COPYRIGHT: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von DeutschlandRadio / Funkhaus Berlin benutzt werden. Vom Sinn und Unsinn des Blechs Günter Grass und die Politik Von Helmut Böttiger _________________________________________ O-Ton 1: M. Reich-Ranicki, Lit. Quartett, CD1, 10:56-11:09: Grass muss endlich belehrt werden, es ist höchste Zeit: Kritik ist unter anderem und vor allem dazu da, die literarischen Produkte zu werten und zu beurteilen. O-Ton 2: Grass, Zimmermann CD 1, Track 12, 5:00-5:15 Wer lacht hier, hat gelacht? Hier hat sich's ausgelacht. Wer hier lacht, macht Verdacht, dass er aus Gründen lacht. O-Ton 3: M. Reich-Ranicki, Lit. Quartett, CD 1, 8:51-9:03: Es wird nicht erzählt, sondern festgestellt und mitgeteilt. Es gibt keine einzige lebendige Figur, es sind Marionetten und Puppen. Es gibt keine Story, keine Geschichte, keine Fabel. Gar nichts! O-Ton 4: Grass, Zimmermann CD 1, Track 12, 5:15-5:30 Wer weint hier, hat geweint? Hier wird nicht mehr geweint. Wer hier weint, der auch meint, dass er aus Gründen weint. Autor: Stehen sich hier zwei Todfeinde gegenüber? Auf den ersten Blick könnte es fast so aussehen. Doch Günter Grass und Marcel Reich-Ranicki haben viel mehr gemeinsam, als man denkt. Sie arbeiten Hand in Hand. Sie sind beide Kinder der Gruppe 47, beide stießen Ende der fünfziger Jahre zu dieser Schriftstellervereinigung, die für den Literaturbetrieb der Bundesrepublik tonangebend wurde, der eine zunächst als Schriftsteller, der andere zunächst als Kritiker, und beide haben dort vor allem eines gelernt: es kommt für den Schreibenden auf die Öffentlichkeit an. Man sollte die Medien nicht scheuen, sondern sich der Medien offensiv bedienen. Günter Grass ist in seiner Rolle als Schriftsteller ohne diese frühe Erfahrung nicht denkbar. Hans Werner Richter, der Chef der Gruppe 47, und Walter Höllerer, der agile Multiorganisator und Erfinder des Literaturbetriebs für die Bundesrepublik und West-Berlin sind die engsten Freunde von Grass, das heißt: die größten Förderer. Und sie führen ihm früh vor, dass es nicht nur um das Schreiben im stillen Kämmerlein geht, sondern vor allem darum, dass es öffentlich wirksam werden muss. Grass ist 32 Jahre alt, als er durch Hans Werner Richter, Walter Höllerer und die Gruppe 47 berühmt wird. Er liest, von den beiden unterstützt, auf der Gruppentagung 1958 im Gasthof Adler in Großholzleute im Allgäu, und nach dieser Lesung reißen sich die angereisten Verlagslektoren um das Manuskript. Als die "Blechtrommel" 1959 erscheint, ist klar, dass es sich um ein Großereignis handelt. O-Ton 5: Grass, Zimmermann CD 1, Track 10, 1:10-2:52 Man kann eine Geschichte in der Mitte beginnen und vorwärts wie rückwärts kühn ausschreitend Verwirrung stiften. Man kann sich modern geben, alle Zeiten, Entfernungen wegstreichen und hinterher verkünden oder verkünden lassen, man habe endlich und in letzter Stunde das Raum-Zeit-Problem gelöst. Man kann auch ganz zu Anfang behaupten, es sei heutzutage unmöglich einen Roman zu schreiben, dann aber, sozusagen hinter dem eigenen Rücken, einen kräftigen Knüller hinlegen, um schließlich als letztmöglicher Romanschreiber dazustehn. (...) Für mich, Oskar, und meinen Pfleger Bruno möchte ich jedoch feststellen: Wir beide sind Helden, ganz verschiedene Helden, er hinter dem Guckloch, ich vor dem Guckloch. Autor: Das ist, im Mief der Adenauerzeit, in der Restauration der frühen Bundesrepublik, ein neuer Ton. "Die Blechtrommel" macht Schluss mit der Dämonisierung und Verdrängung der Nazi-Vergangenheit, sie provoziert, schlägt Haken, kokettiert mit Sex und Crime und Anarchie. Auf Grass, 1926 im von ihm unsterblich gemachten Danzig-Langfuhr als Sohn eines Kolonialwarenhändlers geboren, ist Ende der fünfziger Jahre niemand vorbereitet. Als mittelloser Steinmetzlehrling in Düsseldorf und gelegentlicher Posaunist in einer Jazzcombo trampt er schon Anfang der fünfziger Jahre durch Europa, und die Atmosphäre der drei Jahre, die er von 1956 bis 1959 in Paris verbringt, hat er später des öfteren eindringlich beschworen: die feuchte Kellerwohnung an der Place d'Italie, das rasch anwachsende Manuskriptkonvolut der "Blechtrommel" zwischen dem Wechseln der Windeln der rasch hintereinander gezeugten Säuglinge und gelegentlich einer Flasche Schnaps, zum Beispiel mit Paul Celan. Doch die Gruppe 47 ist keine Vereinigung von Bohemiens. Hans Werner Richter ist nicht als Schriftsteller bedeutend, sondern als Funktionär und politischer Intellektueller. Als Grass 1959 von Paris nach West-Berlin zieht, rückt er auch der Sozialdemokratie immer näher. O-Ton 6: Grass, audio, Track 4, 0-1:03 Der äußere Anlass, mich politisch zu engagieren, hatte mit Literatur direkt wenig zu tun. Ich kam 1960 zurück aus Paris und erlebte ein Jahr später, 61, als die Mauer gebaut wurde und Willy Brandt zum ersten Mal als Bundeskanzler für die SPD kandidierte, dass eine abscheuliche Diffamierungswelle gegen ihn lief, ausgelöst von dem damaligen Bundeskanzler Konrad Adenauer. In Regensburg auf einer Rede hat er das zum ersten Mal ausgesprochen, die Diffamierung der deutschen Emigration, zusätzlich noch Brandt als uneheliches Kind - diese Diffamierung ist sehr wirkungsvoll gewesen, und ich weiß es aus eigener Erfahrung und wir können's in der Literatur nachlesen: der Diffamierte kann sich selbst schlecht wehren. Deswegen habe ich es unter anderem als eine Aufgabe der Schriftsteller angesehen, auch nach französischem Vorbild, hier den Part des Diffamierten zu ergreifen, ihn zu verteidigen. Damit begann eigentlich meine Zusammenarbeit. Das ging dann weiter. Autor: Grass hat öfter darauf hingewiesen, dass er durch ältere sozialdemokratische Kali- Bergarbeiter bei Hildesheim, als er dort nach dem Krieg eine Zeitlang unterkam, geprägt wurde, dass diese Arbeiter ihm die Ideen der SPD als demokratischer Kraft gegen totalitäre Vorstellungen vorlebten. Hier beginnt die politische Bewusstwerdung bei Grass, doch parallel dazu wirkt die Erfahrung des Sich-Durchschlagens, des Überlebens weiter, etwas Vitalistisches, Existenzielles. Er zeichnet, er schreibt, er spielt Jazz. Die lustvolle, exzessive Sprachgewalt in der "Blechtrommel", das Wühlen zwischen Schweinskopfsülzen, Aalgeschlängel und Geschlechtsorganen, das ein ungestümes und deftig-sinnliches Temperament verrät - und auf der anderen Seite die durchaus mäßigende Kraft der Sozialdemokratie: in dieser Verbindung liegt das Geheimnis von Grass. Das Brausepulver seiner Prosa, das an den schlüpfrigsten Stellen unabsehbar und rauschhaft zu schäumen beginnt, scheint einem anderen Leben anzugehören als das vernunftgeleitete politische Räsonnieren. O-Ton 7: Grass, Zimmermann CD 2, Track 2, 0:14-2:22 Politische Landschaft Uns Geschädigten, denen das Wissen Mühe macht beim Verlernen, ordnet die Geografie wirre Geschichte: Seitlich Adenau und bis an das Flüsschen Hunte, zwischen Galen und Frings, buchen die Sozis kleine Gewinne, mühen sich ab beim Verlernen. Doch immerfort tagt am Wannsee die Konferenz; immerfort werden in Eifellava, Basalt, in grauen Globke - nie wieder in Travertin - die Kommentare gezwungen. Dann das soll bleiben bleiben und sich nie mehr vertagen dürfen: von der Jaksch bis zur Veba, unausgesetzt und zuendegedacht. Schuld und die Forstwirtschaft oder was nachwächst: Schonungen geben dem Land Enge und Hoffnung, damit Nutzholz und eine neue Generation schon morgen vergisst, wie verschuldet, wie abgeholzt Schwarzwälder waren Autor (auf Gedicht, das ausgeblendet wird): 1965 macht Grass Wahlkampf für den Kanzlerkandidaten Willy Brandt, er engagiert sich als Schriftsteller für die SPD, reist als Wahlkämpfer durchs Land, in die entlegensten Regionen, vornehmlich auch durch die schwarze Provinz. O-Ton 8: Grass, Zimmermann CD 2, Track 2, 3:58-4:30 Diese Wahlreise bricht bewusst mit der Tradition. Ich bin weder Kandidat noch vertrete ich eine unserer mächtigen Interessengruppen, Hausbesitzer oder Landwirte, nicht einmal einmal in Sachen des eigenen Vereins, etwa zum Thema: die steuerliche Veranlagung der deutschen Schriftsteller wage ich zu sprechen - wen interessierte das auch. Autor: Grass ist mittlerweile etabliert - als Großschriftsteller, fast schon als Repräsentant im Sinne Thomas Manns, wie auch als öffentliche Stimme der Moral. Mitte der sechziger Jahre bahnt sich in der Gruppe 47, der tonangebenden Schriftstellervereinigung, ein Generationskonflikt an. Der Gruppenkonsens droht zu zerbrechen. Grass ist dabei längst auf der Seite der Älteren. Er ist Kriegsteilnehmer. Seine Erfahrungen sind andere als die der Jungen, die sich radikalisieren und die SPD, vor allem in der Großen Koalition mit der CDU seit 1966, als zu lasch, als bloß reformistisch empfinden. Sie fragen die Väter nach ihrer Rolle in der Zeit des Nationalsozialismus, und der Vietnamkrieg, die Ordinarienuniversität, die kleinbürgerlichen Strukturen der Wohlstandsgesellschaft werden für sie eins. Grass ist dafür bereits zu alt. Als er im Herbst 1965 den renommiertesten deutschen Literaturpreis, den Georg Büchner- Preis bekommt, hat Willy Brandt die Bundestagswahl verloren, und die Dankesrede von Grass wird zur Kampfansage gegen ein Politikverständnis, das sich zu dieser Zeit nur in Ansätzen zeigt und erst in den Jahren 1967/68 seinen Höhepunkt erleben sollte; sie wird auch zu einer Kampfansage an die nachwachsende, jüngere Generation: O-Ton 9: Grass, Zimmermann CD 2, Track 3, 3:25-3:57 Ich ergreife Partei. Und lobe und preise jenen geschundenen und ewig bedrückten SPD-Funktionär, der sich im Wahlkreis Bocholt gegen die siebzigprozentige Ignoranz mit wenig Erfolg anstemmt; und ich klage den Hochmut jener Professoren und Studenten an, denen die Politik bloßes Parteigezänk, denen die Realität Ekel und allein die Utopie süß ist. Autor: In dieser Rede wird deutlich, wie sehr der Pragmatismus von Grass, seine Absage an allzu radikale, utopische Politikvorstellungen, wie sehr sein sozialdemokratisches Grundgefühl durch und durch moralisch ist. Seine eigene Biografie, seine Erlebnisse im Krieg, seine Prägungen durch Hitlerjugend und NS-Regime hat er nie verschwiegen, aber sie beschäftigen ihn viel weniger als die aktuellen Positionskämpfe in der Bundesrepublik. Hier steht er eindeutig auf der Seite der Guten gegen die Bösen. Und er denkt deswegen nicht an sich selbst, wenn er im sicheren Gefühl, auf der richtigen Seite zu stehen, diejenigen anprangert, die es sich seiner Ansicht nach zu einfach machen. O-Ton 10: Grass, Zimmermann CD 2, Track 3, 3:57-4:40 + 5:24-6:02 Ich lobe und preise jenen Münsterländer Bauern, der zum ersten Male, sich vorher und nachher bekreuzigend, die Sozis gewählt hat. (...) Um ihn zu ehren, klage ich an unsere Hohepriester der knitterfreien Biografie, die sich das possierliche Vorrecht, Gewissen der Nation spielen zu dürfen, jeweils im Feuilleton irgendeiner halbliberalen Zeitung abverdienen. (...) Gottähnlich tänzelnd über den Abgasen unserer Gesellschaft, ordnen sie ihren Seminar-Marxismus gleich Schäfchenwolken und sorgen sich um Indonesien und Persien, also um weitentlegenes Elend, das sie, dank ihrer geistigen Hochstände, mühelos einsehen können. Eher gelänge ihrer Tinte ein hymnisch langes Heldenepos auf Fidel Castro und die Zuckerrohrinsel, als dass ihnen einfiele, mit einem schlichten Plädoyer für Willy Brandt der Lüge im eigenen Land die Beine zu verkürzen. Autor: Die "knitterfreie Biografie", das "possierliche Vorrecht, Gewissen der Nation spielen zu dürfen": das wirft Grass hier den Anderen vor. Er wirft also anderen das vor, was immer stärker mit ihm selbst, mit seiner eigenen Person verbunden wird. Seine eigene Biografie spielt in dieser Zeit, in der frühen Bundesrepublik und im moralisch integren Kampf für die deutsche Sozialdemokratie, überhaupt keine Rolle für ihn. Es ist charakteristisch, wie Grass in dieser Zeit seine eigenen Erfahrungen angesichts einer historischen Situation beschreibt, die zu einem furiosen Kapitel der "Blechtrommel" führte: die Verteidigung der polnischen Post in Danzig bei Kriegsausbruch. O-Ton 11: Grass, Zimmermann CD 1, Track 3, 0-0:51 Von Gewicht glaube ich schon sind diese frühen prägenden Eindrücke, die natürlich nun bei mir auch noch - ich war 11 Jahre alt bei Kriegsbeginn - Gewicht bekommen haben durch den Einbruch von Gewalt in eine kindliche, bis dahin wie unbeschadete Welt. Dieser Onkel, der auf der polnischen Post gearbeitet hat, ein sehr liebenswerter Mann, der zur Familie gehörte, gehörte zu den Verteidigern der Post. Er wurde standrechtlich erschossen. Das brach in die Familie hinein. Das wurde dann verschwiegen. Es war nicht mehr opportun, halb kaschubisch zu sein. Autor: Das hört sich so an, als ob der junge Grass von der Gewalt überrollt worden wäre und er daraus früh gelernt habe. Im Jahr 2006 klingt das dann ein bisschen anders. Da veröffentlicht Grass sein autobiografisches Buch "Beim Häuten der Zwiebel" mit großem Begleitaufwand, mit einem von Verlags- und Autorenseite bewusst entfachten Wirbel und macht seine Zugehörigkeit zur Waffen-SS zum Sensationsthema. Alle führen dann Exklusivinterviews mit ihm, unter anderem auch Ulrich Wickert in der ARD: O-Ton 12: Grass, Video Wickert, 3:32:44-3:33:55 Aber die weit kritischeren Fragen stelle ich mir in einem ganz anderen Zusammenhang, dass ich zum Beispiel in meiner Verblendung als Jungvolk- Hitlerjunge zu bestimmten Situationen im engeren Kreis, auch zum Beispiel im Familienkreis, nicht Fragen gestellt habe, nicht die richtigen Fragen gestellt habe. Da war zum Beispiel ein Onkel aus meiner Familie in Danzig, ein Lieblingscousin meiner Mutter, war polnischer Postbeamter bei der polnischen Post in Danzig und gehörte zu den Verteidigern der polnischen Post und ist nach Kapitulation dieser Post von den Deutschen standrechtlich erschossen worden. Auf einmal war der nicht mehr in der Familie da. Wir duften nicht mehr mit den Kindern spielen. Meine Eltern haben sich da durchaus opportunistisch verhalten und ich habe keine Fragen gestellt. Und das sind die Dinge, die mich mehr und stärker beschäftigt haben als das, in was ich hineingeraten bin ohne mein Zutun, was die Waffen-SS betraf. Autor: Man kann sicher sein: auch im ersten dieser beiden Äußerungen zur polnischen Post ist Grass sich sicher, dass er mit seinen Erinnerungen redlich umgeht. Er weiß, er ist auf der richtigen Seite und kämpft für das Richtige. Das hat allerdings auch Auswirkungen auf seine literarischen Texte. Nach der "Danziger Trilogie", den fulminanten, kurz hintereinander veröffentlichten Prosawerken "Die Blechtrommel", "Hundejahre" und "Katz und Maus" gibt es im literarischen Werk von Günter Grass einen spürbaren Einschnitt. Erst 1969 erscheint sein Roman "Örtlich betäubt", und dies wird sein erster Misserfolg: er spielt zum ersten Mal in der unmittelbaren Gegenwart, und er behandelt die pubertär-irrationalen Auswüchse der Studentenbewegung. "Örtlich betäubt" zeigt die ersten Auswirkungen von Grass' politischem Engagement in einem Roman, im "Tagebuch einer Schnecke", der Beschreibung seines Willy Brandt-Wahlkampfs 1972, wird dies noch deutlicher. Seine literarischen Texte lassen sich immer weniger von den politischen trennen. Jedes Mal scheint ihm in der Prosa die politische Botschaft in die Quere zu kommen, wird etwas Scholastisches spürbar. Immer ist eine eindeutige Aussage zu erkennen, die eine Verselbständigung des Literarischen kaum mehr zulässt. Es gibt zwar gelegentlich Passagen, in denen etwas aufblitzt, im erfolgreichen Roman "Der Butt" von 1977 zum Beispiel oder im "Treffen von Telgte" 1979. Aber es ist unverkennbar: das lustvoll Vieldeutige der Danziger Trilogie, der anarchische Impuls tritt zusehends hinter die Didaktik zurück. Zudem zeigen sich im Laufe der siebziger Jahre bei Grass Züge von Desillusionierung und Resignation. Anlass sind zum einen die 68er- Bewegung und deren extremistischen Ausläufer in dogmatischen Sektierergruppen, zum anderen der Rücktritt von Willy Brandt 1974 und der Wechsel zum weitaus weniger glamourhaften Positivisten Helmut Schmidt. In einem Gespräch, das Heinz Ludwig Arnold direkt nach dem Rücktritt Willy Brandts 1974 mit Grass führt, wird die neue Grundstimmung sehr deutlich. Selbst die S-Bahn-Geräusche im Hintergrund dieser improvisierten Aufnahme nehmen etwas Apokalytisches an. O-Ton 13: Grass, Kassette Arnold, Seite 1, 28:00-29:35 Das ist eine Enttäuschung an den Möglichkeiten der Vernunft. Man muss sich glaube ich noch einmal genau Brandts Rede angucken, die er Ende letzten Jahres in New York vor der Uno gehalten hat. Ich war damals zufällig in New York und hab damals diese erste Uno-Rede eines Bundeskanzlers nach dem Eintritt der DDR mitverfolgt. Und das war ein nahezu verzweifelter Appell an die Vernunft. Der Hinweis, dass dies das einzige Instrument sei, mit dem wir Katastrophen begegnen können, die prompt auf uns zukommen. Wir haben die Daten, wir haben die Planungsdaten vor uns liegen. Es gibt auch reihum, von Vernünftigen wie Unvernünftigen, bestätigendes Kopfnicken. Aber einschneidende, aus der Vernunft resultierende Handlungsweise ist in keinem der Blocksysteme zu bemerken. Das ist auch nicht mehr mit der einen oder anderen Ideologie zu entschuldigen oder zu erklären, hier decken sich die Systeme. Und treiben, wenn es so weitergeht, einem Desaster entgegen. Autor: Die apokalyptische Vision der "Rättin" von 1986, der Ausfallschritt nach Kalkutta "Zunge zeigen" von 1988, die schwarzen Auslassungen über das Waldsterben "Totes Holz" von 1990, der große Wenderoman "Ein weites Feld" von 1995: Grass hat mit seinen literarischen Texten bei der Kritik keinen Erfolg mehr. Dafür wird er als Mahner, als intellektuelle, moralische Stimme, als ein Schriftsteller, der in das tagespolische Geschehen eingreift, immer prägnanter. Zuverlässig, das ist er sich schuldig, meldet sich Günter Grass bei jeder Diskussion zu Wort. 1974 etwa wird der Nobelpreisträger Alexander Solschenizyn aus der Sowjetunion ausgewiesen: O-Ton 14: Grass, 70er Jahre, CD 1, Track 17, 2:26-2:50 Er greift das System direkt an. Er stellt dar, dass - was im Westen bekannt war, darüber hat es eine Reihe von Untersuchungen gegeben - dass der Leninismus konsequent zum Stalinismus geführt hat und zu dem entsprechenden Terror. Dass also eine Person wie Stalin und ein System wie der Stalinismus ohne Lenins Vorarbeit gar nicht möglich gewesen wäre. Autor: 1982 hat die CDU in der Person Helmut Kohls wieder die Kanzlerschaft übernommen: O-Ton 15: Grass, Kassette Arnold, Seite 1, 35:15-35:36 Rasterfahndung, Datenbank, Lauschangriff, der elektronisch abtastfähige Personalausweis, die transparente Gesellschaft: so heißen die neuen, ideologiefreien Begriffe, Wörter, die George Orwells Neusprache bereichern und, demokratisch legitimiert, den Überwachungsstaat nicht nur ankündigen, sondern schon heute in Praxis beweisen. Autor: Im Herbst 1983 wird Grass zum Präsidenten der West-Berliner Akademie der Künste gewählt. Er kündigt eine "schöpferische Unruhe" an: O-Ton 16: Grass, DLR 1983, Track 1, 28:47-29:03 Also, Präsident ist für mich eine Amtsbezeichnung. Ich bin Bürger, Citoyen in erster Linie. Und werde mir durch Würde, oder die dem Amt zugesprochene Würde, keinen Zwang auferlegen. Autor: Als 1989 die Mauer fällt, ist Grass selbstverständlich mit dabei: O-Ton 17: Grass, audio, Track 6, 0:46-1:04 Und jetzt stehen wir kurz vor dem ersten greifbaren Ergebnis dieser gedankenlosen, sich allein aufs Geld verlassenden Politik, die Einführung der D-Mark in der DDR, und das wird katastrophale Bedeutung haben, das zeichnet sich jetzt schon ab. Autor: Da wirkt Grass manchmal schon wie ein Zitat seiner selbst, wie ein Monolith aus überkommenen Zeiten politischen Literatentums, wo man zwangsläufig auch auf die Gesellschaft Bezug nahm. Die Jüngeren definieren die Rolle des Schriftstellers mittlerweile für sich ganz anders. Doch Grass ist inzwischen ein Markenzeichen. Und durchaus auf der Höhe der Zeit bewegen sich die Werbefeldzüge seines Verlags für die jeweils neuen Grass-Publikationen. Grass hat seinen angestammten Luchterhand-Verlag in den achtziger Jahren verlassen und veröffentlicht nun im kleinen Göttinger Verlag, der sich zu einer Art Grass-Devotionalien-Industrie mausert. Konsequent wendet Grass das an, was er früh in der Gruppe 47 gelernt hat: nämlich wie effektiv man "Öffentlichkeit" handhaben kann. Die Verbindung zur Politik ist dabei sehr nützlich. Wenn nur jedes zweite oder dritte SPD-Mitglied den neuen Grass zu Weihnachten verschenkt, lässt sich mühelos eine Startauflage von 100 000 Exemplaren erzielen. Die Hochglanzbroschüre im Vorfeld des Romans "Ein weites Feld", der 1995 erscheint und als Jahrhundertwerk angepriesen wird, setzt neue Maßstäbe im Literaturmarketing. Das Kurzprosa-Kompendium "Mein Jahrhundert" erscheint dann 1999 gleich in zweifacher Ausfertigung: neben einer auch schon recht aufwendigen Leseausgabe gibt es eine repräsentative Prachtausgabe mit den farbigen Aquarellen, die der Autor zu seinen Texten verfertigt hat. O-Ton 18: Grass, audio Track 5, 7:00-7:20 Mein Schwamm mit dem ich Papier anfeuchte, ist ohne weitere Bedeutung; es sei denn verglichen mit meiner Saugfähigkeit: Man drücke mich aus, immer wieder. Autor: In "Mein Jahrhundert" treibt Grass seine Rolle als Schriftsteller, als praeceptor germaniae, als moralische Instanz auf die Spitze. Das Buch besteht aus kurzen Stücken, Anekdoten, Feuilletons zu jeweils einem Jahr des zwanzigsten Jahrhunderts. Und mit der Zeit wird immer deutlicher, dass die zentrale Figur Günter Grass selbst ist. Er wird endgültig zur geschichtlichen Größe, als er im Monolog eines typischen 68er-Universitätsdozenten vorkommt. Dieser hält ein Seminar über Paul Celan und erinnert sich dabei an seine politische Glanzzeit, an die Demonstrationen mit Rudi Dutschke. Unversehens taucht dabei "jener schnauzbärtige Schriftsteller" auf, "der sich an die Es-Pe-De verkauft hatte und nun meinte, uns 'blindwütigen Aktionismus' vorwerfen zu dürfen." Grass' Buch "Mein Jahrhundert" ist eine literarische Allmachtsphantasie. Der Autor macht für das abschließende Jahr 1999 auch seine früh verstorbene Mutter noch einmal lebendig: O-Ton 19: Grass, Zimmermann CD 3, Track 9, 1:00-1:10 Der Bengel ist inzwischen über siebzig schon und hat sich längst einen Namen gemacht. Kann aber nicht aufhören mit seinen Geschichten. Manche gefallen mir sogar. Aus anderen hätt ich bestimmte Stellen glatt weggestrichen. Autor: In "Mein Jahrhundert" ist der Schriftsteller Grass endgültig zum Politiker geworden. Und es ist kein Wunder: im selben Jahr kommt endlich der Nobelpreis. O-Ton 20: Nobelpreis, audio Track 8, 0-0:33 (Schwedische Begrüßung des Nobelpreisträgers Grass zu Beginn der Verleihungszeremonie) Autor: In der deutschen Öffentlichkeit wird mit einem Schlag alles ganz anders. "Ein weites Feld" sowie "Mein Jahrhundert" sind noch in einer Art und Weise kritisiert worden, die Grass als "Häme" bezeichnete. Jetzt aber wird mit Grass offenkundig auch Deutschland geehrt, und mit Deutschland auch der deutsche Literaturbetrieb. Zumindest fühlt sich letzterer ein bisschen mit gemeint. Der große Fernsehkritiker, der "Ein weites Feld" noch auf dem Titelbild des Spiegel plakativ verrissen hat, lässt nach dem Nobelpreis durchblicken, dass das nächste Buch von Grass etwas ganz Bedeutsames sein wird. Und als die Novelle "Im Krebsgang" dann im Frühjahr 2002 erscheint, lässt es sich ebenjener "Spiegel" nicht nehmen, eine große Titelgeschichte daraus zu machen. Es fällt schwer, sich vorzustellen, wie die Rezeption des "Krebsgangs" ausgesehen hätte, wäre er zufällig schon vor dem Nobelpreis erschienen - die Sprache dieses Buches unterscheidet sich um keinen Deut vom "Weiten Feld" oder von "Mein Jahrhundert". Dass im Jahr 2006 dann Grass' autobiografischer Text "Beim Häuten der Zwiebel" im Vorfeld ausgerechnet von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung beworben, mit einem aufwendigen Sonderdruck begleitet und als literarisches Großereignis rezensiert wird, muss für den Autor eine enorme Befriedigung sein. Es ist die Zeitung, die Grass immer abgelehnt hat, die Zeitung Marcel Reich-Ranickis, die Zeitung, die eindeutig den Gegenpol zur Sozialdemokratie darstellt. Es geht dabei natürlich nicht um Literatur. Es geht auch nicht darum, dass Grass als 17-Jähriger zur Waffen-SS eingezogen wurde. Es geht darum, die Medien erobert zu haben. Und deswegen muss jede Rundfunksendung, jede Fernsehsendung, ja, idealtypisch jede sekundärliterarische Äußerung über Günter Grass mit einem Gedicht enden, das er 1997 in seinem Band "Fundsachen für Nichtleser" veröffentlicht und gezielt im Hinblick auf Funk und Fernsehen geschrieben hat: O-Ton 21: Grass, audio Track 8, 3:00-3:20 Mit einem Sack Nüsse will ich begraben sein und mit neuesten Zähnen. Wenn es dann kracht, wo ich liege, kann vermutet werden: Er ist das, immer noch er.