COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Deutschlandradio Kultur, Zeitfragen 15. September 2008, 19.30 Uhr Die "Nazifalle" Über Tabus bei der Vergangenheitsbewältigung Von Ulrich Panzer Spr. vom Dienst Die "Nazifalle" - Über Tabus bei der Vergangenheitsbewältigung Von Ulrich Panzer 1. OT Jenninger Die Juden in Deutschland und in aller Welt gedenken heute der Ereignisse vor 50 Jahren... Sprecher Am 10. November 1988 steht ein Mann vor dem Deutschen Bundestag und beginnt eine Rede, die in einem Eklat enden wird. Der Mann wirkt angespannt. Es ist die Gedenkveranstaltung zum Jahrestag der Reichspogromnacht. 2. OT Jenninger ...was sich heute vor 50 Jahren mitten in Deutschland abspielte, das hatte es seit dem Mittelalter in keinem zivilisierten Land mehr gegeben. Sprecher Die Rede Philipp Jenningers klingt zunächst wie viele andere, die man zu dem Anlass bereits gehört hat: Abscheu und Entsetzen über die Verbrechen, Trauer und Mitgefühl mit den Opfern. Doch dann lenkt er den Blick weg von den Opfern und hin zu den Tätern: 3. OT Jenninger Die Bevölkerung verhielt sich weitgehend passiv. Alle sahen, was geschah, aber die allermeisten schauten weg und schwiegen. Sprecher Jahrzehntelang haben sich die Deutschen mit der Erklärung aus der Verantwortung zu ziehen versucht, sie seien verführt oder zum Mitmachen gezwungen worden. Jenninger hält dagegen, dass sich die meisten aus freien Stücken auf die Seite der Nazis geschlagen haben. In seiner Rede stellt er die Frage nach dem "Warum?" 4. OT Jenninger Die Jahre von 1933 bis 1938 sind selbst aus der distanzierten Rückschau und in Kenntnis des Folgenden noch heute ein Faszinosum insofern, als es in der Geschichte kaum eine Parallele zu dem politischen Triumphzug Hitlers während jener ersten Jahre gibt: Wiedereingliederung der Saar, Besetzung des Rheinlandes, Olympische Sommerspiele in Berlin, "Anschluss" Österreichs und "Großdeutsches Reich". Für die Deutschen musste dies alles wie ein Wunder erscheinen. Sprecher Im Bundestag kommt Unruhe auf. Kopfschütteln, Empörung, versteinerte Gesichter. Abgeordnete von SPD, Grünen und der FDP verlassen den Saal. Auf Fernsehaufnahmen ist zu sehen, wie der stämmige Mann vorn am Rednerpult immer wieder irritiert ins Publikum blickt - ohne zu verstehen, was um ihn herum passiert. 5. OT Jenninger ... machte nicht Hitler wahr, was Wilhelm II. nur versprochen hatte, nämlich die Deutschen herrlichen Zeiten entgegenzuführen? Und was die Juden anging: Hatten sie sich nicht in der Vergangenheit doch eine Rolle angemaßt - so hieß es damals -, die ihnen nicht zukam? Mussten sie nicht endlich einmal Einschränkungen in Kauf nehmen? 6. OT Wolfgang Lüder Ich glaube nicht, dass es gut wäre, im parlamentarischen System den Bundestagspräsidenten zum Rücktritt aufzufordern, aber selbstverständlich ist der Rücktritt zulässig nach dem schweren Fehler. Sprecher Jenninger habe den Holocaust verharmlost, lautet der Vorwurf, und sich mit den Tätern gemein gemacht. Er habe um Verständnis für ihr Verhalten geworben und sogar ihre Sprache übernommen. 7. OT Renate Schmidt Es bleibt nur noch der Rücktritt und nichts anderes mehr! Das ist so, dass man heulen könnte! Sprecher Wer den Redetext liest, stellt fest, dass der Bundestagspräsident die Nazideutschen eher zitiert - im Bemühen, nachzuvollziehen, warum so viele begeistert mitmachten. 8. OT Otto Schily Ich bin der Meinung, wenn sich Herr Jenninger ernsthaft prüft, dann sollte er sein Amt aufgeben! Sprecher Dass der Redner die Verbrechen der NS-Zeit mehrfach und deutlich verurteilt, scheint niemanden zu interessieren. 9. OT Jenninger Viele ermöglichten durch ihre Gleichgültigkeit die Verbrechen. Viele wurden selbst zu Verbrechern. Die Frage der Schuld und ihrer Verdrängung muss jeder für sich selbst beantworten. Sprecher Die Republik zeigt sich erschüttert. Die Fraktionsvorstände treten zu Sondersitzungen zusammen. Schnell ist klar: Der Mann ist nicht zu halten! Die Medien zeigen Fotos der Schauspielerin Ida Ehre, die vor Jenningers Auftritt die "Todesfuge" von Paul Celan vorgetragen hatte und während der Rede ihr Gesicht mit den Händen bedeckte - "aus Entsetzen", wie es heißt. Tatsächlich war sie gesundheitlich angegriffen. Von der Rede hatte sie nach eigenem Bekunden gar nichts mitbekommen. Doch das ist den Kritikern egal. Ebenso, dass Simon Wiesenthal Jenninger als Freund Israels bezeichnet und dazu aufruft, seine Worte differenziert zu beurteilen. Unter dem Druck von Politik und Öffentlichkeit tritt Philipp Jenninger einen Tag nach seiner Rede zurück. 10. OT Aly Ich kann mich sehr gut an diese Rede erinnern, weil ich sie nämlich damals in der taz in dieser ganz üblichen konventionellen, zurückweisenden und hämischen Art kommentiert habe. Ich halte das für eine schwere Sünde im Nachhinein. Er hatte eigentlich Recht. Im Grunde ist er vorangeschritten, hat versucht etwas zu erklären, was man damals noch nicht erklärt haben wollte. Sprecher Wie die meisten anderen Kommentatoren warf der Journalist und Historiker Götz Aly dem Bundestagspräsidenten damals eine Verharmlosung des Holocaust vor. Zwanzig Jahre danach sagt er: Das einzige, was man Jenninger vorhalten kann, ist dass er kein guter Redner war und die Anführungsstriche nicht genügend mitgesprochen hat. - Schlechte Rhetorik als Grund für eine Massenhysterie? Sicherlich nicht die einzige Erklärung: Viele, vor allem im linken Spektrum, empfanden den bieder und farblos wirkenden CDU-Mann nicht gerade als einen Verfechter des freien Wortes und der mutigen Tat und nahmen ihm nicht ab, dass er es ehrlich meinte. 11. OT Aly Ich war einfach ganz verblendet von dem damals üblichen Antifaschismus. Ich hielt Jenninger für einen vollständigen politischen Versager und fand es ganz großartig, dass er da abserviert wurde! Sprecher Manche nutzten den Anlass, ihre eigene untadelige Gesinnung unter Beweis zu stellen, indem sie einen vermeintlichen Nazisympathisanten entlarvten. Andere empörten sich darüber, dass Jenninger die Durchschnittsdeutschen, und damit sie selbst, als Handlanger der Mörder darstellte. Und wieder andere - unter ihnen hochrangige Vertreter von Union, SPD und FDP - betonten, dass sie keinen Zweifel an Jenningers persönlicher Integrität hätten. Zurücktreten müsse er aber trotzdem. - Ein Ausdruck kollektiver Feigheit, sagt der Schriftsteller und Zeithistoriker Rafael Seligmann. 12. OT Seligmann Im Ausland hätte man ja denken können, in Israel oder in Amerika, der Jenninger will die Nazis rechtfertigen, und das wollen wir nicht! Und dann gibt es natürlich diese Heuchler oder Hysteriker, die wirklich in jedem Pups einen Kernwaffenangriff sehen. Ich hätte an Stelle von Jenninger unmittelbar nach den Reaktionen auf die Rede gesagt: Ich sehe keinen Grund, auch nur ein Jota von dieser Rede zurückzunehmen. Aber Jenninger war plötzlich genauso erschrocken wie alle anderen, und das hat sich aufgeschaukelt. Sprecher Ironie der Geschichte: Im Jahr darauf trug Ignatz Bubis die Ansprache, nur leicht verändert, in einer Frankfurter Synagoge vor, ohne dass es jemand merkte. Und während Jenninger mit seiner Rede einen Skandal auslöste, erhielt Bubis für dieselben Sätze von seinen Zuhörern Lob und Anerkennung. Musikakzent Sprecher Für die öffentliche Debatte über die Nazi-Zeit gelten bei uns auch mehr als 60 Jahre nach dem Ende der NS-Herrschaft und 20 Jahre nach der Jenningerrede immer noch strenge Regeln. Dabei treibt politische Korrektheit mitunter seltsame Blüten. So verurteilte zum Beispiel in Stuttgart im Jahr 2006 ein Gericht den Betreiber eines antifaschistischen Versandhandels wegen des "massenhaften Vertriebs von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen" zu einer Geldstrafe. Der Händler hatte Anstecker und T-Shirts mit durchgestrichenen oder zertrümmerten Hakenkreuzen verkauft. Dass er damit gerade gegen neonazistische Umtriebe Stellung beziehen wollte, spielte für die Richter keine Rolle. Ihr Argument: "Hakenkreuz bleibt Hakenkreuz, egal ob durchgestrichen oder nicht!" Das Urteil wurde ein Jahr später vom Bundesgerichtshof aufgehoben. Wer sich öffentlich mit NS-Themen beschäftigt, muss sich möglichst deutlich von den Nazis und ihrem Denken distanzieren - um dem Verdacht vorzubeugen, selbst einer zu sein. Anlass zur Distanzierung bietet seit Jahrzehnten die Auseinandersetzung um ein Buch, das in Nazideutschland ein Bestseller war. 13. OT "Mein Kampf" (CD Qualtinger) Der schwarzhaarige Judenjunge lauert stundenlang, satanische Freude in seinem Gesicht, auf das ahnungslose Mädchen, das er mit seinem Blute schändet und damit seinem, des Mädchens Volke, raubt. Mit allen Mitteln versucht er die rassischen Grundlagen des zu unterjochenden Volkes zu verderben. Sprecher Hitlers "Mein Kampf" ist eine Mischung aus Bösem und Banalem auf 800 Seiten. Wer daraus öffentlich liest, wie der Schauspieler Helmut Qualtinger in den 70er Jahren, braucht eine Genehmigung und muss sich unmissverständlich vom Inhalt distanzieren. Die Rechtslage ist insgesamt kompliziert: Zwar darf man alte Exemplare besitzen und sie auch antiquarisch kaufen und verkaufen. Jeder Nachdruck des Buchs ist in Deutschland aber verboten. Darüber, dass dieses Verbot eingehalten wird, wacht das bayerische Finanzministerium. Der Hintergrund ist, dass Hitler bis zu seinem Tod am Prinzregentenplatz 16 in München gemeldet war. Nach dem Krieg beschlagnahmte der Freistaat Bayern seinen Besitz, und damit auch die Urheberrechte an "Mein Kampf". 14. OT Qualtinger ...ein rassereines Volk, das sich seines Blutes bewusst ist, wird vom Juden niemals unterjocht werden können! Er wird auf dieser Welt ewig nur der Herr von Bastarden sein. Sprecher Hitlers Programmschrift ist zweifellos kein Werk der deutschen Hochliteratur: Das Wort "Blut" kommt etwa so häufig vor wie in einem mittelmäßigen Kriminalroman oder einem hämatologischen Fachbuch, wenn auch mit dem Unterschied, dass das Blut bei Hitler nicht spritzt oder zu wenige Leukozyten hat, sondern "reingehalten" werden muss. Als Feind, der das deutsche Blut systematisch verderben will, hat der Autor "den Juden" ausgemacht. - Nichts Neues, man weiß das aus dem Geschichtsunterricht oder von Guido Knopp. Trotzdem ist das Buch wichtig als ein Dokument, in dem sich der Autor selbst entlarvt. Wer "Mein Kampf" liest, ist verblüfft, mit welcher Offenheit Hitler bereits Mitte der 20er Jahre seine Ziele darlegte: die Juden zu beseitigen, die Demokratie zu vernichten, Frankreich auszuschalten und neuen Lebensraum im Osten zu erobern. - Für Professor Horst Möller, Direktor des Instituts für Zeitgeschichte in München, wäre eine Neuausgabe des Werks dringend an der Zeit: 15. OT Möller Was sinnvoll wäre, wäre nicht ein bloßer Nachdruck, sondern was sinnvoll wäre, wäre eine kritische Ausgabe. Eine kritische Ausgabe müsste einerseits die verschiedenen Varianten in den unendlich vielen Auflagen nachweisen. Und das zweite: sie müsste eine Textanalyse vornehmen, d.h. die Frage stellen: woher hat Hitler bestimmte politische Ziele, woher hat er, was die Massenpsychologie angeht, bestimmte Kenntnisse? Warum hat er einen derartigen Fanatismus entwickelt, woher stammen seine Ressentiments? Das heißt also, um die ideologische Grundlage dieser grauenhaften Diktatur zu erfassen, muss man sich eben mit dieser Ideologie befassen, auch wenn sie einem widerwärtig ist. Sprecher Für eine solche Edition haben sich mittlerweile namhafte Historiker ausgesprochen, und auch der Zentralrat der Juden befürwortet das Vorhaben. Der Freistaat Bayern zeigt sich davon jedoch unbeeindruckt. Das bayerische Finanzministerium teilte auf Anfrage mit, man wolle der Verbreitung nationalsozialistischen Gedankenguts vorbeugen und werde einer Neuauflage deshalb nicht zustimmen - egal ob wissenschaftlich bearbeitet oder nicht. Wobei man sagen muss, dass im Jahr 2015, siebzig Jahre nach Hitlers Tod, die Urheberrechte ohnehin auslaufen. Dann kann jeder das Buch veröffentlichen. Außerhalb Deutschlands ist es ohnehin schon seit langem erhältlich teils legal, wie in Großbritannien und den USA, wo Verlage bereits in den 30er Jahren die Lizenzrechte erwarben oder in Israel, wo es eine Ausgabe auf Hebräisch gibt - teils illegal wie in der Türkei, wo "Mein Kampf" im Jahr 2005 monatelang auf der Bestsellerliste stand. - Einen ähnlichen Erfolg des Buchs befürchtet man offenbar auch in Deutschland, sagt Rafael Seligmann. 16. OT Seligmann Wenn heute "Mein Kampf" freigegeben wird, wird das sein wie Jugendliche, die mal mit 13, 14 eine Zigarette rauchen. Weil's verboten ist, möchte man's mal ausprobieren. Natürlich werden sich sehr viele Leute dann "Mein Kampf" besorgen, wenn's ganz legal ist, man geht in die Buchhandlung: "Mein Kampf", zehn Euro, und hat das Buch. Das würde bedeuten: "Mein Kampf" wäre einige Wochen lang Nummer eins auf der Bestsellerliste. Und davor haben die Politiker Angst: Dass es heißt: "Ah, die Deutschen sind wieder Nazis! Alle lesen ‚Mein Kampf'!" Wenn man ein bisschen Gelassenheit beweist, wird man sehen: Nach zwei, drei Wochen ist der Spaß der ersten Zigarette vorbei. Man hat dann gekotzt und der Spaß ist vorbei. Sprecher In Deutschland fehle es an Selbstbewusstsein und Normalität, sagt der Schriftsteller - vor allem, wenn es um deutsch-jüdische Themen geht. Tatsächlich ist dies immer noch einer der sensibelsten Bereiche, in dem man viel falsch machen kann. Oder falsch machen zu können glaubt. Allein die Wortwahl: Darf man eigentlich von "Juden" sprechen? Ist das nicht irgendwie Hitlerdeutsch? Muss man nicht besser "unsere jüdischen Mitbürger" sagen? Darf man über Juden Witze machen? Und wie verhält man sich, wenn man im Alltag auf einen Juden - beziehungsweise: einen jüdischen Mitbürger beziehungsweise eine jüdische Mitbürgerin - trifft? - Jeder Jude kennt das kurze betretene Schweigen seines Gegenübers, wenn er sich outet, gefolgt von dem Bekenntnis, man halte Juden für ganz famose Menschen, die "uns Deutschen" in manchem überlegen seien. Spätestens seit Lessings "Nathan der Weise", sagt Rafael Seligmann, seien Juden zum Gutsein verdammt: 17. OT Seligmann Ich weiß, als Lehrling, ich war damals Fernsehtechniker in den 60er Jahren, haben alle Lehrlinge gestohlen. Ich war der einzige, der nicht gestohlen hat. Warum? Nicht weil ich besser war als die anderen, bestimmt nicht. Sondern ich wusste: Wenn die anderen ertappt werden, heißt es: "Du Dieb!" Bei mir hätte es geheißen: "Du jüdischer Dieb!" Sprecher In seinen Büchern treten Juden als normale Menschen auf: Sie stehlen, lieben, hassen und betrügen. Der Autor kann sich das leisten, schließlich ist er selber Jude. Seiner Meinung nach sollten aber auch Nichtjuden ihre antrainierte Vorsicht fallen lassen, da sie ohnehin nicht weiterführe. 18. OT Seligmann Ich sehe dann oft Leute, Journalisten, angesehene Journalisten und Publizisten, die in ihren Schriften so verständnisvoll mit den Juden umgehen. Da hab' ich gelegentlich erlebt, wenn sie dann im Suff sind, dass sie dann immer noch die alten Vorurteile pflegen. Und das kommt daher, weil man sich nicht traut, im Alltag seine Vorurteile darzulegen, darüber zu diskutieren, offen miteinander zu reden. Musikakzent Sprecher Wer sich öffentlich zur NS-Zeit oder aktuellen rechtsradikalen Umtrieben äußert, muss aufpassen: Ein falsches Wort und die Nazifalle schnappt zu. Entsprechend vorsichtig und bisweilen ängstlich verhalten sich viele Politiker und auch Journalisten. Im Jahr 2004 schaffte die NPD den Einzug in den sächsischen Landtag. Als die ZDF- Redakteurin Bettina Schausten am Wahlabend nach den Vertretern aller anderen Parteien auch den NPD-Spitzenkandidaten interviewen musste, war ihr die Panik ins Gesicht geschrieben: 19. OT Interview Bettina Schausten / Holger Apfel Schausten: 9,4 Prozent, Herr Apfel, hat ihre Partei in Sachsen eingefahren, mit einem Wahlkampf, der vor allem auf Parolen basierte wie "Schnauze voll". Wann sagen Sie den Wählern, dass sie eigentlich Neonazis sind? - (Apfel) Zunächst einmal ist der heutige Tag ein großartiger Tag für alle Deutschen, die noch Deutsche sein wollen. Er ist die verdiente Quittung für eine immer asozialere Sozialpolitik, eine asoziale Wirtschaftspolitik... (die Moderatorin unterbricht ihn, er redet im Hintergrund weiter) Schausten: Hier gehen jetzt die ersten, das sind auch ziemliche Parolen! Das war zu erwarten an diesem Abend (Apfel versucht sich weiter Gehör zu verschaffen) Schausten: Seien sie bitte still, seien sie bitte still! Wir geben jetzt weiter zu Steffen Seibert und den Zahlen. Sprecher Als Zuschauer rieb man sich verdutzt die Augen: so viel Emotion, so wenig Souveränität?! Dabei hatte der NPD-Mann zu dem Zeitpunkt weder den Holocaust geleugnet noch zur Hetzjagd auf Ausländer aufgerufen, sondern nur etwas völkisch- schlicht dahergeredet. Die Überreaktion der ZDF-Frau ist kein Einzelfall. Im Jahr 2005 legte die ARD/ZDF- Medienkommission eine Studie vor, die sich selbstkritisch mit dem Thema "Rechtsextremismus und Fernsehen" beschäftigte. Untersucht worden waren mehrere tausend Fernsehbeiträge aus den Jahren 2000 und 2001. Das Ergebnis: Wenn über Rechtsradikale berichtet wird, verlassen Journalisten oft die objektive Beobachterposition und beziehen Stellung - allerdings häufig ohne sich mit den Rechtsextremen kompetent auseinanderzusetzen: moralische Überhöhung trete dann leicht an die Stelle von Argumenten. Emotionen und sprachliche Stereotypen wie "brauner Terror", "braune Horden" und "Ewiggestrige" ersetzten die sachliche Ebene. - Der Medienforscher Ekkehardt Oehmichen, damals einer der Leiter des Forschungsteams. 20. OT Oehmichen Die Art ist eher ausgrenzend, nicht argumentativ in eine Auseinandersetzung mit diesen Positionen einzutreten und dann eine klare kritische Position in der Auseinandersetzung zu entwickeln. Das findet eben weniger statt, sondern eher die ängstliche Zurückhaltung: "Oh Gott, möglicherweise bin ich dem Gegenüber nicht gewachsen! Möglicherweise kritisiert mich dann mein Programmdirektor anschließend, weil ich eben dieser Grundhaltung des öffentlich-rechtlichen Fernsehens nicht wirklich gedient habe, deutlich dagegen Stellung zu nehmen!" Sprecher Wenn Journalisten Rechtsextreme abwürgten, statt sich nüchtern-kritisch mit ihnen zu befassen, so Ekkehardt Oehmichen, könne das zum Gegenteil des Beabsichtigten führen: dass sich die Zuschauer mit den unfair Behandelten solidarisieren und das Verhalten der Fernsehmacher als Zensur empfinden. - Doch warum diese Ängstlichkeit, wenn es um die NS-Vergangenheit oder um Neonazis geht? - Der Medienforscher formuliert es vorsichtig: 21. OT Oehmichen Das glaube ich schon, dass alle Positionen, die mit dem Dritten Reich, mit dem Nazismus, mit dem Krieg zusammenhängen, die ja von Rechtsextremen auch aufgegriffen werden, dass das Positionen sind, die wahrscheinlich nicht in dem Umfang aufgearbeitet worden sind für den Durchschnittsjournalisten oder den Durchschnittsbürger, wie das notwendig wäre, damit eine souveräne Haltung dazu möglich ist. Sprecher Man kann es auch deutlicher sagen: Wenn es um die NS-Vergangenheit oder aktuelle rechtsextreme Umtriebe geht, verliert man in Deutschland schnell den Verstand. Auswendig gelernte Richtigkeiten treten dann an die Stelle von Argumenten. Laut einer Forsa-Umfrage finden 25 Prozent der Deutschen, dass bei den Nazis nicht alles schlecht war. Bei den über 60-Jährigen sind es sogar 37 Prozent. Die gängige Reaktion auf solche Aussagen lautet: "Das ist Nazipropaganda! Der NS-Staat war von Grund auf böse, und im Bösen kann es nichts Gutes geben!" "Falsch!" sagt der Historiker Götz Aly. Die Nazis haben die Deutschen nicht nur mit den immer wieder zitierten Autobahnen, sondern auch mit zahlreichen anderen "Errungenschaften" beglückt, von denen wir zum Teil heute noch profitieren: Ehegattensplitting, Kindergeld, Abschaffung der Gebühren für weiterführende Schulen, Kündigungsschutz, Krankenversicherung für Rentner, ein Naturschutzgesetz, das als vorbildlich galt in Europa, und einen Vorläufer der Kilometerpauschale. 22. OT Aly Das waren Stimmungspolitiker. Die mussten immer wieder gucken, wie können sie die Volksmassen - integrieren ist vielleicht schon zuviel gesagt - ruhig stellen ist eigentlich der bessere Ausdruck. Sprecher Götz Aly bezeichnet den NS-Staat als eine "Gefälligkeitsdiktatur". Hitlers Taktik hieß: Wohltaten verteilen, wenn die Bevölkerung unzufrieden zu werden drohte, zum Beispiel 1941 vor Beginn des Russlandfeldzugs. 23. OT Aly In dieser Situation erhöht er die Löhne und zwar um sieben bis acht Prozent, indem nämlich die Zulagen für Sonn-, Feiertags- und Nachtarbeit steuer- und sozialabgabenfrei gestellt werden - eine "Errungenschaft", in Anführungszeichen, die wir bis heute haben. Die bei jeder Regierungsbildung immer mal zum Gespräch kommt, und wo immer so getan wird, vor allem von Gewerkschaftsseiten, als hätte das August Bebel selbst erfunden - es war Hitler! Sprecher Das heißt natürlich nicht, dass die NSDAP deshalb zu einem Wohltätigkeitsverein mutiert und Adolf Hitler zu einem guten Menschen. Denn wenn der Chef einer Verbrecherbande seine Komplizen bei Laune hält, indem er ihnen etwas vom Diebesgut abgibt, bleibt er trotzdem ein Verbrecher. Der Punkt ist nicht, dass sich die Nazis ihrem Volk gegenüber spendabel zeigten, sondern wie sie ihre Großzügigkeit finanzierten: durch eine atemberaubende Staatsverschuldung und vor allem durch die Ausplünderung der besetzten Länder und die Enteignung der Juden - letztlich durch Raub und millionenfachen Mord. Für die Diskussion um die "Wohltaten" der Nazis heißt das: Es reicht nicht, wenn man weiß, dass man nicht mit "Hitlers Autobahnen" argumentieren kann. Sondern man muss auch erklären können, warum das Autobahn-Argument nicht zieht. Musikakzent Sprecher Was die Diskussion erschwert, ist dass es beileibe nicht jedem Tabubrecher um die Wahrheit und um intellektuelle Redlichkeit geht: Neonazis wollen mit ihren Tabubrüchen die deutsche Schuld klein reden und ihre Ideologie salonfähig machen. Fernsehunterhalter wie Harald Schmidt und sein Kompagnon Oliver Pocher suchten mit ihrem "Nazometer" den Tabubruch um des Tabubruchs willen. Und anderen geht es um vor allem um persönliche Eitelkeit. 24. OT Walser Jeder kennt unsere geschichtliche Last, die unvergängliche Schande, kein Tag, an dem sie uns nicht vorgehalten wird. Manchmal, wenn ich nirgends mehr hinschauen kann, ohne von einer Beschuldigung attackiert zu werden, muss ich mir zu meiner Entlastung einreden, in den Medien sei auch eine Routine des Beschuldigens entstanden. Von den schlimmsten Filmsequenzen aus Konzentrationslagern habe ich bestimmt schon zwanzigmal weggeschaut. Sprecher Am 11. Oktober 1998, zehn Jahre nach dem Jenninger-Eklat, hält der Schriftsteller Martin Walser in der Frankfurter Paulskirche seine Dankesrede zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels. Eine Viertelstunde ergeht er sich in Betrachtungen darüber, was denn nun Gegenstand seiner Rede sein könnte: vielleicht Wald und Bäume? Gesellschaftliche Missstände? Die Frage, warum ehemalige DDR-Spione bestraft werden und westdeutsche nicht? - Ja schon, oder ach nein, klagt der Dichter, irgendwie, ist es das nicht! Doch dann kommt ihm die zündende Idee: warum nicht ein bisschen über Auschwitz plaudern - und sich dabei selbst ganz nebenbei in Pose setzen? 25. OT Walser Im Jahr 1977 habe ich nicht weit von hier, in Bergen-Enkheim, eine Rede halten müssen und habe die Gelegenheit damals dazu benutzt, folgendes Geständnis zu machen: "Ich halte es für unerträglich, die deutsche Geschichte - so schlimm sie zuletzt verlief- in einem Katastrophenprodukt enden zu lassen. Wir müssen die Wunde namens Deutschland offenhalten." Das fällt mir ein, weil ich jetzt wieder vor Kühnheit zittere, wenn ich sage: Auschwitz eignet sich nicht dafür, Drohroutine zu werden, jederzeit einsetzbares Einschüchterungsmittel oder Moralkeule oder auch nur Pflichtübung. Sprecher Ein deutscher Schriftsteller, bedroht von der Auschwitzkeule, vor Kühnheit zitternd, legt ein Geständnis ab, wie seinerzeit in Bergen-Enkheim. So was kommt an in den Medien! 26. OT Aly Er hat ohne Not, weil ihm vielleicht nichts Besseres eingefallen ist zu dieser Friedenspreisrede, das Thema Auschwitz genommen, weil er weiß, es ist zugkräftig, damit errege ich Aufsehen, anstatt über etwas Vernünftiges, Naheliegenderes zu sprechen, hat er eben das getan, in einer ganz unglücklichen, und wie ich finde, auch ganz falschen Weise, verletzenden Weise. Sprecher Besonders verletzt reagierte damals der Vorsitzende des Zentralrats der Juden Ignatz Bubis, der Walser "geistige Brandstiftung" vorwarf. - Wobei das Verletzende möglicherweise nicht so sehr im Inhalt liegt - denn tatsächlich gibt es eine Art von Betroffenheit, die sich im Glanz der Schuld gefällt und die schwer zu ertragen ist. Verletzend, sagt der Historiker Götz Aly, sind vor allem Walsers Motive. 27. OT Aly Bei Jenninger hat man eindeutig den Eindruck, dass er etwas erklären will und dass er redlich eine Frage beantworten will: Wie konnte es dazu kommen? Während bei Walser hat man das Gefühl, dass hier ein Narzisst am Werk ist, der selber nicht behelligt werden will, der irgendwie die Vergangenheit los sein will, der jedenfalls sozusagen nicht begrapscht werden will damit und sich davonstehlen will. Musikakzent Sprecher Warum verlieren wir, wenn es um die NS-Vergangenheit geht, so schnell den Verstand und reagieren mit Reflexen statt mit Argumenten? Warum der Zwang, vor jedem Satz zu betonen, dass man auf der richtigen Seite steht? Weil man sich nicht unnötig in die Nesseln setzen will, sagt das "gesunde Volksempfinden". Weil man uns im Ausland sonst für Nazis halten könnte, warnen die Politiker. Weil es den Deutschen an Selbstvertrauen mangelt und sie sich deshalb lieber an vorgegebene Wahrheiten halten, meinen Gesellschaftskritiker wie der Schriftsteller Rafael Seligmann. Mag sein. Doch vielleicht gibt es auch noch einen anderen Grund: Dass wir Angst haben, dass uns die Nazideutschen näher sind, als uns lieb sein kann. Und dass wir uns deshalb hinter unseren auswendig gelernten Richtigkeiten verschanzen: 28. OT Aly Ich glaube aber, dass das nur Distanzierungsmethoden der Gegenwart sind, um uns nämlich diese Faschisten, diese Nazis, möglichst fremd und weit entfernt zu machen, dass sie wie Marsmenschen wirken. Und die Wirklichkeit ist doch die: Es waren moderne Menschen wie wir. Nicht groß anders. Sondern in ihren Reaktionen unseren heutigen Reaktionsweisen, die es immer noch gibt und die es weiterhin geben wird, und zwar nicht nur bei Deutschen, verdammt ähnlich. Auf sehr unangenehme Weise nah und ähnlich! Spr. vom Dienst Die "Nazifalle" - Über Tabus bei der Vergangenheitsbewältigung Von Ulrich Panzer Es sprach: Victor Neumann Ton: Alexander Brennecke Regie: Klaus-Michael Klingsporn Redaktion: Stephan Pape Produktion: Deutschlandradio Kultur 2008 16