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ZITATOR 1 ?Nirgends, Geliebte, wird Welt sein, als innen. Unser Leben geht hin mit Verwandlung.? SPRECHERIN Winter. Kalt wird es gewesen sein. Vielleicht lag Schnee und vergrub unter einer Decke von Kristallen die geliebten Rosen im Garten. Die dennoch blühten in jener Jahreszeit, wenn er sie sah. Und darüber standen die Sterne. ATMO Muzot-Hall. ZITATOR 1 ?Und immer geringer schwindet das Außen.? MUSIK SPRECHER Muzot im Schweizer Wallis, eine halbe Wegstunde oberhalb von Sierre gelegen, etwas abseits der großen Straße nach Montana. Der kleine massige Schlossturm, dessen Mauerwerk bis ins 13. Jahrhundert zurückreicht, steht auf der Sonnenseite des Rhônetales. ZITATOR 1 ?Wo einmal ein dauerndes Haus war, schlägt sich erdachtes Gebild vor, quer, zu Erdenklichem völlig gehörig, als ständ es noch ganz im Gehirne.? SPRECHER Rilke Arbeitszimmer in der ersten Etage des Turms besitzt ein Doppelfenster und auf der Westseite noch einen weiteren Ausblick. SPRECHERIN Er wird hinausgeschaut haben in jenen Tagen, zwischendurch. Ob die Vorhänge offen waren oder zugezogen. Denn er sah immer zugleich hinaus und hinein. Ob er umherging unter der schweren Balkendecke, in die in römischen Ziffern die Jahreszahl 1617 eingraviert war, zwischen den alten Möbeln ? den Truhen, Sesseln und dem Eichentisch von 1600 ?, oder ob er schrieb. An den beiden Stehpulten, die ihm der Dorfschreiner gezimmert hatte. Bei Kerzenschein oft hielt er die Worte fest, tief in der Nacht. Wenn sie herbeiströmten, in jenem Monat des Jahres 1922. Anderes Licht gab es nicht. SPRECHER Der abgeschiedene mittelalterliche Schlossturm in Muzot ist die letzte Wahlheimat des Dichters Rainer Maria Rilke. Hier verbringt er ? von einigen Reisen und Sanatoriumsaufenthalten abgesehen ? seine letzten fünf Lebensjahre. Lange und dringlich hatte er nach einer solchen endgültigen Heimstatt gesucht, einer Schutzburg für ihn und seine Arbeit. ZITATOR 2 ?(?) so trägt der Geist eines großen Stromes (und der Rhône ist mir immer einer der wunderbarsten gewesen!) die Begabungen und Verwandtschaften durch die Länder.? SPRECHER Nachdem er bei aller Heimatlosigkeit nach der Auflösung des alten Österreich-Ungarn im September 1919 auch noch seine Staatsangehörigkeit verloren hatte. ZITATOR 2 ?Sein Tal ist hier so breit und so großartig mit kleinen Anhöhen ausgefüllt im Rahmen der großen Randgebirge, daß dem Blick ein Spiel der reizvollsten Veränderungen, gewissermaßen ein Schachspiel mit Hügeln, fortwährend bereitet ist. Als würden noch Hügel verschoben und verteilt ? so schöpfungshaft wirkt der Rhythmus der mit dem Standpunkt jedesmal erstaunlich neuen Anordnung des Angeschauten. MUSIK SPRECHER Am 30. Juni 1921, während einer Reise durchs Wallis, entdeckt Rilke das Gemäuer zusammen mit seiner letzten Geliebten, der Malerin Baladine Klossowska. SPRECHERIN Wer von den beiden wird die Fotografie mit dem turmartigen Schlösschen von Muzot in dem Schaufenster des kleinen Frisiersalons von Sierre erblickt haben? Der Dichter oder Baladine, die er Merline nannte und mit der er sich auf Französisch Briefe schrieb? Sie soll es gewesen sein, die später die Instandsetzung der Räume überwachte, die Einrichtung bestimmte und das Fräulein Frieda Baumgartner als Haushälterin engagierte, ein junges Mädchen aus dem Kanton Solothurn. ? Und bevor Merline nach Berlin abreiste, da habe sie die Reproduktion einer Federzeichnung des venezianischen Malers Giovanni Battista Cima da Conegliano an die frisch gestrichene Wand gegenüber seinem Schreibtisch geheftet: Orpheus lehnt an einem Baum und begleitet seinen Gesang auf einer Geige. Ein Vogel, zwei Rehe und zwei Hasen lauschen ihm. MUSIK Vorher unterlegen. SPRECHER Rilkes Gönner Werner Reinhart, ein Geschäftsmann und Kunstliebhaber aus Winterthur, mietet das Anwesen von der wunderlichen Besitzerin des Frisiersalons. Reinhart finanziert auch die Reparaturen. Später erwirbt er das Château und stellt es dem Dichter auf Lebenszeit zu Verfügung. Ende Juli 1921 zieht Rilke ein. Am 8. November verlässt Merline Muzot. Der Dichter ist allein. ATMO Muzot-Hall, Schritte. ZITATOR 2 ?(?) denn der unbeschreiblichste (fast regenlose) Himmel nimmt von oben her an diesen Perspektiven teil und beseelt sie mit einer so geistigen Luft, daß das besondere Zueinanderstehen der Dinge, ganz wie in Spanien, zu gewissen Stunden jene Spannung aufzuweisen scheint, die wir zwischen den Sternen eines Sternbildes wahrzunehmen meinen.? ATMO Muzot-Hall, Schritte. FRIEDA Er war nicht allein. Ich war da, in der Küche und im Garten, habe ihn versorgt, das Essen gebracht. Und ich habe ihn gehört, seine Schritte über mir, in seinem Arbeitszimmer, und wenn er sprach mit sich, Rufe ausstieß, dass die Welt es hören musste. Als sei er die Welt. ?Geistlein? hat er mich genannt. SPRECHERIN Er hat Briefe geschrieben in seinem Turm, vorher, viele Briefe, mehr als 400 Seiten, an die Menschen, die ihm nah waren oder nah wurden, wenn er ihnen schrieb. Und er hatte seine Erinnerungen, die Erinnerungen eines ganzen Lebens. Sie sammelten sich hinter den dicken, zugleich zur Unendlichkeit offenen Wänden aus Stein ? Weltinnenraum ?, bis sie hervorbrachen und Dichtung wurden. MUSIK ZITATOR 1 (ÜBER MUSIK) ?Man sollte warten damit?. SPRECHER Rilke hat die Elegien im Kopf, die er 1912 auf Schloss Duino begonnen hatte. Es ist ein tätiges Warten, ein Erwarten dessen, was da aus dem Inneren aufsteigen und aus dem Außen, dem Weltraum kommen möge. Dann, am 31. Januar, wird die ?Brief-Feder? beiseite gelegt. ATMO Muzot-Hall. ZITATOR 2 ?Ich habe eine Art Brief-Fasten augenblicklich, so muß ich mir verbieten, viel mehr zu schreiben; meine Feder wollte jetzt Kräfte sparen für die Arbeit. MUSIK ZITATOR 1 ?Man sollte warten damit und Sinn und Süßigkeit sammeln ein ganzes Leben lang und ein langes womöglich, und dann, ganz zum Schluss, vielleicht könnte man dann zehn Zeilen schreiben, die gut sind. Denn Verse sind nicht, wie die Leute meinen, Gefühle (die hat man früh genug), ? es sind Erfahrungen.? SPRECHER (SACHLICH) 2. bis 5. Februar 1922: Rilke dichtet fast den vollständigen ersten Teil der ?Sonette an Orpheus? ? 25 Sonette, die er später nur noch um eins ergänzt. ATMO Muzot-Hall. ZITATOR 1 ?Da stieg ein Baum. O reine Übersteigung! O Orpheus singt! O hoher Baum im Ohr! Und alles schwieg. Doch selbst in der Verschweigung ging neuer Anfang, Wink und Wandlung vor.? SPRECHERIN Es ist ein ?Vorsturm? nur, ein Anfang. SPRECHER 7. Februar: Die siebente ?Duineser Elegie? entsteht. 7. und 8. Februar: Die achte folgt. 9. Februar: Die sechste und neunte Elegie, 1912 in Schloss Duino begonnen, werden vollendet. 11. Februar: Die zehnte wird fortgesetzt und abgeschlossen. 14. Februar: Rilke ersetzt das bisher an der Stelle der fünften ?Duineser Elegie? stehende Gedicht ?Gegen-Strophen? durch die Elegie von den Fahrenden. 15. bis 23. Februar: 29 Gedichte entstehen, der zweite Teil der ?Sonette an Orpheus?. ATMO Muzot-Hall. ZITATOR 1 (ÜBER ATMO LEGEN) ?Und wenn dich das Irdische vergaß, zu der stillen Erde sag: Ich rinne. Zu dem raschen Wasser sprich: Ich bin.? MUSIK ZITATOR 1 ?Um eines Verses willen muss man viele Städte sehen, Menschen und Dinge, man muss die Tiere kennen, man muss fühlen, wie die Vögel fliegen, und die Gebärde wissen, mit welcher die kleinen Blumen sich auftun am Morgen. (...) Man muß Erinnerungen haben an viele Liebesnächte, von denen keine der anderen glich, an Schreie von Kreißenden und an leichte, weiße, schlafende Wöchnerinnen, die sich schließen. Aber auch bei Sterbenden muß man gesessen haben in der Stube mit dem offenen Fenster und den stoßweisen Geräuschen. Und es genügt auch noch nicht, dass man Erinnerungen hat. Man muß sie vergessen können, wenn es viele sind, und man muß die große Geduld haben, zu warten, dass sie wiederkommen. Denn die Erinnerungen selbst sind es noch nicht. Erst wenn sie Blut werden in uns, Blick und Gebärde, namenlos und nicht mehr zu unterscheiden von uns selbst, erst dann kann es geschehen, dass in einer sehr seltenen Stunde das erste Wort eines Verses aufsteht in ihrer Mitte und aus ihnen ausgeht.? ATMO (EINEN MOMENT FREI STEHEN LASSEN, DANN UNTER DAS FOLGENDE LEGEN) Straßengeräusche Paris Anfang des 20. Jahrhunderts SPRECHERIN In Paris, der fremden, großen Stadt, erkennt Rilkes Romanfigur Malte Laurids Brigge, dass er niemals richtige Verse geschrieben hat. ATMO (LAUTER) Wie oben. ZITATOR 1 (LAUT ÜBER STRAßENLÄRM) ?So, also hierher kommen die Leute, um zu leben, ich würde eher meinen, es stürbe sich hier.? SPRECHER Der junge Schriftsteller Rainer Maria Rilke, der lange hofft, von einer alten Adelsfamilie abzustammen, kommt im August 1902 nach Paris, und nichts wird mehr so sein wie zuvor. SPRECHERIN Malte Laurids Brigge kann nicht mehr dichten in Paris, nur noch aufzeichnen. MUSIK SPRECHER (MUSIK UNTERLEGEN) Rilke lässt den Dichter Malte Laurids Brigge in eine Schreib- und Lebenskrise stürzen, in die er selbst durch die Erfahrung der Großstadt geraten ist. Was er bis dahin verfasst hat, erscheint ihm nun nichtig. SPRECHERIN Malte kann nicht mehr über die Worte verfügen. Denn wirkliche Verse steigen auf in einem, in seltenen Momenten, unwillkürlich. So wie es Rilke später widerfahren wird, 1922 in Muzot, und zuvor schon einmal, 1912, in jenem dichterischen Rausch auf Schloss Duino. SPRECHER Wo die 1. und die 2. ?Duineser Elegie? entstehen, die Anfänge der 3.,6. und 9., Bruchstücke noch für weitere Elegien und der gewaltige Anfang der 10. ATMO Muzot-Hall. ZITATOR 1 (ÜBER ATMO LEGEN) ?Dass ich dereinst, an dem Ausgang der grimmigen Einsicht, Jubel und Ruhm aufsinge zustimmenden Engeln.? ATMO Krachen oder zerspringendes Glas SPRECHERIN Ohne Paris hätte all das nicht sein können. MUSIK ZITATOR 1 (LEISE UND WIE NACH INNEN ÜBER MUSIK SPRECHEN) ?Sein Blick ist vom Vorübergehen der Stäbe so müd geworden, daß er nichts mehr hält. Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe und hinter tausend Stäben keine Welt.? SPRECHER Paris ist für Rilke Heimsuchung. Gekommen ist er wegen Auguste Rodin, dem verehrten Bildhauer. Er arbeitet als Rodins Sekretär und verfasst später über eine Monografie über ihn. Über zwölf Jahre lang und trotz zahlreicher Reisen ist die Stadt das geografische Zentrum seines Lebens, ein Wohn- und Schicksalsort. Paris wird Heimat für den Dichter. ATMO Pariser Straßenlärm. ZITATOR 2 (ÜBER ATMO LEGEN, ABWECHSELND VON LINKS UND RECHTS) ?Diese Stadt ist sehr groß und bis an den Rand voll Traurigkeit.? ?Paris ist schwer. Eine Galeere. (...)? ?Ich will vorläufig in Paris bleiben, eben weil es schwer ist.? SPRECHERIN In einer schäbigen Wohnung, ?fünf Treppen hoch? über und mitten in der lauten, tosenden Großstadt sitzt Malte Laurids Brigge und schreibt gegen den zunehmenden Selbstverlust seine Aufzeichnungen nieder. Er hat keinen Überblick mehr, was geschieht, was mit ihm geschieht. Alles Bekannte gilt nicht mehr. Die Wände sind durchlässig, Außen und Innen nicht mehr voneinander geschieden. ATMO Muzot-Hall. Echo. ZITATOR 1 (ÜBER ATMO LEGEN) ?Und immer geringer schwindet das Außen. Wo einmal ein dauerndes Haus war (?).? ATMO Zuerst nur Muzot-Hall, dann Straßenlärm drüberlegen, Stimmendurcheinander, zuschlagende Tür, klirrende Scheibe, Schritte, Treppensteigen. Außen- und Innengeräusche ununterscheidbar. Alles unwirklich verzerrt, traumartig. ZITATOR 1 (ÜBER ATMO SPRECHEN) ?Daß ich es nicht lassen kann, bei offenem Fenster zu schlafen. Elektrische Bahnen rasen läutend durch meine Stube. Automobile gehen über mich hin. Eine Tür fällt zu. Irgendwo klirrt eine Scheibe herunter, ich höre ihre großen Scherben lachen, die kleinen Splitter kichern. Dann plötzlich dumpfer, eingeschlossener Lärm von der anderen Seite, innen im Hause. Jemand steigt die Treppe. Kommt, kommt unaufhörlich.? ATMO Nur noch Schritte beim Treppensteigen, ohne Hall, dumpf. Klopfen an der Tür. Stille. Muzot-Hall. FRIEDA Herr Rilke, ich bringe das Essen. ATMO Klopfen, Muzot-Hall. FRIEDA Herr Rilke? ATMO ?Rilke? verhallt im Muzot-Hintergrund. Noch mal Klopfen. Echo. ZITATOR 2 (ÜBER ATMO LEGEN) ?? an Essen war nie zu denken, Gott weiß, wer mich genährt hat.? ZITATOR 1 (NACH PAUSE, IN DIE STILLE SPRECHEN, OHNE HALL UND RAUM DRUMHERUM) ?Einsam steigt er dahin, in die Berge des Ur-Leids. Und nicht einmal sein Schritt klingt aus dem tonlosen Los.? ATMO Stille, dann berstendes Glas. ZITATOR 1 ?Wo einmal ein dauerndes Haus war (?).? MUSIK Einzelner sehr heller Ton. SPRECHERIN Angst. ATMO Klapper. ZITATOR 1 (FLÜSTERND ÜBER KLAPPER) ?Du bist der Arme, du der Mittellose, du bist der Stein, der keine Stätte hat, du bist der fortgeworfene Leprose, der mit der Klapper umgeht vor der Stadt.? ATMO Klapper hochziehen. SPRECHER Angst ist die zentrale Erfahrung Rilkes in Paris. Angst hat Malte Laurids Brigge in des Dichters einzigem, 1910 vollendetem Roman. SPRECHERIN Der eigentlich kein Roman ist. Denn wie soll unter diesen Umständen ein Roman entstehen? SPRECHER ?Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge?. ZITATOR 1 ?Ich bin ausgewesen. Ich habe gesehen: Hospitäler. Ich habe einen Menschen gesehen, welcher schwankte und umsank. Die Leute versammelten sich um ihn, das ersparte mir den Rest.? ATMO (ERST LEISE UNTER VORIGES ZITAT LEGEN, DANN EINEN MOMENT LAUT FREI STEHEN LASSEN) Pariser Straßenverkehr, Stimmengewirr. ZITATOR 1 ?Die Gasse begann von allen Seiten zu riechen. Es roch, soviel sich unterscheiden ließ, nach Jodoform, nach dem Fett von pommes frites, nach Angst.? SPRECHERIN In Paris, der großen, fremden Stadt, die seine Wahrnehmungs- und Orientierungmöglichkeiten sprengt, wird Malte Laurids Brigge gegen seinen Willen angezogen vom Schrecklichen. ZITATOR 1 ?Die Existenz des Entsetzlichen in jedem Bestandteil der Luft.? SPRECHERIN Er sieht nichts als Krankheit, Verfall und Tod. Alles löst Angst in ihm aus. Doch seinen Blick kann er nicht abwenden, nicht von dem Veitstänzer, der langsam die Kontrolle über sich verliert, nicht von den ?Fortgeworfenen?, jenen aus der Ordnung der Alltagswelt gefallenen Asozialen, auf die Malte an jeder Ecke trifft und die ihm Zeichen zu geben scheinen, dass er einer von ihnen sei. ATMO (AB OBEN ?UND NICHT VON DEN ?FORTGEWORFENEN? ?? UNTERLEGEN,DANN MOMENT FREISTEHEN LASSEN) Erst einzelne flüsternde Stimme von einer Seite, der eine andere flüsternde Stimme von der anderen Seite antwortet, dann mehrere Stimmen von der einen und anderen Seite, bis Stimmengewirr, Gewisper entsteht. ZITATOR 1 (ÜBER ATMO LEGEN) ?Schalen von Menschen, die das Schicksal ausgespieen hat. Feucht vom Speichel des Schicksals kleben sie an einer Mauer, an einer Laterne, an einer Plakatsäule, oder sie rinnen langsam die Gasse herunter mit einer dunklen, schmutzigen Spur hinter sich her.? SPRECHER Angstgeweitet sind Maltes Augen angesichts dieser Wirklichkeit, die alles Bisherige zunichte macht. Ein neues Sehen drängt sich dem Schriftsteller auf, ein Sehen des Schrecklichen, beängstigenden Äußeren, das mit einem fremden, bislang ausgegrenzten Inneren korrespondiert. ATMO Gewisper noch mal hochziehen und unter Zitator legen. ZITATOR 1 ?Ich lerne sehen. Ich weiß nicht, woran es liegt, es geht alles tiefer in mich ein und bleibt nicht an der Stelle stehen, wo es sonst immer zu Ende war. Ich habe ein Inneres, von dem ich nicht wusste. Alles geht jetzt dorthin. Ich weiß nicht, was dort geschieht.? SPRECHERIN Malte ahnt, dass jenseits der Angst eine ?Zeit der anderen Auslegung? bevorsteht, in der es Auswahl und Ablehnung nicht mehr gibt, in der alles, auch und gerade das bisher Ausgrenzte außen und innen, zu Eigenem, zu Dichtung wird. Und dass der Weg dorthin über das Schreckliche führen muss. ATMO Zerberstendes Glas, dann Muzot-Hall. ZITATOR 1 (ÜBER HALL LEGEN) ?Denn das Schöne ist nichts als des Schrecklichen Anfang (?).? SPRECHERIN Und sollte Rilke das einmal vergessen haben, während er in Muzot bang auf die Wiederkunft der Sprache wartete, die ihn in Duino die Elegien hatte beginnen lassen ? vielleicht erinnerte dann Orpheus ihn daran, der Sänger, der mit seinem Gesang die Welt verwandelt und die Grenze zum Totenreich überschritten hatte, Orpheus, der in des Dichters Turmzimmer an der Wand hing. ATMO Muzot-Hall, Treppensteigen, Klopfen an Tür. FRIEDA Haben Sie denn genug Licht, Herr Rilke? ATMO ?Rilke? als Hall und Echo. ZITATOR 2 (ÜBER HALL UND ECHO LEGEN) ?Die Elegien sind durchaus von der Gnade abhängig.? MUSIK ZITATOR 1 ?Wird man es glauben, dass es solche Häuser giebt? Nein, man wird sagen, ich fälsche. Diesmal ist es Wahrheit, nichts weggelassen, natürlich auch nichts hinzugetan.? ATMO Einstürzendes Gebäude. ZITATOR 1(ÜBER ATMO LEGEN) ?Woher sollte ich es nehmen?? SPRECHERIN Für Rilke und seinen Malte Laurids Brigge gibt es im fremden, abstoßenden Paris keine Gewissheiten mehr ? kein Haus, keinen Innenraum, in den es sich vor der bedrohlichen Außenwelt flüchten ließe, kein Inneres, das gegen sie aufgeboten werden könnte. Im Gegenteil, eine unbekannte, Angst machende Innenwelt paktiert mit den schrecklichen Großstadtphänomenen. Um die Angst zu bekämpfen, macht es sich Malte zur Aufgabe, das, was er sieht, wahrheitsgetreu darzustellen: ZITATOR 1 ?(?) nichts weggelassen, natürlich auch nichts hinzugetan?. SPRECHER Dem neuen Sehen folgt ein neues Sagen. ATMO UNTER DAS FOLGENDE ZITAT LEGEN Summen, Surren. ZITATOR 1 ?Häuser? Aber, um genau zu sein, es waren Häuser, die nicht mehr da waren. Häuser, die man abgebrochen hatte von oben bis unten. Was da war, das waren die anderen Häuser, die danebengestanden hatten, hohe Nachbarhäuser. Offenbar waren sie in Gefahr, umzufallen, seit man nebenan alles weggenommen hatte; denn ein ganzes Gerüst von langen, geteerten Mastbäumen war schräg zwischen den Grund des Schuttplatzes und die bloßgelegte Mauer gerammt. Ich weiß nicht, ob ich schon gesagt habe, daß ich diese Mauer meine. Aber es war sozusagen nicht die erste Mauer der vorhandenen Häuser (was man doch hätte annehmen müssen), sondern die letzte der früheren. Man sah ihre Innenseite. Man sah in den verschiedenen Stockwerken Zimmerwände, an denen noch die Tapeten klebten, da und dort den Ansatz des Fußbodens oder der Decke. Neben den Zimmerwänden blieb die ganze Mauer entlang noch ein schmutzigweißer Raum, und durch diesen kroch in unsäglich widerlichen, wurmweichen, gleichsam verdauenden Bewegungen die offene, rostfleckige Rinne der Abortröhre.? SPRECHER ?Sachliches Sagen? nennt Rainer Maria Rilke dieses im ?Malte? umgesetzte ästhetische Konzept. Es entwickelt sich unter dem Einfluss der Angst-Erfahrung in Paris wie aus der Auseinandersetzung des Dichters mit Rodin und später mit Cézanne. MUSIK SPRECHER Der Dichter will aus Worten etwas schaffen, das wie die Skulpturen Rodins und die Bilder Cézannes menschliche Sehnsüchte und Ängste vergegenständlicht. Die ganze innere Welt des Künstlers soll sich in einem Ding, einem Objekt der Außenwelt verdichten und so eine Wirklichkeit schaffen, in der Innen und Außen, Ich und Gegenstand übereinstimmen. ATMO (UNTER DAS FOLGENDE ZITAT LEGEN) Summen, Surren. ZITATOR 1 ?Am unvergeßlichsten aber waren die Wände selbst. Das zähe Leben dieser Zimmer hatte sich nicht zertreten lassen. Es war noch da, es hielt sich an den Nägeln, die geblieben waren, es stand auf dem handbreiten Rest der Fußböden, es war unter den Ansätzen der Ecken, wo es noch ein klein wenig Innenraum gab, zusammengekrochen.? SPRECHERIN Vergegenständlichung des Gefühls. Das Kunst-Ding ist eine Wirklichkeit, dem der Rang eines Naturereignisses zukommt. ATMO (UNTER DAS FOLGENDE ZITAT LEGEN) Summen, Surren. ZITATOR 1 ?Und aus diesen blau, grün und gelb gewesenen Wänden, die eingerahmt waren von den Bruchbahnen der zerstörten Zwischenmauern, stand die Luft dieser Leben heraus, die zähe, träge, stockige Luft, die kein Wind noch zerstreut hatte. (...) Da stand das Scharfe vom Urin und das Brennen vom Ruß und grauer Kartoffeldunst und der schwere, glatte Gestank von alterndem Schmalze. Der süße, lange Geruch von vernachlässigten Säuglingen war da und der Angstgeruch der Kinder, die in die Schule gehen, und das Schwüle aus den Betten mannbarer Knaben. Und vieles hatte sich dazugesellt, was von unten gekommen war, aus dem Abgrund der Gasse (?).? SPRECHERIN ?Dinge machen aus Angst? ? das ist Rilkes poetisches Programm in der Pariser Zeit. Die Mauer, die Malte sieht, an der Spuren einer abgekehrten, ausgegrenzten Seite des Lebens haften, ist solch ein Ding gemacht aus Angst, sie ist außen und innen zugleich. ZITATOR 1 ?Man wird sagen, ich hätte lange davorgestanden; aber ich will einen Eid geben dafür, daß ich zu laufen begann, sobald ich die Mauer erkannt hatte. Denn das ist das Schreckliche, daß ich sie erkannt habe. Ich erkenne das alles hier, und darum geht es so ohne weiteres in mich ein: es ist zu Hause in mir.? ATMO Heller, spitzer Ton, über den ? es ist zu Hause in mir?, ?zu Hause in mir? echot, vergehen in Muzot-Hall. ZITATOR 1 (ÜBER HALL LEGEN, WIE AUS DER FERNE KOMMEND) ?Plätze, o Platz in Paris, unendlicher Schauplatz, wo die Modistin, Madame Lamort, die ruhlosen Wege der Erde, endlose Bänder, schlingt und windet und neue aus ihnen Schleifen erfindet (...).? ATMO (AUS ANDEREM RAUM KOMMEND, AUCH ÜBER HALL LEGEN) Muzot-Hall, Echo von Klopfen. FRIEDA (SCHÜCHTERN, ÜBER ATMO) Herr Rilke?! Ich habe ein paar Briefe für Sie, der Postbote war eben da. Soll ich sie Ihnen auf die Schwelle legen? Einer ist aus Paris, Herr Rilke. ATMO Muzot-Hall, Echo von ?Rilke?. SPRECHERIN Wände, Mauern. Sie werfen den Ruf zurück, schaffen einen Raum, ein Zuhause manchmal. Sie trennen ein Innen von einem Außen. Schutz sind sie ? und Begrenzung. Oft wohl gingen sie Rilke durch den Sinn, immer wenn er an Zuhause dachte, und dachte er jemals an etwas anderes? Ob er noch eine Ähnlichkeit sah zwischen den dicken Wänden seines Turmes und Maltes bloßgelegter Mauer in Paris, ?der letzten der früheren?? Nun jedenfalls, 1922, war Orpheus da und öffnete den Raum. ATMO Muzot-Hall. ZITATOR 1 (ÜBER ATMO LEGEN) ?Atmen, du unsichtbares Gedicht! Immerfort um das eigne Sein rein eingetauschter Weltraum. Gegengewicht, in dem ich mich rhythmisch ereigne.? ATMO ?Worte? verhallen. MUSIK Etwas Disharmonisches SPRECHERIN Was tun gegen die Angst in der Fremde und Heimatlosigkeit, wenn die Wände durchlässig sind und die letzte, nach dem Abriss noch stehende Mauer auf ein schreckliches, abgetrenntes Inneres verweist? SPRECHER Rilke schreibt in Paris seine ?Neuen Gedichte?, die so genannten ?Ding-Gedichte?. MUSIK SPRECHERIN Und lässt Malte die Kindheit anrufen, die Erinnerung an ein behütetes, vertrautes Dasein, ein Zuhause, eine Heimat. MUSIK Jahrmarktmusik vor fern, Kinderstimmen, -schreien drüberlegen ZITATOR 1 (ÜBER DIE JAHRMARKTSMUSIK LEGEN) ?Das Karussell Jardin du Luxembourg Mit einem Dach und seinem Schatten dreht sich eine kleine Weile der Bestand von bunten Pferden, alle aus dem Land, das lange zögert, eh es untergeht. Zwar manche sind an Wagen angespannt, doch alle haben Mut in ihren Mienen; ein böser roter Löwe geht mit ihnen und dann und wann ein weißer Elefant. Sogar ein Hirsch ist da, ganz wie im Wald, nur daß er einen Sattel trägt und drüber ein kleines blaues Mädchen aufgeschnallt. Und auf dem Löwen reitet weiß ein Junge und hält sich mit der kleinen heißen Hand, dieweil der Löwe Zähne zeigt und Zunge. (...) Und dann und wann ein weißer Elefant. Und das geht hin und eilt sich, daß es endet, und kreist und dreht sich nur und hat kein Ziel. Ein Rot, ein Grün, ein Grau vorbeigesendet, ein kleines kaum begonnenes Profil ?. Und manchesmal ein Lächeln, hergewendet, ein seliges, das blendet und verschwendet an dieses atemlose blinde Spiel ?? MUSIK Jahrmarktmusik verklingend, schließlich nur noch einzelne leise Töne. SPRECHERIN Die Kindheit, das verlorene Paradies? ZITATOR 1 ?Ich habe um meine Kindheit gebeten, und sie ist wiedergekommen, und ich fühle, daß sie immer noch so schwer ist wie damals und daß es nichts genützt hat, älter zu werden.? MUSIK SPRECHER Rilkes Vater, Josef Rilke, ist ein bescheidener Eisenbahnbeamter in Prag, voller Sehnsucht nach Offiziersehren, die ihm wegen eines Halsleidens versagt bleiben. Seine Ehefrau Sophia stammt aus dem gehobenen Bürgertum. Am 4. Dezember 1875 wird ihnen ein Sohn geboren, ihr einziges Kind. SPRECHERIN René Karl Wilhelm Johann Josef Maria taufen sie ihn. SPRECHER Die Mutter verwöhnt und verhätschelt den Sohn. Bis zum 6. Lebensjahr zieht sie ihm Mädchenkleider an. Er ist ihr Vertrauter, mit ihm teilt sie ihre Schwärmerei für den Adel und die feine Gesellschaft. MUSIK (AB ?MÄDCHENKLEIDER? UNTERLEGEN) Etwas Symmetrisches, Geometrisches, Mathematisches, abruptes Ende SPRECHER Nach elf Jahren scheitert die Ehe, die Eltern trennen sich. Rilke ist neun Jahre alt, als die Mutter nach Wien zieht, um dem kaiserlichen Hof nahe zu sein. Der Sohn soll werden, was der Vater nicht wurde: Offizier. 1886 schickt man ihn auf die Militär-Unterrealschule von St. Pölten, 1890 auf die Militär-Oberrealschule in Mährisch-Weißkirchen. ZITATOR 2 ?Fibel des Entsetzens?! SPRECHERIN Die Jahre der Kadettenschule werden Rilke zum Urbild einer eigentümlichen Leid-Erfahrung, eines Gefühls des brutalen äußeren Zwangs gegen die innere Natur, des Fremd- und Andersseins, der Einsamkeit, der Angst. MUSIK Etwas Disharmonisches, das hallt ZITATOR 2 ?Aber auch später noch, da ich mich im zunehmenden Eigenen schon umgebener und geschützter fand, erschien mir jene lange, weit über mein damaliges Alter hinaus, gewaltige Heimsuchung meiner Kindheit unbegreiflich (...).? ATMO (HALL AB ?UMGEBENER?) Muzot-Hall, Klopfen. FRIEDA (ÜBER HALL LEGEN) Herr Rilke, wenn Sie etwas brauchen ... ZITATOR 1 ?Glaubt nicht, Schicksal sei mehr, als das Dichte der Kindheit; wie überholtet ihr oft den Geliebten, atmend, atmend nach seligem Lauf, auf nichts zu, ins Freie.? ATMO Muzot-Hall, der verweht, darüber Klapper. SPRECHERIN Kein Kindheitsglück, nichts Tröstliches, Heimatliches findet Malte Laurids Brigge als Schutzschild gegen die Angsterfahrung in Paris, sondern die Erinnerung an die Schrecknisse seiner Kindheit, an Fieberzustände, an angsterregende Erlebnisse des Unheimlichen. Damals schon ? und immer noch. SPRECHER Malte erinnert sich, wie er einmal als Kind, es war Abend, im Winter, unter dem dunklen Tisch nach einem heruntergefallenen Zeichenstift suchte. ZITATOR 1 ?(?) ich erkannte (?) meine eigene, ausgespreizte Hand, die sich ganz allein, ein bißchen wie ein Wassertier, da unten bewegte und den Grund untersuchte. Ich sah ihr, weiß ich noch, fast neugierig zu; es kam mir vor, als könnte sie Dinge, die ich sie nicht gelehrt hatte, wie sie da unten so eigenmächtig herumtastete mit Bewegungen, die ich nie an ihr beobachtet hatte. Ich verfolgte sie, wie sie vordrang, es interessierte mich, ich war auf allerhand vorbereitet. Aber wie hätte ich darauf gefaßt sein sollen, daß ihr mit einem Male aus der Wand eine andere Hand entgegenkam, eine größere, ungewöhnlich magere Hand, wie ich noch nie eine gesehen hatte. Sie suchte in ähnlicher Weise von der anderen Seite her, und die beiden gespreizten Hände bewegten sich blind aufeinander zu. Meine Neugierde war noch nicht aufgebraucht, aber plötzlich war sie zu Ende, und es war nur Grauen da. Ich fühlte, daß die eine von den Händen mir gehörte und daß sie sich da in etwas einließ, was nicht wieder gutzumachen war.? SPRECHERIN Nun, in Paris, kann Malte dieses unwillkürliche Hand-Erlebnis erzählen, das zu einer Verbindung mit einer Sphäre jenseits der Wand, jenseits des Alltagsbewusstseins geführt hätte ? hätte die Angst es nicht verhindert. MUSIK Sirren, einzelner sirrender Ton ZITATOR 1 (ÜBER ATMO LEGEN) ?Ich begriff, dass (die andere Hand) es nicht aufgeben würde (?).? SPRECHER Als Kind hatte Malte für solche Erlebnisse des Unheimlichen keine Worte, er behielt sie für sich. Sie passten nicht hinein in die verabredeten Grenzen des Zuhause. SPRECHERIN ... die Rilke in Muzot überschreitet. Obwohl die Wände des Schlossturmes so dick sind. Die Hände finden sich. ATMO Muzot-Hall. ZITATOR 1 ?(..) die findigen Tiere merken es schon, daß wir nicht sehr verläßlich zu Haus sind in der gedeuteten Welt (?).? MUSIK Etwas Geometrisches, Tonleiter, einzelne, getrennte Töne ZITATOR 1 ?Wenn ich das jetzt überdenke, kann ich mich wundern, daß ich aus der Welt dieser Fieber doch immer wieder ganz zurückkam und mich hineinfand in das überaus gemeinsame Leben, wo jeder im Gefühl unterstützt sein wollte, bei Bekanntem zu sein, und wo man sich so vorsichtig im Verständlichen vertrug. Da wurde etwas erwartet, und es kam oder es kam nicht, ein Drittes war ausgeschlossen.? MUSIK Einzelner heller Ton SPRECHERIN Auch die Mutter ist nicht zuhause in der Welt des Entweder-Oder, des Sein oder Nicht-Sein. Sie lebt in einer Welt des Wünschens und Träumens. Ihre Nähe ersehnt Malte in Paris ? so, wie er sich als Kind nach ihr sehnte, wenn er Angst hatte. ZITATOR 1 ?Maman kam nie in der Nacht ?, oder doch, einmal kam sie. Ich hatte geschrieen und geschrieen, und Mademoiselle war gekommen und Sieversen, die Haushälterin, und Georg, der Kutscher; aber das hatte nichts genutzt. Und da hatten sie endlich einen Wagen nach den Eltern geschickt, die auf einem großen Balle waren, ich glaube beim Kronprinzen. Und auf einmal hörte ich ihn hereinfahren in den Hof, und ich wurde still, saß und sah nach der Tür.? SPRECHERIN Einmal kam die Mutter und nahm die Angst. Die Sehnsucht nach Einheit aber bleibt ein Leben lang ? und die Einsamkeit. MUSIK ZITATOR 1 (DAS GANZE ZITAT ÜBER MUSIK LEGEN) ?Ich sehe mich in meinem kleinen Gitterbett liegen und nicht schlafen und irgendwie ungenau voraussehen, daß so das Leben sein würde: voll lauter besonderer Dinge, die nur für Einen gemeint sind und die sich nicht sagen lassen. (...) Ich stellte mir vor, wie man herumgehen würde, voll von Innerem und schweigsam.? MUSIK (EINEN MOMENT FREI STEHEN LASSEN) SPRECHER Nur wenige Monate hält es der fünfzehnjährige Rilke auf der Militär-Oberrealschule aus. Er kränkelt und verlässt Mährisch-Weißkirchen 1891. Die Kadettenerziehung ist gescheitert. Ein Jahr vergeht mit Krankheiten und Ratlosigkeit, dann greift ein Onkel ein, dank dessen finanzieller Unterstützung Rilke 1895 eine ausgezeichnete Matura ablegt. Es folgt ein Jahr wechselnder Studien, dann verlässt Rilke die Heimatstadt Prag und zieht nach München. Schreiben will er. SPRECHERIN Schreiben muss er. Denn nur schreibend, in der Kunst, weiß Rilke, ist die Heimat zu finden, die er nie erlebt hat. MUSIK SPRECHER ?Ewald Tragy?, eine der ersten, 1898 verfassten Erzählungen Rilkes, erzählt vom Weggang aus dem Prager Zuhause, das keine Heimat war. ZITATOR 1 ?Er überlegt plötzlich, ob er nicht das, was er umsonst erbittet von aller Welt, fordern kann von irgendwem, wie ein Recht, wie eine alte Schuld, die man einzieht mit allen Mitteln, rücksichtslos. Und er verlangt von seiner Mutter: ?Komm, gib mir, was mir gehört.? Das wird ein langer, langer Brief, und Ewald schreibt weit in die Nacht hinein, immer rascher und mit immer heißeren Wangen. Er hat damit begonnen, eine Pflicht zu fordern, und, ehe er es weiß, bittet er um eine Gnade, um ein Geschenk, um Wärme und Zärtlichkeit. ?Noch ist es Zeit ?? schreibt er, ?noch bin ich weich und kann wie Wachs sein in Deinen Händen. Nimm mich, gib mir eine Form, mach mich fertig ??? SPRECHER Über Jahre hinweg herrscht ein reger Briefwechsel zwischen Rilke und seiner Mutter. SPRECHERIN Schwärmerisch sind seine Briefe. In ihnen ist er ihr nah: Er schreibt sich eine Vertraute herbei. Die Brief-Mutter ist eine Wunschgestalt. Doch die Begegnungen mit ihr, so erzählt er Freundinnen, sind enttäuschend. MUSIK wie oben SPRECHER Rilkes junger Prosaheld Ewald Tragy verbrennt sein sehnsüchtiges, forderndes, unmäßiges Schreiben an die Mutter. Sie könnte ja doch nicht verstehen, was er von ihr wollte. ZITATOR 1 ?Es ist ein Schrei nach Mütterlichkeit, der weit über ein Weib hinausreicht (?).? SPRECHERIN In die Zeit vor der Mutter. In die Zeit der ersten Heimat. Wo alles noch ungetrennt eins war. Wo es keine Wände gab und keine Hände, die aus ihr kamen und Grauen erregten. ATMO Muzot-Hall. ZITATOR 1 ?(?) und dort wars Atem. Nach der ersten Heimat ist ihm die zweite zwitterig und windig. O Seligkeit der kleinen Kreatur, die immer bleibt im Schooße, der sie austrug;? ATMO Muzot-Hall, ?trug? verhallen lassen ZITATOR 1 ?(...) denn Schooß ist Alles.? ATMO Kratzende Feder auf Papier. SPRECHERIN Schoß war alles. SPRECHER Rilke sucht die erste Heimat. SPRECHERIN Ein Leben lang, immer wieder. ATMO Muzot-Hall. MUSIK SPRECHER Malte erinnert sich in Paris, dass er schon in der Kindheit furchtbare Angst hatte. Und dass die Mutter, als er schrie, nur einmal an sein Bett kam und ihn tröstete. Sie lindert die Angst, und gehört doch auch der Welt der Konventionen an. Die Mutter ist Teil der zweiten, zwitterigen und windigen Heimat, jener, in der die Angst erst entstand. Denn was von Malte nicht in das verabredete Leben hineinpasste, musste draußen bleiben. Eine Mauer trennte es ab. Es war das Eigene, doch hinter der Mauer wurde es fremd, unheimlich, groß und Angst erregend ? MUSIK SPRECHER wie die Hand. Vor ihr schützt niemand, auch die Mutter nicht. SPRECHERIN Die auch nicht mehr schützen soll. Denn sie müssen sich finden, die beiden Hände. In Paris und in den ?Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge? erkennt Rilke, dass dies die Aufgabe der Dichtung ist. SPRECHER Malte überwindet in Paris schließlich die Liebe zur Mutter und auferlegt sich eine Liebe, die keine Erfüllung mehr verlangt. ZITATOR 1 ?Solche Liebe bedarf keiner Erwiderung, sie hat Lockruf und Antwort in sich; sie erhört sich selbst.? SPRECHER Diese Liebe verzichtet auf Erfüllung, die nur in die Welt der Konvention, in die zweite Heimat zurückführte. Die besitzlose Liebe transzendiert das Objekt. SPRECHERIN Auch Gott ist ZITATOR 1 ?nur eine Richtung der Liebe (..), kein Liebesgegenstand?. MUSIK SPRECHERIN Zuvor aber konnte Rilke vieles Gegenstand der Liebe werden, wenn es nur Übereinstimmung versprach, Wesensverwandtschaft, Innigkeit, Gleichklang der Seelen: die Mutter, die Frauen, ein Dorf, ein Land und die Ehe. Gott. Ja, Gott und die Dinge. ATMO Hall eines großen leeren Raumes ? nicht Muzot-Hall. FRIEDA Als der Herr Rilke mich fragte, ob ich ihm aufwarten will, habe ich gleich gedacht: Ach Gott, ja, sehr gern. Er sah so? ehrwürdig aus ? und so einsam. Und wenn Herr Rilke da oben saß und schrieb, ganz allein die kalten Monate über, oder umherging im Turmzimmer und mit sich redete, dann war ich oft ganz ruhig in der Küche. Er hätte mich nicht gehört. Aber ich wollte es so. SPRECHER Die Mutter, die Frauen, ein Dorf, ein Land, die Ehe, die Dinge ? es sind alles Wahlheimaten, Versuche, heimisch zu werden, die erste Heimat wieder zu finden. SPRECHERIN In der Sprache, der Dichtung. MUSIK ZITATOR 2 ?Ich hab Dich nie anders gesehen, als so, daß ich hätte beten mögen zu Dir.? SPRECHER 1897 schwärmt Rilke für Lou Andreas-Salomé. Die 36-jährige ist eine bekannte Schriftstellerin, eine kluge, von vielen Männern umworbene Schönheit ? und verheiratet. ZITATOR 2 ?Ich hab Dich nie anders gehört, als so, daß ich hätte glauben mögen an Dich.? SPRECHER Rainer Maria ist 21 Jahre alt, ein viel versprechender, aber wenig bekannter, dichtender Jüngling mit ersten Veröffentlichungen. ZITATOR 2 ?Ich hab Dich nie anders ersehnt, als so, daß ich hätte leiden mögen um Dich.? SPRECHER Anonym hatte Rilke Lou Andreas-Salomé Gedichte zugesandt. Im Mai 1897 treffen sich beide bei Jakob Wassermann, kurz darauf wird sie seine Geliebte. ZITATOR 2 ?Ich hab Dich nie anders begehrt, als so, daß ich hätte knien dürfen vor Dir.? SPRECHERIN Die mütterliche Geliebte zeigt Rilke die Welt, entdeckt ihm die Natur, bringt ihm Russland nahe. Sie ist dem sehnsuchtsvollen jungen Mann die Welt ? und der Himmel. ZITATOR 2 ?Durch Dich will ich die Welt sehen; denn dann sehe ich nicht die Welt, sondern immer nur Dich, Dich, Dich!? MUSIK SPRECHER Rilke, der schon zwei Bildungsreisen nach Italien unternommen hat, fährt mit Lou nach Russland. 1899 werden sie von Lous Ehemann begleitet, ein Jahr später reisen sie noch einmal allein. Sie treffen berühmte Maler wie Ilja Repin und Leonid Pasternak, den Vater von Boris Pasternak. Den tiefsten Eindruck aber hinterlassen bei Rilke, der stets nach Geistesverwandten sucht, die Begegnungen mit dem großen Leo Tolstoj und dem Bauerndichter Spiridon Droschin. MUSIK ZITATOR 1 ??Hm ?? überlegte mein Freund, ?Sie haben recht. Woran könnte Rußland an (..) beiden Seiten grenzen?? Plötzlich sah der Kranke wie ein Knabe aus. ?Sie wissen es?, rief ich. ?Vielleicht an Gott?? ?Ja?, bestätigte ich, ?an Gott.?? SPRECHER In den ?Geschichten vom lieben Gott?, die 1900 erscheinen, und im ?Stundenbuch? von 1905 erzählt Rilke von Gott. Es sind die Menschen, die Gott erschaffen durch ihren Glauben? SPRECHERIN ? durch ihre Sehnsucht. Wie der Dichter in der Sprache. SPRECHER Am Tag der Heimkehr von der zweiten Russlandreise mit Lou Andreas-Salomé fährt Rilke auf Einladung des Malers Heinrich Vogeler nach Worpswede. In der Künstlerkolonie findet er eine Gemeinschaft Gleichgesinnter. Sie nehmen Rilke als einen der ihren auf. SPRECHERIN Er besucht die Ateliers und die ausufernden Feste, fährt mit den Künstlern im Wagen über Land und liest ihnen abends Gedichte vor. Rilke verehrt die Freundinnen und Künstlerinnen Clara Westhoff und Paula Becker. Paula sitzt er Modell für ein Porträt. Monate voller Erregtheit und Gestimmtheit vergehen. Rilke fühlt sich zuhause. ZITATOR 2 ?Eure Heimat war mir, vom Augenblick, mehr als nur eine gütige Fremde. War eben Heimat, die erste Heimat, in der ich Menschen leben sah (sonst leben alle in der Fremde, alle Heimaten aber stehen leer?).? MUSIK SPRECHER Doch der Dichter zögert, die Heimat Worpswede zu beziehen. SPRECHERIN Ist Worpswede nur ihre oder auch seine Heimat? Ist sie Heimat nur der Kunst oder auch des Lebens? Oder geht auf dem flachen Land beides Hand in Hand? MUSIK SPRECHER 1901 versucht Rilke, die Sehnsucht zu leben. Er heiratet die Bildhauerin Clara Westhoff und gründet mit ihr einen bürgerlichen Hausstand ? SPRECHERIN ? oder doch eher eine Künstlergemeinschaft. ZITATOR 2 ?(?) die gute Ehe (ist) die, in welcher jeder den anderen zum Wächter seiner Einsamkeit bestellt und ihm dieses größte Vertrauen beweist, das er zu verleihen hat.? SPRECHER Die gute, die Künstlerehe gelingt Clara und Rainer Maria nicht. Sie leben von der Hand in den Mund. Das Ideal zerbricht an der Wirklichkeit. Die einst Gleichgesinnten, denen bald eine Tochter, Ruth, geboren wird, werden sich fremd. Sie geben Ruth zu Claras Großeltern nach Bremen und verlassen das Haus in Westerwede. Rilke geht nach Paris, in die ?schwere Stadt?, in der er seiner Angst begegnen wird. MUSIK (UNTER ZITATOR LEGEN) ZITATOR 1 ?(...) wir sind ein Wandervolk, alle; nicht deshalb weil keiner ein Zuhause hat, bei dem er bleibt und an dem er baut, sondern weil wir kein gemeinsames Haus mehr haben. Weil wir auch unser Großes immer mit uns herumtragen müssen, statt es von Zeit zu Zeit hinzustellen, wo das Große steht. Und doch wo immer Menschliches ganz groß wird, da verlangt es danach, sein Gesicht zu verbergen im Schooße allgemeiner namenloser Größe.? SPRECHERIN Was aber, wenn es nicht nur das gemeinsame Haus nicht mehr gibt, sondern auch die allgemeine namenlose Größe aufgehört hat zu existieren? Denn der Künstler kann nirgendwo mehr das Haupt betten, weil Gott kein Liebesgegenstand, nur noch eine Richtung ist. Die besitzlose Liebe wirft den Künstler ganz auf sich zurück. ATMO Rauschender, reißender Strom. SPRECHER Am Ende der ?Aufzeichnungen? erzählt Rilke die Geschichte vom verlorenen Sohn. Er erzählt sie als die Rückkehr eines Einsamen, der nicht mehr geliebt werden will, den die Mauern des Zuhauses nicht mehr locken und nicht mehr zwingen können. SPRECHERIN Der verlorene Sohn steht im Offenen, wie der Dichter. ZITATOR 1 ?Er war wie einer, der eine herrliche Sprache hört und fiebernd sich vornimmt, in ihr zu dichten.? ATMO Muzot-Hall. ZITATOR 1 ?Ja, die Frühlinge brauchten dich wohl. Es muteten manche Sterne dir zu, daß du sie spürtest. Es hob sich eine Woge heran im Vergangenen, oder da du vorüberkamst am geöffneten Fenster, gab eine Geige sich hin. Das alles war Auftrag. Aber bewältigtest du?s? Warst du nicht immer noch von Erwartung zerstreut, als kündigte alles eine Geliebte dir an?? MUSIK (UNTERLEGEN) SPRECHER, SPRECHERIN, ZITATOR 1 UND 2 (ABWECHSELND, SICH Z.T. ÜPBERSCHNEIDEND) Berlin W. Hospiz des Westens. Marburgerstr. 4, am 9. März 1910. Roma, Hotel de Russie, Sonnabend (9. April 1910) z. Zt. Oberneuland bei Bremen, am 2. August 1910 Prag 21/8/1910 Innsbruck, Bahnhof. Am 13. (September 1910) früh Paris, 77, rue de Varenne, am 11. May 1911 z.Zt.: Schloß Lautschin bei Nimburg (Böhmen) am 18. August 1911 Leipzig-Gohlis, Richterstr. 1 bei Dr. Dippenberg, am 30. August 1911 Grand Hotel Continental München am 14. September 1911 Venedig, Grand-Hotel, am 24. März 1912 Venedig, San Vio, Palazzo Valmarana. Am 5. Juny 1912 Hotel Marienbad, München (12. Oktober 1912) Toledo, Hotel de Castilla, Spanien. Am 26. November 1912 Hotel Reine Victoria, am 11. Dezember (1912) abends, Ronda Ronda, Drei-Königstag 1913 Palace Hotel. Madrid, am 24. Februar (1913) z.Zt. Bad Rippoldsau im Schwarzwald. Am 20. Juny 1913 Leipzig, Insel-Verlag, am 22. July 1913 Ostseebad Heiligendamm, Mecklenburg. Grand Hotel am 1. August 1913 Hotel Marienbad, München, Freitag (3. Oktober 1913) Dresden, 5. Oktober 1913 Krummhübel im Riesengebirge. Hotel Goldener Frieden. Am 13. Oktober 1913 Paris, 17 rue Campagne Première am 22. Oktober 1913. Hotel Marienbad, München. Am 6. August 1914. Pension Landhaus Schönblick. Irschenhausen ? Post Ebenhausen. Bayern, Isarthalbahn. Am 28. August 1914. München, Finkenstrasse 2, Pension Pfanner, am ersten Oktober 1914. Berlin W. 10. Bendlerstrasse . Am 16. Dezember 1914. ZITATOR 2 Ich bin ?in diesen Jahren (ein) Unstätester?. SPRECHER Nach dem Erscheinen der ?Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge? 1910 reist sein Verfasser umher, die Angst im Nacken, das Verstummen vor Augen. Bis zum Kriegsausbruch besucht er mehr als 50 Orte in Deutschland, Frankreich, Italien, Spanien, sogar in Ägypten. ZITATOR 1 ?Er war wie einer, der eine herrliche Sprache hört (...).? SPRECHERIN Rilke, der Mittellose, hält sich in hochherrschaftlichen Häusern und vornehmen Hotels auf. Rilke, der Einsame, ist Gast. Bürgerliche und adlige Mäzenaten beherbergen ihn gern einige Wochen bei sich. Oft sind es Frauen. Rilke weiß sich mit Gesprächen und Aufmerksamkeiten wie Gedichtabschriften, Briefen, Widmungen zu bedanken. Sein Aufenthalt ist nur zeitweilig, immer wieder treibt es ihn weiter. MUSIK SPRECHER ?Dottore Serafico? SPRECHER Nach dem himmlischen Wesen an Jahwes Thron nennt ihn die wichtigste unter seinen Vertrauten und Mäzenatinnen: Prinzessin Marie von Thurn und Thaxis-Hohenlohe. Eine hoch gewachsene Dame, lebhaft, gebildet, intelligent, sensibel und dabei pragmatisch. Zwanzig Jahre älter als Rilke. 1910 kehrt er auf ihrem Schloss Duino an der norditalienischen Adria ein, und dann noch einmal, Ende 1911. SPRECHERIN Winter. Kalt ist es, aber nicht sehr. Schnee liegt auf den Felsen über dem schäumenden Abgrund. Die geliebten Rosen wachsen dort nicht. ZITATOR 2 ?Was mich diesmal bedrängt, ist auch vielleicht nicht so sehr die Länge der Pause, sondern eine Art Abstumpfung, eine Art Altwerden, wenn man es so nennen soll, als ob doch dieses Stärkste in mir irgendwie Schaden genommen hätte, ein klein wenig schuldig wäre, Athmosphäre wäre, begreifst Du: Luft statt Weltraum.? SPRECHERIN Rilke ist erschöpft und allein. Wie ein verlorener Sohn, der nicht mehr ganz zu dieser Welt gehört, ist er herumgereist. Wie ein Revenant, ein Wiedergänger, der das Leben von der anderen Seite betrachtet. Wie einer, der weiß, was die Dichtung leisten müsste, um Heimat zu sein. Es seit Paris und seit Malte weiß. Jahrelang nun schon. Aber das genügt nicht. ZITATOR 2 ?(?) es muß erst schlimm, schlimmer, am Schlimmsten werden, weiter gehts in keiner Sprache ? Ich krieche den ganzen Tag in den Dickichten meines Lebens herum und schreie wie ein Wilder und klatsche in die Hände ?: Sie glauben nicht, was für haarsträubendes Getier da auffliegt.? SPRECHERIN Rilke nennt es: Warten auf die ?Gnade?. ATMO Entferntes Meeresrauschen. SPRECHER Duino erhebt sich mächtig auf einem Felsen über der Adria. ZITATOR 2 Ein ?immens ans Meer hingetürmte(s) Schloß, das wie ein Vorgebirg menschlichen Daseins mit manchen seiner Fenster (darunter mit einem meinigen) in den offensten Meeraum hinaussieht, unmittelbar ins All möcht man sagen (?).? SPRECHERIN Die Mauern dieses in die Leere vorgeschobenen Außenpostens der menschlichen Zivilisation sind durchbrochen. Der Seraph hat unmittelbaren Sichtkontakt zum Kosmos. Rilke wird oft hinausgeschaut haben in jenen Monaten. Sehnsüchtig. ZITATOR 1 ?(?) wie überholtet ihr oft den Geliebten, atmend, atmend nach seligem Lauf, auf nichts zu, ins Freie.? SPRECHERIN Ins Offene. In den Weltraum. In den Weltinnenraum, in dem es keine trennenden Mauern mehr gibt. SPRECHER In ihm fließen wie am Anfang, ?im Schoß?, Subjekt und Objekt zusammen, Innen und Außen, Bewusstes und Unbewusstes, Vertrautes und Angst erregendes, Eigenes und Fremdes. MUSIK SPRECHERIN Es ist die wohl ausgreifendste, radikalste Sehnsucht dieser an Vereinigungssehnsüchten nicht eben armen Zeit. SPRECHER Als der Fluss der Elegien auf Duino versiegt, geht Rilke erneut auf Reisen, organisiert Veröffentlichungen, schreibt Briefe und wenige Gedichte. Nur ein Buch, das ?Marienleben?, erscheint in den folgenden Jahren. Den Ausbruch des Weltkriegs erlebt er ohne Begeisterung. Dank der Intervention seiner Freunde wird er nach sechs Monaten Dienst im Wiener Kriegsarchiv wieder entlassen und übersteht die folgenden Jahre in München. Dann, fast genau ein Dezennium nach Duino, der ?Sturm?: die Vollendung des Zyklus. Nach einer Ruhephase empfängt Rilke wieder Gäste und vermittelt französische Autoren wie Paul Valéry und Marcel Proust an deutsche Verlage. 1925 hält er sich noch einmal sieben glückliche Monate in Paris auf. Seine letzten Gedichte entstehen, während die Leukämie, an der er Ende 1926 unter großen Schmerzen sterben wird, immer wieder Kuren notwendig macht. Die Verse sind einfach und leicht. SPRECHERIN Es ist alles gesagt. SPRECHER Es ist alles gesagt in den auf Schloss Muzot vollendeten ?Duineser Elegien?. Es ist alles gesagt in diesem Dialog mit dem Weltraum, in der Erfahrung des Einsseins im Weltinnenraum. MUSIK FRIEDA In Raron hat man ihn begraben, eine halbe Autostunde von Muzot entfernt, rhôneaufwärts, auf dem kleinen Friedhof neben der alten Kirche. Da hat er hinwollen. ATMO Muzot-Hall. ZITATOR 1 ?Nirgends, Geliebte, wird Welt sein, als innen. Unser Leben geht hin mit Verwandlung. Und immer geringer schwindet das Außen. Wo einmal ein dauerndes Haus war, schlägt sich erdachtes Gebild vor, quer, zu Erdenklichem völlig gehörig, als ständ es noch ganz im Gehirne. Weite Speicher der Kraft schafft sich der Zeitgeist, gestaltlos wie der spannende Drang, den er aus allem gewinnt. Tempel kennt er nicht mehr. Diese, des Herzens, Verschwendung sparen wir heimlicher ein. Ja, wo noch eins übersteht, ein einst gebetetes Ding, ein gedientes, geknietes ?, hält es sich, so wie es ist, schon ins Unsichtbare hin. Viele gewahrens nicht mehr, doch ohne den Vorteil, daß sie?s nun innerlich baun, mit Pfeilern und Statuen, größer!? ABMODERATION Zitiert wurde aus Rilkes ?Duineser Elegien?, den ?Sonetten an Orpheus?, den ?Neuen Gedichten?, dem ?Stundenbuch?, den ?Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge?, ?Ewald Tragy?, den ?Geschichten vom lieben Gott?, dem Aufsatz ?Auguste Rodin? und den Briefen. Angaben über die verwendeten Komponisten: Paul Hindemith: Violinsonaten Iannis Xenakis Darius Milhaud Barkauskas ud Pelecis (Music from Eastern Europe with Gidon Kremer) Fred Frith Claas Willeke und Sam Auinger 40