Ihre individuellen Leidensgeschichten stehen ihnen ins Gesicht geschrieben. Ramona Moris, wiegt 117 Kilo, dabei ist sie eine kleine Frau Anfang vierzig, höchstens 1,60. Es gab Zeiten, die waren schlimmer, da kam sie auf 126 kg. Ein Alptraum. Ramona Moris heißt nicht wirklich so. Sie will - wie alle Betroffenen - lieber anonym bleiben. Sie hat sämtliche Diäten ausprobiert, sich diszipliniert bis zur Selbstaufgabe, ist schließlich auch in die Apotheke gerannt. T1 Ramona 0'34 Ich habe Medikamente probiert. Iich habe Formula-Diäten probiert, alles mögliche, Schwämmchen in Kapseln gegessen, damit der Magen ein Völlegefühl hat, damit man nicht so viel Hunger hat. Also, die unmöglichsten Sachen. Was ich an Geld für Diäten ausgegeben habe, da hätte ich heute einen tollen Mittelklassewagen! Musik: Little Story/Motion Trio A3 Das Geschäft mit den Schlankmachern läuft gut. Die Apotheken profitieren von frei verkäuflichen Appetitzüglern und Diätdrinks, die sich Übergewichtige in ihrer Not kaufen. Und Kunden gibt es genug. Mehr als die Hälfte der Deutschen ist übergewichtig, 14 Prozent davon gelten als adipös, also fettleibig. Darunter sind immer mehr Kinder und Jugendliche. Adipositas ist die neue Volkskrankheit der westlichen Welt. Hauptgrund dafür ist der Lebensstil: als Jäger und Sammler geboren, verbringen die meisten Menschen heute ihren Tag im Sitzen und wissen kaum noch, was Hunger ist. Man isst zur Beruhigung, als Trost oder Belohnung. Zu viel, zu fett, zu süß. Hinzu kommt bei manchen Adipösen eine genetische Disposition: sie neigen dazu, Fett zu lagern. Die Wundermittel aus der Apotheke helfen nicht dauerhaft. Auch sogenannte "konservative Therapien", die Ernährungsberatung, Bewegung, psychologische Beratung und Kuraufenthalte kombinieren, zeigen über die Jahre nur bei maximal 10 Prozent der Betroffenen Erfolg. Eine Operation des Magens hingegen lässt die Kilos purzeln. In kurzer Zeit. 50, 60 Kilo sind binnen weniger Monate weg. Das ist verführerisch. Der Preis dafür ist allerdings hoch: ein gesundes Organ wird verstümmelt. Musik: Little Story/Motion Trio A4 Dicksein ist ein Makel. Wer schlank ist, gilt als gesund, erfolgreich und schön. Deshalb leiden Dicke nicht nur unter ihrem Körpergewicht, sondern auch unter ihren Mitmenschen. Flora Georgis, auch das ein Pseudonym, 29 Jahre jung und 125 Kilo schwer: T2 Flora 0'24 Das passiert mir ziemlich oft, ehrlich gesagt, dass ich beleidigt werde auf der Straße. Ich gehe durch eine Menschenmenge und höre: ach, die Fette! Ich würde gerne mehr auch rauskommen, mehr rausgehen, aber ich habe das Gefühl, dass ich oft angegriffen werde und deshalb traue ich mich auch nicht mehr so raus. A5 Flora Georgis war schon als kleines Mädchen zu dick. Ihr ganzes Leben lang wurde sie gehänselt. Sie hat Diäten gemacht, ihre Ernährung umgestellt, Sport getrieben - um dann doch wieder rückfällig zu werden und bald noch mehr zu wiegen als vorher. Jetzt reicht es ihr. Sie will sich den Magen verkleinern lassen - eine endgültige Entscheidung. Unterstützung bekommt sie in der Selbsthilfegruppe der Charité und von Dr. Jürgen Ordemann, Chirurg und Leiter des Zentrums für Adipositas des Berliner Universitätsklinikums: T 3 J. Ordemann / Folgeerkrankungen 0'48 Wir wissen heutzutage, dass jemand, der einen bestimmten Grad an Fettsucht hat, dass diese Patienten krank sind. Die Folgeerkrankungen der Fettsucht wie Diabetes, wie Stoffwechselstörung, wie Herz-Kreislaufstörung, wie der Bluthochdruck, wie das Schlafapnoe-Syndrom als Folge der Fettsucht macht diese Patienten extrem krank. Es sind Hochrisikopatienten und gerade die Adipositas von Jugendlichen, von Kindern ist für die Lebenserwartung eine Katastrophe. A6 Bis vor wenigen Jahren galt die Adipositas-Chirurgie unter Medizinern als "Schmuddelchirurgie". In den letzten Jahren hat sich dies verändert: der Grund sind die unbestreitbaren Erfolge, die die operativen Methoden haben. Fettleibige können mit einem verkleinerten Magen langfristig Normalgewicht erreichen. Und nicht nur das. Die häufigste Form der Diabetes, Typ 2, kann sich durch eine solche Operation deutlich verbessern und sogar verschwinden. Musik: Little Story/Motion Trio A7 Die großen Kliniken haben sich längst auf ihr neues Klientel eingestellt. In der Berliner Charité gibt es - wie anderswo auch - inzwischen Krankenstationen speziell für Fettleibige. Dr. Ordemann öffnet die Zimmertür Atmo 2 / mit Ordemann im Raum 0'17 Dann haben wir hier einen Kran......hier langsam ausblenden es ist ein ganz neues Krankheitsbild...wir brauchen spezielles Equipment.... A8 Über einem gigantischen Bett baumelt ein Kran, er hilft den Pflegekräften die Patienten zu bewegen. Das Badezimmer hat einen extrem breiten, bodengleichen Zugang. Atmo 3 / mit Ordemann im Bad 0'22 Diese Toilette für adipöse Patienten kostet mehrere 10000 Euro, um das Gewicht zu halten, um hoch- und runtergestellt zu werden. Musik: Little Story/Motion Trio Atmo 4 SHG Berlin/ unter Text ausblenden A9 Am Montagabend trifft sich wie immer die Selbsthilfegruppe "Dick in Berlin". Dr. Jürgen Ordemann, schlank, mittleres Alter, nimmt in der Mitte Platz. Er erklärt die Voraussetzungen für eine OP: ein Body-Maß-Index über 40, also extremes Übergewicht. Keine Alkohol- oder Drogenprobleme. Nachweis darüber, dass alle konservativen Therapien ausgescheitert sind: Diäten, Kuren, Bewegungsprogramme. Die Nachsorge ist Pflicht, über Jahre: Sport, Ernährungsberatung und psychologische Betreuung. Und dann legt er noch nach: T4 Ordemann Gehhilfe 0'18 Eine Operation ist nur - NUR in Anführungsstrichen - eine Gehhilfe auf dem Wege des Abnehmens. Das ist nämlich der große Trugschluss, dass viele Menschen glauben, dass wenn sie operiert sind, dann alles gut wird. Und dem ist eigentlich nicht so. A10 Schließlich holt er aus einer Tasche einen abgetrennten Plastikmagen heraus. T5 Ordemann 0'08 "Und ich habe Ihnen ein Modell mitgebracht, da würde ich sie bitten, dass sie das von Hand zu Hand durchgeben" A11 Der Magen macht die Runde, Jürgen Ordemann erklärt die verschiedenen Operationsmethoden: das Magenband wird um den Magen gelegt und verschließt den Eingang, so dass weniger Nahrung aufgenommen werden kann. Es wird individuell angepasst und kann jederzeit wieder entfernt werden. Bei der Schlauchmagenoperation wird ein großes Stück vom Magen entfernt, es bleibt nur noch ein Schlauch übrig. Entsprechen geringe Nahrungsmengen verträgt der Patient später. Ein Magenbypass kommt vor allem bei extremer Adipositas in Frage: der Magen wird durchtrennt, zusätzlich wird der Dünndarm so umgeleitet, dass ein Großteil der Nährstoffe und Kalorien nicht verdaut werden, sondern den Körper mit dem Stuhl verlassen. Schlauchmagen und Bypass sind endgültig. Die Operation lässt sich nicht rückgängig machen. "Ein Adipöser ist für uns Chirurgen wie ein 80-Jähriger: beide sind Hochrisikopatienten", sagt Jürgen Ordemann bestimmt. Die Leber ist bei Adipösen deutlich vergrößert, sie haben eine sogenannte Fettleber. Der Chirurg muss mit kleinsten Instrumenten die Leber beiseite legen, um an den Magen zu gelangen. Das kann kompliziert werden, genauso wie die Beatmung wegen des dicken Halses. Im Saal ist es jetzt still. Atmo 4 SHG Raum/ganz ruhige Stelle suchen A13 Dann zeigt Jürgen Ordemann, wie es aussieht, wenn ein Stück vom Magen abgeschnitten wird. T6 Ordemann und Patienten-Foto 0'17 "Und ich habe ihnen eine Abbildung mitgebracht von einem Patienten, den wir vor drei Tagen operiert haben." "Oh mein Gott" "Nein, ist ja super!" "Ja, das sieht hart aus, Sie sehen, das ist das Resektat." A14 Resektat - das abgeschnittene Stück Magen. Anschließend ist Zeit für Fragen: ja, man kann danach alles essen, aber von allem nur sehr wenig. Und selbstverständlich, es braucht eine intensive Nachsorge. Und was ist mit der Sucht, mit dem unbändigen Verlangen zu essen? T7 Ordemann und Patienten/ Sucht 0'23, "Deswegen, Sucht hin oder her, müssen Sie ihr Verhalten auch mit Hilfe der Psychosomatik ändern. Das geht Hand in Hand, das ist eine ganz wichtige Geschichte" "Na, es ist halt so, der Magen wird operiert, aber der Kopf nicht, der muss umschalten." "Genau so ist es". "Wobei aber die OP so der Startschuss sein kann." Musik: Little Story/Motion Trio A15 Ob die Operation zum Startschuss wird für ein wirklich neues Leben, hängt von vielen Faktoren ab. Patienten, die sich den Magen verkleinern lassen wollen, müssen schon vor dem Eingriff zeigen, dass sie den Willen zur Veränderung haben. Sie müssen gescheiterte Diäten nachweisen, Sport machen, obwohl sie sich kaum bewegen können, an einer Ernährungsberatung teilnehmen, zur Verhaltenstherapie gehen. Viele Patienten erfüllen zwar alle Bedingungen, haben aber häufig keine Nachweise über Diäten, weil sie die Abnehmversuche im Alleingang unternommen haben. Atmo 5 an der Anmeldung / dann im Wartezimmer A16 Die Praxis von Ernährungsberater Mario Hellbardt ist voll. Die Patienten, die hier warten, sitzen auf breiten Stühlen ohne Lehnen, manche können sich kaum aufrichten, so dick sind sie. Sie blicken zum Boden. Mario Hellbardt, Mitte 30, schlank und schmal, gilt als Geheimtipp unter den Berliner Adipösen. Warum ausgerechnet er so beliebt ist, kann er sich nicht erklären. Vielleicht ist es seine freundliche Direktheit, mit der er den dicken Patienten gleich beim ersten Gespräch begegnet. T8 Hellbardt 0'30 Sie sind ja sicherlich nicht aufgewacht heute Morgen und hatten 140 Kilo. Es gibt einen Grund dafür und es gibt auch einen Grund dafür, weshalb sämtliche Versuche einer Gewichtsreduktion, ambulant oder stationär, gescheitert sind. Und dem müssen wir versuchen auf die Spur zu kommen, weil da liegt eigentlich die Lösung. Und unterstützend einen Schlauchmagen, einen Bypass anzulegen chirurgisch, ist sinnvoll, aber - wie gesagt - nicht die Lösung. Der große Vorteil einer Operation, so Mario Helllbarth, ist, dass die Patienten schnell abnehmen, so dass sie sich wieder bewegen können. Und wer das kann, dem gelingt es viel leichter, Gewicht zu verlieren. Aber die Operation muss sehr gut vorbereitet werden. T10 Hellbarth 0'27 Der Kopf wird halt nicht operiert. Der ist nach wie vor drauf und es ist der gleiche. Und wenn ich halt einfach ein ungünstiges Essverhalten habe, dann hab ich das auch nach der Operation. Nur mit dem Unterschied, dass ich nicht mehr so essen kann, wie ich es vor der OP machen konnte. Also ich erbreche, ich erwürge, ich habe Durchfälle, das kann relativ zeitnah entstehen können und das gilt es halt zu vermeiden. A19 Deshalb trainiert der Ernährungsberater mit seinen Patienten die Ernährungsumstellung schon lange vor dem OP-Termin. Er begleitet sie in den Supermarkt, macht Einkaufstouren mit ihnen. 100-150 Gramm pro Mahlzeit kann ein frisch Operierter zu sich nehmen, am Anfang nur püriert. Dann ist er satt. Später können es 200 bis 250 Gramm werden. Die kleine Portion muss nahrhaft sein, damit der Körper möglichst viele Mineralstoffe und Vitamine erhält, die durch Tabletten ergänzt werden. Lebenslang. Hungern muss kein Operierter. Das Sättigungsgefühl stellt sich allerdings nur körperlich ein, seelisch bleibt ein Vakuum. T11 Hellbarth 0'36 Was ich in der Diättherapie häufig feststelle, ist, dass wenn man so ein Eingriff vornimmt, dann auch gemerkt wird, dass man dem Patienten was weggenommen hat. Das Essen halt. Dass Essen halt für viele Dinge im Leben ein Ersatz ist, im drastischsten Fall ist es der Partner oder der Freund. So gibt es einige Patienten, wo man eben nach der Operation merkt, oh, hier verlagert sich jetzt irgendwas. Der Patient nimmt auch nicht ab, er versucht sich irgendwie die Energie, das Essen zuzuführen. Warum? Ganz klar, ich hab ihm seinen Freund, seinen Kumpel weggenommen. Musik: Little Story/Motion Trio A22 Flora Georgis isst immer wieder, um sich zu trösten. So war das schon immer. Wer als Kind nichts Süßes essen darf, isst oft als Erwachsener noch heimlich Schokolade. Schlechte Essgewohnheiten sitzen tief. Atmo 6 Flora in Klinik /Messung A23 Jetzt sitzt sie in der Klinik für Minimal Invasive Chirurgie in Berlin. Sie will bei der Krankenkasse einen Antrag auf eine Magenverkleinerung stellen und kommt zur Beratung. T13 Taillenumfang 0'13 Dann messe ich noch mal ihren Taillenumfang....danke, nehmen Sie Platz. A24 Sie wird gewogen und fotografiert, ihr BMI wird bestimmt. Der Body-Maß-Index ist der Gradmesser für Adipositas - eine Berechnung, die Körpergewicht und Größe in Beziehung setzt. Wer einen BMI über 25 hat, gilt als übergewichtig. Bei 30 und mehr beginnt die Adipositas, die sich in verschiedene Härtegrade unterteilt. T 14 BMI 0'03 So ihr BMI liegt bei 42,3. A25 Die junge Frau hat eine schwere Adipositas dritten Grades, die auf jeden Fall dringend behandelt werden muss. Für einen Antrag bei der Krankenkasse reicht ein BMI von 40, bei schweren Folgeerkrankungen manchmal auch weniger. Der Arzt, Dr. Martin Susewind, bittet zum Beratungsgespräch. T15 Susewind/Flora 0'24 Wie lange sind sie denn schon übergewichtig? Sie haben einen Body-Maß-Index von 42, was eine drittgradige Übergewichtigkeit ist, wie lange sind Sie denn schon übergewichtig? Äh, ich war's immer wieder..... (ausblenden) A26 Die Patientin rückt sich auf dem Stuhl zurecht, hält sich an ihren Unterlagen fest. T16 Susewind/Flora 0'26 Okay, Sie sind ja sehr jung. Ist denn Bluthochdruck schon bekannt bei Ihnen? Nein. Eine Herzkrankheit? Nein. Eine Zuckerkrankheit? Ich wüsste nicht. A27 Die Tatsache, dass Flora Georgis noch unter keiner der typischen Folgekrankheiten der Adipositas leidet, schmälert ihre Chancen bei der Krankenkasse auf Kostenübernahme. Wer bereits krank ist, bekommt eher eine Indikation für eine Operation. Nach einer halben Stunde hat sie alles überstanden. Martin Susewind findet nicht, dass die Patientin mit 29 Jahren zu jung ist für die Operation. T17 Susewind 0'30 Das hat meines Erachtens nichts mit dem Alter zu tun, sondern entscheidend ist die Dauer und die Schwere der Übergewichtigkeit. Und das ist der Zeitpunkt. An sich muss man sagen, wir müssen uns im Denken umstellen, dass wir die Patienten früh genug operieren, dass sie gar nicht in die Situation hineinkommen, dass sie Folgeerkrankungen der Adipositas wie Diabetes, Bluthochdruck, Gelenkbeschwerden entwickeln, sondern dass wir rechtzeitig das Übergewicht behandeln und sozusagen als Prophylaxe hineinkommen. A28 Eine Operation alleine bringt gar nichts. Sowohl eine Umstellung der Ernährung als auch aktive Bewegung - sobald das Gewicht das zulässt - sind für einen dauerhaften Erfolg notwendig, betont der Chirurg. Musik: Little Story/Motion Trio A29 Manfred Rieker, im wirklichen Leben heißt er anders, hat beides erlebt - die Qual und die Freude der Bewegung. Früher war er Leistungssportler. Er wog 70 kg, trainierte intensiv Judo. Dann hatte er einen Unfall, in dessen Folge er lange im Krankenhaus liegen musste. Er nahm zu. Immer mehr. Machte Diäten, Kuren, es half nichts. Aus Manfred, dem Leistungssportler wurde Manfred, der Dicke. Atmo 7 Spaziergang mit Hunden Heute geht er wieder zügig mit seinen beiden Hunden spazieren. Vor 5 Monaten war das noch nicht so. T18 Manfred Sprunggelenke 0'16 Also mit einem Gewicht von 160 kg, so 1,80 hoch, dann sind die Gelenke ganz schön, die Sprunggelenke waren's bei mir, die waren ziemlich belastet. Ja und wenn man mit entzündeten Gelenken spazieren geht, das muss man mal gemacht haben, das ist eine Erfahrung, das tut sehr weh. A30 Manfred Rieker konnte sich kaum noch bewegen. Ohne Bewegung kann aber niemand abnehmen. Dann hat er ein Schlüsselerlebnis. T19 Manfred Schlüsselerlebnis 0'05 Da bin ich beim Schuhe zubinden einfach umgefallen. Grade aus lang hingeschlagen. A31 Damals spricht die Tochter mit ihm, bittet ihn, noch nicht "abzutreten", ihr zuliebe. Er lässt sich einen Schlauchmagen operieren. Nach 5 Monaten ist er 48 Kilo leichter. Ein gutes, ein sehr gutes Gefühl. Atmo 7 Spaziergang mit Hunden unterlegen bis O-Ton 20 A32 Er kommt in Rage, wenn er über all die Erniedrigungen spricht, die er als Dicker ertragen hat: enge Plastikstühle im Gartenlokal, die am Hintern hängen bleiben. Fluggesellschaften, bei denen er zwei Plätze buchen muss. Mitmenschen, die einen Bogen um ihn machen, Ärzte, die ihn in die Tierklinik zur Computertomografie schicken, weil er nicht in ihre Röhre passt. Damals - es ist erst 5 Monate her - verbringt Manfred viele Stunden vor dem Computer - so wie die meisten Fettleibigen. Nicht nur um sich in den einschlägigen Foren auszutauschen, sondern auch, um ganz alltägliche Dinge zu verrichten. T20 Manfred Klamotten 0'28 Also, ich hab meine Kleidung überwiegend im Internet bestellt, so dass man da gar nicht erst den Trip durch die verschiedenen Kaufhäuser machen musste. Nun gab es Sachen, die hat man nicht im Internet bekommen, wenn es Anzüge oder Hemden waren, da muss man dann eben in spezielle Geschäfte für Übergewichtige gehen. Da wird man an Ort und Stelle natürlich sehr freundlich behandelt, weil man auch ausgenommen wird wie ne Weihnachtsgans. Atmo 8 zuhause / Hunde fressen A33 Nach dem Spaziergang bekommen die Hunde ihr Trockenfutter, sie stürzen sich darauf. Es ist fast 14.00 Uhr, Manfred hat heute noch nichts gegessen. Er nimmt einen großen Schluck aus einer Wasserflasche. Regelmäßiges Essen, das war noch nie sein Ding. Und gleichzeitig auch sein Problem. Noch kann er nicht mehr als 150 Gramm pro Mahlzeit zu sich nehmen. Auf dem Tisch liegt ein Tablettenkästchen, 9 Pillen pro Tag muss er nehmen. Nahrungsergänzung. T21 Manfred Pillen 0'16 Also Kalzium, Zink Selen, und einmal gegen die Magensäure. Da weiß ich gar nicht was drin ist...und hier noch mal das Gleiche wie da. Musik: Tubalar Bells/Mike Oldfield A34 Wer sich für eine Operation entscheidet, muss sein Leben verändern. Gemütliche Eß- und Trinkrunden im Restaurant fallen flach. Die Operierten müssen sich mit einem Süppchen begnügen. Alkohol sollten sie gar nicht oder nur in geringen Maßen trinken. Der kleine Magen verträgt ihn nicht. Das alles schreckt Adipöse nicht ab. Sie wollen nur eines. Schlanker werden. Dr. Jürgen Ordemann sieht in seiner Praxis keine glücklichen Dicken. T22 Ordemann Leiden 0'39 Alle Adipösen leiden. Ich habe selten so leidende Patienten gesehen wie Adipöse, die mir sagen, dass sie seit 10 Jahren immer wieder versuchen, Gewicht abzunehmen, die in Heulkrämpfe ausbrechen und mir schildern, wie furchtbar doch alles ist. Umso mehr wundere ich mich, wenn ich diese Patienten nach der OP in der Sprechstunde sehe, eine halbes Jahr, ein Jahr, dass mir teilweise völlig neue Menschen entgegentreten, die aktiv werden, die etwas für ihr Äußeres tun, die zum Frisör gehen und vom ganzen Habitus eine andere Person darstellen. A35 Trotz all der positiven Erfahrungen, die der Leiter des Adipositaszentrums der Berliner Charité macht: es gibt auch Rückschläge. Patienten, die nicht reif sind für eine Operation, die sich auch mit verkleinertem Magen selbst betrügen. Aber es sind wenige. T23 Ordemann 0'50 Man kann den Körper austricksen, wenn sie literweise Cola trinken oder tonnenweise Eis essen, dann werden sie auch nach so einer Operation adipös. Es ist kein allgemeines Rezept. Aber die Erfolgsquote ist trotzdem wesentlich besser als bei einer konservativen Therapie. Sie müssen sich vorstellen, wenn jemand 190, 200 Kilogramm schwer ist und durch gewisse konservative Therapiemechanismen 5 oder 10 kg abnimmt, dann ist das ein Tropfen auf den heißen Stein. A36 In Deutschland wird im Vergleich zu anderen europäischen Ländern wenig operiert. Der Fettleibigkeit haftet hierzulande ein besonderer Makel an, meint der Chirurg. T24 Ordemann 0'30 Wenn wir die OP-Zahlen uns anschauen im Vergleich zum Ausland, stehen wir an letzter Stelle: Österreich, Belgien, Frankreich sowieso, die Schweiz, die USA operieren 10 bis 20 Mal mehr als in Deutschland. Ich glaube, dass Vorurteile gegenüber Adipösen diese Operation verhindern. Krankenkassen nach meinem Ermessen, verzögern eine solche Operation, weil ihnen noch nicht bekannt ist, wie erfolgreich eine solche Therapie ist. A37 Die Krankenkassen übernehmen ihre Einschätzung vom Medizinischen Dienst, der für sie Gutachten erstellt. Für die Adipositas-Chirurgie gibt es seit 3 Jahren einen Leitfaden. Danach dürfen nur diejenigen operiert werden, die umfassend untersucht und beraten wurden. Dr. Stefan Gronemeyer, leitender Arzt des Medizinischen Dienstes des Spitzenverbandes der gesetzlichen Krankenkassen: T 25 Gronemeyer 0'30 Man muss sich trotzdem in jedem Fall klar machen, dass nach einer adipositas- chirurgischen Operation in der Regel eine lebenslange Nachbetreuung mit Kontrolluntersuchungen und gegebenfalls medikamentöser Behandlung, z.B. bei Vitaminmangel, notwendig sind. Und deshalb ist ganz wichtig, dass vor einem Eingriff eine sorgfältige Gesamtabwägung stattfindet, ob die OP wirklich das Beste für den Patienten ist. Und diese Zeit für eine solche Abwägung kann man sich immer nehmen. A 38 Sechs Monate muss jeder Patient mindestens warten, meistens dauert es deutlich länger, bis die Operation bewilligt wird. Die strengen Kriterien geben die Kassen nicht alleine vor, auch der Gesetzgeber verlangt es so. T26 Gronemeyer 0'41 Bei der Kostenübernahme haben die Gerichte den Krankenkassen enge Grenzen gesetzt. Zentral ist dabei die Frage, ob die Operation eine sogenannte Ultima ratio, also die allerletzte Behandlungsmöglichkeit darstellt. Das heißt, die Kassen dürfen die Kosten nur dann übernehmen, wenn vorher alle anderen Behandlungen nichts gebracht haben. Und damit sind jetzt nicht die vielen Diätversuche gemeint, die fast alle Betroffenen hinter sich haben, sondern eine Ernährungstherapie über mindestens 6 Monate, unter ärztlicher Leitung mit Ernährungsumstellung, Bewegungstherapie und psychologischer Begleitung, weil ja ein Teil der Patienten immerhin auf diese nicht operativen Behandlungen anspricht. A 39 Die Kosten für diese aufwändigen, therapeutischen Maßnahmen muss der Patient oft selbst tragen, viele finden auch gar kein passendes Angebot in ihrer Umgebung. Die Kassen werden ihre Haltung zur Adipositaschirurgie ändern, und zwar bald, da ist sich der Chirurg und Adipositasspezialist Dr. Martin Susewind sicher. T 27 Susewind/Studien 0'39 Da können wir durch viele, viele Studien untermauern, dass die operativen Maßnahmen inzwischen den konservativen Maßnahmen weit überlegen sind und Gewichtsreduktion schaffen, die andere Maßnahmen eben nicht schaffen. Hinzu kommt, dass der Bypass zum Beispiel als Methode durch Ausschalten des Zwölffingerdarms und des Pancrea, dass wir eine Heilung der Diabetes Mellitus erreichen können, natürlich neue Dimensionen schafft, die durch konservativen Maßnahmen nicht zu erreichen sind. A40 Will man Folgeerkrankungen vermeiden, muss man bei den adipösen Kindern und Jugendlichen anfangen. Zwar gibt es Präventionsprogramme an Schulen und anderen Einrichtungen, aber sie reichen nach Einschätzung von Experten nicht aus. In Bayern existiert die einzige Klinik, in der adipöse Kinder eine Langzeittherapie machen können. Operiert werden Kinder und Jugendliche in Deutschland nicht. Noch nicht. Das liegt vor allem daran, dass es keine überzeugende Operationsmethode für die jungen Patienten gibt. Den Magen endgültig zu verkleinern scheint zu radikal, ein Magenband einzusetzen ist ineffektiv. Jugendliche Adipöse sind Süßesser. Eiscreme und Pudding lassen sich trotz Magenband problemlos konsumieren. Atmo 9 Aquafitness/Musik A41 Im Schwimmbad eines kleinen Reha-Zentrums in Berlin-Neukölln turnen fünf Frauen und ein Mann unter Wasser. Sie springen in den Schersprung, dann in den Hampelmann, kreisen Hüften und Arme - genauso wie die Trainerin am Beckenrand es vormacht. Atmo 9 hochziehen A 42 Aquafitness heißt der Sport. Er ist gut für alle, die ihre Gelenke schonen müssen, also auch für Übergewichtige. Ramona Moris aus der Selbsthilfegruppe der Berliner Charité ist hier. Sie ist seit zwei Monaten operiert, 18 Kilo hat sie seither abgenommen. Die Umstellung nach der Operation ist krass, sagt sie. Momentan kann sie mittags höchstens ein Süppchen essen, wenn überhaupt. Schwer, bei einem Vollzeitjob. Aber ihr Lebensgefühl hat sich enorm verbessert. T 28 Ramona Alltag Weil ich so viel Spaß habe in den normalen Alltagssachen, z.B. Einkaufen in normalen Läden. Ich kann wieder 3 Etagen laufen, ohne mit Schnappatmung oben zu stehen. Ich kann wieder Fahrradfahren ohne nach fünf Minuten vom Sattel zu fallen. Ich kann mich ins Straßencafé setzen, wo ich will, ich muss nicht mehr aufpassen, ob ich in die Stühle passe, es sind so viele Kleinigkeiten im Alltag, das hatte man wirklich Jahre nicht. A43 Schmal sieht Ramona Moris aus, blass wirkt sie - aber der Eindruck täuscht. Die Frau, die fast ihr ganzes Leben gegen ihre Pfunde angekämpft hat, ist voller Lebensenergie. Jetzt will sie es wissen. T 29 Ramona Party 80 kg schaffe ich auf alle Fälle, wenn es mehr wird, dann ist es toll. Ich arbeite darauf zu und wenn ich es schaffe, dann gibt es garantiert eine Big Party. ENDE 1