Deutschlandfunk GESICHTER EUROPAS Samstag, 30. Januar 2010, 11.05 - 12.00 Uhr Dicke Luft im Koffieshop: Die umstrittene Drogenpolitik der Niederlande Mit Reportagen von Kerstin Schweighöfer Am Mikrofon: Bettina Nutz Musikauswahl: Babette Michel --------------------------------------------------------- Geert Leers, der frühere Bürgermeister von Maastricht: "(..) Wir stehen an einer Kreuzung: Entweder wir tolerieren auch die Produktion weicher Drogen - oder wir machen ALLE einen Rückzieher und passen uns wieder dem Rest Europas an. Ein Mittelweg jedenfalls ist nicht länger möglich." Und Niels, 18 Jahre alt, über Cannabis und den Einstieg in die Sucht: "Hasch und Marihuana werden unterschätzt (...) EIN Joint ist zwar nicht so schlimm, aber aus einem werden zwei und dann drei und dann vier - bis du nur noch von einem Joint zum nächsten lebst. Kiffen macht echt süchtig!" "Gesichter Europas" an diesem Samstag: "Dicke Luft im Koffieshop" - Die umstrittene Drogenpolitik der Niederlande." Eine Sendung mit Reportagen von Kerstin Schweighöfer. Am Mikrofon begrüßt Sie Bettina Nutz! Sie haben so gar nichts von den schmucken Latte-macchiato- Tempeln, die jetzt überall in Mode sind. Allenfalls den zweifelhaften Charme einer rauchgeschwängerten Kneipe. In den niederländischen Koffie-Shops ist Kaffee Nebensache. Die Kunden verlangen nach stärkerem: nach White Widow zum Beispiel. Oder ZeroZero, Big Afghan, Spoetnik. Exotische Namen für Haschisch und Marihuana. Das geht in vielen verschiedenen Varianten über die Theken zwischen Amsterdam und Nimwegen. Cannabis ist immer noch das Rauschmittel Nummer eins in Europa. In den Niederlanden darf man es seit den Siebziger Jahren ungestraft kaufen und konsumieren. Kaum ein anderes Land pflegt einen so liberalen Umgang mit weichen Drogen. Mittlerweile allerdings braut sich an der Nordseeküste etwas zusammen. Den Gründern der freizügigen Drogenpolitik weht ein rauer Wind entgegen. Kaum etwas von dem, was sie sich erhofft hatten, sei eingetreten, behaupten ihre Gegner. Die Niederländer sind hin- und hergerissen. Zudem machen die Nachbarstaaten Druck. Holland gilt ihnen als Einfallstor in die europäische Drogenszene. In und um die Koffieshops im Land herrscht dicke Luft: Amsterdam, Ecke Spuistraat, Korte Kolksteeg: Einen Steinwurf vom Hauptbahnhof entfernt liegt ANYDAY, ein kleiner, aber feiner Koffieshop. Er zählt zu den besten der Stadt: Unter der Decke hängen süßliche Schwaden, weiter unten, am Tresen, drängen sich wie immer am späten Nachmittag zwischen fünf und sechs die Kunden. Es sind vor allem Männer, alte und junge. Sie tragen Jeans und Sweatshirt, *aber auch Anzug und Krawatte. Was sie eint: "Sie alle wollen hier in Ruhe einen Joint rauchen", erklärt der 33-jährige Marc: Der blonde, lang aufgeschossene Niederländer bedient hinterm Tresen und sieht aus wie der ideale Schwiegersohn. Seinen Nachnamen will er nicht nennen, umso lieber spricht er über das Angebot, das er für seine Kiffer in petto hat: "Wir haben zehn verschiedene Sorten niederländisches Marihuana, das so genannte Nederwiet. Ausserdem gibt es Marihuana aus Thailand oder Südamerika. Und Haschisch aus Marokko, Afghanistan, Nepal oder Indien. Wir verkaufen auch niederländisches Haschisch: Isolator, das ist eines der stärksten auf der Welt!" Die Preise liegen zwischen sieben und acht Euro pro Gramm. Maximal fünf Gramm darf ein Kunde kaufen - vorausgesetzt, er ist 18 Jahre alt. Die Polizei kommt regelmäßig vorbei, um zu kontrollieren, ob alle Regeln eingehalten werden. Sie prüft auch nach, wie groß der Vorrat ist, den ein Koffieshop auf Lager hat. Mehr als 500 Gramm dürfen es nicht sein. "Das ist nicht viel", seufzt Marc. Aber damit muss ein Koffieshop auskommen - zumindest offiziell: "Wer sich mit mehr erwischen lässt, bekommt große Probleme", berichtet Marc, bevor ihm ein alter Bekannter auf die Schulter klopft: Es ist Wernard Bruining, Stammkunde und - wenn man so will - einer der prominentesten Kiffer des Landes. Denn der kleingewachsene Alt-Hippie hat 1973 in Amsterdam den allerersten Koffieshop eröffnet. "Yellowmellow" hieß er, erzählt der 59Jährige auf dem Weg nach oben in den marokkanischen Rauchsalon im ersten Stock. Da ist es ruhiger: "Wir suchten einen Ort, wo wir alle in aller Ruhe kiffen und Tischfussball spielen konnten. Einer von uns setzte sich mit einer grossen Tasche an die Bar und spielte den Dealer, der verkaufte Hasch und Marihuana für 10 und 25 Euro..halt, nein, das waren damals ja noch Gulden!" Silbergrauer Stoppelhaarschnitt, eindringliche dunkle Omar Sharif-Augen, Parka und Pullover: Wernard Bruining gleicht einem salopp gekleideten Vertreter. Nichts erinnert mehr an den einstigen Hippie: "Damals hatte ich lange Haare und einen Bart, ich trug eine Brille und einen schweren afghanischen Pelzmantel. Wir haben das Straßenbild verändert! Die Leute haben uns hinterhergeguckt. Wir sorgten für mehr Freiheit, mehr Entfaltungsmöglichkeiten. Wir waren es, die Cannabis für alle zugänglich gemacht haben!" Eigentlich hätte er Lehrer werden wollen, erzählt er, als ihm Marc eine Tasse Tee mit Honig bringt. Doch Bruining brach das Studium ab und schlug sich mit Gelegenheitsjobs durch. Heute druckt er Info-Broschüren, mit Touristen-Tipps für die besten Koffieshops der Stadt. Von den Werbe-Anzeigen in den Heftchen können er und seine Familie ganz gut leben. Fünf Kinder hat Bruining - und, so lacht er herzhaft: "Halten Sie sich fest - keiner von ihnen kifft!" "Eigentlich unverständlich", findet er. Immerhin ermögliche Cannabis es den Menschen, auf "göttlichem Niveau zu kommunizieren": Verbote würden sowieso nichts nützen. Deshalb habe sein Koffieshop Yellowmellow ja auch Schule gemacht und deshalb gebe es heute überall Koffieshops: "Mit Verboten erreicht man das Gegenteil. Das zeigt sich gleich auf der ersten Seite der Bibel, wo Adam und Eva nicht die verbotene Frucht essen dürfen. Alle Äpfel dieser Welt durften sie pflücken, bloss die nicht von diesem einen Baum. Und was taten sie? Kaum hatte sich Gott verzogen, hingen sie genau in diesem Apfelbaum. Wie also in aller Welt können manche Leute so idiotisch sein und glauben, dass ihnen gelingt, was noch nicht einmal Gott gelungen ist? Drogen lassen sich nicht verbieten, das macht junge Leute nur neugierig, dann wollen sie erst recht damit experimentieren. Wir können nur versuchen, den Umgang damit sicherer zu machen." Nederwiet, das heimische Qualitätsprodukt, ist im Laufe der Jahrzehnte durch raffinierte Veredelungstechniken immer stärker geworden. Experten fragen sich, ob von einer weichen Droge überhaupt noch die Rede sein kann. Auch Kiffen, so warnen sie, könne süchtig machen. Doch davon will Althippie Bruining nichts wissen, das findet er lächerlich: Dass der Regierung in Den Haag die Koffieshops ein Dorn im Auge geworden sind, kann er nicht verstehen. Selbst über ein Verbot wurde bereits diskutiert. Aber soweit, davon ist Althippie Bruining überzeugt, wird es nicht kommen - ganz im Gegenteil, meint er trotzig: Das denke ich nicht nur, das weiss ich! Kein einziges Verbot hat sich im Laufe der Geschichte halten können. Cannabis ist nun schon seit mehr 30 Jahren verboten, ich prophezeie Ihnen: Innerhalb der nächsten fünf Jahre wird diese Droge so legal werden wie Alkohol heute. ++++++++++++++++ Joop den Uyl, der Sozialdemokrat, liberalisierte in den Siebziger Jahren die niederländischen Drogengesetze. Er setzte auf Pragmatismus auf Verbote, die ohnehin keine Wirkung zeigten. Dann sollte das harmlosere Kiffen aus dunklen Hinterzimmern verschwinden. Dealern der Boden für ihr schmutziges Handwerk entzogen werden. Die Strategie hieß: "Gedoogbeleid" - Duldungspolitik. So wurde Kiffen zwar nicht legalisiert, aber auch nicht mehr bestraft. Am Ende, so die Hoffnung, würde der Rest Europas nachziehen. Die vollständige Legalisierung von Hasch und Marihuana wäre nur noch eine Frage der Zeit. Doch es kam ganz anders. Handel und Konsum von Rauschgiften aller Art haben sich in dreißig Jahren völlig verändert. Illegale Labore entwickeln immer neue und stärkere Rezepturen für Party-Pillen. Der Vertrieb läuft oft unkontrolliert übers Internet. Und immer mehr junge Menschen in Europa bedröhnen sich lieber mit einem gefährlichen Giftcocktail: Alkohol und Cannabis - dazu eine Prise vom verbotenen Kokain. Die Folgen sind auch in Amsterdam zu besichtigen, wo vor dreißig Jahren die ersten offiziellen Koffieshops öffneten. Der deutsche Schriftsteller Michael Buselmeier schickt seinen Ich- Erzähler im Jahre 2003 auf die Vergnügungsmeilen der Stadt. "Amsterdam. Leidseplein" ist der Titel des Romans. "Ohne es recht zu merken, bin ich in das Oude Kerk-Viertel geraten, wo die Schwarzen das Feld beherrschen. Sie machen kleinere Drogengeschäfte unter den Augen der Polizei, gestikulieren, lachen und schreien, schlecken Eis, trippeln auf der Stelle wie Tauben, führen auf den geschwungenen Brücken ein paar Tanzschritte aus. Haschisch? Heroin? Frauen? Die meisten Huren in den erleuchteten Glaskästen sind nicht mein Typ. (...) Ein penetrant süßlicher Geruch geht von dem runden, grün gestrichenen Eisenpissoir aus, vor dem wir Nichtstuer mit angezogenen Nüstern Schlange stehen. Im Boden ein steingefasstes Pissloch, auf der winzigen Ablage eine Spritze, ein Löffel, ein blutiges Taschentuch. (...) Was die fiebrige Meute hier suchen mag; das Trippeln der Stöckelschuhe? Tag und Nacht sind die Nutten parat, die Drogen sind überall zu haben und billig, die Spelunken überfüllt und die Pfade entlang der Grachten voller Voyeure, Junkies, Hurenböcke, die sich ständig im Kreis bewegen." Zweieinhalb Prozent aller Jugendlichen in Europa drehen sich täglich einen Joint. Das stellt der jüngst europäischen Drogenbericht fest. Und bislang galt die Annahme: wer Marihuana raucht, ist nicht auf dem Weg nach ganz unten. Cannabis kann, muss aber nicht zwangsläufig Einstiegsdroge sein. Doch Suchtexperten bezweifeln inzwischen die Harmlosigkeit von Gras und Dope. Denn deren chemische Zusammensetzung hat sich in den vergangenen Jahren dramatisch verändert. Cannabis ist ein pflanzliches Rauschgift, es gehört zur botanischen Sorte der Hanfgewächse. Darin ist Tetrahydrocannabinol enthalten, kurz THC: der Stoff, aus dem der Rausch entsteht. Sein Anteil ist in den neuen Züchtungen der niederländischen Cannabis-Sorte "Nederwiet" um das Doppelte gestiegen. Die Joints wirken entsprechend - doppelt so stark. Von einer weichen Droge mögen Insider deswegen kaum mehr sprechen. Auch die einheimischen Kliniken nicht mehr. Sie werden mit einem neuen Krankheitsbild konfrontiert. Immer mehr Jugendliche melden sich in den Ambulanzen zum Cannabis- Entzug. Wann immer es geht, spielen Rick und Niels im Garten der Klinik Tischtennis. Es muss schon regnen, um sie davon abzubringen. Oder stürmen, was zu ihrem Leidwesen so dicht am Nordseestrand bei Den Haag öfter der Fall ist. "Ansonsten spielen wir jeden Tag", erzählt Niels, bevor Therapeutin Sandra Beltjens in der Gartentür erschient, um sie herein zu rufen: Das Mittagessen ist fertig, und hinterher muss das Survivaltraining pünktlich beginnen! Beim Survivaltraining klettern Rick und Niels auf Bäume und müssen schwierige Hindernisbahnen überwinden. Das ist alles andere als ein Freizeitvergnügen. Das Training steht auf dem Lehrplan der Klinik Mistral in Den Haag. Dabei sollen die Patienten lernen, sich in eine Gruppe einzufügen, mit Disziplin und gegenseitigem Respekt umzugehen. Wieder mehr Selbstvertrauen zu entwickeln und die eigenen Ängste zu überwinden, das gehört auch zum Programm, erzählt der 18-jährige Niels. Ein schlaksiger junger Mann mit kurzem Stoppelhaar. Am wohlsten fühlt er sich in Jeans und seiner schwarzen Lederjacke. Eigentlich sei es hier wie beim Militär: Niels wurde vor gut einem halben Jahr in der Klinik aufgenommen. Bis zu 12 Joints hat er da geraucht - pro Tag: Ich wollte vor meinen Problemen flüchten und vor den ewigen Streitereien mit meinen Eltern. In meinem Bekanntenkreis wurde gekifft, also fing ich auch an. Ich geriet an die falschen Freunde und bin dann schnell in die Kriminalität abgerutscht, ziemlich jung war ich damals, gerade mal 14." Niels begann die Schule zu schwänzen, bis er überhaupt nicht mehr zum Unterricht erschien. Er isolierte sich mehr und mehr, das Kiffen machte ihn gleichgültig. Er verlor das Interesse an seinen Hobbys und brach schließlich den Kontakt zu Geschwistern und Eltern ganz ab. Die hatten sich zuerst kaum Sorgen gemacht, schließlich hatten sie selbst ab und zu gekifft, als sie so alt waren wie ihr Sohn. Aber, so betont Niels beim Mittagessen: "Hasch und Marihuana werden unterschätzt , Ich finde, dass man sie nicht mehr als weiche Drogen bezeichnen kann, dazu sind sie viel zu stark. EIN Joint ist zwar nicht so schlimm, aber aus einem werden zwei und dann drei und dann vier - bis du nur noch von einem Joint zum nächsten lebst. Kiffen macht echt süchtig!" Rick kann ihm da nur beipflichten: Er ist mit seinen 17 Jahren ein Jahr jünger als Niels, auch ein bisschen kleiner, trägt ein rotes Sweatshirt mit Jeans und hat einen frechen Wirbel gleich über der Stirn in seinem blonden Haarschopf. "Meine Eltern waren ratlos und verzweifelt, sie haben mich schließlich hierher geschickt, gegen meinen Willen. Doch je länger ich in der Klinik war, desto mehr sah ich ein, dass sie Recht hatten. Irgendwo in meinem Hinterkopf gab es noch einen Funken Verstand, der mir sagte, dass ich aufhören muss. Aber es ist wirklich sehr, sehr schwer, man muss es schon selbst ein bisschen wollen." Die meisten Jugendlichen bleiben sechs bis neun Monate in der MistralKlinik. Die ersten Wochen verbringen sie auf der so genannten "Detox", der Entgiftungsstation. Ein Alptraum, erinnert sich Niels: "Vor allem die ersten Tage, ich habe wahnsinnig geschwitzt. Und ich wurde fast wahnsinnig, so sehr sehnte ich mich nach einem Joint." Tetrahydrocannabinol, kurz THC genannt, heißt der Stoff, der für das High-Gefühl beim Kiffen verantwortlich ist - und der während der Detox-Periode aus dem Körper geholt werden muss. Manche Jugendliche haben soviel THC in sich, dass der Raum, in dem sie sich befinden, bald wie ein Koffieshop riecht. Das hat auch Therapeutin Sandra Beltjens schon oft miterlebt: "Einmal hatten wir hier ein Mädchen, das schwitzte so sehr, dass es seine neuen Stiefel ruinierte. Die konnte es wegwerfen, die waren regelrecht durchtränkt von THC! Die Entgiftung soll auf möglichst natürliche Weise geschehen, erzählt die attraktive Frau mit dem schwarzen Kurzhaarschnitt. Deshalb gibt es auf der Detox-Station eine Sauna. Gut gelaunt erkundigt sich Sandra bei ihren Mitarbeitern, ob diese gerade leer ist und besichtigt werden kann: Mit ihren Kollegen diskutiert die Therapeutin regelmässig darüber, ob es an der Zeit ist, Hasch und Marihuana so wie Heroin oder Kokain und auch Alkohol als harte Drogen einzuordnen. Sie sähe es gerne, wenn diese Diskussion nicht nur in Fachkreisen, sondern auch in der Gesellschaft geführt werden würde. Nicht jedes Kind wird gleich durch Kiffen süchtig, sagt Sandra Beltjens. Alle Koffieshops rigoros zu schließen, davon hält sie auch nichts. Aber man müsse weiche Drogen doch mit neuen Augen betrachten und vorsichtiger werden - so wie beim Alkohol. Da hätte es in den letzten Jahren ja auch ein Umdenken gegeben: "Die enormen Entzugserscheinungen der Kiffer zeigen, wie süchtig THC machen kann. Als wir jung waren, haben wir anders gekifft: Erstens war ein Joint nur ein Viertel so stark wie heute. Zweitens machte er die Runde, Kiffen war ein Erlebnis, das man mit der Gruppe teilte. Heutzutage legen sich die Kids alleine mit einem Joint ins Bett und rauchen ihn auch ganz alleine an einem Stück auf. Die gesamte Kiff-Kultur hat sich geändert, doch das realisieren sich viele Eltern noch nicht!" Der Erfolg der Therapie kann sich sehen lassen: rund zwei Drittel aller Jugendlichen schaffen es, nach der Entlassung aus der Klinik, clean zu bleiben. Manche allerdings erst im zweiten oder sogar dritten Anlauf. Denn neben Entgiftung, Survivaltraining und Gruppentherapie gibt es auch ein spezielles Anti-Rückfall-Programm. Die jungen Patienten lernen, was sie tun können, wenn die Lust auf einen Joint zu stark zu werden droht. Auch Niels und Rick lernen für die Zeit nach ihrer Entlassung, aber die Angst vor solchen Momenten ist dennoch gross: "Sehr gross sogar!" seufzt Rick auf dem Weg in sein Zimmer, wo er sich für das Survivaltraining umziehen will: Er zeigt auf den Schreibtisch, wo ein Foto seines kleinen Bruders steht. Und auf die Karte seiner Mutter, die darüber an der Wand hängt: "Gib nicht auf, kämpfe weiter ", hat sie ihrem Sohn geschrieben. "Du wirst sehen, hinter den Wolken scheint die Sonne.". ++++++++++++++++++ "In der Kerkstraat: Coffee-Shops und Esoterik-Läden Tür an Tür. (...) Auf der Speisekarte Hasch und Gras in den verschiedensten Sorten, schräge Klamotten, Amulette, Giftpilze, unterm Tisch Ecstasy und andere Aufputschmittel. DJ-Musik. (...) Ein paar Tische entfernt fällt mir ein junger Mensch auf (...) Seine charmanten Gesten, der kleine Schwung, mit dem er die Haare zurückwirft, bevor er sich und seinen Tischnachbarn Rotwein einschenkt, sind plötzlich fahrig geworden, als hätte er die Kontrolle über sie verloren. Unkonzentriert gießt er alle Gläser so voll, dass sie überlaufen und ein Weinsee entsteht, (...) sein etwas aufgedunsenes, hübsches Gesicht unter den braunen Locken verschiebt sich dabei zu einer teigfarbenen Birnenform, als wäre er aus einer knetbaren Masse. Er sieht jetzt wie ein verschlagener Greis drein, lacht überlaut und grundlos wie ein Schmierenschauspieler. Die kleinen Augen irren in ihren Höhlen umher, manisch knäult er einen Seidenschal zwischen den Händen, wenn er sich nicht gerade Erdnüsse oder Salzstangen in den Mund stopft. Erst als er mehrmals hintereinander abrupt aufsteht und sich wieder hinsetzt, in der schiefsten Haltung, Wein in sich schüttend, wird mir klar, dass er dringend ein Beruhigungsmittel braucht oder den nächsten Schuss." 34 Jahre niederländisches Duldungsmodell bedeuten in der Praxis 34 Jahre mit einem folgenreichen Widerspruch zu leben. Justiz und Polizei weisen schon lange darauf hin. Bislang hat sich nichts geändert: das Gesetz erlaubt den Konsum weicher Drogen. Doch die Produktion steht weiterhin unter Strafe. Die offiziellen Koffieshops müssen auf dunklen Wegen an ihre Ware kommen. Ein Milliardengeschäft für die organisierte Drogenmafia, die - dank der Gesetzeslücke - im großen Stil Hanfplantagen auf privaten Dachböden und in Gewächshäusern unterhält. Der "Nederwiet" wird nur zu einem Teil in die Koffieshops geliefert. Zwei Drittel des Stoffs gehen ins Ausland, auch nach Deutschland. Niederländisches Cannabis rangiert - nach der Salatgurke und der Tomate - zynischerweise auf Platz 3 der wichtigsten Exportschlager des Landes. In der südlichen Provinz Limburg ist man alles andere als stolz darauf. Die Behörden wollten das Katz- und Mausspiel mit den Betreibern der illegalen Plantagen nicht länger mitmachen. Seit drei Jahren ermittelt dort eine Sondereinheit der Polizei. Und die hat sich dem "Projekt Grünes Gold" verschrieben: als augenzwinkernde Anspielung auf das Weiße Gold, den berühmten Limburger Spargel, ist damit der Hanf gemeint. Mitarbeiterbesprechung auf dem Polizeirevier von Heythuysen im Süden der Niederlande, bei Roermond. Die Beamten bereiten in aller Eile einen Einsatz vor. Denn gerade hat sich eine Stromgesellschaft gemeldet. Die hat entdeckt, dass bei einer Adresse im Nachbarort immer zu einem bestimmten Zeitpunkt auffallend große Mengen Strom abgezapft werden. Das weist auf eine illegale Hanfplantage in einer Scheune oder auf einem Speicher hin, wo mit Hilfe von speziellen Wachstumslampen Hanfpflanzen angebaut werden. Die verbrauchen eine Menge Strom, erklärt Polizeichef Jack (Schaak) Philipsen: "Wir erhalten auch viele anonyme Anzeigen von Bürgern, die über Gestank klagen und ihre Nachbarn verdächtigen, in der Wohnung Hanf anzubauen. Denn Hanfpflanzen in großen Mengen stinken. Oder es meldet sich ein Bauer, der hat ein Hanffeld mitten in seinem Maisfeld entdeckt. Dann werden wir aktiv." Breite Schultern, gestärktes weißes Oberhemd mit blauen Schulterklappen, kurzes, von Silberfäden durchzogenes Haar: Jack Philipsen ist ein Polizeichef wie aus dem Bilderbuch. Der 57Jährige leitet seit 2006 ein Projekt, mit dem die Polizei dem illegalen Hanfanbau in Nord- und Mittellimburg einen Riegel vorschieben will. Rund 100 Hanfplantagen hat sie im letzten Jahr in diesem Gebiet entdeckt und räumen lassen - auf Speichern und Kellern, in Wohnungen oder Scheunen. Und draußen auf dem Feld: Da werden ganz besonders viele Hanfpflanzen entdeckt, mehr als im Rest der Niederlande: "Das hat zum einen mit dem Sandboden hier zu tun, darauf gedeiht Hanf ganz besonders gut. Ausserdem wird in Limburg viel Mais angebaut, der wächst genauso hoch wie Hanf. Dadurch lässt sich Hanf gut zwischen den Maispflanzen verstecken und ist von aussen nicht sichtbar." "Groen Goud" - "Grünes Gold" heißt das Projekt zur Bekämpfung der illegalen Hanfzucht, die zu einem Milliardengeschäft geworden ist. "Mord und Totschlag sind die Folge, es geht um soviel Geld, da wird nicht lange gefackelt. Deshalb kommt es immer wieder zu Schießereien. Allein hier in diesem Gebiet hatten wir dadurch in den letzten fünf Jahren elf Tote." Für das "Groen Goud"-Projekt arbeitet die Polizei nicht nur eng mit den Stromgesellschaften zusammen, sondern auch mit Sozialämtern und Wohnungsbaugesellschaften: Mieter können aus ihren Wohnungen gesetzt werden, wenn sie diese ganz oder teilweise für den Hanfanbau an Kriminelle weiter vermieten. Auch die Sozialhilfe kann dann gestrichen werden. Und die Bauern werden aufgefordert, ihre Maisfelder regelmässig zu kontrollieren und mit einer langen Stange zu kennzeichnen, auf die dann ein Benzinkanister mit einem Hanfblatt gestülpt wird. "Das hilft, in der Regel lassen die Kriminellen von solchen Feldern dann die Finger. Aber es kommt immer wieder vor, dass Bauern bedroht werden: 'Wir wissen, wo deine Kinder zur Schule gehen'' bekommen sie dann zu hören. 'Das Maisfeld, das du da hast, solltest du in den nächsten Monaten deshalb besser in Ruhe lassen.' Kleine Mafiapraktiken sind das. Philipsen sucht nach einem Foto von einem Maisfeld, das mit einem solchen Benzinkanister gekennzeichnet wurde. Zum Staunen bringt den engagierten Polizisten so schnell nichts mehr: In den letzten Jahren hat er nicht nur Schlafzimmer oder Schweineställe voller Hanfpflanzen entdeckt, sondern auch zugemauerte Keller oder vergrabene Schiffscontainer. Sogar auf mobile Plantagen ist er gestoßen, die wie Wohnwagen verstellt werden können, um unentdeckt zu bleiben. "Anfangs haben wir noch selbst alle Pflanzen rausgerissen und weggeschafft. Aber damit haben wir schnell aufgehört, denn oft geht es um Tausende von Pflanzen! Das war nicht zu schaffen! Erstens ist das nicht unsere Aufgabe, damit verlieren wir viel zuviel Zeit. Zweitens ist unser Rücken dafür nicht geschaffen! Für Räumung und Beschlagnahmung schalten wir deshalb inzwischen eine Müllbeseitigungsfirma ein." Nicht nur die kriminellen Hanfzüchter, auch die Polizei ist erfinderisch geworden. Stolz präsentiert Jack Philipsen ein Foto vom "Sniffer": Das ist ein ganz neu entwickelter, unbemannter Helikopter, speziell für illegale Hanfplantagen in bewohnten Gebieten. Er ist nicht nur mit Kamera ausgestattet, sondern auch mit Geruchssensoren, die ein Signal abgeben, sobald von irgendeinem Dach konzentriert Hanfgeruch aufsteigt. Der Hanf in den Maisfeldern wird von einem bemannten, mit Kameras ausgestatteten Polizeihelikopter aufgespürt. Kurz vor der Ernte im September und Oktober ist er im Einsatz. Denn aus der Luft ist der Hanf gut zu erkennen: Die dunkleren Hanfpflanzen heben sich deutlich von den hellen Maispflanzen ab. Das Beispiel von Jack Philipsen und seiner Einheit hat inzwischen Schule gemacht: Nach dem Vorbild des Projektes "Grünes Gold" wurde eine landesweite Task Force zur Bekämpfung der Hanfzucht eingerichtet, die noch in diesem Jahr aktiv werden soll. Diese Task Force will einen Schritt weitergehen: den eigentlich Verantwortlichen, die Arbeitslose, Bauern oder kleine Kriminelle dazu bringen, den Hanf anzupflanzen - denen soll das Handwerk gelegt werden. "An die heranzukommen, ist besonders schwer, da müssen wir ganzen Drogenringen auf die Spur kommen. Wir müssten die gesamte Produktionskette, vom Samenkorn bis hin zum Endprodukt, aufdecken - aber das geht nur, wenn wir landesweit unsere Kräfte bündeln und alle Informationen austauschen." Shoppen in den Niederlanden ist "in", bei Deutschen und Belgiern. In diesem Winkel des Dreiländerecks gibt's Schuhe, Kleider, Vanille-Vla und - ein paar Tütchen Rauschgift. Euregio einmal anders, zum Leidwesen der deutschen Polizei: denn zwischen Aachen und Emden hat sich in den vergangenen Jahren neben dem üblichen ein reger illegaler Grenzverkehr entwickelt. Die Drogen-Pendler kommen vor allem aus den nordrhein-westfälischen Ballungsgebieten. Und mit ihnen wachsende Probleme. Die Zahl der Tagestouristen mit einem Faible für Marihuana steigt stetig. Sie wiederum ziehen die Straßendealer an, die nicht mehr nur weiche Drogen im Angebot haben. Für die Einwohner der grenznahen Städte auf niederländischer Seite ist Schluss mit der Duldsamkeit. Auch Venlo fühlte sich mit den Problemen vor der Haustür von der Regierung im fernen Den Haag allein gelassen. Die Stadtväter handelten auf eigene Faust: scharfe Kontrollen zwangen die mehr als 200 illegalen Dealeradressen und auch die Koffieshops zum Aufgeben. Die Innenstadt wird jetzt von Kameras überwacht. Ausländer können sich nur noch in zwei großen Verkaufsstellen mit Joints eindecken. Die liegen weit vor der Stadt, auf der grünen Wiese an der Autobahn - im Volksmund "McDope" genannt. Die Lomstraat ist einer der beliebtesten Einkaufsstraßen in der Fußgängerzone von Venlo. Die meisten Besucher kommen von der anderen Seite der Grenze, das merkt man sofort: Bei der Frittenbude wird nicht nur Reklame gemacht für "de enige echte Venlose friet", sondern auch auf Deutsch für "die besten Pommes von Venlo". In den Cafés gibt es nicht bloß "koffie met appeltaart", sondern auch "Kaffee und Kuchen". Alles sieht freundlich und proper aus. "Schön ist es hier!" findet eine Gruppe von Touristen aus Essen, die gerade vor einem Käseladen Halt machen: Vor ein paar Jahren war das noch ganz anders, da prägten mehr als 200 illegale Koffieshops und Dealeradressen das Stadtbild - und mit ihnen Tausende von Drogentouristen, die Venlo einer Heuschreckenplage gleich jeden Tag aufs Neue heimsuchten. Sie waren laut, besetzten alle Parkplätze, lungerten herum, schliefen in Hauseingängen, und liessen über alle ihren Müll zurück, oft genug auch Erbrochenes. Die Zahl der Autoeinbrüche und Ladendiebstähle kletterte nach oben. Mit den Drogentouristen folgten Heerscharen so genannter "Drugsrunners": Diese "Drogenläufer" versuchten die potentiellen Kiffer abzufangen und zu ihren persönlichen Dealern zu bringen. Dabei waren oft auch harte Drogen im Spiel. Bei Razzien in den Koffieshops stiess die Polizei regelmässig auf Kokain oder Heroin. Die Märkte für weiche und harte Drogen, sie konnte man nicht länger auseinanderhalten. Die meisten Koffieshops hatten sich am Ufer der Maas angesiedelt. Und mit ihnen der Beiname "Haschboulevard". Daran erinnert sich auch eine der Besucherinnen aus Essen noch genau: "Ja. Ja...Und hier war so, dieser Teil hier, da waren die Koffieshops, da brauchen wir nicht hin, wir brauchen keine Drogen, wir gehen nur in die Richtung!" Käsehändler Frans van Lynn, der gut gelaunt hinter seiner Theke steht, kann davon noch ein Lied singen. Der 54Jährige trägt eine weiss gestärkte Schürze und hat die Hände energisch in die Hüften gestemmt: "Abends traute man sich hier echt nicht mehr auf die Strasse! Dabei war es tagsüber schon schlimm genug. Die Drogenläufer, die hauten jeden an, die belästigten auch unsere Kunden. Doch abends war es wirklich füchterlich! Aber zum Glück ist das vorbei!" Am Maasufer, dem einstigen Haschboulevard, entsteht nun ein Einkaufszentrum mit eleganten Appartments. Vor dem Bauzaun schaut ein elegant gekleideter Mann mit roter Fliege den Bauarbeitern zu. Er heißt Geert Duhne, ist 64 Jahre alt und Unternehmer: Höchste Zeit, dass Venlo sein Zentrum aufwerte und die Koffieshops an den Rand verbannt habe. Alle Grenzgemeinden sollten diesem Beispiel folgen, findet Duhne - auch wenn er es verstehen kann, dass die deutschen Behörden darüber anfangs nicht ganz glücklich waren: Als deutscher Kiffer werde man nun ja mit dem Silbertablett bedient: Aber was sollen wir denn machen? 90 Prozent unserer Koffieshopkunden kommen nun einmal aus Deutschland! Ohne sie wäre die Zugstrecke Mönchengladbach-Venlo nicht rentabel. Natürlich wären wir auch die beiden Koffieshops am Stadtrand am liebsten los, aber es ist die beste Lösung so!" Duhne weiß wovon er spricht: an der Grenze sieht er jeden Tag die Einsatzwagen der deutschen Grenzschutzpolizei. Die kontrollieren regelmäßig Drogentouristen auf dem Rückweg: "Wer um die 18 ist und in einem Golf sitzt, muss damit rechnen, angehalten zu werden - egal, ob er kifft oder nicht!" Außerdem droht den Koffieshopbetreibern die Schliessung, sobald es Probleme gibt. Deshalb haben sie einen grossen gemeinsam überwachten Parkplatz und strenge Hausregeln. "Da stehen überall Rausschmeisser vom Typ Kleiderschrank. Das ist alles gut geregelt, überzeugen Sie sich selbst!" Der erste "Kleiderschrank" steht gleich auf dem Parkplatz, um den Verkehr zu regeln. Dort herrscht ein reges Kommen und Gehen. Fast alle Autos haben deutsche Kennzeichen: Duisburg, Köln, Kleve, Mönchengladbach, Neuss.... Die Zahl der Kleinwagen allerdings hält sich in Grenzen: Ein Blick über den Parkplatz macht klar, dass sich auch die Besitzer großer Limousinen gerne mal einen Joint gönnen. Drinnen ein langer Tresen, viele Tische mit Stühlen, zwei Verkaufsschalter. Davor lange Warteschlangen - und ein zweiter "Kleiderschrank", der auffällige Kunden sofort ansprich. Auch Journalisten müssen sich vorher anmelden, erst dann dürfen sie die Kunden ansprechen Zum Beispiel dem blonden, langen Jungen, der gerade die Menukarte studiert. Seinen Namen will er lieber nicht nennen. 22 Jahre ist er alt, kommt aus Bochum und raucht mit seinem Freund hier regelmäßig einen Joint. Am liebsten würden die beiden einen Vorrat mit nach Hause nehmen, aber das trauen sie sich nicht, denn der Besitz weicher Drogen ist in Deutschland verboten. Es sei zwar ganz praktisch, dass man jetzt gleich über der Grenze an der Autobahnabfahrt kiffen könne, ohne in der Venloer Innenstadt erst umständlich einen Parkplatz suchen zu müssen. Aber die Sache habe einen Haken: Die deutsche Grenzschutzpolizei könne nun alles viel besser im Auge behalten: "Ja, die schreiben sich die Nummernschilder hier auf, und auf der Autobahn sammeln sie einen direkt ein. Hat man jedenfalls gehört, mir ist es zum Glück noch nicht passiert. Aber wir nehmen auch meistens nichts mit, muss ja nicht sein." Und deshalb rauchen die beiden ihren Joint erst in aller Ruhe zuende, bevor sie sich wieder auf den Parkplatz begeben. Dort ist es noch voller geworden. Der Kontrolleur hat alle Hände voll zu tun, damit sich die Autos beim Aus- und Einfahren nicht stauen. "Ganz schön was los!", meint der 33 Jahre alte Rob. Er will gerade nach Hause fahren und hat die Scheibe heruntergekurbelt: Rob kommt ein bis zweimal die Woche und kann verstehen, dass die Venloer froh sind, dass sie Leute wie ihn los sind: Manchmal allerdings wünscht er sich die alten Zeiten in der Innenstadt zurück. Das sei halt schon gemütlicher gewesen und nicht so eine Schnellabfertigung wie hier am Stadtrand: "Ich fand es früher persönlicher, das ist natürlich hier so eine Art MacDope, ein bisschen unpersönlich." Weiter kommt er nicht, denn hinter ihm beginnen sich die Autos zu stauen. "Fahren!" brüllt der Kleiderschrank am anderen Ende des Parkplatzes. Er macht Anstalten, näher zu kommen. Und deshalb gibt Rob lieber Gas. +++++++++++++++++++++++ "Sitze am Rande des Oude Zijds Voorburgwal (Aue Seids Voorbörch-Wall) auf einer Bank in der Sonne. Die mattgrüne Reihe der Ulmen bildet über der Straße ein Dach, so weit man sehen kann; gewölbte Brücken und Grachten. (...) Ein ausgeflippter Jüngling rennt brüllend den Oude Zijds Voorburgwal entlang, auf der Suche nach Stoff. Schlägt und tritt auf zwei Schwarze ein, die am Straßenrand hocken. (...) die schwarzen Dealer und Junkies, gleichen sie nicht den zerfledderten Tauben, die sich zwischen den Rädern der Autos um einen Brotkanten zanken(...)sogar zum Betteln zu elend. Die krummsten Gestalten; Kippenstecher, Klebstoffschnüffler, Mülltonnenfresser. Huschen am Boden umher wie Ratten. Und doch überqueren manche die kleine Brücke wie eine Bühne.(... )Denken vielleicht an Ché Guevara, Peru, Mexiko, oder an Afrika und den Geruch der Savanne(...)Dazwischen Zuhälter mit glänzenden Mondgesichtern, glattgeschoren, gutgenährt, gutgekleidet, Typ Laurent Kabila. Junge Weiße, abenteuerlich kostümiert, torkelnd auf Trip (...), mit Magenkrämpfen, kurz vorm Zusammenbruch. Ein blondierter Neger, der sein Fahrrad kaum noch schieben kann, lächelt. Ein anderer, im Straßengraben, blutet aus einer Stirnwunde. Wer verdient noch an solchen Wracks, die dringend den nächsten Schuss, die nächste Weinpulle brauchen? Wer bricht ihnen die Finger?" Prävention und Bekämpfung illegaler Rauschmittel sind in der EU immer noch Sache der einzelnen Mitgliedsländer. Das "Gedoogbeleid", das Duldungsprinzip, ist nicht zum Vorbild geworden. Im Gegenteil. Die Nachbarn drängen die Niederlande mehr denn je zu einer härteren Gangart. Das Land selbst ist in der Frage gespalten. Allen voran die Regierungskoalition: die Konservativen wollen das Rad ganz zurückdrehen, die Sozialdemokraten bevorzugen Reformen. Eine spezielle Drogenkommission wurde beauftragt, nach Lösungen zu suchen. Sie sprach sich ausdrücklich gegen Verbote aus. Stattdessen müssten die Koffieshops wieder beherrschbarer werden. Sie könnten sich als geschlossene Clubs neugründen, mit Zugang nur für die ansässige Bevölkerung, um den Zustrom der Drogentouristen zu stoppen. Die Club-Idee ist nicht neu. Sie stammt aus der Grenzstadt Maastricht, die mit täglich gut zwei Millionen Besuchern ganz besonders unter dem Hasch-Tourismus leidet. Wie Venlo das Problem einfach nur vor die Stadttore zu verlagern, das war dem früheren Bürgermeister Geert Leers zu wenig. Er suchte lieber in typisch niederländischer Poldermodell-Manier nach Kompromissen mit den örtlichen Koffieshop-Betreibern. Maastricht, so hoffen nun viele, könnte ein neues, vielleicht ein erfolgreiches Modell werden. John Decker kommt von einer Besprechung aus dem Rathaus zurück. Seit seiner Pensionierung ist der 64jährige Psychologe als Sekretär für die "Vereinigung der offiziellen Koffieshops von Maastricht" im Einsatz. "14 sind es", erzählt der kleine ruhige Mann mit den silbergrauen Schläfen: An diesem Morgen hat er mit Vertretern der Stadt wieder einmal über das Entfernen der Koffieshops aus der Innenstadt gesprochen. So wie in Venlo sollen sie noch in diesem Frühling an den Stadtrand verlegt werden. Aber in Maastricht geht es nicht nur um zwei, sondern um gleich sieben Koffieshops - das hat zu Protesten aus den Nachbargemeinden geführt, auch auf belgischer Seite: "Sie fürchten, dass das Problem nun vor IHRER Haustür abgeladen wird", erzählt Decker auf dem Weg zum Koffieshop "Easy Going": Dort will er den Inhaber über das Treffen im Rathaus informieren. Im Auftrag der Stadt Maastricht untersucht die Universität Tilburg, was die Folgen wären, wenn aus den Koffieshops geschlossene Clubs werden würden, zu denen nur Mitglieder mit Ausweis Zutritt haben - und zwar, so das langfristige Ziel, ausschließlich Einheimische, Anwohner mit offiziellem Wohnsitz in den Niederlanden. Ob es soweit kommen wird, muss der Europäische Gerichtshof in Luxemburg entscheiden: Denn die Koffieshops sind vehement gegen die Einführung eines solchen Systems. schließlich ginge ihnen dadurch der größte Teil ihres Umsatzes verloren. Zusammen mit der Stadt Maastricht haben sie es deshalb auf einen juristischen Präzedenzfall ankommen lassen, der voraussichtlich 2011 entschieden wird. Sekretär John Decker ist optimistisch: "Zu einem Ausweissystem nur für Einheimische wird es nicht kommen, das wäre Diskriminierung, das würde das Recht auf freien Güter- und Dienstleistungsverkehr in Europa verletzen!" Sein Kontrahent, der Initiator dieses Ausweissystems denkt anders darüber: Er heisst Geert Leers. Acht Jahre lang, bis Mitte Januar, war er Bürgermeister von Maastricht. Leers ist einer der prominentesten Befürworter der Legalisierung weicher Drogen. Gutsitzender Anzug, charmantes Lachen, lebhafte dunkle Augen: Der katholische Christdemokrat gehört zu den beliebtesten Politikern des Landes. Dafür haben sein einnehmendes Wesen und sein Engagement geführt. Temperamentvoll, ja geradezu leidenschaftlich erklärt er, worum es ihm geht: "Wenn die Koffieshops zu geschlossenen Clubs werden, lässt sich auch genau einschätzen, wieviele Mengen Hasch oder Marihauna ein solcher Club braucht, um seine Mitglieder zu bedienen. Und diese Mengen muss er dann auch selbst produzieren dürfen - unter strengen Kontrollen, versteht sich!" Seine Parteigenossen in Maastricht und auch die meisten Bürger weiß Leers hinter sich. Doch den Christdemokraten im fernen Den Haag, wo der konservative christdemokratische Ministerpräsident Jan Peter Balkenende das Zepter schwingt, jagt er mit solchen Vorstellungen Schauer des Entsetzens über den Rücken. Dort gilt der Pionier und Pragmatiker aus dem dunklen Süden als Störenfried und Laus im Pelz. Aber so, seufzt Leers lachend: Erstens brauche jede Partei ihren Propheten. Zweitens könnte sich ein Politiker in einer Grenzgemeinde eine solch weltfremde Haltung nicht leisten - auch nicht als Christdemokrat: "Verstehen Sie mich nicht falsch, auch ich bin gegen Drogen. Aber ich bin Realist. Aufgrund seiner geografischen Lage ist Maastricht von Grenzen umgeben und dadurch ein Magnet. Zwei Millionen Menschen kommen nur wegen unserer Koffieshops, weil es die in ihren eigenen Ländern nicht gibt: aus Belgien, Frankreich, Deutschland, selbst noch aus Luxemburg. Das sind 5000 pro Tag!" "Und das ist nur das halbe Problem: An diesen Drogentouristen wollen auch ganze Heerscharen von Kriminellen verdienen, die es deshalb ebenfalls nach Maastricht zieht. Folge: Es wimmelt hier von Dealern, Drogenläufern und Mafiafamilien! Das sind Tatsachen, vor denen wir nicht länger die Augen verschließen dürfen. Das muss ein Ende haben!" Aufgebracht gestikulierend rutscht Leers auf die Stuhlkante vor und erinnert an die Grenzgemeinden im Westen wie Roosendaal oder Etten-Leur, die Ende 2009 wegen der vielen Drogentouristen ganz rigoros sämtliche Koffieshops geschlossen haben. Diesen Weg könnte er natürlich auch einschlagen. Aber dann würde das ganze große Problem auf die Nachbargemeinden Heerlen, Sittard oder Kerkrade verlagert werden - und das will er ihnen nicht antun: Auf einmal sieht er ein bisschen müde aus. So weitergehen wie bisher jedenfalls könne es nicht. Seine eigene Regierung in Den Haag müsse endlich Farbe bekennen: "Wir haben uns in den Niederlanden mit unserer Drogenpolitik innerhalb Europas für den Alleingang entschieden, aber es war eine scheinheilige Entscheidung. Wir haben uns nur getraut "A" zu sagen und den Verkauf von weichen Drogen zu tolerieren. Jetzt ist es an der Zeit, "B" zu sagen. Wir stehen an einer Kreuzung: Entweder wir tolerieren auch die Produktion weicher Drogen - oder wir machen ALLE einen Rückzieher und passen uns wieder dem Rest Europas an. Ein Mittelweg jedenfalls ist nicht länger möglich. Den Haag muss sich entscheiden!" Das waren "Gesichter Europas" an diesem Samstag: "Dicke Luft im Koffieshop - Die umstrittene Drogenpolitik der Niederlande". Eine Sendung mit Reportagen von Kerstin Schweighöfer. Die Literaturpassagen entnahmen wir dem Roman: "Amsterdam. Leidseplein" von Michael Buselmeier. Erschienen im Verlag Das Wunderhorn. Gelesen von Bernt Hahn. Die Musik suchte Babette Michel aus. Und am Mikrofon verabschiedet sich - auch im Namen von Ton und Technik - Bettina Nutz. Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. 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