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Atmo Bravo-Rufe Autor So sahen sie sich selbst: Umjubelt von der Jugend, eine bessere Zukunft im Blick, auf der Sieger- Seite der Geschichte. Im Oktober 1949, zur Gründung der DDR, gab es innerhalb der Staatsführung wohl keinen, der nicht daran glaubte, dass die SED das bessere Deutschland aufbauen würde. Die Sowjetunion hatte den Zweiten Weltkrieg gewonnen. Auf den Trümmern der Nazi-Diktatur sollte nach ihrem Vorbild eine sozialistische Republik entstehen. Davon träumten die Funktionäre. 3. O-Ton Hermann Weber Eigentlich waren sie ja als historische Materialisten und Freidenker gar nicht gläubig. Aber in Wirklichkeit waren sie sehr gläubig. Sie haben das wie so eine Kirche gesehen. Autor Der Mannheimer Historiker Hermann Weber gehörte für wenige Jahre selbst der SED an. 4. O-Ton Hermann Weber Sie waren überzeugt. Aber vor allem überzeugt, dass sie die Macht behalten mussten. Autor Ihre Macht hatte die DDR-Regierung von der Sowjetunion verliehen bekommen. Vom ersten Tag an mussten Walter Ulbricht und seine Genossen ihre Politik anders legitimieren als über freie Wahlen. Die SED schuf eine Inszenierung, die sich am Stalin-Kult orientierte. Eine Vater-Figur, die das Volk in eine bessere Zukunft führen sollte. Musik: Guido Masanetz - Wilhelm Pieck, Sohn des Volkes Wilhelm Pieck, Du Sohn des Volkes. Vater aller deutschen Menschen. Freund und Lehrer. Treu und fromm. Autor Wilhelm Pieck war der erste und einzige Präsident der DDR und wurde hymnisch besungen. Geboren 1876 als Sohn eines Kutschers in Guben war Pieck innerhalb der SED-Führung der Älteste. Nicht nur deshalb eignete er sich für die Rolle als weiser und volksnaher Präsident am Besten. 5. O-Ton Hermann Weber Pieck galt ja im Gegensatz vor allem zu Ulbricht als ein jovialer Mensch, als ein umgänglicher Mensch. Er stellte sich auch so dar. Pieck hatte ja so den Nimbus - im Gegensatz zu den anderen - dass er eben doch ein treu sorgender Landesvater war. Dass er eben nicht so fürchterlich fanatisch wie andere war. Aber das war natürlich auch zum Teil Schein. Pieck wusste, wie alle Kommunisten, was dem passiert, der abweicht. Autor An kaum einer Person lassen sich die frühen Prägungen der DDR-Elite so gut erzählen wie an Wilhelm Pieck. Wie fast alle späteren SED-Funktionäre wächst er in einer Arbeiterfamilie auf. Als junger Mann lässt er sich zum Tischler ausbilden und tritt 1895 der SPD bei. Pieck besucht die Parteischule und lernt Rosa Luxemburg kennen. Wie sie lehnt er den Ersten Weltkrieg ab. Trotzdem hinterlässt dieser Krieg Spuren in der Weltanschauung von Pieck und anderen Kommunisten. 6. O-Ton Hermann Weber Damit meine ich eben die Vorstellung: Der Feind muss niedergerungen werden. Mit Gewalt. Das war ja selbstverständlich im Krieg. Und das hatten die, die eigentlich gegen den Krieg ursprünglich waren, so verinnerlicht, dass sie meinten, das muss jetzt auch im Nach-Krieg, in Friedenszeiten, so weitergehen. Autor Zwar träumt Pieck von einer friedlichen und gerechten Welt. Doch zugleich glaubt er, der Weg dahin müsse erkämpft werden. Er gehört nach dem Krieg zu den Mitbegründern der KPD und hofft auf eine Revolution. Bewundernd blicken er und seine Genossen nach Russland, wo die neue Zeit schon 1917 begonnen hat. Ausschnitt aus einer Wahlkampfrede Piecks: 7. O-Ton Wilhelm Pieck Gewaltig ist die vereinte Kraft des werktätigen Volkes. Das beweisen die Arbeiter und Bauern, die unter Führung Lenins den Zarismus stürzten und mit der proletarischen Diktatur den Sozialismus aufbauen. Darum reiht Euch alle ein in die rote Klassenfront. Stimmt alle für die Kommunisten. Autor Doch der KPD gelingt es nicht, genügend Arbeiter zu mobilisieren. Die Deutschen laufen den Nationalsozialisten hinterher. 1935 geht Pieck als kommissarischer Parteivorsitzender ins Exil nach Moskau. Dort sieht der glühende Kommunist die brutalen Säuberungen Stalins. Weggefährten verschwinden über Nacht in Arbeitslagern. Pieck überlebt diese Zeit nur mit viel Glück. Trotz dieser Erfahrung verehrt er Stalin weiter. Auch andere deutsche Kommunisten verlieren ihre Stalin- Gläubigkeit nicht. Der Leipziger Historiker Rainer Eckert hat darüber oft nachgedacht. 8. O-Ton Rainer Eckert Ich glaube, es hat etwas zu tun mit einem religiösen Eifertum und einem quasi-religiösen Glauben. Man glaubt an Gott, man glaubt an die Lehre. Auch wenn Gott Verbrechen begeht. Weil diese ja gerechtfertigt sind, um das große Ziel zu erreichen. Und weil vielleicht die eigenen Freunde und Genossen doch Verräter waren. Autor So ähnlich sieht es auch Hermann Weber. Als nach dem Zweiten Weltkrieg die Verbrechen Hitlers offenkundig werden - der Holocaust, das Morden der Wehrmacht - erscheinen vielen Kommunisten die Grausamkeiten Stalins gering. 9. O-Ton Hermann Weber Sie waren überzeugte Stalinisten, weil sie wussten, Stalin ist inzwischen der Gott der Kommunisten geworden und man muss an ihn glauben. Von Ulbricht stammt ja dieser verheerende Satz auf der zweiten Parteikonferenz der SED von 1952, die ja nun die Weichen endgültig gestellt hat. Wo er zum Schluss sagt: Wir werden siegen, weil uns der große Stalin führt. Und minutenlanger Beifall. Und zum Schluss haben dann alle gesungen. Die Internationale: Es rettet uns kein höheres Wesen. Der Widerspruch. Haben die gar nicht bemerkt. Autor Der Glaube an die Notwendigkeit von Disziplin und strengen Autoritäten vereint nahezu alle führenden SED-Mitglieder. Ihre frühe Prägung, nur im Kampf werde der Sozialismus geschmiedet, zeigt sich nun in Begriffen wie Klassenkampf, Waffenbrüderschaft oder Kampfreserve der Partei. Nahezu bedingungslos orientiert sich die SED-Elite Anfang der fünfziger Jahre an der Sowjetunion. Zweifler, Trotzkisten und viele Sozialdemokraten werden in einer ersten Säuberungswelle ausgeschlossen. Es setzen sich vor allem jene Funktionäre durch, die während des Zweiten Weltkriegs in Moskau waren. Wer sich vor Hitler im Westen versteckt hatte, gilt als weniger vertrauenswürdig. 1950 wird das berühmte "Lied der Partei" des deutsch-tschechischen Dichters Louis Fürnberg uraufgeführt. Es klingt heute fast kabarettistisch, war aber trotzig ernst gemeint. Musik: Lied der Partei Sie hat uns alles gegeben. Sonne und Wind und sie geizte nie. Wo sie war, war das Leben. Was wir sind, sind wir durch sie. Die Partei, die Partei, die Partei hat immer Recht. Und Genossen es bleibe dabei. Denn wer kämpft für das Recht, der hat immer Recht gegen Lüge und Ausbeuterei. Autor Unfehlbar und allein berechtigt, das Land zu regieren - so sieht sich die SED-Elite selbst. In ihren Augen ist die DDR ein Arbeiter- und Bauernstaat, der die Interessen der einfachen Menschen vertritt. Reste von Bürgerlichkeit will die SED überwinden. Sie sieht sich berufen, das Volk in eine bessere Zukunft zu führen. Der Begriff "führende Partei" ist dabei so doppeldeutig gemeint, wie er heute klingt. Mächtigster Mann ist von Beginn an SED-Generalsekretär Walter Ulbricht. Auch wenn Wilhelm Pieck formal den obersten Repräsentanten darstellt - der Präsident erfüllt vor allem repräsentative Aufgaben, reist durchs Land, hält Reden und empfängt in seinem Berliner Schloss Arbeiter und junge Pioniere. 10. O-Ton Pionier Lieber Präsident. Im Namen der jungen Naturforscher der Zentralschule Selen auf Rügen überreiche ich Ihnen diese Versteinerungen. Wir haben sie gesammelt auf den Wanderungen, die wir in die Stubnitz gemacht haben. Wilhelm Pieck Sehr schön. Da hat es sich ja gelohnt, dass ich Euch eingeladen habe. (Lachen) Autor Es sind die fünfziger Jahre. Die Aufbauphase der DDR. An der Grenze zu Polen wird ein Eisenhüttenkombinat gebaut: Stalinstadt. In Berlin entsteht die Stalin-Allee. 11. O-Ton Der Aufbau der Stalinallee schreitet voran Reporter: Beginnen wir also vom Strausberger Platz kommend, uns einmal die Stalin-Allee anzusehen. Reporterin: Hier kriegt man eigentlich alles, was man haben will. Zunächst erst mal Blumen, da an der Ecke, wo unsere Freunde von der Gesellschaft arbeiten, ja. Dann eine HO Milchtrinkhalle. Ist ja was für uns beide, nicht? Dann gibt's Konsum-Spirituosen. Dann geht es also weiter: Konsum Fleisch. Und dahinter HO Frischwaren und Marinaden. Autor Die Botschaft der Radio-Sendung: Der Aufbau des Sozialismus schreitet voran. Der erste Fünf- Jahr-Plan zeigt Wirkung. Die Planwirtschaft wird über die Marktwirtschaft triumphieren. 12. O-Ton Dierk Hoffmann Ich denke also, dass das nicht nur leere Worthülsen waren. Sondern dass die Mehrheit der SED- Führung tatsächlich an das geglaubt hat, was auf Parteitagen oder Veranstaltungen herausposaunt wurde. Autor Der Berliner Historiker Dierk Hoffmann: 13. O-Ton Dierk Hoffmann Das hing vor allem auch mit der deutsch-deutschen Systemkonkurrenz auch zusammen. Ich denke, dass beide Teile Deutschlands sich als der bessere Teil Deutschlands verstanden haben. Das galt natürlich für die Bonner Republik unter Konrad Adenauer. Das galt aber auch für Ost-Berlin unter Walter Ulbricht. Auch die SED-Führung ging davon aus, dass sie über die besseren Konzepte verfügte. Autor Nur beim Volk wachsen die Zweifel. Immer weiter erhöht die SED Anfang der fünfziger Jahre die Arbeitsnormen, um wirtschaftlich mit der Bundesrepublik mitzuhalten. Die meiste Kraft bindet der Aufbau der Schwerindustrie. So bleibt die Versorgung mit Konsumgütern hinter dem Westen zurück. Die Preise für Luxusartikel steigen. Obwohl die SED einige ihrer Maßnahmen im sogenannten Neuen Kurs korrigiert, kommt es am 17. Juni 1953 zum Aufstand gegen die Regierung. 14. O-Ton Reportage von RIAS Berlin Schüss am Potsdamer Platz Schüsse am Potsdamer Platz. Wir haben wieder unseren alten Posten bezogen. Auf dem Geländer des S-Bahnhofs Potsdamer Platz. Ausgang zur Westseite. Autor Betriebe streiken, tausende Menschen demonstrieren, Gefängnisse werden gestürmt. Es sind vor allem die Arbeiter, und damit in der Sprache der Regierung Mitglieder der herrschenden Klasse, die sich gegen die SED wenden. Die wachsende Kluft zwischen propagiertem Anspruch der Partei und der Wirklichkeit tritt am 17. Juni 1953 erstmals offen zu Tage. Kamen den Funktionären nicht Zweifel? Reiner Eckert: 15. O-Ton Rainer Eckert Ich glaube nur für einen ganz kurzen Augenblick. Und zwar in dem Augenblick, wo die DDR- Regierung das Zentrum von Ost-Berlin verlässt und sich nach Karlshorst begibt und in den Schutz der sowjetischen Besatzungsmacht. Ich glaube, in diesem Augenblick kamen Zweifel auf. Und wurden dann wieder verdrängt. Da wurden die Reihen wieder geschlossen und man hat gesagt: Wir konnten uns durchsetzen mithilfe der sowjetischen Freunde in dieser prekären Situation des Klassenkampfes, der sich ständig verschärft - Stalinsche Theorie - und wir müssen jetzt weiterkämpfen, dürfen nicht aufgeben. Wir werden es letztlich schaffen. Autor Einige Aufständische des 17. Juni werden standrechtlich erschossen. Hunderte als Konterrevolutionäre verhaftet. Wilhelm Pieck erklärt über Rundfunk die Sicht der SED auf die Ereignisse. 16. O-Ton Wilhelm Pieck Wie einst die Reichstags-Brandstiftung sollte die Brandstiftung am Potsdamer Platz zum Flammenzeichen eines neuen Krieges werden. Durch die Haltung der Mehrheit der Werktätigen, durch den tapferen Einsatz der Volkspolizei und das rechtzeitige besonnene Eingreifen der Sowjettruppen ist der Brandfunke ausgetreten worden, bevor er einen neuen Krieg entzünden konnte. Autor Die SED-Wahrnehmung und die Realität passen nach den Ereignissen von 1953 kaum noch zusammen. Die Parteiführung reagiert mit Abschottung. Als es 1956 auch in Ungarn zum Aufstand kommt, regt Walter Ulbricht den Bau einer Siedlung speziell für Funktionäre an. Bis dahin hatte die SED-Elite im sogenannten Städtchen neben dem Schloss Berlin Hohenschönhausen gelebt - gesichert von sowjetischen Truppen. 1960 ziehen alle nach Wandlitz. 17. O-Ton Reiner Eckert Das Ganze war umgeben von einer grün angemalten Mauer. Ich glaube sogar mit Stacheldraht. Und überall Wachposten des MfS in Uniform. Man war abgeschirmt. Aber verhängnisvoller war, dass die Menschen es so empfunden haben. Dass die Menschen gesagt haben: Wie kann man mit dem Selbstverständnis, ein Arbeiterführer zu sein, sich so abschirmen lassen? Autor Nur wenige Spitzenfunktionäre fühlen sich in der abgeschotteten Welt von Wandlitz unwohl. Verbürgt sind Bedenken nur bei Ministerpräsident Otto Grotewohl. Später sagt auch Politbüro- Mitglied Günther Schabowski, er habe nicht gern in Wandlitz gelebt. 18. O-Ton Reiner Eckert Man kann es im Einzelnen glauben. Mir ist aber nicht bekannt, dass jemand ernsthaft versucht hätte, dort aus diesem Ghetto auszubrechen. Zumal es ja auch intern noch ghettoisiert war, weil die einzelnen Politbüro-Mitglieder nicht miteinander verkehrten, um nicht den Eindruck aufkommen zu lassen der innerparteilichen Fraktionsbildung. Das war ja in einer Kaderpartei, in einer kommunistischen Kaderpartei, mit das Schlimmste, innerhalb der Parteien Fraktionen zu bilden. Autor Die Wirklichkeit entnehmen die Funktionäre überwiegend den Berichten, die ihnen von Parteistrukturen, der Gewerkschaft, der staatlichen Plankommission und der Staatssicherheit erstellt werden. Nur selten mischt sich ein Spitzenpolitiker spontan unters Volk. 19. O-Ton Sondersendung des Deutschen Fernsehfunks Moderator: Zu unserer aller großen Überraschung stand dann plötzlich der Vorsitzende des Staatsrats, Walter Ulbricht, unter uns. Walter Ulbricht: Einige Gegner waren also der Meinung, die Arbeiter und Bauernmacht ist also noch nicht so stark, dass sie imstande ist, dem Gegner einen Schlag zu versetzen. Wir haben das mal ausprobiert. Wie es geht, ja. Bürger: Lachen Autor 14. August 1961 - ein Tag nach Beginn des Baus der Berliner Mauer. Walter Ulbricht spricht am Brandenburger Tor mit Mitgliedern von Betriebskampfgruppen. 20. O-Ton Sondersendung des Deutschen Fernsehfunks Walter Ulbricht: Alle Befehle wurden wurden pünktlich ausgeführt, ja? Alle waren zu der Zeit dort, wo sie hin gehörten, ja? Außerdem zur Unterstützung stehen noch einige Panzer der Sowjetarmee zur Reserve. Damit es beim Gegner keine Missverständnisse gibt. Bürger: Lachen Autor In der Sprache der SED ist die Berliner Mauer ein notwendiges Übel, um sich zu schützen - ein antiimperialistischer Schutzwall. Wer das Land verlassen will, hat sich nach Ansicht der Genossen vom Klassenfeind blenden lassen. Überhaupt: die Klasse und der Klassenfeind. Die Wörter benutzen die Funktionäre häufig in jenen Tagen. Geprägt hatte sie Karl Marx. Nach seiner Theorie verfügt die eine Klasse über Geld und materielle Güter. Die andere besitzt nichts als ihre Arbeitskraft. Beide Klassen stünden sich unversöhnlich gegenüber. Der Historiker Herrmann Weber: 21. O-Ton Hermann Weber Die Ideologen der Partei, die waren natürlich, wenn man so sagen kann, marxistisch gebildet. Die kannten das natürlich alles. Und da gab es Leute wie Hermann Dunker, der in der Gewerkschaftsarbeit inzwischen war, der war ein wandelndes Lexikon von allem, was Lenin, was Marx je gesagt hatten. Aber ein Organisationsmensch wie Walter Ulbricht oder Franz Dahlem, da glaube ich nicht, dass die, nun ja. Da haben die Organisatoren so ein paar Schlagworte gekannt, aber wahrscheinlich haben sie vom Dialektischen Materialismus nur die vier Grundzüge von Stalin gekannt. Das hat ja im Allgemeinen auch genügt, um damit rumzuprotzen. Autor Die SED begründet ihre Politik mit der Wissenschaftlichkeit der Schriften von Karl Marx. Was der Philosoph als Modell entwarf, hat für sie prophetischen Charakter. Den Weg in den Kommunismus stellt sie als historische Zwangsläufigkeit dar. Zwar gibt es keinen offiziellen Chefideologen. Doch innerhalb der Partei kümmert sich von Anfang bis Ende der DDR vor allem Kurt Hager um die theoretischen Grundlagen. Er legt die Werke von Marx und Lenin aus. Nach seiner Vorstellung sind in der DDR die Klassengrenzen aufgehoben. Klassenfeinde leben nur noch im kapitalistischen Ausland. Solche Interpretationen sind üblich. Und was in Marx´ Schriften überhaupt nicht zu den eigenen Vorstellungen passt, ignorieren die Ideologen einfach. 22. Hermann Weber Es hat keiner von denen je darauf verwiesen, dass es einen sehr schönen Artikel von Marx in einer amerikanischen Zeitung aus den 1850er Jahren gibt. Und da spricht er plötzlich von dem dem Menschen innewohnenden Freiheitswillen und der Kraft der Demokratie. Hätten sie mal das sich näher überlegt, hätten sie gemerkt: Sie sind auf dem falschen Pfad mit ihren Vorstellungen. Autor Welche Probleme die Ideologie der SED bereiten kann, zeigt sich nach dem Tod Stalins. Nachfolger Nikita Chruschtschow spricht 1956 in der Sowjetunion über die Verfehlungen Stalins. Sechs Jahre später nennt er seinen Vorgänger sogar einen Verbrecher. In der DDR, wo Stalin besonders eifrig besungen wurde, will SED-Vorsitzender Walter Ulbricht von Entstalinisierung aber nichts wissen. 23. O-Ton Walter Ulbricht Ganz kurz: Gab es keinen Stalinismus, gibt es keine Entstalinisierung. Autor Die Überreste des Stalin-Kults verschwinden nur langsam aus der Öffentlichkeit. Erst 1961 wird das Stalin-Denkmal in der Ost-Berliner Stalin-Allee demontiert, die fortan Karl-Marx-Allee heißt. Ihren eigenen Personenkult pflegt die SED zunächst unbeeindruckt weiter. Noch im November nach dem Mauerbau lässt sich Ulbricht im Fernsehen besingen. Musik: Mit Walter Ulbricht kämpft sich's gut Die Klasse gibt uns Kraft und Mut. Und die Richtung die Partei. Mit Walter Ulbricht kämpft sich's gut. Voran, die Straße frei. Autor Trotzdem setzt auch in der DDR Tauwetter ein. Nach Abriegelung der Grenze wagt die SED ein paar Experimente. Die Partei will innerhalb ihres Landes mehr Freiheiten gewähren. Ulbrichts Ziehsohn Erich Honecker in einer verblüffend selbstkritischen Rede im Staatsrat 1963. 24. O-Ton Erich Honecker Staatsrat 1963 Niemand soll glauben, dass sozialistisches Bewusstsein durch Kommandieren, Bevormunden und herzloses Verhalten zu den Menschen verbreitet werden kann. Notwendig ist vielmehr, den Schematismus, das seelenlose beamtenmäßige Administrieren, den Dogmatismus, das Hinwegreden über die Köpfe der Menschen aus unserer Parteiarbeit zu verbannen. Autor Vor allem in der Wirtschaft gewährt die SED Anfang der sechziger Jahre mehr Spielräume. Für die behutsame Liberalisierung steht vor allem Erich Apel - ein junger Wirtschaftswissenschaftler aus Thüringen. Er bringt ganz andere Prägungen in die SED-Führung ein als die meisten Kader. Apel hatte im Zweiten Weltkrieg in der Raketenforschung gearbeitet. Wegen seiner Kenntnisse wurde er 1946 in die Sowjetunion zwangsverpflichtet. Nach seiner Rückkehr tritt der Ingenieur der SED bei und steigt dort mit Ulbrichts Unterstützung schnell auf. Bereits 1963 leitet Apel die Staatliche Plankommission - die wichtigste Schaltzentrale der DDR-Wirtschaft. 25. O-Ton Claus Krömke Er war ja schon von der Erscheinung her so eindrucksvoll. Und von seiner Art zu reagieren genauso. Autor Claus Krömke, damals Journalist beim SED-Blatt "Einheit" hat Apel sehr geschätzt. 26. O-Ton Claus Krömke Er war ruhig. Er hat sachlich argumentiert. Man hatte immer das Gefühl gehabt: Man kann zu ihm hingehen und sagen: So und so. Er war auch kameradschaftlich und hatte Achtung vor der Wissenschaft, das hat mir schon gefallen. Autor Vor allem unter jungen SED-Mitgliedern hat Apel Anhänger. Er entwickelt im Auftrag Ulbrichts eine kleine Wirtschaftsreform: das Neue Ökonomische System. Es soll den Unternehmen in der DDR mehr Freiheiten geben. Einen Teil des Gewinns sollen sie behalten dürfen und selbst entscheiden, wo sie ihn investieren wollen. Im Staatsrat wirbt Apel 1963 für mehr Mitspracherechte der Betriebe beim Gesamtplan. 27. O-Ton Erich Apel im Staatsrat 1963 Um einen richtigen Plan ausarbeiten zu können, genügt es nicht, dass man gut rechnen kann, dass man immer die großen Proportionen vor Augen hat. Sondern dazu ist es unabdingbar erforderlich, selbst die Probleme in der Entwicklung unserer Wirtschaft anzusehen. Mit den verantwortlichen Genossen in den Vereinigungen Volkseigener Betriebe, Wirtschaftsräten in den Betrieben zu sprechen. Und auch die Meinungen unserer Arbeiter und Wissenschaftler zu hören. Autor Tatsächlich führen die zaghaften Reformen zu einem Wirtschaftsaufschwung. Doch die Freude währt nur kurz. Denn die neuen Freiheiten in den Betrieben führen zu Forderungen nach mehr Freiheiten auch in der Kultur und in der Politik. Schon 1964 beginnt im Politbüro ein Machtkampf zwischen den Reformern und den Traditionalisten. Am Ende zieht die SED die Zügel wieder straffer und der Wirtschaftsaufschwung lässt nach. Als die DDR von der Sowjetunion auch noch einen ungünstigen Handelsvertrag aufgenötigt bekommt, erschießt sich Erich Apel in seinem Büro. Junge SED-Mitglieder wie Claus Krömke sind geschockt: 28. O-Ton Claus Krömke Ich bin selten in meinem Leben in Zusammenhang mit dem Tod von Führungspersonen so erschüttert gewesen wie in diesem Fall. Also ich kann mich noch sehr gut erinnern an die Trauerfeier, die damals im großen Saal des ZK-Gebäudes stattfand. Mir sind genauso die Tränen gekommen wie vielen anderen. Und irgendwie hatte man so ein unbestimmtes Gefühl, allein gelassen zu sein. Musik Johann Sebastian Bach Aufnahme des DDR-Rundfunks während des Staatsaktes Autor Mit großem Pomp inszeniert die SED Apels Beisetzung. Kein Wort fällt über seine Differenzen mit den alten Kadern. Unter den Klängen von Johann Sebastian Bach werden auch Apels Ideen zu Grabe getragen. Die Hoffnung auf Reformen schwindet. Stück für Stück wird das Neue Ökonomische System zurückgenommen. Diesen Prozess treibt auch Erich Honecker voran, der sich von einem anfänglichen Befürworter rasch zu einem Gegner der Reformen gewandelt hatte. 29. O-Ton Erich Honecker Macht Die Arbeiterklasse hat den historischen Auftrag, die kommunistische, die sozialistische Gesellschaft zu errichten. Und dazu muss sie ihre Macht fest in der Hand haben. Die Macht, das ist das Allererste. Autor 1971 stürzt Honecker seinen Ziehvater Walter Ulbricht und wird selbst Generalsekretär der SED - und damit mächtigster Mann der DDR. Seinen Amtsantritt garniert er mit sozialen Wohltaten, die er unter dem Schlagwort "Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik" verkauft. Für den Historiker Dierk Hofmann verrät ausgerechnet dieser Begriff, wie weit sich die SED-Führung von ihren großen Zielen entfernt hatte. 30. O-Ton Dierk Hofmann Sozialpolitik war im Kommunismus nicht vorgesehen. Sozialpolitik war sozusagen ein Anhängsel der kapitalistischen Wirtschaftsordnung. Sozialpolitik wurde als Lazarett-Station des Kapitalismus bezeichnet. Im Grunde genommen kann man das auch als Bankrotterklärung bezeichnen, dass sozusagen Honecker dann Sozialpolitik als Vision verkaufen wollte. Insofern kann man auch sagen, dass ab Anfang der siebziger Jahre ein zunehmender Utopie-Verlust auch innerhalb der SED- Führung eintrat. Und das zeigte sich auch in der Ideologie, die nach wie vor beschworen wurde, aber wie ein potemkinsches Dorf immer mehr wirkte. Wo nur noch Fassade war, aber nichts mehr dahinter. Autor Doch Honecker hält die Fassade für Realität. Auch er ist als junger Mann von der Weimarer Republik geprägt worden, von Inflation und Wirtschaftskrise. In seinem Arbeiter- und Bauernstaat darf ein Brötchen nur 10 Pfennig kosten. Eine kleine Mietwohnung möglichst nur einen zweistelligen Betrag. Dabei könnten sich fast alle DDR-Bürger höhere Preise leisten. Mahnende Worte, dass die Subventionen sein Land ruinieren, ignoriert der Generalsekretär. Er sieht sich und seine SED als Avantgarde, die im Zweifel auch gegen die Mehrheit Entscheidungen durchsetzen müsse. 31. O-Ton Erich Honecker Macht Karl Marx hat den Grundsatz formuliert, dass in der Periode des Übergangs von der kapitalistischen zur kommunistischen Gesellschaft der Staat nichts anderes sein kann als die Diktatur des Proletariats (Applaus). Ohne sie ist in der bisherigen Geschichte nirgends eine sozialistische Gesellschaft errichtet worden. Autor Unter dem Druck der Diktatur verlassen Ende der achtziger Jahre immer mehr Menschen die DDR. In völliger Verkennung der Realität lässt Honecker über die Parteizeitung Neues Deutschland ausrichten, er weine ihnen keine Träne nach. Ähnlich ist der Tenor eines Liedes, das die SED-treue Band Oktoberklub komponiert. Titel: Wenn Leute unser Land verlassen. Musik: Oktoberklub Berlin - Wenn Leute unser Land verlassen Was sollen wir mit solchen Leuten? Ist gut, dass man sie ziehen lässt. Dem kann kein Land etwas bedeuten, der seine Heimat so verlässt. Das gab es. Das wird es lang noch geben. Das ändert nicht der Welten Lauf. Das Land kann ohne sie auch leben. Wir nehmen ihre Arbeit auf. 32. Reiner Eckert Sehr interessant ist, die Protokolle des Politbüros zu lesen aus dem Sommer / Frühherbst 1989. Autor Rainer Eckert. Forts. Reiner Eckert Es gibt keinerlei Bezug auf eine eventuelle Krisensituation. Es wird so verhandelt, als wenn alles normal wäre. Es geht um Auslandsreisen von führenden Funktionären, es geht um die Versorgung mit Zahnbürsten. Es geht darum, wer welchen Orden bekommt. Man hat die Gefahr nicht gesehen und war handlungsunfähig, weil der Generalsekretär krank war und weil jedes Handeln von ihm hätte interpretiert werden können als versuchte Palastrevolte. Autor Wie in Schockstarre nehmen die SED-Funktionäre im Herbst 1989 die anschwellenden Proteste im ganzen Land wahr. Als in Leipzig bereits tausende montags auf die Straße gehen, wagt es immer noch kein Spitzenfunktionär, den SED-Kurs infrage zu stellen. Diejenigen, die mit Honecker unzufrieden sind, schweigen lieber. Hermann Weber: 33. Hermann Weber Das Merkwürdige ist ja, das gilt ja für alle Kommunisten, wahrscheinlich auch für die führenden, dass sie bereit waren, auch unter Einsatz ihres Lebens sich für die Sache einzusetzen. Aber innerhalb der Bewegung waren sie treue Untertanen. Irgendwo so ein merkwürdiger Widerspruch. Autor So gewinnt die Opposition immer mehr Zulauf. Als Honecker am 18. Oktober 1989 endlich durch Egon Krenz abgelöst wird, gesteht die SED erstmals Fehler ein. Ausgerechnet Chefideologe Kurt Hager, der Reformen noch im Sommer vehement abgelehnt hatte, gibt im November zu, die Realität in der DDR verkannt zu haben. 34. O-Ton Kurt Hager Ich muss auch sagen, dass ich ganz offensichtlich immer weiter mich entfernt habe - obwohl man mir ganz klar gesagt hat, wie die Dinge stehen - vom tatsächlichen, realen täglichen Leben. Autor Doch diese Einsicht kommt zu spät. - 1 -