KULTUR UND GESELLSCHAFT Organisationseinheit : 46 Reihe : Literatur Titel der Sendung : "In God we trust" Spirituelle Motive in US-Romanen der Gegenwart Autor/in : Sven Ahnert Redakteurin : Dorothea Westphal Sendetermin : 04.11.2012 Besetzung : Sprecher 1 (Kommentar) Sprecher 2 (Zitate) Sprecher 3 (Overvoice) Regie : Produktion : O-Töne, Musik Deutschlandradio Kultur - Literatur 4. November 2012 Redaktion: Dorothea Westphal In God We trust Spirituelle Motive in US-Romanen der Gegenwart Autor: Sven Ahnert Spr. 1 - (Autorentext, männlich) Spr. 2 - (Zitate, männlich, Zwischentexte, Überschriften) Spr. 3 - (Voiceover, männlich) O-Töne Bettina Abarbanell, Christian Brückner, Richard Ford, Michael Hochgeschwender, Karl Marlantes, David Vann, Harald Wenzel, Daniel Woodrell Musik/O-Ton-Hörspiel Nick Cave, Steve Reich, Lou Reed, Miklos Rózsa, Filmmusik Carnival of Souls, Ausschnitte aus dem Original-Hörspiel Tim La Haye: "Armageddon". Musik Steve Reich Its gonna rain O-Ton Richard Ford It is not folklore at all. It is perceived by the people, who imagine what to put on the currency to travel around America. I find a lot of people who trust in God. I am not one of them. Absolute not. Sprecher 3 Das ist keine Folklore. Das haben sich Leute für unsere Dollarscheine ausgedacht, und es gibt eine Menge Menschen in den USA, die an Gott glauben. Ich nicht. Absolut nicht. Sprecher 1 Richard Ford, Autor von Romanen wie Die Lage des Landes, Unabhängigkeitstag und Kanada. Musik noch mal hochziehen Sprecher 1 In God we trust: Seit dem Amerikanischen Bürgerkrieg prangt dieses Motto auf offiziellen Zahlungsmitteln der USA, seit 1957 ist es auf allen US-Geldscheinen zu lesen. Eine Nation kann keine wahre Größe haben ohne die Kraft Gottes, so der politische Tenor seit den Tagen des Bürgerkrieges. Sprecher 2 (Ralph Waldo Emerson: Geist) Das Antlitz der Natur ist ein Ausdruck der Andacht. Wie die Gestalt Jesu steht sie da mit geneigtem Haupt und den Händen über der Brust gefaltet. Der glücklichste Mensch ist derjenige, der von der Natur die Verehrung lernt. Sprecher 1 Ralph Waldo Emerson, aus seinem Essay Geist. O-Ton Richard Ford It brings the tenets of smart empirical highly intellectual philosophy down to ground level in which all of us exist, all of us walk. Sprecher 3 Emerson bringt die Grundsätze einer höchst intellektuellen, alles umspannenden Philosophie in unsere Alltagswelt. Musik Steve Reich It is gonna rain / Desert Music Sprecher 1 Ralph Waldo Emerson ist für viele US-amerikanische Autoren ein spiritueller Vordenker, der den amerikanischen Menschen als "neuentstandenen Barden des Heiligen Geistes" besingt. In seinen Aufsätzen pries Emerson das freie Amerika als eine Mischung der Rassen und Religionen, in dem sich undogmatisch der Fortschritt der Kultur vollzieht und das somit einen Gegenentwurf zur Tyrannei der Monarchien Europas darstellt. Sein Menschheitsideal ist das des religiösen Freidenkers, der sich im Mittelpunkt der Schöpfung sieht und keiner klerikalen oder politischen Obrigkeit Rechenschaft ablegen muss. Ähnlich wie der Dichter Walt Whitman. Dem großen Dichterpropheten ging es um eine von gegenseitiger Achtung und Liebe getragene Humanität. Seine Hymnen, beispielsweise aus dem Gedichtzyklus "Grashalme", sind elektrisierende Gesänge, die, einem mystischen Erlebnis gleich, den Menschen als freiheitsliebenden Weltbürger besingen. Whitmans Gedichte sprechen jede literarische Kategorie. Neben Emerson ist er eine Zentralfigur amerikanischer Literatur des 19. Jahrhunderts, die stets Dichtung und das wahre einfache Leben in Einklang zu bringen versuchte. Musik Steve Reich It is gonna rain/Desert Music (Musik schon unter Sprecher 2) Sprecher 2 (Walt Whitman: Gesammeltes) Das Volk, besonders die jungen Männer und Frauen Amerikas, müssen anfangen zu lernen, dass Religion wie Dichtung etwas ganz, ganz anderes ist als sie dachten. Sie ist in der Tat für die Macht und Fortdauer der neuen Welt zu wichtig, als dass sie noch länger den Kirchen, alten und neuen, katholischen oder protestantischen, dieses Heiligen oder jenes, überlassen werden dürfte. Sie muss von nun an der Demokratie en masse und der Literatur überantwortet werden. Sie muss in die Dichtungen der Nation eingehen. Sie muss die Nation erschaffen. Sprecher 1 Walt Whitman, aus: Gesammeltes Musik noch mal hochziehen Sprecher 1 Bereits für die Gründungsväter der Vereinigten Staaten, allen voran die Revolutionäre des Amerikanischen Unabhängigkeitskrieges der 1770er Jahre, waren die religiösen Visionen der puritanischen Siedler des frühen 17. Jahrhunderts nicht mehr zeitgemäß. Diese suchten in Amerika das jungfräulich unbefleckte Neue Jerusalem, ein Land, auf dem sich ein Gottesstaat errichten ließe, als Erbe des Evangeliums Jesu Christi. Für die Gründungsväter der amerikanischen Nation sollte nicht die Religion sinnstiftend wirken, sondern vielmehr der Geist der Gesetze, die Freiheit des Einzelnen und der Glaube an die Kraft einer jungen, demokratischen Nation. Religion sollte Privatsache sein, an welchen Gott man glaubt, erst recht. Denker wie Ralph Waldo Emerson oder Lyriker wie Walt Whitman griffen den spirituellen Kern dieser Gründungsbotschaft leidenschaftlich auf. Seitdem haben sich viele US- amerikanische Autoren immer wieder mit dem "Geist" Amerikas, seiner Spiritualität und weniger mit einem einzigen Gott auseinandergesetzt. O-Ton Daniel Woodrell Even Hemingway was secretely religious. He showed up in a church after his second wife converted. I was surprised how often he did it. He definetely had read his King James Bible, the cadences, for his prose. Sprecher 3 Sogar Hemingway besuchte regelmäßig den Gottesdienst, nachdem seine zweite Frau konvertiert war. Außerdem hatte er ganz sicher die King James Bibel gelesen, deren Sprachrhythmus er in seinen Erzählungen aufgegriffen hat. Sprecher 1 Daniel Woodrell, Autor von im Mittleren Westen der USA angesiedelten und finsteren Romanen wie Winterknochen und Der Tod von Sweet Mister. Woodrell wohnt in den Ozark Mountains, einem Gebirgszug in Missouri, deren Bewohner meist in einfachen, oft ärmlichen Verhältnissen leben. Der christliche Glaube ist ein starkes Band, das die Menschen dort zusammenhält. O-Ton Daniel Woodrell To belong to some church is important. When new people move in, I say it is comfortable to you to join a church, because that is the life of small towns. Sprecher 3 Einer Kirche anzugehören ist schon sehr wichtig. Ich sag den Leuten immer, die in unsere Gegend ziehen: Es ist gut, in einer Gemeinde zu sein. Da spielt sich das Leben einer kleinen Stadt ab. Musik Lou Reed Jesus Sprecher 2 (Ernest Hemingway, Der alte Mann und das Meer) Er war ein alter Mann und fischte allein in einem Boot im Golfstrom, und seit vierundachtzig Tagen hatte er keinen Fisch gefangen. Die ersten vierzig Tage hatte ihn ein Junge begleitet. Sprecher 1 Ernest Hemingway Der alte Mann und das Meer Musik Lou Reed Jesus (letzter Refrain) Sprecher 1 Von Ernest Hemingways biblisch anmutender Erzählung Der alte Mann und das Meer bis hin zu den Romanen von Cormac McCarthy, Richard Ford, Denis Johnson und Don de Lillo ziehen sich spirituelle Motive, die sich aus Bibeltexten, Erweckungserlebnissen und philosophischen Reflexionen speisen. Dahinter verbergen sich keine christlichen Dogmen, sondern höchst individuelle Sichtweisen auf eine spirituell aufgeladene Gesellschaft, die sich wie keine andere Nation der Erde zwar dem Glauben verbunden fühlt aber nicht dem Gott einer Kirche. Viele Romanciers, so wie Richard Ford oder David Vann, sind keine bekennenden Schriftsteller, sondern Freigeister, die auf ihre Art den Sinn des Lebens thematisieren, oder auch nicht. O-Ton Richard Ford Church is ridiculous. Sprecher 1 Richard Ford O-Ton Richard Ford If a person is a real religious person she or he has nothing to do with a church. Church is just a social event. Spirituality is something that you express like Emerson expresses spirituality in finding a sense of deity by yourself. Emerson says and underlying it. It is an infinite remoteness . An infinite remoteness is that unexpectable, and it feels unexpectable until you reconcile to an infinite remoteness. Do you affiliate with people? Do you affiliate with the Universe? Pretty Hard. Sprecher 3 Wozu braucht man eine Kirche, wenn man religiös ist? Kirche ist doch mehr ein soziales Ereignis. Spiritualität ist, wie Emerson es ausdrückt, ein höchst individueller Zugang zu einem göttlichen Wesen. Es ist eine Umschreibung für die Unendlichkeit des Geistes. Nichts ist vorhersehbar, solange man sich nicht mit dieser Unendlichkeit aussöhnt. Mit Menschen kann man sich verbinden aber mit dem Universum? Das wird schwierig. Sprecher 1 Frank Bascombe ist ein liberaler Durchschnittsamerikaner, der als Immobilienmakler in New Jersey sein Geld verdient. Wir wissen von ihm, dass er als Student die Schriften von Emerson regelrecht verschlungen hat und seitdem eigentlich immer ein zerlesenes Buch des großen Denkers bei sich trägt. In dem Roman "Unabhängigkeitstag", versucht er, seinem Sohn Paul während eines Feiertagsausflugs Emersons Denken nahe zu bringen - vergeblich. Sprecher 2 (Richard Ford, Unabhängigkeitstag) "Worum geht's eigentlich in dem Buch?" Er starrt auf die Seite, die er zufällig aufgeschlagen hat. "Ist das ein Roman?" "Das ist ein tolles Buch", sage ich, nicht sicher, wie es ich ihm schmackhaft machen soll. "Es hat..." "Du hast ´ne Menge unterstrichen", sagt Paul. Musik Amerikanische Hymne, kurz, wie von ferne Sprecher 2 (Richard Ford, Unabhängigkeitstag) Möglicherweise hat er die letzten vier Stunden damit verbracht, in einer schummrigen Imbissstube Emerson zu lesen. Seinen Hacky Sack in der Hand, hat er vielleicht tief darüber nachgedacht, ob die Natur in ihrem Reich nichts duldet, was sich nicht selber hilft; ob jeder wahre Mann ein Panier ist, ein Land oder Zeitalter. Alles Dinge, über die man gut meditieren kann. O-Ton Richard Ford He is not a guilty man in any way and he is not an everbody man. He is just one person. He wrote an essay about the Bascombe-Trilogy and trying to show one thing. The reason to look at realistic fiction it is not that you can imagine universal answers. There is only one question to one answer. Life is full of particulars. I have no beliefs in the general. Sprecher 2 Frank Bascombe ist überhaupt kein Durchschnittsmensch. Er ist einfach ein Mensch. Ich habe darüber in einem Essay zur Bascombe-Trilogie geschrieben. Wenn man realistische Geschichten erzählt, will man nicht die großen Fragen beantworten. Es geht um die kleinen Dinge, um jeden einzelnen Menschen. Auf große Fragen habe ich keine Antworten. Musik US-Nationalhymne, kurz (mit Echo) O-Ton Christian Brückner Als ich das erste Mal da rüber kam, habe ich mich so sehr gewundert - nicht nur über die vielen sichtbaren Kirchen in jeder Ecke - sondern auch über das, was ich las. Was auch immer dieses religiöse Moment für eine wichtige Rolle zu spielen schien. Das hat sich bestätigt. Das ist Amerika. Ein wichtiger Faktor, der bei uns in Europa säkularisiert ist. Sprecher 1 Christian Brückner, Synchronsprecher, Schauspieler und Amerikakenner. Er reist seit den 1960er Jahren regelmäßig in die USA und hat Romane von Denis Johnson bis hin zu Richard Ford für seinen Hörbuchverlag eingelesen aber auch Klassiker wie Moby Dick von Herman Melville: O-Ton Lesung Brückner, Moby Dick Sprecher 1 Neben Ralph Waldo Emersons Essays und Walt Whitmans lyrischem Zyklus Grashalme, zählt vor allem Herman Melvilles epochaler Roman Moby Dick zu den großen Romanen der US-amerikanischen Literatur, die auf das Alte Testament und Fragen nach Schuld und Sühne Bezug nehmen. Von Moby Dick führt diese Spur bis ins 20. Jahrhundert. Hemingway scherzte einmal, dass ihm allmählich die der Bibel entlehnten Buchtitel ausgehen würden. Der Autor von Wem die Stunde schlägt, Der Garten Eden und Der alte Mann und das Meer war auf seine Art ein spiritueller Dichter. Musik King of Kings O-Ton Werner Schmitz Mir ist an einigen Stellen aufgefallen, dass Hemingway den Eindruck erweckt, als ob er den alten Mann mit Jesus vergleicht oder parallel setzt. Sprecher 1 Werner Schmitz, Übersetzer der Werke von Ernest Hemingway O-Ton Werner Schmitz Es gibt einmal die Stelle, wo ihm die Hände so wehtun, als ob Nägel da durchgetrieben worden sind. Am Ende, wenn er schon an Land ist, trägt er den Segelmast nach Hause und bricht darunter zusammen wie Jesus auf dem Kreuzweg. Das ist mir erst beim Lesen meiner Übersetzung aufgefallen. Sprecher 2 (Neues Testament, Das Evangelium des Johannes) Da überantwortete er ihnen Jesus, dass er gekreuzigt würde. Sie nahmen ihn aber und er trug sein Kreuz und ging hinaus zur Stätte. Das Evangelium nach Johannes Sprecher 1 Der alte Mann und das Meer erzählt die Geschichte des Fischers Santiago, der vierundachtzig Tage vergeblich seine Netze auswirft und dann den Fang seines Lebens an den Haken bekommt, einen riesigen Schwertfisch. Doch wie gewonnen, so zerronnen: Ein Rudel Haie macht dem alten Mann einen Strich durch die Rechnung. Vier Tage und vier Nächte ringt er mit den Raubtieren und kehrt zu Tode erschöpft, lediglich mit einem abgenagten Fischgerippe im Schlepp, in seinen Heimathafen zurück. Sprecher 2 (Ernest Hemingway, Der alte Mann und das Meer) Er nahm den Mast heraus, rollte das Segel ein und band es fest. Dann nahm er den Mast auf die Schulter und kletterte los. Erst da erkannte er die Tiefe seiner Müdigkeit. Er blieb kurz stehen und warf einen Blick zurück und sah im Widerschein der Straßenlaterne die Schwanzflosse des Fischs riesig hinter dem Heck des Bootes aufragen. Sprecher 1 Die Passionsgeschichte des Fischers Santiago ist ein Gleichnis auf das Leben, das den Menschen vor harte Prüfungen stellt. Was zählt, ist nicht der materielle Erfolg, sondern die Art und Weise wie der Mensch sich im Kampf bewährt. Im Angesicht des Todes entwickelt der Fischer ungeahnte Kräfte. Es ist der Kampf David gegen Goliath, ausgetragen mit einem Messer und einer primitiven Harpune. Musik King of King Sprecher 2 (Ernest Hemingway, Der alte Mann und das Meer) Er kletterte weiter, und oben angekommen, fiel er hin und blieb eine Weile mit dem Mast auf der Schulter liegen. Er versuchte aufzustehen. Aber er schaffte es nicht und blieb mit dem Mast auf der Schulter sitzen und sah die Straße hinunter. Eine Katze ging auf der anderen Seite ihren Geschäften nach, und der alte Mann beobachtete sie. Dann beobachtete er einfach die Straße. Schließlich legte er den Mast ab und stand auf. Er griff nach dem Mast und nahm ihn auf die Schulter und ging weiter. Fünfmal musste er sich auf der Straße hinsetzen, ehe er seine Hütte erreichte. Musik Rozsa, King of Kings Sprecher 2 (David Vann, Im Schatten des Vaters) Die Welt war ursprünglich ein großes Feld und die Erde flach. Und die Tiere streunten sämtlich übers Feld und hatten keine Namen, und die größeren Kreaturen fraßen die kleineren Kreaturen, und keiner fand was dabei. Sprecher 1 Im Schatten des Vaters von David Vann Sprecher 2 (David Vann, Im Schatten des Vaters) Dann kam der Mensch, und er kauerte sich an die Ränder der Welt, haarig, dumm und schwach, und er vermehrte sich und wurde so zahlreich und irre und blutrünstig vor lauter Warten, dass die Ränder der Welt sich zu krümmen begannen. O-Ton David Vann Since I am not religious, I am surprised to see some religious motifs in my writing. It is part of the literal tradition. It is about, whether or not a special person can be redeemed in some way. American literature is interested in whether we are doomed. Is there a possibility of a certain upswing at the end? Is there redemption or no redemption for us. Sprecher 3 Weil ich nicht religiös bin, überrascht es mich immer wieder, in meinen Romanen auf religiöse Motive zu stoßen. Aber die Frage, ob jemand erlöst werden kann oder nicht, ist Teil der literarischen Tradition. In der amerikanischen Literatur geht es immer um die Frage: Sind wir Verdammte oder gibt es Hoffnung am Ende des Tunnels? Musik Steve Bob Marley Redemption Sprecher 1 2008 veröffentlichte der in Alaska geborene David Vann seinen Erzählzyklus Legend of a Suicide dessen zentrale Geschichte Sukkwan Island unter dem Titel Im Schatten des Vaters auf Deutsch erschienen ist. Dort verarbeitet Vann sein eigenes Schicksal, den Freitod des Vaters, den.Verlust der Kindheit. Vann stellt sich die Frage nach Schuld und Sühne. Bin ich schuld am Tod meines Vaters? Warum hat er mir d a s angetan? Gleich zu Beginn des Buches lässt er den Vater eine Fabel von der Entstehung der Welt vorlesen, die so klingt als wäre es eine Paraphrase auf die Genesis, die biblische Erzählung von der göttlichen Schöpfung. Sprecher 2 (David Vann, Im Schatten des Vaters) Die Ränder bogen sich langsam nach unten, Mann und Frau und Kind kraxelten übereinander, um auf der Welt zu bleiben, und kratzten einander bei der Kletterei das Fell vom Rücken, bis alle Menschen nackt und kalt und blutrünstig waren und sich am Rande der Welt festklammerten. Sein Vater hielt inne, und Roy fragte, und dann? Sprecher 1 In der Erzählung Im Schatten des Vaters erzählt David Vann, dessen Vater sich das Leben nahm, die autobiografisch gefärbte Tragödie einer traumatischen Vater/Sohn-Beziehung. Ein unter Depressionen leidender Vater, dem die Frau davon gelaufen ist, zieht sich für ein paar Monate mit seinem dreizehnjährigen Sohn Roy in die Wildnis einer einsamen, der Küste Alaskas vorgelagerten Insel zurück. Doch der Versuch einer emotionalen Annäherung während dieses Ausstiegs aus der Zivilisation endet in einem Fiasko: Der verzweifelte und innerlich zerbrochene Vater erschießt sich mit einer Schrotflinte. Vanns großes literarisches Vorbild ist der 1933 in Rhode Island geborene Romancier Cormac McCarthy, der mit seiner Border-Trilogie und der postapokalyptischen Erzählung Die Straße ein pessimistisches, endzeitliches Panorama der Gewalt-Geschichte der USA geschrieben hat. Sein 1985 veröffentlichter Roman Die Abendröte des Westens beschreibt den amerikanischen Mythos von Freiheit und Abenteuer als Höllenfahrt. O-Ton David Vann Blood Meridian is an American Inferno. It is his description of Hell. He imagines American future as an endless war. The judge is an important character in the novel, really is the devil. So, there are these strong religious motifs. Since I am not religious, I am surprised to see some religious motifs in my writing. It is part of the literal tradition. It is about, whether or not a special person can be redeemed in some way. American literature is interested, whether we are doomed. Is there a possibility of a certain upswing at the end. Is there redemption or no redemption for us. Sprecher 3 Die Abendröte des Westens ist eine amerikanische Höllenfahrt, es ist Cormac McCarthys Idee der Hölle. Er stellt sich die Zukunft Amerikas als eine Abfolge endloser Kriege vor. Der Richter, einer der Hauptcharaktere des Buches, ist die Inkarnation des Teufels. Es gibt in dem Roman diese stark ausgeprägten religiösen Motive. Die ich, obwohl ich nicht religiös bin, auch in meinem Schreiben finde. Amerikanische Literatur interessiert sich immer dafür, ob wir Verdammte sind, und ob es am Ende die Aussicht auf Erlösung gibt. Sprecher 2 (Cormac McCarhy, die Abendröte des Westen) Ist Blut nicht das eigentliche Bindemittel im Mörtel? Der Richter beugte sich näher heran. Was glaubst du wohl, was der Tod ist, mein Junge? Von wem ist denn die Rede, wenn wir von jemandem sprechen, der war und nicht mehr ist? Sind das verworrene Rätsel, oder ist da nicht vielmehr eine dem Menschen übergeordnete Instanz im Spiel? Was ist der Tod, wenn nicht eine höhere Macht? Und auf wen oder was zielt er ab? Sprecher 1 Die Abendröte des Westen von CormacMc Carthy erschien 1985. Ein Roman über die Grausamkeit der amerikanischen Pioniere, die sich vor der Kulisse der öden Wüste an Blut und Tod berauschen. Sprecher 2 (Cormac McCarhy, die Abendröte des Westen) Jeder sucht seine Bestimmung und nur seine eigene, sagte der Richter. Wohl oder übel. Könnte man sein eigenes Schicksal ergründen und wählte infolgedessen einen anderen Lebensweg, so käme man zuletzt doch wieder zur selben festgelegten Zeit ans selbe Ziel, denn das Schicksal des Menschen ist so umfassend wie die Welt, die er bewohnt; alle Um- und Abwege sind darin enthalten. Die Wüste, in der so viele zugrunde gegangen sind, ist weit und verlangt nach einer weiten Seele; zugleich aber ist sie unendlich leer: Sie ist rau, sie ist kahl. Ihre eigentliche Natur ist Stein. Sprecher 1 Viele Romane von Cormac Mc Carthy haben biblische Bezüge oder zitieren biblische Motive. In seinem Roman Die Straße erzählt er die beklemmende Geschichte von einem Vater und seinem Sohn, die in einer verwüsteten Landschaft ums nackte Überleben kämpfen. Sprecher 2 Cormac McCarthy, Die Straße) Er senkte das Fernglas, stand einfach nur da und sah zu, wie das aschene Tageslicht über dem Land gerann. Er wusste nur, dass das Kind seine Rechtfertigung war. Er sagte: Wenn er nicht das Wort Gottes ist, hat Gott nie gesprochen. Sprecher 1 Der Weg von Vater und Sohn führt durch eine verkohlte Welt. Die Apokalypse liegt unmittelbar hinter ihnen, vor ihnen liegt das Nichts. Die Städte sind zerstört, die Zivilisation ist ausgerottet; bevölkert wird diese Todeslandschaft von wilden, grauenhaften Kannibalen. Wo ist Gott? Gab es jemals einen Gott? Diese Fragen durchziehen diesen Text von Cormac Mc Carthy, der die Protagonisten ganz auf sich selbst zurückwirft. Immer wieder fühlt man sich an die Offenbarung, an die neutestamentarische Enthüllung des Göttlichen Heilsplans, erinnert. Wird sich die Verheißung des Paradieses angesichts einer entseelten Trümmerwüste verwirklichen lassen? Gibt es noch Hoffnung auf das Gute? Am Ende stirbt der Vater, der Sohn bleibt übrig, und es gibt die Aussicht auf das Ende des apokalyptischen Schreckens als er auf eine Familie trifft, die ihn aufnimmt. Sprecher 2 (Cormac McCarthy, Die Straße) Der Atem Gottes, sagte sie, sei sein Atem und werde doch durch alle Zeiten von Mensch zu Mensch weitergegeben. Sprecher 1 Cormack McCarthy hat sich selbst einmal als einen ungläubigen irischen Katholiken bezeichnet. Musik Nick Cave The Road O-Ton Michael Hochgeschwender Wenn man sich vorstellt, dass die Amerikanische Revolution ohne die Beteiligung von evangelikalen Apokalyptikern in den 1770er Jahren gar nicht zu machen gewesen wäre. So sickert von Anfang an in die nationale Identität der USA ein stark apokalyptischer Zug. Sprecher 1 Michael Hochgeschwender, Professor für Nordamerikanistik an der Universität München. O-Ton Michael Hochgeschwender Im 19. Jahrhundert hat dieser apokalyptische Zug dazu geführt, dass man gesagt hat: Wir müssen eine perfekte Gesellschaft errichten, um die Wiederkunft Christi zu beschleunigen. Das hieß: Wir müssen uns sozial engagieren, wir müssen die Gesellschaft verbessern. Wir müssen sie von den Sündern bereinigen. Das ist ein Topos, der sich durch die amerikanische Gesellschaft und die amerikanische Literatur hindurch zieht. Sprecher 1 Immer wieder beschreiben Autoren wie David Vann oder Cormac McCarthy amerikanische Landschaften, die einem Organismus gleichen, der die innere Verfassung der Protagonisten reflektiert - eine Art seismografisches Spiegelbild. O-Ton Christian Brückner Don DeLillo fällt mir da ein, mit seinen oft dürren Geschichten, die nicht von irgendwelchen Plots leben - überhaupt nicht. Es ruckelt so vorwärts, es bewegt sich vorwärts, ganz unabsichtlich, ganz unspektakulär. Da sind die Löcher, in die die da reinstolpern - und warum? Sie müssen es einfach. Wunderbar! Am Ende sind sie verschwunden oder schlicht tot. Sprecher 2 (Don DeLillo, Der Omega-Punkt) In Luft überzugehen, das war anscheinend ihre Bestimmung, dafür war sie geschaffen, zwei volle Tage kein Wort, kein Zeichen. Sprecher 1 Don DeLillos Erzählung Der Omega-Punkt erschien im Jahr 2010 Sprecher 2 (Don DeLillo, Der Omega-Punkt) War sie jenseits der Mutmaßungsgrenze geraten, oder waren wir bereit, uns vorzustellen, was geschehen war? Ich versuchte, nicht über die Geografie hinauszudenken, jeder Moment war bestimmt durch die Ödnis ringsum. Sprecher 1 In der Abgeschiedenheit der kalifornischen Wüste besucht ein junger, zielstrebiger Filmemacher den einflussreichen Regierungsberater Richard Elster. Über ihn will er eine Dokumentation drehen. Wie ein wohlhabender Eremit, abseits des gesellschaftlichen Lebens, führt Elster ein Leben meditativer Einkehr. Er sucht den Omega-Punkt, den innersten Kern seiner Existenz. Seine weltfremde Tochter, die bei ihm zu Gast ist, verschwindet eines Tages spurlos in der Wüste. Realität und Trance verschwimmen in DeLillos spiritueller Erzählung zu einer Reflexion über den Sinn des Daseins und über ein "Leben außerhalb der Biologie", wie es heißt. Zum Sinnbild dieser Idee wird das Konzeptkunstwerk "24-Stunden-Psycho", eine auf vierundzwanzig Stunden gedehnte Aufführung des Hitchcock-Klassikers Psycho. Sprecher 2 (Don DeLillo, Der Omega-Punkt) Er hat mir erzählt, es sei gewesen, als würde man dem Universum beim Sterben zusehen, über einen Zeitraum von ungefähr sieben Milliarden Jahren. Musik Steve Reich, Desert Music Sprecher 1 DeLillos Erzählung Der Omega-Punkt stellt mit seinem minimalistischen Plot die klassische Frage nach dem Sinn des Lebens. Was ist überhaupt der Mensch angesichts der Unendlichkeit? Was ist Zeit, und können wir dem Wort und der Realität trauen? Im Niemandsland zwischen Realität und Traum scheint die Zeit stehen zu bleiben. Musik Steve Reich, Desert Music Sprecher 2 (Don DeLillo, Der Engel Esmeralda) Die Scheinwerfer wischten über die Plakatwand, und sie hörte einen Laut aus der Menge, ein Keuchen, das in Schluchzen und Stöhnen und den Aufschrei einer unsagbar schmerzlichen Wonne überschoss. Ein sprudelndes Juchzen, das Aufheulen ungehemmten Glaubens. Denn als die Zuglichter auf den trübsten Teil der Plakatwand trafen, erschien ein Gesicht über dem dunstigen See, und es gehörte dem ermordeten Mädchen. Sprecher 1 Don DeLillos Erzählung Der Engel Esmeralda beleuchtet ein Wunder im Leben zweier Nonnen, die im sozialen Elend der New Yorker South Bronx der frühen 1990er Jahre Sozialarbeit leisten. Sie werden Zeuginnen einer Art Marienerscheinung: Das Bildnis eines zwölfjährigen Vergewaltigungsopfers mit Namen Esmeralda spiegelt sich auf einer großflächigen Fruchtsaftreklame. Musik Steve Reich, It is gonna Rain Sprecher 2 Ein Dutzend Frauen griff sich an den Kopf, sie jauchzten und schluchzten, ein Geist, ein Gottesatem wehte durch die Menge. Esmeralda, Esmeralda. Schwester Edgar stand unter Schock. Sprecher 1 Der Engel Esmeralda ist eine Mischung aus dem realistischem Blick auf die desolaten sozialen Verhältnisse im New York der frühen 1990er Jahre und der Sehnsucht nach Wundern und Erlösung. Musik Steve Reich, It is Gonna Rain Sprecher 1 Fast so wie in Don DeLillos Erzählung, in der die tote Esmeralda als Graffito- Engel an einer maroden Hauswand in der Bronx auftaucht, bedienen sich religiöse Bewegungen in den USA populärer Medien wie Zeitung, Film, Comic, Computergame und Hörspiel, um ihre Engels- und Gottesbilder, ihre Endzeitgedanken plakativ in Szene zu setzen. Mit Beginn der 1920er Jahren gibt es Radioprediger, ab 1950 Fernsehprediger wie Billy Graham, Jimmy Swaggart und Ted Haggard. Populär heißt in diesem Zusammenhang: trivial, missionarisch und reißerisch, nicht subtil und konfessionslos wie bei DeLillo. Zentrales Thema vieler populistischer Endzeitdarstellungen ist oftmals die Apokalypse und der darauf folgende Kampf mit dem Antichristen, dem Widersacher Jesu Christi. Als Textgrundlage dient nicht die klassische King James-Bibel, sondern eine modifizierte Popular-Bibel. O-Ton Harald Wenzel, Es gibt die so genannte Scofield-Bibel, und in dieser Bibel ist das Endzeit- Szenario gleich mit eingearbeitet, das heißt, viele Bibelstellen werden dahingehend ausgewertet, inwiefern sie auf eine bestimme Endzeit ausgerichtet sind. Sprecher 2 Harald Wenzel, Professor für Soziologie am John F. Kennedy-Institut für Nordamerikastudien der Freien Universität Berlin. O-Ton Harald Wenzel, Hinzukommt, dass das durch populäre Medien unterstützt wird. Es gibt eine Zunahme christlicher Literatur. Die Auflagen sind für unsere Verhältnisse unglaublich hoch. Es gibt eine Buchreihe Left Behind, die auf dieses Endzeitszenario eingeht und in zwölf Bänden darstellt. Diese Bücher haben bis heute inklusive Prequels und Sequels eine Auflage von ca. 70 Millionen Büchern erreicht. Darin sind relativ extreme Glaubensauffassungen relativ weit in der amerikanischen Bevölkerung verbreitet. Sprecher 1 Über vierhundert Millionen Dollar haben die Romane des Autorengespanns Tim LaHaye und Jerry B. Jenkins bisher eingebracht. Left Behind ist eine reißerisch aufgemachte Serie über das Ende der Welt aus evangelikaler Sicht. Im Stil eines Trivialromans werden biblische Motive mit Science-Fiction-Elementen vermengt. Alle selbstverständlich christlichen Helden von Left Behind gehören der im Untergrund operierendem "Tribulation Force" an, die einen erbitterten Kampf gegen den Antichristen und seine Handlanger führt. Es sind popkulturelle Helden der evangelikalen, fundamentalistischen Bewegung der USA. O-Ton Hörspiel Left Behind, Armageddon O-Ton Harald Wenzel Eine wichtige Quelle des Fundamentalismus ist der Endzeitglaube. Bei einem großen Teil der Evangelikalen ist die Überzeugung verbreitet, dass wir in einer Phase von vielleicht noch 40, 60 Jahren leben, in der die Wiederkehr Christi unmittelbar bevorsteht, die in einem ganz bestimmten Szenario abläuft. Man spricht von einer "Invisible Church", der "unsichtbaren Kirche", die an einem bestimmten Zeitpunkt mit der "Rapture" - der Entrückung - dazu führt, dass die "Unsichtbare Kirche" sichtbar macht, Gott die Rechtgläubigen zu sich in den Himmel holt und dann der Kampf mit dem Antichristen beginnt, der bei der Schlacht bei Armageddon siegreich beendet werden wird. Dann beginnt das Millenium - Tausend Jahre mit Jesus Christus in einem paradiesischen Zustand. Sprecher 1 Die evangelikalen Christen in den USA, mit allen ihren Varianten, bilden bis heute das gesellschaftliche Rückrat der amerikanischen Mittel- und Oberschicht. Der ehemalige US-Präsident George W. Bush ist bekennender Evangelikaler, Präsident Barack Obama gilt als liberaler Protestant, der auch im Wahlkampf immer wieder seinen Glauben unterstrichen hat - mit einem Vers des Propheten Jesaja. Sprecher 2 Aber die auf den Herrn harren, kriegen neue Kraft, dass sie auffahren mit Flügeln wie Adler. Sprecher 1 Wesentlich fundamentaler und unverblümter machte Präsident Bush mit seinem Glauben Politik, als er einen Monat nach den Anschlägen des 11. Septembers 2001 im Stile eines evangelikalen Predigers Kampfeswillen bekräftigte: Sprecher 2 Ich bin erstaunt, dass ein derartiges Missverständnis darüber besteht, wer wir sind, und dass man uns so hasst. Ich kann es - wie die meisten Amerikaner - nicht verstehen, weil ich weiß wie gut wir sind. Wir müssen es noch deutlicher machen, besonders den Menschen im Mittleren Osten, dass wir keinen Krieg gegen den Islam oder Moslems führen. Wir machen keine spezielle Religion verantwortlich. Wir bekämpfen nur das Böse. Musik Amerikanische Hymne, letzte Takte O-Ton Harald Wenzel Was ist evangelikal? Sicher gehört die wörtliche Bibelauslegung und die Unfehlbarkeit der Bibel dazu. Ebenso eine Orientierung auf die Erlösung durch Jesus Christus am Kreuze und auch die Erlösung, die man persönlich erfahren kann. Eine Standardfrage ist immer: Are you saved? Wenn Sie in einer evangelikalen Kirche sind. Sicher gehören auch Erfahrungen der Wiedergeburt dazu oder auch Erfahrungen der direkten Kommunikation mit Gott bzw. mit dem Heiligen Geist, wie das in pentekostalen und charismatischen Kirchen der Fall ist, und viertens ist die Verbreitung des Glaubens, der Missionsgedanke, ein wichtiger Bestandteil evangelikalen Glaubens. Dieses sind für alle evangelikale Kirchen identifizierende Kriterien. Sprecher 1 Left Behind - die Serie von Tim LaHayes und Jerry B. Jenkins wirkt wie eine Karikatur. O-Ton Hörspiel Left Behind, Armageddon, Akzent Sprecher 2 (John Jeremiah Sullivan, Auf diesem Rock will ich meine Kirche bauen) Es handelt sich um ganz schön düsteres Zeug. Wie ein Virus hat sich im Jahr 38 ein uralter Totenkult ausgebreitet und die "Vereinigten Sieben Staaten von Amerika" unterjocht. Sprecher 1 John Jeremiah Sullivans ironische Reportage "Auf diesem Rock will ich meine Kirche bauen" aus dem Jahr 2004. Sprecher 2 (John Jeremiah Sullivan, Auf diesem Rock will ich meine Kirche bauen) Anhänger dieses Kults sind in Zellen organisiert. Sehr hübsch diese Prise alten Kommunisten-Jargons; sie rekrutieren die Jugend, streben nach globaler Hegemonie und haben es darauf abgesehen, den Weltuntergang herbeizuführen. O-Ton Hörspiel Left Behind, Armageddon, kurz Sprecher 2 (John Jeremiah Sullivan, Auf diesem Rock will ich meine Kirche bauen) Moment! dachte ich. Das alles passiert doch wirklich. Genau so funktioniert die evangelikale Bewegung. Nur dass in dem Roman Silenced Time beschrieben wird, wie man Christen ins Gefängnis wirft und in den Untergang treibt. O-Ton Hörspiel Left Behind, Armageddon, Kampfgetöse (blenden) Musik Carnival of Souls, schaurige Orgelklänge Sprecher 2 Are you saved? Musik Carnival of Souls, schaurige Orgelklänge Sprecher 2 (Denis Johnson, Train Dreams) Niemand der Anwesenden hatte je zuvor jemanden gesehen, der so still und zugleich so seltsam in Bewegung war. Sprecher 1 Denis Johnson, Train Dreams Musik Carnival of Souls, schaurige Orgelklänge Sprecher 2 (Denis Johnson, Train Dreams) Er legte den Kopf in den Nacken, bis er mit seinem Scheitel die Wirbelsäule berührte - so weit - und öffnete den Schlund, und im Zuschauerraum erhob sich ein Geräusch wie ein Wind, der aus allen vier Himmelsrichtungen kam, tief und furchterregend, er grollte von der Erde unterhalb des Fußbodens herauf und steigerte sich zu einem Tosen, das am Gehörsinn selber saugte, verschmolz zu einer Stimme, die in den Nebenhöhlen und schließlich in die Köpfe derer drang, die sie hörten, schraubte sich höher und höher, immer schrecklicher und schöner, das ursprüngliche Ideal aller solcher Geräusche, die jemals gemacht wurden, vom Nebelhorn und Schiffshorn über das einsame Pfeifen der Lokomotive, den Operngesang und die Flötenmusik bis hin zum fortwährenden Lamento des Dudelsacks. Sprecher 1 Denis Johnson, geboren 1949 in München als Sohn einer Deutschen und eines US-amerikanischen Besatzungssoldaten, ist vor allem mit Romanen wie Train Dreams, Engel und Ein grader Rauch und dem Erzählband Jesus' Son bekannt geworden. Er selbst nennt seine Erzählungen und Romane Epiphanien, Gotteserscheinungen. Die unter dem Titel Jesus' Son erschienen Kurzgeschichten handeln von gestrauchelten Menschen, Junkies und Alkoholikern, die auf ganzer Linie gescheitert sind. In Train Dreams zelebriert Johnson auf poetische Weise den Untergang des alten Amerikas der Eisenbahn-Pioniere. Während einer Zirkusshow mit einem schlauen Pferd, das mithilfe der Hufe addieren konnte, irgendwo im Norden der USA des späten 19. Jahrhunderts, lässt ein mystischer Pferdebändiger buchstäblich ein Zeitalter verschwinden. Musik Carnival of Souls, schaurige Orgelklänge Sprecher 2 (Denis Johnson, Train Dreams) Und auf einmal wurde alles schwarz. Und jene Zeit war für immer vorbei. Musik, Reich Four Organs Sprecher 2 (Denis Johnson, Train Dreams) Die erste Frau, mit der ich damals wieder richtig ausging, hatte ich beim "Antialkoholischen Tanzen" kennengelernt, einer geselligen Veranstaltung für rekonvaleszente Säufer, Leute wie mich. O-Ton Bettina Abarbanell Er ist Drogenjunkie gewesen, Alkoholiker. Acht Jahre seines Lebens ist er durch die Straßen geirrt und war wirklich am Boden zerstört. Sprecher 2 Bettina Abarbanell, Übersetzerin der Werke von Denis Johnson O-Ton Bettina Abarbanell Er hat dann irgendwann ein Erleuchtungserlebnis gehabt. Er sagt, es war blau. Er hat es als erlösend und einen Moment der Wahrheit empfunden und gedacht, es ist vielleicht doch nicht so, dass wir doch nicht nur Gefallene sind und können unser Schicksal selbst in die Hand nehmen und bestimmen. Er hat dann angefangen, viel mehr als vorher zu schreiben. Das hat ihn gerettet. Seither empfindet er sich als erlöste, gerettete Seele, die aus dem Dunkel, den Niederungen des Lebens in ein "gelingenderes" Leben gekommen ist. Sprecher 1 Johnson will mit seinen Romanen nicht missionieren, zumal der in Idaho lebende Schriftsteller keiner Kirche angehört. Für ihn haben christliche Symbolik und christliche Werte eine große Bedeutung. Seinen letzten Roman Ein gerader Rauch hat er H. P. gewidmet. Das könnte für Highest Power stehen: der Allmächtige. O-Ton Bettina Abarbanell Es ist so, als würde ein göttlicher Funke in ihn hineinfahren. Das hat er so erlebt. Deswegen lässt er das manche seiner Figuren auch so erleben. Musik Carnival of Souls Sprecher 1 Am eindrücklichsten gelingt das Denis Johnson in seinem Roman Engel. Dort wird das prekäre Leben zweier verlorener Seelen, Jamie und Bill, geschildert. Beide lernen sich im Bus kennen, driften durchs Leben und wissen gar nicht, wie ihnen geschieht bis sie am Ende ihres entsetzlichen Lebens - Jamie landet in der Drogenentzugsklinik und wird dort misshandelt, Bill wird mit der Giftspritze hingerichtet - ein spirituelles Erlebnis haben. O-Ton Christian Brückner Es ist ein windiger, grauer, düsterer amerikanischer Alltagsausschnitt aus trivialen, unspektakulären Orten, wo die Geschichte sich festmacht. Das ist nichts Besonderes. Es ist Dreck, Abfall, Graffiti. Trotzdem ist es genau Amerika. Sprecher 1 Bill schildert die Situation kurz vor dem Tod - von einem Herzschlag zum nächsten. In diesem allerschlimmsten Moment seines Lebens hat er ein Erweckungserlebnis. Musik Lou Reed Jesus "Help me find my proper place" Sprecher 2 (Denis Johnson, Engel) Er war schon mitten im letzten Atemzug seines Lebens, als er merkte, dass es der letzte war. Doch auch das war in Ordnung. Bum! Unglaublich! Und noch einer? Wie viele willst Du mir denn noch geben? Er kauerte sich ins Dunkel zwischen zwei Herzschlägen und ruhte dort aus. Und dann sah er, dass kein weiterer mehr kommen würde. Schluß. Das war der letzte. Er schaute das Dunkel an. Ich würde diese Gelegenheit gern nutzen, sagte er, um für einen anderen Menschen zu beten. Musik Lou Reed Jesus "Help me find my proper place" O-Ton Bettina Abarbanell Da fühlt er sich ganz bei sich selbst, im letzten Moment seines Lebens, kurz bevor er stirbt. Ganz irre. Diese grauenhaften Erlebnisse, die die Menschen in Johnsons Romanen haben, haben immer etwas Tröstliches. Auch Jamie hat ein solches Erweckungserlebnisses, ihr erscheint ein Engel. Musik Lou Reed Jesus "Help me find my proper place" O-Ton Bettina Abarbanell Die Situationen, die er beschreibt, sind von biblischer Ausdruckskraft. So ist auch die Sprache, sie ist zwar einfach, aber in keiner Hinsicht banal. Da blitzen ja große poetische Wendungen drin auf, wirken aber nie kitschig, auch wenn -wie in Engel - ein Engel auftaucht. Komischerweise ist es so komisch und schlicht dargestellt, dass man das als Leser so mitmacht und sagt: Ja, da ist ein Engel aufgetreten. Man denkt nicht, das ist merkwürdig oder esoterisch. Musik Lou Reed Jesus "Help me find my proper place" Sprecher 2 (Denis Johnsom, Engel) Sie schaute von ihrer Stimme auf und sah einen Engel. Er wird Ohren haben wie die organische Wucherung einer Karikatur. Er ist gelb vom Licht, aber mit beweglichen Schatten, belebten Tätowierungen bedeckt. Sein Antlitz änderte sich andauernd. Seine Stimme wird von weither kommen, wie die eines Zugs. Sein Leib ist ebenmäßig, schön und unbehaart, die Flügel brennen weiß und rein, aber der Kopf verändert sich rasch, der Kopf eines Adlers, einer Ziege, eines Insekts, einer Maus, eines Schafs mit Spiralhörnern, die sich beinahe unmerklich weiter winden und verlängern, und die ganze Botschaft hat keine Wörter. Die ganze Botschaft wird bloß der Rhythmus und die Richtung der Zeit sein. Ja ist Jetzt. Und der Engel sagt: "Es ist Zeit." "Ist es Zeit?" fragt sie. "Tut es weh?". Er wird das schönste Gesicht haben, das sie je gesehen hat. "Ach, Kleines." Der Engel fängt an zu weinen. "Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie", sagte er. Sprecher 2 Denis Johnson, Engel Musik Ist gonna rain / Apocalypse now Sprecher 3 Am liebsten hätte ich sie erschossen Sprecher 1 erinnert sich Karl Marlantes an eine Begegnung mit Antikriegsdemonstranten vor dem Weißen Haus in Washington im Jahr 1970. Die Anti-Vietnam-Bewegung hat ihren Höhepunkt erreicht. Marlantes, hoch dekorierter Ex-Marine des Vietnamkrieges, sieht eine Gruppe junger Leute, die Parolen wie "Babykiller" skandiert und die Flagge Nordvietnams schwenken. Es ist die Zeit des "Coming Home", Vietnamveteranen werden wie Aussätzige behandelt. O-Ton Karl Marlantes The politics were such, that the people do not talk to you. It is hard to imagine. There were signs on the Restaurants and Nightclubs, saying, that there are no soldiers and marines were allowed. The Girls did not date you, because it was politically incorrect. Southern Girls were still o.k. with that. Sprecher 2 Man hat einfach nicht mit uns gesprochen. Restaurants und Bars hatten Verbotsschilder für Vietnamveteranen. Kein Mädchen wollte sich mit einem "Marine" treffen. Das war damals politisch inkorrekt. Nur die Mädchen aus dem Süden haben da eine Ausnahme gemacht. Sprecher 1 Noch sechs Wochen vor diesem Schlüsselerlebnis hatte Marlantes Soldaten der Nordvietnamesischen Volksarmee im Kampf getötet. Der Schock saß tief, Marlantes war ein von Todeserfahrung und Angst traumatisierter Veteran, der sich schuldig fühlte für die von US-Truppen begangenen Kriegsverbrechen, aber auch eine unbändige Wut in sich spürte. Er begann, die wahre Geschichte eines 21jährigen Second Lieutenant der US Marines aufzuschreiben, der wie viele seiner Altersgenossen in einen sinnlosen Krieg geschickt wurde. Sprecher 2 (Karl Marlantes, Matterhorn) Der Berg, einer von vielen ähnlichen, namenlosen Erhebungen in dem Gebiet - alle über tausendfünfhundert Meter hoch und in kalten Monsunregen und Wolken gehüllt -, hatte das Pech, ein kleines bisschen höher zu sein als die anderen. Aus diesem Grund hatte irgendein Stabsoffizier, der fünfundfünfzig Kilometer weiter östlich im Hauptquartier der Fünften Marineinfanteriedivision in Dong Ha saß, entschieden, dass die Kuppe von Vegetation befreit und planiert werden solle, um dort eine Batterie von 105-Millimeter-Haubitzen zu stationieren. Derselbe Offizier hatte den Berg außerdem Matterhorn getauft, entsprechend der gegenwärtigen Mode, neue Feuerunterstützungsbasen nach Schweizer Bergen zu benennen. Sprecher 1 Die Mission ist ein Himmelfahrtskommando, in das ein Haufen unerfahrener junger Soldaten geschickt wird, die von den chaotischen Verhältnissen in den USA geprägt sind, die Ende der 1960er Jahre von bürgerkriegsähnlichen Zuständen erschüttert wurden. Die Attentate auf Martin Luther King und Robert Kennedy, die Watts-Unruhen, bei denen 1965 in Los Angeles 34 Menschen starben, sowie die ständige Angst vor einer Eskalation rassistisch motivierter Gewalt sitzen den zumeist aus Arbeiterfamilien stammenden Rekruten tief in den Knochen. O-Ton Karl Marlantes Everything what the character sees, I saw. I was on a mission in Djungle and food run out. We had no food for five or six days. The Matterhorn is a made-up hill, it is a very symbolic of the war. The hill was taken with great sacrifies and than abandoned. I was in a battle of Hill 484. We lost thirty men, everybody was wounded, some twice. Sprecher 3 Alles das, was Mellas im Roman sieht, habe ich mit eigenen Augen gesehen. Wir waren auf Patrouille im Dschungel und hatten für bald sechs Tage nicht genug zu essen. Matterhorn ist ein fiktiver und symbolischer Ort, der unter großen Opfern genommen und später wieder aufgegeben wurde. Ich habe die Gefechte um die Anhöhe 484 miterlebt. Wir haben 30 Mann verloren, jeder wurde dabei verletzt, manche zweimal. Sprecher 1 Fünfzehn Jahre wurde der Ex-Marine therapiert. Marlantes litt unter einem posttraumatischen Stress-Syndrom, und die Figur des Parzival wurde so etwas wie ein Leitmotiv im Heilungsprozess. Die Entwicklung des Ritters vom schwächlichen Jüngling zum "Gralshüter" mit göttlicher Aura wurde zentraler Gegenstand seiner Therapie. O-Ton Karl Marlantes He goes through terrific things and that changed the way he sees the world and changed the way he sees himself. It is the same myth as the Parzival Myth. Parzival failes to initiate the Fisher Kings keeping his wound healed by keeping his mouth shut. You see a lot in this novel. He goes wandering for thirty years. He has to growing up, trying to come back to the Grail Castle. Mellas has to do the same thing. He hast to figure up his own person and not his mothers boy. He has to start to understand his responsibilty in certain things. He is also responsible to kill his own people. Through this all is done. The novel started after the New Years Day and is to end on Easter Day. The last day in the book is Easter and the Sun comes out. The persons goes through the things and comes to a greater sense of himself than being a Child . Sprecher 3 Der Protagonist Mellas erlebt grauenhafte Dinge im Dschungel, und das verändert sein Leben und wie er die Welt und sich sieht. Das erinnert an den Parzival-Mythos. Parzival darf Amfortas, den Fischerkönig, nicht heilen, weil er zum Schweigen verdammt ist. Einiges von diesem Mythos steckt in meinem Roman. Parzival geht dreißig Jahre auf Wanderschaft, wird zum Mann und ist kein Muttersöhnchen mehr. Er will zurück zur Gralsburg. Mellas ist für Leben und Tod seiner Männer verantwortlich. Es sind seine Lehrjahre, seine Gralssuche. Mein Roman beginnt am Neujahrstag und endet Ostern. Die Sonne scheint, und die Suche hat ein Ende: Mellas ist ein Mann geworden und über sich hinausgewachsen. Musik Lou Reed Jesus Sprecher 2 (Karl Marlantes, Matterhorn) Er dachte an den Dschungel, der um ihn herum schon wieder nachwuchs, um die Narben zu bedecken, die sie geschlagen hatten. Er dachte an den Tiger, der tötete, um zu fressen. War das böse? Und Ameisen? Sie töteten ebenfalls. Nein, der Dschungel war nicht böse. Ihm war alles gleichgültig. Genau wie der Welt an sich. Das Böse musste somit die Negation von etwas sein, was der Mensch der Welt hinzugefügt hatte. Musik Jesus (Ende des Songs) Sprecher 1 Der Wunsch nach Erlösung, die Befreiung von einer großen Bürde, die Zwiesprache mit Gott, die kleinen und großen Wunder im harten, alltäglichen Leben, vielleicht auch die Suche nach persönlicher Einkehr und Selbsterkenntnis: Diese spirituellen Erfahrungen, die nicht dem Bibeltext folgen müssen, ziehen sich wie ein roter Faden durch Romane und Erzählungen amerikanischer Gegenwartsliteratur. Wenn Cormac McCarthy mit Ingrimm den Niedergang der USA beschreibt, David Vann einen Vater/Sohn-Konflikt in die Einsamkeit Alaskas verlegt, Denis Johnson seine "gefallenen Seelen" liebevoll in göttliche Sphären entrückt, dann stimmt das schlichte Motto, das auf der Rückseite der Dollar-Scheine höhere Mächte ins Spiel bringt: In God we trust. Jeder auf seine Art, so wie Denis Johnson - mit einem Augenzwinkern. Sprecher 3 (aus einem Interview) Ich schreibe über das Dilemma in einer "Gefallenen Welt" zu leben, in der wir uns aber fragen: Warum ist das so, wenn es angeblich einen Gott gibt? Ich kann mir vorstellen, dass Gott das ziemlich komisch findet. Aber das ist vermutlich das Einzige, was ich in seinem Namen sagen sollte - schließlich geht er ja auch nicht überall herum und spricht von m i r. Sprecher 1 In God we trust, Richard Ford? O-Ton Richard Ford There is not enough about life that is mysterious to support to believe in God. Sprecher 3 So mysteriös ist das Leben nun auch wieder nicht, um an Gott glauben zu müssen. Musik Bob Marley Redemption Ende 11 1