COPYRIGHT: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von DeutschlandRadio / Funkhaus Berlin benutzt werden. Deutschlandradio Kultur Forschung und Gesellschaft am 22. Januar 2009 Redaktion: Peter Kirsten Der Mensch als Nomade und Herr des Feuers Die Aktualität von Bruce Chatwins Theorie im Zeitalter der Globalisierung Von Hans-Jürgen Heinrichs Musik (Fahres: Hain, Feuerlandindianer) Zitat: "Ich stehe unter dem Zwang zu wandern, und ich stehe unter dem Zwang, zurückzukehren - eine Art Instinkt wie bei einem Zugvogel. Echte Nomaden haben kein festes Zuhause als solches; sie kompensieren das, indem sie immergleichen Migrationswegen folgen. ... Ein Nomade ?wandert' nicht ?ziellos von einem Ort zum anderen', wie es ein Wörterbuch gern hätte.? Autor: Bruce Chatwin, einer der großen Reiseschriftsteller des 20. Jahrhunderts, war ein ewig Ruheloser und machte das Unterwegssein des Menschen zu seinem großen, die Wissenschaften übergreifenden Thema. Lebenslang arbeitete er an einem modernen Verständnis für die nomadische Existenzform des Menschen. Legt man, wie er, den Schwerpunkt auf das Unterwegssein und die Ruhelosigkeit des Menschen als einer anthropologischen Anlage und allgemeinen Konstante, dann wirft dies ein ganz anderes Licht auf unsere Debatten über die Migrationsbewegungen und die geforderte Flexibilität in der globalen Gesellschaft. Zivilisation und nomadische Existenzform sind in Chatwins Verständnis keine Gegensätze. Kann eine Theorie der Nomaden den Ursprung der Menschheit erklären? Führt die globale Gesellschaft den Menschen, aufgrund von Marktgesetzen, wieder ein Stück zu seiner ursprünglichen Lebensform zurück? Der Ethnologe Michael Oppitz, einer der besten Kenner von Chatwins Theorie, hält sie, nicht ohne Einschränkungen, für haltbar und nützlich, um die Gründe für großen Bewegungen in der Menschheitsgeschichte zu benennen. Er empfindet aber die Art und Weise, in der Chatwin seinen Roman Songlines (auf Deutsch: Traumpfade) mit dieser Theorie gleichsam beladen hat, als problematisch: 1. O-Ton (Oppitz): Chatwin hat die Theorie, dass der Mensch erstmals in Afrika registriert worden sei und dann über Asien nach Australien gelangte, als Buckeltheorie auf seinen Roman Songlines draufgesetzt. Die Theorie des Nomadentums würde auch erklären, warum nicht nur Menschen, sondern auch Ideen gewandert sind. Autor: Die globale Gesellschaft und deren Marktgesetze zwingen die Menschen zu größerer Flexibilität. Sie werden zu Nomaden wider Willen. Anders aber als Nomaden, die klar konturierten und selbst gewählten Migrationswegen folgen, werden Arbeitskräfte heute immer öfter gemäß Gesetzen verschoben, die nichts mit ihren eigenen Lebensgesetzen oder denen der Natur zu tun haben. In Charakterisierungen des 20. Jahrhunderts als eines "Jahrhunderts der Migranten und Asylanten? ist der abschätzige Ton gegenüber allen, die nicht sesshaft sind, besonders auffällig. Nomaden (zum Beispiel sogenannte "Mietnomaden?, die von einer Wohnung in eine andere ziehen), herumstreunende Zigeuner, Fremdarbeiter und Asylanten, die in unser Land kommen und den eigenen Raum auf scheinbar lebensbedrohende Art und Weise verengen - sie alle sind Fremde, deren Lebensformen von Grund auf suspekt erscheinen und immer noch mit der völlig abstrakten und mit der Wirklichkeit unvereinbaren Idee einer monokulturellen Gesellschaft sesshafter Menschen verbunden wird. Elie Wiesel hat die elementare Angst vor den Fremden (den Migranten aus Überzeugung und denen wider Willen) treffend charakterisiert: Zitat: "Der Fremde verkörpert das Unbekannte, das Verbotene und Ausgegrenzte. Wer weiß, was er im Verborgenen treibt, vielleicht schmiedet er Komplotte und Intrigen, zweifellos bringt er Unglück, er sät den Zweifel und dann ist er plötzlich verschwunden. Der Fremde vertritt all das, was wir nicht sind. Er stellt unsere eigene Rolle in der Gesellschaft in Frage. Ich muss ihn nur ansehen, um zu begreifen, dass auch ich, in den Augen eines anderen, ein Fremder sein kann. Letztlich fürchte ich ihn nur, weil ich vor mir selbst erschrecke. Er gleicht mir.? Autor: Auch wenn Migrationen immer schon selbstverständliche Bestandteile der Gesellschaften waren und die Rede von monokulturellen Gesellschaften nur eine Fiktion darstellt, haben sich die Gegenüberstellungen von "Eigen? und "Fremd?, von "Sesshaftigkeit? und "Nomadentum?, von "mono-" und "multikulturell? bis heute erhalten. Nomaden identifiziert man dabei fälschlicherweise mit einem wilden Herumziehen und der Missachtung von Grenzen. Eine Theorie des Nomadentums, wie sie Chatwin als Einzelgänger entwirft, versucht sehr viele noch unbekannte Aspekte ins Spiel zu bringen und ist nicht so durchstrukturiert wie eine von Spezialisten in Teamwork und über längere Zeiträume hinweg entwickelte. Chatwins gleichsam wilde Theorie hat aber auch viele Vorteile: in ihr ist nicht alles geglättet und abgesichert; man sieht ihr noch den Prozess der Entstehung, die Widersprüche und Unebenheiten an. Sie gleicht darin mehr einem Spielfilm als einem Dokumentarfilm, mehr einer Erzählung als einem Bericht. Musik (Fahres) Bei aller Leidenschaft, die Chatwin schon aus persönlichem Interesse an den Nomaden hatte - insofern er sich in ihnen wiedererkannte -, idealisierte er doch ihre Lebensweise nicht. Er sah in ihnen gerade nicht nur friedliebende Menschen, ohne jeden gewalttätigen Wettstreit. Bruce Chatwin spricht sogar von einer nomadischen "Militärmaschine?, die aber den in Streit verwickelten Parteien nie außer Kontrolle gerät. Zitat: "Bei ihren internen Fehden bewahren die Nomaden etwas von ihrer ?archaischen' Vorstellung von der Gleichwertigkeit der Menschen. Die Nomadenwelt ist von Blutrachen erschüttert, doch Gerechtigkeit wird persönlich, schnell und wirksam geübt. Alle in einen Streit verwickelten Parteien versuchen zu verhindern, dass er außer Kontrolle gerät. Aufgrund ihrer Instabilität fehlt es den Nomaden an dem Zusammenhalt, der für Eroberungen in größerem Maßstab notwendig ist. Die Nomadenheere waren von mächtigen Autokraten koordinierte Militärmaschinen. Ihr Zusammenhalt lässt sich nur durch die Konfrontation der Nomaden mit der sesshaften Zivilisation erklären.? Autor: Chatwin war davon überzeugt - ohne dies im konventionellen wissenschaftlichen Sinn zu belegen -, dass die Nomaden ihrem menschlichen "Urbedürfnis nach Bewegung und Unterwegssein? entschiedener nachgaben und ihre Aggressionen, ihre Reaktionen auf frustrierende Einengungen deswegen sehr viel versöhnlicher als bei den Sesshaften ausfielen. 2. O-Ton (Oppitz): Man sollte die Sache auch erweitern, und zwar nicht nur unter dem Gesichtspunkt, bewegt man sich jeden Tag an einen neuen Ort, sondern unter dem Gesichtspunkt der Hauslosigkeit. Das ist sicher überlegenswert, dass mehr Probleme geschaffen werden durch die Sesshaftigkeit, als dass sie gelöst werden. Denken wir nur daran, wie wir in unserer Gesellschaft ununterbrochen über unsere Wohnung nachdenken ... Nomaden hätten das gegenwärtige Problem der Immobilien- und Finanzkrise überhaupt nicht. Da ist von ihm etwas angesprochen aus einer psychischen Vision, das ist lohnenswert. Autor: Michael Oppitz' Charakterisierung der Theorie Chatwins als einer subjektiv verbürgten Vision, die für unsere allgemeinen gesellschaftlichen Überlegungen nutzbar gemacht werden kann, trifft besonders gut die Besonderheit seines Denkansatzes. Wenn wir die heutige Situation der Migranten und der nomadisierenden Arbeitskräfte in der globalen Welt betrachten, können wir darin natürlich nicht eine Rückkehr zur ursprünglichen Lebensform sehen. Aber wir werden diese gegenwärtigen Lebens- und Arbeitsverhältnisse im Licht von Chatwins Nomadentheorie nicht nur als unglückliches Schicksal, sondern auch als eine dem Menschen vertraute Daseinsweise erkennen. Und was für die Migranten und nomadisierenden Arbeitskräfte von heute gilt, trifft auch auf die Nomaden zu: Beide praktizieren keine reinen Formen, sondern Mischformen aus Sesshaftigkeit und Nomadisieren. Michael Oppitz stellt noch einmal den Nutzen von Chatwins Nomadismus-Theorie heraus, schlägt aber zugleich eine Einschränkung im Sinne einer Theorie des Austauschs vor. 3. O-Ton (Oppitz): Wir wissen ja von existierenden Nomadengruppen sehr genau, dass sie nicht einfach wahllos herumwandern, sondern sie rotieren oder oszillieren gewissermaßen. Die wissen genau, wohin sie gehen, und dann gehen sie wieder zurück. Die Nomadismus-Theorie würde in gewisser Weise behilflich sein, um zu erklären, wieso Menschen nicht nur gewandert sind, sondern auch Ideen gewandert sind. Das spielt auch für die Mythologie eine große Rolle ... dass sich Motive über riesige Areale hinweg sehr stark ähneln. Das kann nicht auf Zufall beruhen, das muss weiter getragen worden sein. Aber dazu braucht man nicht unbedingt eine Völkerwanderung und Theorie des Nomadentums, sondern eine Theorie des Austausches. Autor: Bruce Chatwin entwickelte seine Theorien nicht als strenger Wissenschaftler, sondern als ein von Sujets und Visionen, von einer einmal gefassten Idee besessener Schriftsteller. 4. O-Ton (Oppitz): Wir waren ja befreundet und haben uns zu einer Zeit in Nepal getroffen, wo ich gerade über die Transhumans arbeitete, also über die Bewegung der Schafherden. Das hat ihn maßlos beunruhigt und auch fasziniert, dass da nicht eine horizontlose nomadische Bewegung stattfand, sondern eine in einem recht eng gefassten Raum und mit genau festgelegten, präzise festgelegten Tagesetappen. Er hat sich aber von seinem großräumigen Nomadismus nicht abbringen lassen. Autor: Salman Rushdie, mit dem Chatwin Australien bereiste, hat dessen Begeisterungsfähigkeit für das Nomadentum hautnah miterlebt und dabei betont, wie sehr Chatwin darunter litt, dass er sein Nomadismus-Buch nicht zum Abschluss bringen konnte. Zitat: "Sein unfertiges Buch war ihm auch eine Last, die er schon sein ganzes Schriftstellerleben hindurch mit sich trägt. Wenn er dies erst einmal geschrieben hat, wird er frei sein, wird er in alle möglichen Richtungen davonfliegen können.? Musik (Fahres) Autor: Sowohl die Aborigines Australiens als auch die Einwohner Patagoniens haben sich mehrfach eher misstrauisch und kritisch als freundlich oder gar dankbar gegenüber Chatwins Büchern geäußert. Sie fühlten sich nicht immer richtig wiedergegeben und angemessen dargestellt. Chatwins Kritiker haben diesen Punkt verschiedentlich aufgegriffen, ohne dabei zu bedenken, dass eine Darstellung von außen stets eine Verzerrung im Sinne der Menschen selbst darstellt. Es handelt sich ja - sowohl beim literarischen als auch beim wissenschaftlichen Text - um fremde Wahrnehmungs- und Gestaltungsformen, die nicht identisch sind mit denen der beschriebenen Menschen. Aus diesem Grund hat man schon seit den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts, als Ergänzung zur europäischen Ethnologie, eine lokale, von den Menschen selbst verantwortete Ethnographie gefordert. Wenn man also von persönlichen und wissenschaftlichen Fehlern bei Chatwin spricht - wie dies auch etwa Salman Rushdie oder ein Archäologe in Australien getan haben -, muss man solche der Ethnologie und der Reiseliteratur immer innewohnende Problematik grundsätzlich mit bedenken. Kritiker oder Wissenschaftler, die sich mit dem Verteilen von Vorwürfen hervortun, sind zumeist solche, die selbst kein Neuland betreten, sondern nur die von den Pionieren und Visionären vorgezeichneten Wege abgeschritten sind. So ist es auch zu erklären, dass es kaum ernsthafte Auseinandersetzungen mit Chatwins Theorie in der Ethnologie gibt. Und Chatwin selbst gelingt es letztlich auch nicht, das Formproblem zu lösen: Seine Theorie vom ursprünglichen Unterwegssein des Menschen wirkt wie ein Fremdkörper in seinem Roman Traumpfade. Das ist auch Michael Oppitz' Eindruck: 5. O-Ton (Oppitz): Ich sag das ein bisschen abschätzig, weil mir klar geworden ist, dass er zwei Bücher in eins gepackt hat: eins über den Nomadismus und das andere über das Singen von Landschaft oder das Erschaffen von Landschaft durch Singen. Autor: Chatwins Theorie des Nomadentums gehört zu den für die Wissenschaften enorm wichtigen spekulativen und visionären Entwürfen, beseelt von Leidenschaft und Besessenheit. Sie entstehen in den Zwischenbereichen zwischen Natur- und Geisteswissenschaften und Literatur und praktisch nie innerhalb einer Disziplin und eines geregelten akademischen Betriebs. Von der Peripherie her liefern sie aber die entscheidenden Anstöße für die wissenschaftliche Forschung und weitere empirische und theoretische Ausarbeitung. Es ist, so auch im Falle von Bruce Chatwin, diese Verflechtung eines persönlichen Mythos - seine neurotische Unruhe und deren Überhöhung zu einer Eigenschaft des Menschen generell - mit einer originären Forschungsleidenschaft, auf die die Wissenschaften nicht verzichten können, wenn sie nicht zur bloßen Verwaltung des angesammelten Wissens regredieren wollen. Musik (Fahres) Chatwins großes Interesse an frühgeschichtlichen und archäologischen Forschungen führte ihn eines Tages auch nach Südafrika. Dort traf er den Paläontologen Bob Brain, der aufwendige und langwierige Ausgrabungsarbeiten in einer Höhle durchführte. Brains Analyse versteinerter Knochen untermauerte seine gewagte These, wonach der Frühmensch bereits 1.200.000 Jahre vor Christus das Feuers erfunden hatte. Nur so war er gegen die bis dahin überlegenen Raubtiere gewappnet. Und noch etwas interessierte Chatwin an den Spekulationen des Forschers Bob Brain: Wenn der Frühmensch in Afrika vor der Erfindung des Feuers die bevorzugte Beute von Raubkatzen, die mit ihm die Grasflächen teilten, war, dann kann sein Raubtierinstinkt nicht so stark ausgeprägt gewesen sein. Wenn er Opfer von Tieren wurde, ist es höchst unwahrscheinlich, dass er von seinen Ursprüngen her wild, blutrünstig und aggressiv gewesen ist, wie man uns immer vorzumachen versuchte. Die Aggression richtete sich, so Chatwins Überlegung, nicht gegen andere Menschen, sondern gegen wilde Tiere. Zitat: "Der Prometheus-Mythos ist meiner Meinung nach für das Verständnis der Lebensverhältnisse des ersten Menschen absolut entscheidend - denn es war das Feuer, mit dem sich der Mensch nachts angemessen vor Raubkatzen schützen konnte. ... Möglicherweise bin ich genau an dem Tag am Ausgrabungsort aufgetaucht, an dem die früheste Feuerstelle der Welt gefunden wurde.? Autor: Über das Feuer und - das war Chatwins kreative Ergänzung - über die Sprache rettete sich der Mensch. Mithilfe der Sprache verbündete er sich gegen "die Bestie?. Zitat: "Der Mensch ist ein sprechendes Tier, ein Geschichten erzählendes Tier. Ich würde gerne glauben, dass er sich durch sein Erzählen vor der Ausrottung gerettet hat und dass darin der Sinn des Erzählens liegt.? Autor: Die Sprache, das Erzählen von Geschichten und die Erfindung des Feuers waren, so seine Überzeugung, aus der Notwendigkeit hervorgegangen, ein Abwehr- und Signalsystem gegen die übermächtigen Raubtiere zu entwickeln. In diesem Zusammenhang geht Chatwin auch immer wieder auf den Schamanismus - die früheste Heilkunst des Menschen - ein. Er sieht diese sogenannte Ekstasetechnik aufs engste mit der Erfindung des Feuers verknüpft und identifizierte sich auch persönlich mit der Figur des Schamanen. Michael Oppitz, der den Schamanismus im Himalaya erforschte und dort auch seinen berühmten Film Schamanen im blinden Land drehte, möchte die Zusammengehörigkeit des Feuer-Mythos und des Schamanismus nur eingeschränkt gelten lassen: 6. O-Ton (Oppitz): Was meine schamanistischen Gesellschaften angeht, die ich kenne, da spielt der Mythos von der Erschaffung des Feuers keine nennenswerte Rolle. Was nicht heißt, dass das nicht in vielen Gesellschaften so der Fall ist, besonders in Afrika. Eine direkte Spur von der Erschaffung des Feuers zum Schamanismus lässt sich nicht ziehen. Autor: Berühmt war Chatwin durch seine Bücher über Patagonien geworden, die über Jahrzehnte hinweg geradezu Kultstatus besaßen. Nicht weniger legendär sind seine Romane, wie zum Beispiel "Auf dem schwarzen Berg" oder das Buch "Der Vizekönig von Ouidah", das Werner Herzog verfilmte, und der große Band "Traumpfade", der die Stimmung einer ganzen Generation - die Suche nach anderen, alternativen Lebensformen und einer größeren inneren Freiheit - mitprägte. Auf ganz unverwechselbare Weise verknüpfte der 1940 in England geborene Chatwin in seinen (in alle großen Sprachen übersetzten) Werken die erzählerische, die visionäre und die wissenschaftlich erforschende Haltung. Einer der ausgewiesenen Kenner von Chatwin, der englische Schriftsteller Nicholas Shakespeare, schreibt in seiner voluminösen Biographie: Zitat: "In jedem seiner Bücher hat Chatwin einen anderen Teil der Welt erkundet. Sie brodelten lange Zeit in seinem Kopf, aber der Ausgangspunkt war stets die Vitrine mit dem Fellrelikt. Denn sie bildete das ordnende Zentrum, den Nährboden für seine Tagträume, und die in ihr aufbewahrten Gegenstände waren seine Spielzeuge, seine Wissensbrücken.? Musik (Fahres) Autor: Bruce Chatwins Gedanken kreisten - das beweisen seine Texte ebenso wie die Aussagen der mit ihm vertrauten Menschen - um das Leben in der Wüste und um das nomadische Leben als Urform menschlichen Seins. Seiner Ruhelosigkeit versuchte er in seiner Theorie des Nomadentums auf die Spur zu kommen - ein Projekt, das von ihm nicht abgeschlossen wurde, trotz zwanzigjähriger Arbeit daran. Je gründlicher er recherchierte, desto unübersichtlicher wurden das Material und seine Auswertung, bis ihm selbst das ganze Manuskript als unlesbar vorkam. Der Schriftsteller Cees Nooteboom charakterisierte ihn einmal so: Zitat: "Er war der Mann mit dem warmen Herzen und dem kalten Auge. Er war einer der ungewöhnlichsten Menschen, denen ich begegnete. Er hatte ein leicht übersteigertes Vorstellungsvermögen und ein gewisses Talent für Mimikry.? 7. O-Ton (Oppitz): Der hasste Gepäck, der hatte immer nur ein Reisetäschchen oder einen kleinen beweglichen Rucksack, mit dem man durch die Mengen Slalom fahren konnte. Und so ging der auch durch die Welt; den konnte man sich gar nicht vorstellen mit einem Schiebekoffer. Der musste immer beweglich bleiben. Und da war es völlig egal, ob man in Patagonien war oder in Südafrika oder in Australien. Ich glaube auch, dass der enorme Effekt, den er als Autor gehabt hat, mit dieser Beweglichkeit zu tun hat, die nicht die Beweglichkeit eines Reporters oder Berichterstatters ist, sondern eines Menschen, der in der flüchtigen Begegnung und im schnellen Aufnehmen einer Situation und von Personen eine leichte Skizze macht, bei der man den Eindruck hat, das stimmt. Autor: Chatwin erfuhr die Welt reisend und schreibend: als Globetrotter und Flaneur, als Kosmopolit. Die Welt war seine Heimat, die er gerne zu Fuß ausmaß. Entfernungen spielten für ihn kaum eine Rolle. Eine Wanderung in den Tälern rings um den Mount Everest erschien ihm um nichts exotischer als ein Gang durch den Prado. Ob auf den Spuren eines Yeti - in jenem nebulösen Bereich zwischen Zoologie, Anthropologie und Imagination - oder des genialen Reisenden Robert Byron, Chatwin erzählte stets mit großer Ruhe und Gelassenheit von allem, was ihm begegnete, wie er es verstand, wie er es deutete und wie er sich selbst staunend dabei zusah. Musik (Fahres) Autor: Der frühe Tod des gerade mal neunundvierzigjährigen Bruce Chatwin im Jahre 1989 wurde in den meisten europäischen Ländern als großer Verlust empfunden - nachdem man sich seit 1977 (der Veröffentlichung des Buches In Patagonien) schon an diesen neuen Ton eines leidenschaftlichen Erforschers und Poeten der Fremde gewöhnt hatte, an seinen Stil, den man in Anlehnung an die Formulierung "kafkaesk? als "chatwinesk? charakterisierte. Wenn jemand, verwundert über die große Anteilnahme an Chatwins Tod, ausrief "Man könnte glauben, dass Lord Byron gestorben ist", dann artikulierte dies besonders treffend die damals herrschende Stimmung: Trauer über den Verlust eines Exzentrikers, der neue Horizonte eröffnet hatte, dessen direkter Ton im Gespräch wohltuend wirkte, ein begeisterungsfähiges Energiebündel, voller Lust am freundschaftlichen und belebenden Umgang mit Menschen. Bruce Chatwin - eine der inspirierendsten Figuren im Spannungsfeld von Literatur und Ethnologie zu Ende des 20. Jahrhunderts - war, so charakterisierte ihn einmal der Regisseur Werner Herzog, ein "schönes Feuerwerk", das schnell verlosch, ein "Wolkenbruch des Geschichtenerzählens". Zitat: "So ging es weiter und weiter, unterbrochen nur durch ein paar Stunden Schlaf. Wenn ich heute an Bruce Chatwin denke, denke ich an den ultimativen Geschichtenerzähler. Es sind der Nachhall der Stimme und die Tiefe seiner Vision, die ihn zu einem der wahrhaft großen Schriftsteller unserer Zeit machen." Autor: Aber man gebe sich keinen Illusionen hin: Auch die Begeisterung für die "wahrhaft großen Schriftsteller" und Visionäre ist begrenzt und flammt nur kurzzeitig bei Gedenktagen, an Geburtstag oder Tod wieder auf. Das gilt auch für Chatwin. In der Ethnologie spielt er heute ebenso wenig wie Victor Segalen, Michel Leiris, Hubert Fichte oder, sogar, Claude Lévi- Strauss eine bedeutende Rolle. Letztlich verbirgt sich dahinter immer auch eine Rache der Spezialisten an den ihnen - was Phantasie und visionäre Kraft betrifft - haushoch überlegenen Einzelgängern. Chatwin war der Gegentypus eines Spezialisten; er war - wie der große Victor Segalen zu Beginn des 20. Jahrhunderts - ein leidenschaftlicher Amateur der Ethnologie und Archäologie, ein Sammler - und darin natürlich auch Experte, Kunstexperte. Aber bezeichnend für ihn ist ja, dass er seine Stellung im Auktionshaus Sotheby's aufgab, um herumzureisen. Er wird der in Gedanken und Assoziationen umherschweifende und, mit seinen berühmt gewordenen schweren Schuhen, die Landschaften ausschreitende Universalist. Stets hielt er sich an den Schnittstellen einer sich aus den Fesseln der konventionellen Literatur und Wissenschaft befreienden Forschung auf, ließ sich beeinflussen und spornte seine Gesprächspartner zu Spekulationen und zur Erweiterung ihres Blicks an. 8. O-Ton (Oppitz): Nicht nur im allgemeinen Bewusstsein, sondern auch in meinem eigenen würde ich sagen, hat die starke Faszination von Chatwin nachgelassen als eine Figur, die weder beide Beine in der Literatur noch in der Ethnologie hat. Aber Tatsache bleibt natürlich, dass er das auch war: ein Mensch, der sehr viel unterwegs war, überall die Augen offenhielt und darüber berichtete, teilweise auch in fiktiver Weise weiterdachte, und doch auch sehr stark an der Beschreibung blieb. Dieses Bild einer wirklich auratischen Schriftstellerpersönlichkeit wird meiner Ansicht nach bleiben, das wird nicht verschwinden. Musik (Fahres) unterlegen Autor: Einer von Chatwins engen Freunden bemerkte einmal: Zitat: "Wer ihn beherbergte oder bei ihm wohnte, musste damit rechnen, am frühen Morgen von Bruce geweckt zu werden, der sich aufs Bett setzte und eine Anekdote oder eine Neuigkeit loswerden wollte ... ?Er redete Ewigkeiten' ... Wenn Bruce in Fahrt kam, hatte man das Gefühl, mit einem Cinemascope im Zimmer zu sein.? 1