Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. (c) DeutschlandRadio Deutschlandradio Kultur, Zeitfragen 03.12.2012, 19.30 Uhr Der lange Weg zur grünen Wiese Was geschieht in den stillgelegten deutschen Atomreaktoren? Von Axel Schröder Atmo 1 Gemurmel, Piepen OT 1 Computerstimme: Sechs, fünf, vier, drei, zwei, eins. Bitte umdrehen. Füße positionieren. Sprecher vom Dienst: Der lange Weg zur grünen Wiese Was geschieht in den stillgelegten deutschen Atomreaktoren? Ein Feature von Axel Schröder OT 2 Wachmann / Kollege per Funk: Hallo? / Ja? / Der nächste Besucher - Zehn, Dreiundvierzig! - wurde kontrolliert. / Zehn, Dreiundvierzig! / Eine Freigabe bitte! / Ja. Moment. Atmo 1 Gemurmel, Piepen Sprecher: Eine Hochsicherheitszone. Die Personenschleuse in dem so genannten "Kontrollbereich" im stillgelegten Atomkraftwerk Brunsbüttel. Drehkreuze aus Edelstahl, Gepäckscanner wie am Flughafen, das Sicherheitspersonal trägt geladene Waffen am Gürtel. Der Stromkonzern Vattenfall hat ein Dutzend Journalisten eingeladen, will ihnen zeigen, wie das Kraftwerk, Stück für Stück, abgebaut wird. Atmo 2 Schritte, Gemurmel, Fahrstuhlfahrt Sprecher: Der Besuchertross wird durch die Drehkreuze geschleust. Ein Dosimeter in der Brusttasche misst ab jetzt die aufgenommene Strahlung. Ausgestattet mit Handschuhen, Kittel und Überschuhen - alles in Weiß - geht es mit dem Fahrstuhl nach oben. Zu den hochradioaktiven Brennelementen, zum geöffneten Reaktordruckbehälter. Kraftwerksleiter Knut Frisch begrüßt seine Gäste. OT 4 Frisch: Wir sind jetzt hier auf 42 Meter. Und vor uns haben wir unser Bassin, wo wir unseren Reaktor, Dampfabscheider, Dampftrockner haben und unsere Brennelementwechselbühne. Unter der Brennelementwechselbühne finden sie unser Lagerbecken, wo wir heute unseren letzten Castor haben, der zur Beladung ansteht in dieser Kampagne. Alles, was sie hier rundherum sehen ist absolut sauber, sauberer, als es draußen ist, alles freigemessen, um hier keine Kontaminationsverschleppung zu haben. Atmo 3 Kraftwerkshalle Sprecher: Alles ist sauber, die Strahlung kein Problem und der Rückbau der Anlage erst recht nicht. Sprecherin: Über die technischen Schwierigkeiten, über die Gefahren beim Abbau ihrer Kernkraftwerke schweigen die Ingenieure. Dabei gibt es viele Hindernisse auf dem Weg zur "Grünen Wiese", zu der sich die Kraftwerksgelände einmal wandeln sollen. Wie beim Betrieb gibt es auch beim Abriss der Meiler die alten, heftigen Grabenkämpfe zwischen Gegnern und Nutznießern der Atomkraft, es geht um sehr viel Geld und um eine bis heute erfolglose Endlagersuche. Musik-Trenner Sprecherin: Seit fünf Jahren wird im Brunsbütteler AKW kein Strom mehr produziert. Im Juni 2007 führt ein Kurzschluss zur Reaktorschnellabschaltung. Beim Wiederanfahren kommt es mehrmals zu Problemen. Eine gründliche Untersuchung der Kieler Behörde für Reaktorsicherheit ergibt: Das Kernkraftwerk weist in 231 Punkten Mängel auf. Vattenfall musste den Reaktor nachrüsten, tat das aber gern: Immerhin versprach die Laufzeitverlängerung durch die schwarz-gelbe Bundesregierung satte Gewinne. Eine Million Euro pro Tag. Bis der Regierung Zweifel kamen, ob wirklich alles sicher genug ist. OT 5 Merkel: Genau aus diesem Grunde werden wir die erst kürzlich beschlossene Laufzeitverlängerung der deutschen Kernkraftwerke aussetzen. Sprecherin: Mit diesem Kurswechsel 2011, nach dem Super-GAU in Fukushima war schnell klar: Der Atomreaktor Brunsbüttel wird genau wie sieben weitere Kraftwerke nie wieder ans Netz gehen. Atmo 5 Kraftwerkshalle, Surren Sprecher: Blaugrau schimmert das Wasser unter der spiegelglatten Oberfläche. 36 Meter tief, beleuchtet von grellen Unterwasserscheinwerfern im Reaktordruckbehälter. Über 500 Brennelemente, die das Wasser früher einmal auf über 250 Grad erhitzten. Eine Hightech-Dampfmaschine, Hochrisikotechnologie. Sprecherin: Anfang November stellte der Vattenfall-Konzern den Antrag auf Rückbau des Atomkraftwerks Brunsbüttel. RWE hat bereits im August für die Reaktorblöcke Biblis A und B Anträge gestellt, EnBW plant, demnächst das Gleiche zu tun. Im Brunsbüttel-Antrag erklären Knut Frisch und der Konzernchef Ernst Michael Züfle auf sieben dünnen Seiten, welche Schritte sie unternehmen wollen, um dem Ziel - der "Grünen Wiese" - näherzukommen. Ein ausführlicher Antrag fehlt bisher. Sprecher: Grundsätzlich lässt das geltende Atomrecht zwei Möglichkeiten zu, mit stillgelegten Meilern zu verfahren: beim direkten Rückbau beginnen die Abbauarbeiten sobald eine Genehmigung vorliegt. 15 bis 20 Jahre dauert ein solcher Prozess. Die zweite Variante, der so genannte "sichere Einschluss", ist umstritten: Die Anlagen werden über zwanzig, dreißig Jahre eingemottet. Die Radioaktivität soll abklingen, um den späteren Abbau zu erleichtern. Falls ein Betreiber in dieser Zeit Pleite geht, wäre die Finanzierung des Abbaus in Gefahr. Sprecherin: Die im letzten Jahr stillgelegten acht Kernkraftwerke sollen, mit einer Ausnahme, direkt zurückgebaut werden. Das Prozedere ist dabei immer das Gleiche: Atmo 5 Kraftwerkshalle, Surren Sprecherin: Zuerst müssen die Brennelemente aus den Reaktordruckbehältern und Lagerbecken in Castorbehälter verladen werden. Unter Wasser, um die tödliche Strahlung abzuschirmen. Erst dann, wenn die Anlage "brennelementefrei" ist, kann der Abbau beginnen: OT 7 Frisch: Wir rechnen insgesamt mit 300.000 Tonnen Abfällen. Wobei etwa zehn Prozent aktive Abfälle sind und 90 Prozent sind ganz normaler Abfall, wie man ihn von jedem Rückbau kennt. Atmo 6 Brennelementewechselbühne Sprecher: Hinter dem Kraftwerkschef fährt ein Teleskopgreifarm langsam immer tiefer ins Wasser. Ferngesteuert von den Spezialisten auf der fahrbaren Bühne über dem Becken. Auf ihren Monitoren sehen sie, wie der Greifhaken sich Millimeter für Millimeter dem letzten Brennelement im Lagerbecken nähert, per Knopfdruck wird das vier Meter lange Rohrbündel aus seinem Metallkasten gezogen, rübergehievt zum Castorbehälter und heruntergelassen. Alles unter Wasser, um die immer noch ungeheure Strahlung abzuschirmen. Sprecherin: Für das Kraftwerkspersonal sind diese Arbeiten Routine. Während des Betriebs wurden jedes Jahr Brennelemente ausgetauscht, alter durch neuen Treibstoff ersetzt. Jedes Mal waren die betriebseigenen Strahlenschutzbeauftragten dabei, Beobachter vom TÜV kontrollierten die genau festgeschriebenen Verfahren. Auch beim Rückbau muss jeder Handgriff vorher von der zuständigen Behörde abgesegnet werden. Im Falle des Brunsbütteler Reaktors ist das die Behörde für Reaktorsicherheit in Kiel, die Abteilung V 7. Die 40 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind allein für die drei schleswig-holsteinischen Reaktoren Brunsbüttel, Brokdorf und Krümmel zuständig. Oliver Karschnick beschreibt die Komplexität der Rückbauarbeiten: OT 8 Karschnick: Jeder Schritt muss vorher definiert sein. Muss vorher in die Gesamtheit des Rückbauprojekts eingepasst sein. Muss im Rahmen von Genehmigungsverfahren genehmigt worden sein durch uns. Und muss von uns aufsichtlich begleitet werden. In welcher Tiefe auch immer, das muss man dann abstimmen. Aber es ist nicht so, dass der Betreiber alleine gelassen werden wird und werden kann. Sondern es sind uns, im Rahmen dieser Genehmigungsverfahren sehr ausführliche und sehr präzise Angaben zu machen, wie das vonstattengeht. Sprecherin: Welche Herausforderungen der Rückbau eines Atomkraftwerks bereithält, hat Karschnick in seiner Zeit im Niedersächsischen Umweltministerium gelernt. Dort war er mit dem Abriss des AKWs in Stade beschäftigt, das schon heute nicht nur brennelementefrei an der Elbe steht, sondern auch ohne Reaktordruckbehälter und ohne kontaminierte Rohr- und Stromleitungen. Die Techniken für einen Rückbau sind bekannt und erprobt. In drei Jahren, so lange werden die Genehmigungsverfahren dauern, kann der Abbau in mindestens sieben der stillgelegten Kraftwerke beginnen. 14 Anlagen wurden bisher in Deutschland zurückgebaut. Man weiß: Bestimmte Arbeitsschritte sind ohne Roboter, ohne ferngesteuerte Schneidbrenner, ohne Stahl- und Betonsägen nicht zu bewältigen. Die Strahlengefahr für Menschen ist auch nach dem Abschalten der Reaktoren in vielen Bereichen immens. Das erklärt Heinz Smital von Greenpeace: OT 9 Heinz Smital: Selbst, wenn der ganze Kernbrennstoff, der die höchste Radioaktivität darstellt, raus ist, haben wir Bereiche, die sehr, sehr stark strahlen: Einbauten vom Reaktordruckbehälter sind so aktiviert. Die Neutronen haben das Metall radioaktiv gemacht. Durch und durch! Und hier treten zum Teil auf von zehn bis zwanzig Gray oder Sievert pro Stunde! Das heißt, hier hat man innerhalb von ein paar Minuten die tödliche Dosis. Die zulässige Jahresdosis für Kernkraftwerksarbeiter wird in wenigen Sekunden erreicht. Sprecherin: Und deshalb müssen die Betreiber in einem rund drei Jahre dauernden Genehmigungsverfahren klar formulieren, welche Arbeitsschritte mit welcher Technik erledigt werden. Werden die geltenden Regeln eingehalten, sieht der Kieler Reaktoraufseher Karschnick keine Probleme für die Arbeitssicherheit des Personals. Auch nicht beim Zerlegen des Reaktordruckbehälters: OT 10 Karschnick: Da, wo sie sehr hohe Dosisleistungen haben, da geht natürlich kein Mensch hin. Das wird keiner machen. Sie werden dann, unter den gegebenen Randbedingungen Entscheidungen treffen, die dazu führen, dass sie es fernhantiert machen. Und da kommt es darauf an, ob sie es mechanisch machen oder mit Brennverfahren, mit Schneidverfahren. Es gibt sehr, sehr viele Möglichkeiten und es obliegt dem Betreiber, sich zu entscheiden, welche er bei uns zum Antrag bringt. Und dann wird es entschieden. Aber es ist kein Hexenwerk! Atmo 6 Brennelementewechselbühne Sprecher: In der Brunsbütteler Reaktorhalle ist das letzte Brennelement aus dem Lagerbecken in den Castor gehievt worden. In drei Jahren soll auch der Reaktor brennstofffrei sein. Das erklärt Pieter Wasmuth, Generalbevollmächtigter von Vattenfall für Hamburg und Norddeutschland. Dann könnte auch die Genehmigung aus Kiel vorliegen und es könnte es losgehen. OT 11 Wasmuth: Man geht nach heutigem Kenntnisstand davon aus, dass es 15 bis 20 Jahre circa dauern wird, dann physisch zurückzubauen. Dann haben wir 2035. Dann hätten wir im Zweifel hier an dem Standort des Kraftwerkes wieder "Grüne Wiese". Das Standortzwischenlager, das sich ja auch hier auf dem Gelände befindet, wird aber natürlich weiter hier nach heutigem Kenntnisstand dann noch vorhanden sein. Sprecher: Denn, so Wasmuth, noch immer gibt es in Deutschland kein Endlager für hochradioaktiven Müll. Musik-Effekt Sprecher: Zurückgebaut werden soll eigentlich auch das AKW in Krümmel, 120 Kilometer elbaufwärts gelegen, das Vattenfall zusammen mit dem Stromkonzern E.on betreibt. Aber die Konzerne weigern sich, die entsprechenden Anträge zu stellen. Obwohl das 2011 novellierte Atomgesetz die Stilllegung vorsieht. Immerhin ist die Störfallliste von Krümmel ähnlich lang wie die des Kraftwerks in Brunsbüttel, rings um den Meiler gab, und gibt es eine bis heute nicht aufgeklärte Häufung von Leukämiefällen bei Kindern. Sprecherin: Aber Vattenfall hat seit 2007 viel Geld in die Reparaturarbeiten am Reaktor gesteckt. Die Rede ist von einer Summe zwischen 200 und 300 Millionen Euro. Und so belässt man den Atommeiler im Bereitschaftsbetrieb. Und klagt stattdessen vor dem Bundesverfassungsgericht und vor dem Internationalen Schiedsgericht in New York gegen den Stilllegungsbeschluss vom Sommer 2011. Den Hintergrund der Klage erklärt Pieter Wasmuth: OT 12 Wasmuth: Wir haben hier aus unserer Sicht - gemeinsam mit E.on - das Thema eines Vermögensschadens. Das möchten wir gerne reguliert sehen. Wir betrachten es aber auch nicht so, dass wir sagen: "Das muss auf den letzten Euro genau ausgekegelt werden!" In Krümmel hat das Thema eine andere Dimension als hier. Weil Krümmel eben auch noch unter dem alten Ausstiegsbeschluss eine relativ hohe Restlaufzeit hatte, haben wir entsprechend investiert. Und deswegen haben wir natürlich da auch ein berechtigtes Anliegen. Sprecher: Mehr möchte der Generalbevollmächtigte von Vattenfall dazu nicht sagen, verweist auf die beiden laufenden Verfahren. Solange die Urteile noch ausstehen, was noch Jahre dauern kann, wird es keinen Rückbau-Antrag für das AKW Krümmel geben. Die rund 1.000 Brennelemente sollen in der Anlage bleiben. OT 13 Cloosters: Vattenfall hat bis heute für das Kernkraftwerk Krümmel keine Erklärung abgegeben, ob der Konzern diese Anlage zurückbauen will oder ob der Konzern in einen sicheren Einschluss überführen will. Sprecherin: Wolfgang Cloosters leitet seit 1996 die Abteilung V 7 der Kieler Behörde für Reaktorsicherheit. Darüber, dass Vattenfall nun bei der Frage des Rückbaus der Krümmeler Anlage mauert, kann er nur den Kopf schütteln. Will der Konzern die Anlage gar nicht abbauen, sondern über Jahre oder Jahrzehnte einmotten? OT 13 Cloosters: Wir wissen nicht, wie es mit dieser Anlage weitergehen wird. Dieser Zustand ist nicht akzeptabel und muss geändert werden. Sprecherin: Cloosters kennt die Geschäftspolitik von Vattenfall schon seit Jahren: Im Dezember 2001 zerfetzte eine Wasserstoffexplosion im AKW Brunsbüttel eine Rohrleitung am Reaktordruckbehälter. Der Schaden wurde nicht gemeldet und nur provisorisch behoben, das AKW noch wochenlang unter Volllast betrieben. Erst im Februar 2002 konnte Cloosters Reaktoraufsicht eine Revision erzwingen. - Als vor fünf Jahren ein riesiger Transformator in Krümmel lichterloh brannte, der Reaktor per automatischer Schnellabschaltung heruntergefahren wurde, erfuhr es die Reaktoraufsicht über die Geesthachter Feuerwehr und nicht - wie vorgeschrieben - auf direktem, schnellem Wege. Die Befragung des Reaktorfahrers durch die Kieler Behörde behinderte der Konzern so lange, bis sich die Staatsanwaltschaft einschaltete. - Vattenfall hat in der Vergangenheit viel Vertrauen verspielt. Die rot-grüne Landesregierung in Schleswig-Holstein will deshalb den direkten Rückbau von AKWs nun per Bundesratsinitiative im Atomgesetz verankern. Ein Hinhalten oder der Weg des jahrzehntelangen Einschlusses wären damit verbaut. Denn dieser sichere Einschluss hätte gravierende Nebenwirkungen, so Atomaufseher Cloosters: OT 14 Cloosters: Der wichtigste Aspekt ist, dass wir für den Rückbau qualifiziertes Personal brauchen. Das auf der einen Seite die Anlage kennt, das auf der anderen Seite qualifiziert ist. Aber gerade mit Qualifikation und Anlagenkenntnis, aber letztlich auch mit Kenntnis der entsprechenden Verwaltungsverfahren in der Lage ist, die Betreiberaufgaben zu lösen, die erforderlich sind, um überhaupt eine Genehmigungsentscheidung herbeizuführen. Sprecherin: Der Atomexperte von Greenpeace Heinz Smital teilt die Bedenken. Er hält den sicheren Einschluss auch aus wirtschaftlichen Gründen für fragwürdig. OT 15 Smital: Man muss ja verschiedene Sicherheitssysteme auch aufrechterhalten. Man kann nicht zusperren und das Werk für sich allein lassen. Das heißt, man hat hier sozusagen eine Instandhaltungspflicht, eine Betriebspflicht. Und der Rückbau wird einerseits einfacher, wenn die Strahlung ein bisschen abgenommen hat. Andererseits wird es auch schwieriger, weil das Know-how der Betriebsmannschaft fehlt. Oft sind ja Sachen etwas abweichend von Plänen. Das wissen die Leute, die dort arbeiten. Nach 50 Jahren weiß man das nicht mehr. Sprecher: Was hinter Vattenfalls Strategie steckt, bleibt unklar. Sind es allein die laufenden Prozesse gegen den Stilllegungsbeschluss? Oder will der Konzern nicht zwei Anlagen gleichzeitig zurückbauen und auf diese Weise Personalkosten sparen? Oder geht es darum, möglichst lange von den Zinsen der sogenannten Rückstellungen zu profitieren? Sprecherin: Diese Rückstellungen müssen alle vier AKW-Betreiber für den Abbau ihrer Anlagen und die Endlagerung von Atommüll vorhalten. Insgesamt verfügen RWE, EnBW, E.On und Vattenfall über 31 Milliarden Euro an Rückstellungen. Steuern müssen die Konzerne für die Zinserträge aus dieser Summe nicht zahlen. OT 16 Cloosters: Insgesamt hat der Vattenfall-Konzern für das Kernkraftwerk Krümmel Rückstellungen von 1,9 Milliarden Euro gebildet und für das Kernkraftwerk Brunsbüttel in Höhe von 1,6 Milliarden. Das kann man in den Bilanzen nachvollziehen. Sprecher: Der Abbau von Atomanlagen kostet also höchstens die Stromkunden zusätzliches Geld, sofern die Konzerne die Rückstellungssummen auf den Preis pro Kilowattstunde Strom umlegen. Von diesen Geldern wurden die Erkundung des Salzstocks im niedersächsischen Gorleben und die Ausbauarbeiten von Schacht Konrad, einem Lager für schwach- und mittelradioaktiven Müll finanziert. Der größte Teil liegt aber nach wie vor auf den Konten der großen Stromkonzerne. Im Prinzip findet Wolfgang Cloosters den Vorsorgegedanken richtig. OT 17 Cloosters: Allerdings haben wir es dabei mit dem Problem zu tun, dass Rückstellungen keiner Zweckbindung unterliegen. Das heißt: Ein Unternehmen kann letztlich mit diesen Rückstellungen agieren. Wir haben das gesehen. Wir haben es erlebt, dass damit Unternehmensbeteiligungen gekauft werden. Dass möglicherweise in bestimmte Bereiche hier investiert wird, die risikobehaftet sind. Und hier sehe ich einen problematischen Punkt bei der Bildung von Rückstellungen für den atomaren Bereich. Sprecher: Pieter Wasmuth, Generalbevollmächtigter der Vattenfall GmbH für Hamburg und Norddeutschland, hat naturgemäß kein Problem mit den Rückstellungen in Firmenhand. Natürlich könne man damit auch Firmenbeteiligungen kaufen. Aber eben auch neue, innovative Gaskraftwerke bauen oder besonders kostenintensive Windparks auf hoher See errichten. Das Kapital einfach liegen zu lassen und nur steuerfreie Zinsen zu kassieren, würde sich hingegen nicht lohnen, so Wasmuth: OT 18 Wasmuth: Natürlich fallen Zinsen an für Liquidität, die man zur Verfügung hat. Aber sie wissen auch, dass das Zinsniveau nicht so ist, dass es sich lohnt, die Rückstellungen besonders lange liegen zu lassen und nichts zu machen. Für uns ist es in jedem Falle immer besser, das Thema Rückbau auch zügig anzugehen. Außerdem sind wir keine Bank. Wir verdienen unser Geld nicht mit Zinsen, sondern mit Stromerzeugung. Sprecher: Den Großteil verdient Vattenfall mit der Stromerzeugung. Aber auch die Zinserträge aus den zusammengenommen 3,5 Milliarden Euro an Rückstellungen bringen Vattenfall Geld. Selbst bei den derzeit niedrigen Zinsen kommen rund 100 Millionen pro Jahr zusammen. Zur Erinnerung: steuerfrei. Sprecherin: Die Rückstellungs-Praxis und ihre mangelnde Transparenz wurden in den vergangenen zehn Jahren immer wieder gerügt, unter anderem vom Bundesrechnungshof. Ein Lösungsansatz wäre, die Gelder in einen öffentlichen Fonds zu überführen. So könnte das Geld insolvenzsicher angelegt werden, vor Krisen geschützt werden. Denn ohne die Rückstellungsmilliarden müsste der Steuerzahler für die Ausfälle aufkommen. Pieter Wasmuth winkt ab. OT 19 Wasmuth: Naja. Wenn ich mir die europäische Landschaft angucke, muss man sich ja manchmal die Frage stellen, ob die Staaten die besten Haushälter sind. Und insofern habe ich keine ausgeprägte Meinung dazu ... [Stimme bleibt oben]. Sprecher: ... diese ausgeprägte Meinung äußert der Präsident des Bundesamtes für Strahlenschutz, Wolfram König. Und verweist auf Firmenpleiten wie die des einst so finanzstarken US- amerikanischen Energiekonzerns Enron im Jahr 2001: OT 20 König: Eins ist klar: Diese Rückstellungen sind letztendlich nicht konkurssicher. Das heißt, wenn diese Unternehmen, die diese bilden, in Konkurs gehen, könnten auch diese Mittel nicht mehr zur Verfügung stehen. Das heißt, auch hier würde dann die öffentliche Hand in die Verantwortung treten müssen. Sprecher: Deshalb plädiert der oberste Strahlenschützer der Republik für eine Fondslösung. Die hätte sich, so König, auch schon andernorts bewährt: OT 21 König: Ich kenne das von der Schweiz, Schweden und Finnland. Dort sind entsprechende Fonds gebildet worden. Das heißt, hier haben die Unternehmen in einen Fonds einzuzahlen, aus dem dann die Entsorgungskosten wieder finanziert werden. Sprecher: Doch haben sich die hiesigen Stromkonzerne bisher erfolgreich gegen einen solchen Schritt gewehrt. Die rot-grüne Ausstiegsvereinbarung von 2001 kam nur deshalb zustande, weil den Stromkonzernen versichert wurde: wenn ihr dem langfristigen Ausstieg zustimmt, wird an der Rückstellungspraxis nichts geändert. Musik-Effekt Sprecherin: In vier, fünf Jahren - wird der Abbau von mindestens sieben Atommeilern in Deutschland beginnen. Daran verdient auch die Essener Firma GNS, die Gesellschaft für Nuklearservice. Die GNS betreibt ein Atommüllzwischenlager im westfälischen Ahaus und eins in Gorleben. Sie produziert Castor-Behälter, die Verpackung für die hochradioaktiven Brennelemente und ist spezialisiert auf die Dekontamination großer und kleiner Gebäudeteile: Rohrleitungen, Kabelstränge, ganze Betondecken werden dort bearbeitet. Zusätzlich arbeitet die GNS über eine Tochterfirma an der Erkundung des unterirdischen Salzstocks in Gorleben. - Die GNS selbst gehört zu 100 Prozent den deutschen Atomkonzernen: E.On, Vattenfall, RWE und EnBW. Atmo 7 Lüftung Sprecher: In ihren Werkshallen in Duisburg rauscht eine leistungsstarke Lüftung. Auch hier müssen Arbeiter und Besucher Dosimeter, Messgeräte für radioaktive Strahlung bei sich tragen. Mitten in der Halle sind drei haushohe, feste Zelte aufgebaut. In diesen Caissons, luftdichten Boxen, wird das Material bearbeitet. Daneben lagern tonnenschwere hellgraue Betonriegel, leicht bis mittelstark kontaminiert während des jahrzehntelangen AKW-Betriebs. Hochradioaktiven, wärmeentwickelnden Müll kann auch die Spezialfirma nicht unschädlich machen. "KKS" steht auf dem Betonteilen, "Kernkraftwerk Stade". Stillgelegt im November 2003. OT 22 André Henning: Das ist ein Betonelement, was aus einem Kernkraftwerk kommt. Das wird angeliefert über die Bahn, über Spezialfahrzeuge in die Halle eingebracht, entsprechend in die Caissons eingebracht, damit wir sämtliche Genehmigungsauflagen erfüllen. Und dann vorzerlegt durch Seilsägetechnik. Atmo 7 Lüftung Sprecher: André Henning überwacht als Strahlenschutzbeauftragter alle Dekontaminationsschritte. Achtet darauf, dass die Strahlenschutzverordnung eingehalten wird, das alle ein- und ausgehende Kraftwerksteile und das, was von ihnen übrig bleibt, im Computer registriert werden. Oft genügt es, so Henning, wenn die Oberflächen der Bauteile mit einem Hochdruck-Sandstrahl abgetragen werden. Nach der Behandlung werden die Teile mit Messsonden auf Strahlung untersucht. Entweder muss dann weitergestrahlt werden oder der Betonriegel wird freigemessen. Dann liegt die verbliebene Strahlung unter den Grenzwerten der Strahlenschutzverordnung. Und das Teil landet auf konventionellen Deponien oder dient als Rohmaterial im Straßenbau. Die abgetragenen kontaminierten Stoffe bleiben bei der GNS, werden verpackt in gelbe 200-Liter-Atommüllfässer. Es gilt die Faustregel: nur ein Bruchteil des angelieferten Materials muss in ein atomares Endlager verfrachtet werden, mehr als 90 Prozent wird freigemessen. OT 23 Techniker Henning: Praktisches Beispiel: wir haben 32 Tonnen Rohkabel. Und der verbliebene radioaktive Abfall lag bei 165 Kilogramm. Größenordnung 0,5 Prozent. Und nur diese 0,5 Prozent gehen dann nachher den Weg in die Halle 1. Atmo 8 Schritte, Türenklappen Sprecher: Henning geht voran. Vorbei an den 200-Litern-Fässern. Alle mit einem Schild versehen: vermerkt ist, woher der Abfall stammt, wie stark er strahlt, wer das Gebinde wann befüllt hat. - In Halle 1 stehen große graue Stahlkisten. Kantenlänge ungefähr zwei mal vier Meter. Bei einigen mahnt Henning, rasch an ihnen vorbeizugehen: "Natürlich - gefährlich ist der Aufenthalt neben der Kiste nicht!" beteuert er. Aber im Strahlenschutz gelte nun einmal das sogenannte Minimierungsgebot: wenn es geht, hält man Abstand, minimiert die Strahlenladung, die auf den menschlichen Körper trifft. OT 24 Henning: Bei diesem Behältertyp passen jetzt maximal 26 dieser 200-Liter-Fässer in diesen Stahlblechcontainer. Dieser wird dann zu einem späteren Zeitpunkt für die Endlagerung verfüllt. Und gilt als zugelassenes, endlagerfähiges Abfallgebinde. Atmo 9 Halle Duisburg Sprecher: Neben dem Strahlenschützer steht seine Kollegin Astrid Petersen. Sie arbeitet an der Schnittstelle zwischen den Atommüllverursachern und den Betreibern des Endlagerbergwerks Schacht Konrad bei Salzgitter. Daneben leitet sie als Vorsitzende die Kerntechnische Gesellschaft. Neben dem Deutschen Atomforum die zweite große Lobbyvereinigung der Kernkraft-Verfechter. Auch Petersen vermittelt das Gefühl: es ist alles in bester Ordnung, alle Risiken des Rückbaus, alle Endlagerfragen seien lösbar - wenn man nur guten Willen zeige. OT 25 Petersen: Vielleicht, um es noch einmal genau zu konkretisieren: ins Endlager gehen rund 300.000 Kubikmeter Abfall-Gebindevolumen rein. Damit haben sie dann alle schwach-und mittelradioaktiven Abfälle nicht nur aus dem konventionellen Betrieb der Kernkraftwerke, sondern auch aus Forschung, aus Medizin - alles, was dazu gehört. Da muss man klar sagen: das sind fünf Prozent der Aktivität, die angefallen ist. Und 95 Prozent des Abfallvolumens. Atmo 9 Halle Duisburg Sprecher: Und 2019 könne die Einlagerung in das alte Eisenerzbergwerk Schacht Konrad beginnen, erklärt Petersen selbstbewusst. Sprecherin: Die Nachfrage beim Betreiber des Endlagers, beim Bundesamt für Strahlenschutz ergibt: Ab 2019 wird Schacht Konrad sicher nicht den ersten Strahlenmüll aufnehmen. Erst einmal werden dann alle Abläufe im sogenannten Probebetrieb geübt. Niedersachsens Umweltminister Stefan Birkner schätzte zuletzt, dass erst 2024 der erste Müll 1.000 Meter tief unter die Erde transportiert werden kann. Immerhin: Für den schwach- und mittelradioaktiven Müll steht ein erstes nach bundesdeutschem Atomrecht errichtetes Endlager bald zur Verfügung. Schacht Konrad wird in Betrieb gehen, irgendwann in den Zwanzigerjahren. Sprecher: Was bleibt ist der hochradioaktive wärmeentwickelnde Müll. Der wird noch für Jahrzehnte in Castorbehältern in oberirdischen Hallen stehen. Riesige Stahlkolosse, hergestellt von der GNS. 140 Tonnen schwer, außen bis zu 80 Grad heiß, innen sind es 200 Grad. 35 Jahre lang versuchte die Politik, dafür ein Endlager im Salzstock unter dem kleinen Ort Gorleben durchzudrücken. Viele Zehntausende Polizisten waren bisher nötig, um über einhundert Castorbehälter schon mal in eine Halle über dem Salzstock zu eskortieren. Unten, auf 840 Metern ruhen zurzeit die Arbeiten. Gestoppt durch Klagen der evangelischen Landeskirche und von Greenpeace. Mit dem Kopf durch die Wand, gegen die Bevölkerung, prophezeit Wolfram König, Präsident des Bundesamts für Strahlenschutz, wird es ein Endlager für die giftigste Hinterlassenschaft, den Treibstoff der AKWs, nicht geben. OT 26 König: Diese Herausforderung ist systematisch unterschätzt worden über Jahrzehnte. Und man hat eigentlich vorgehabt, sehr viel schneller die einzelnen Entsorgungseinrichtungen auch zu realisieren. Eins ist klar: Die Ärmel hochkrempeln und zu meinen, man könne dann per Ordre de Mufti so einen Standort durchsetzen, wird scheitern! Atmo 10 Geigerzähler, Tickern Sprecher vom Dienst: Der lange Weg zur grünen Wiese OT 27 Computerstimme: Drei, zwei, eins. Bitte umdrehen. Füße positionieren. Sprecher vom Dienst: Was geschieht in den stillgelegten deutschen Atomreaktoren? OT 27 Computerstimme: Drei, zwei, eins. Vielen Dank. Keine Kontamination. Bitte durchgehen. Sprecher vom Dienst: Ein Feature von Axel Schröder. Es sprachen: Julia Brabandt und Markus Hoffmann Ton: Ralf Perz Regie: Gabi Brennecke Redaktion: Constanze Lehmann Produktion: Deutschlandradio Kultur, 2012 16 1