COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Zeitreisen 31. August 2011 Mehr als ein Gesteinsmassiv Auch Berge haben eine Kulturgeschichte - der Vesuv, der Kilimandscharo, die Alpen Autor: Michael Opitz Redaktion: Winfried Sträter Sendetermin: 31. August 2011 Autor: In der Antike glaubte man, dass die Götter den Olymp und die Musen den Parnass bewohnen würden. Von oben schauten die Götter auf die Menschen herab. Wer hingegen göttlichen Beistand suchte, der musste seinen Blick von unten nach oben richten. Musik: Jan Garbarek Autor: Noch in der Frühen Neuzeit gab es - so der Philosoph Hans Blumenberg - Zitator: eine "eigentümliche Hemmung, die Welt von oben zu betrachten oder von Menschen betrachtet zu denken." Autor: Vor dem ,Oben' hatte man Respekt. Respekt flößten auch die majestätisch in den Himmel ragenden Berge ein. Sie sind als Orientierungs- und zugleich auch als Markierungspunkte geeignet. Ereignisse, die an Wunder grenzen, werden häufig mit dem Namen von Bergen in Verbindung gebracht. Auf dem Berg Sinai empfing Moses die Gesetzestafeln, die Arche Noahs strandete auf dem Ararat, dem höchsten Berg, der damals bekannt war. Auf dem Ölberg hielt Jesus von Nazareth seine letzte Rede und auf dem Hügel von Golgatha wurde er ans Kreuz genagelt. Berge gingen mit historischen Ereignissen eine Symbiose ein und haben so selbst mythische Bedeutung erlangt. Sie wurden zu Legenden, weil außergewöhnliche Ereignisse ihren Anfang nahmen, wo sie aufragen. 1. O-Ton Alexander Honold, Track 5: "Was die Berge auszeichnet, ist, dass sie eine Art Zwischenbereich darstellen, zwischen dem Irdischen und dem Menschlichen, dem Platten, wenn man so will und dem Bereich des Himmlischen." Erzähler: Alexander Honold ist Professor für neuere deutsche Literatur an der Universität in Basel. Er ist der kulturgeschichtlichen Bedeutung der Berge im Zusammenhang mit seinen Studien über den Kilimandscharo nachgegangen. Forts. 1. O-Ton Honold "Also der kleine Grenzverkehr oder auch der große Grenzverkehr, den wir dann Transzendenz nennen, der kleine Grenzverkehr wäre das Bergsteigen, beides funktioniert in der Vertikale über diese vorgeschobenen Posten des Irdischen, die Berge, die dann schon in eine andere Sphären hineinragen. Und es ist nicht ohne Grund, dass man auch die Wechselbeziehungen zwischen Erde und Kosmos, zwischen Erde und Himmel, vorwiegend über die Spitzen erhabener Berge und die Wesen, die an diesen herausragenden Punkten wohnen, sich auszumalen begonnen hat." Musik: Jan Garbarek Erzähler: Bis ins 18. Jahrhundert wurden die Berge für Warzen auf dem edlen Antlitz der Erde gehalten. In ihrer Monumentalität flößten sie den Menschen Furcht ein - auch weil Geschichten kursierten, dass in den Berghöhlen drachenähnliche Fabelwesen wohnen würden. Noch im 20. Jahrhundert ließ Heinrich Himmler im Himalaja nach dem legendären Schneemenschen suchen, in dem man den Urahnen der Deutschen vermutete. Doch man begann sich erst allmählich für die Vertikale zu interessieren, wie aus dem Buch von Natascha Adamowsky über die "Kulturgeschichte des Fliegens" zu erfahren ist: Zitatorin: "Eine neue Dimension des Wunderbaren entfaltet sich im Wechsel von der Horizontalen in die Vertikale und erschließt den vertikalen Raum. Diese Wunderbewegung geht nicht mehr ,ins weite Feld', oder ,ans Ende der Welt', sondern sucht den Erfahrungsraum, um das absolut Unzugängliche zu erweitern. [...] Das Wunder zu fliegen [...] eröffnet einen utopischen Raum." (48) Erzähler: Als die Welt kartografiert war, wurde intensiver davon geträumt, sich wie ein Vogel in die Lüfte zu erheben. Der Traum begann Realität zu werden, als es 1783 gelang, einen unbemannten Ballon aufsteigen zu lassen. Bereits zwei Jahre später überflogen Jean Pierre Blanchard und John Jeffriés in einem Ballon den "Ärmelkanal von Dover nach Calais". Das grenzte an ein Wunder, denn im 17. und auch noch zu Beginn des 18. Jahrhunderts galt das Fliegen als ein Tabu. Wenn es Gott gefallen hätte, dass die Menschen fliegen können, hätte er ihnen Flügel verliehen. 2. O-Ton Alexander Honold, Track 15: "Nun gibt es aber eine Umwertung, die man beobachten kann in der Mitte des 18. Jahrhunderts, die zu tun hat damit, dass man die Zweckfreiheit der Natur entdeckt. Dass man also genau dasjenige, was der Mangel der Berge war - lassen sich schlecht besiedeln, sind wirtschaftlich nicht so prosperierend wie andere Regionen - dass man nun genau darin eine Art besonderes Privileg der Natur sieht, die hier wirklich noch sich selbst überlassen bleibt, die in sich selbst gerechtfertigt ist und ihre Existenz unabhängig von menschlichen Siedlungszwecken hat, und dies umso mehr dort, wo sie für menschlichen Zugriff lange verborgen war. Also, da kehrt sich das genau um, so dass man sagt: Gerade das in der Natur, was um seiner selbst willen da ist, weil es sich menschlichen Zwecken nur schlecht einordnen lässt, darin drückt sich etwas von der ursprünglichen Würde der Welt und des Kosmos im Ganzen aus." Erzähler: Waren es zunächst die französischen Gärten, an denen man Gefallen fand, so galten ab Mitte des 18. Jahrhunderts andere ästhetische Maßstäbe. Man begeisterte sich nicht mehr an den nach Maßgabe von geometrischen Mustern beschnittenen Bäumen und Hecken, sondern die Schönheit der wilden, unberührten Natur wurde entdeckt. England gab fortan den Ton an. In diesem ästhetischen Umbruchsprozess veränderte sich auch die Einstellung zu den Bergen. Einst als Ausgeburten der Hässlichkeit gemieden, näherte man sich ihnen nun mit Begeisterung. Einen entscheidenden Anteil an der veränderten ästhetischen Wahrnehmung der Bergwelt hatten die Engländer, wie aus dem Buch "Die Alpen" von Aurel Schmidt zu erfahren ist. Joseph Addison, der Herausgeber der renommierten Journale "The Tatler" und "The Spectator", spricht vom "angenehmen Schauer", der ihn überkam, als er die "Höhen und Abgründe" der Bergwelt sah. Ein schaurig-schönes Gefühl überfiel ihn und er fand Gefallen an der "Wildnis". Diese Begeisterung teilte Addison mit Anthony Ashley Cooper. Der Earl of Shaftesbury erklärt in seiner Schrift "Die Moralisten. Eine philosophische Rhapsode" von 1709: Zitator: "Selbst schroffe Felsen, bemooste Höhlen, unregelmässige, natürliche Grotten und unterbrochene Wasserfälle, mit allen grauenhaften Schönheiten der Wildnis, sind um so anziehender für mich, je mehr sie die Natur selbst zeigen und in einer Pracht erscheinen, welche die steifen Nachäffereien fürstlicher Gärten bei weitem übertreffen." (103) Musik: Jan Garbarek Erzähler: Im zweiten Drittel des 18. Jahrhunderts wurden die lange verpönten Berge als Naturkathedralen gefeiert und die einst gemiedenen Giganten wurden nun zu einer alpinen Herausforderung. Nur ein Jahr nachdem es gelungen war, mit einem Ballon den Ärmelkanal zu überqueren, glückte 1786 die Erstbesteigung des Montblanc. Die Menschen fingen an, sich für die Lüfte und auch für die Tiefen der Meere zu interessieren. Im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts erhob man sich in luftige Höhen und gleichzeitig wurde die Welt der Berge entdeckt. Der Wandel in der ästhetischen Anschauung und die parallel dazu einsetzenden technischen Pionierleistungen der Flugkunst gingen Hand in Hand. Die Wahrnehmung änderte sich um 1800 grundsätzlich. Das bemerkte auch Karl Gottlob Schelle. Zwar finden sich in seiner Anleitung, wie man die Kunst des Spazierengehens erlernen könne, noch Spuren des alten Ressentiments gegenüber der Bergwelt, aber er findet sie durchaus auch einladend. In seinem 1802 erschienenen Buch "Die Spatziergänge" heißt es über die Berge: Musik: Jan Garbarek: In praise of dreams, Track 2 (Gegen Ende des Zitats einblenden, anschl. auch unter den Autortext legen) Zitator: "Berge - diese Auswürflinge über die gerade Oberfläche der Erde - sind an sich keine Zierde des Ortes, wo sie stehn. Gleich den Maulwurfshaufen auf einer Wiese, geben sie der Erde, wie die Pocken dem menschlichen Gesicht, eigentlich eine widrige Gestalt. Von einem Luftschiffe herab durch ein Fernrohr betrachtet, machten sie unfehlbar diesen widrigen Eindruck. Auch verhindern oder erschweren sie die Communication. Allein was sie im Urtheil des Verstandes verlieren: das gewinnen sie im ästhetischen Urtheil. Ihre erhabene Lage setzt die Einbildungskraft in ungewöhnliche Thätigkeit und macht die Natur durch Mannigfaltigkeit und Stärke der Eindrücke anziehend. [...] Spatziergänge auf einem Berge, oder auf einer Bergkette, die solche ohne Beschwerlichkeit gestatten und eine weite Aussicht eröffnen, erheben den Geist ungemein." (129f.) Erzähler: Der 1777 geborene Schelle widmete das Buch seiner "Durchlaucht Leopold Friedrich Franz", dem regierenden Fürsten von Anhalt Dessau. Der Fürst von Anhalt Dessau hatte 1764 damit begonnen, sein Land in ein "Gartenreich" zu verwandeln. Die Wörlitzer Anlagen galten um 1800 als herausragendes Beispiel einer umfassenden Landesverschönerung. Für Schelle war das Wörlitzer Gartenreich ein "Urbild des Schönen", denn der Fürst von Anhalt Dessau hatte in Wörlitz einen Traum wahr werden lassen. Als Schlüssel zu diesem Traum kann die Grand Tour angesehen werden, die er im Alter von 25 Jahren unternahm. Sie führte ihn auch nach Italien, wo er Venedig, Rom und schließlich Neapel besichtigte. Neapel war wegen des Vesuvs ein Muss. 3. O-Ton Dieter Richter, CD 0:40: "Die Besonderheiten des Vesuv macht zweierlei aus: Einmal der Schrecken, den dieser Berg immer verbreitet hat und die Schönheit, die vor allem in neuerer Zeit zugleich mit ihm verbunden ist. [...] Erzähler: Dieter Richter, Professor für Kritische Literaturwissenschaft an der Universität Bremen, hat ein Buch mit dem Titel "Der Vesuv. Geschichte eines Berges" geschrieben: Forts. 3. O-Ton Dieter Richter: Berge, vor allem majestätische Berge, haben etwas Bedrohliches. Im Fall des Vesuv kommt dazu, dass dieser Berg nicht nur im Magischen oder im religionsgeschichtlichen [...] bedrohlich ist, sondern durch die Auswürfe, mit denen er seit Jahrhunderten, seit Jahrtausenden in der Gegend um den Golf von Neapel Angst und Schrecken verbreitet." Erzähler: Beim Ausbruch des Vesuvs am 24. August 79 nach Christus starben tausende Menschen und Pompeji sowie Herculaneum wurden unter einer meterhohen Masse aus Asche und Bimsstein begraben. 4. O-Ton Dieter Richter, CD 2:00 "Über das hinaus, was sich an diesem Tag ereignet hat, ist es ein Urereignis der europäischen Katastrophengeschichte. Es ist die erste große Naturkatastrophe, die nicht nur in den Mythos eingegangen ist, wie beispielsweise die Sintflut, sondern die von bestimmten Augenzeugen beobachtet und beschrieben worden ist. Was faktisch passiert, ist durch archäologische Funde aber eben auch durch Augenzeugenberichte relativ gut zu erschließen. Nach jahrhundertelanger Ruhe bricht dieser Berg plötzlich wieder aus. Die Menschen haben nicht damit gerechnet, sie konnten nicht damit rechnen, sie hatte keine Erfahrung im Vulkanismus und wenn wir von Ausbruch sprechen, ist das im Grunde ein Begriff, der in die Irre führt. Es ist eine Explosion. Der ganze Berg wird in die Luft gesprengt, die ganze umliegende Gegend wird verwüstet. Zur Urgeschichte unserer Katastrophenerfahrungen gehört aber vor allem die Tatsache, dass es einen Naturwissenschaftler gegeben hat, Plinius den Älteren, der [...] beobachtet von der gegenüberliegenden Seite des Golfs von Neapel den Ausbruch des Vesuv. [...] Was tut er? Er fährt der Gefahr entgegen. [...] Er diktiert unterwegs und wir verdanken ihm - die Vulkanologie, die Naturwissenschaften - fundamentale Einsichten über das, was am 24. August des Jahres 79 dort am Vesuv passiert ist." Er kommt ja bei dem Versuch, den Menschen zu helfen, ums Leben." Erzähler: Ein erneuter Vulkanausbruch kündigte sich im Dezember 1631 an. Er wurde als Vorzeichen eines bevorstehenden Weltuntergangs angesehen. Als sichtbares Zeugnis eines "höllischen Straffeuers" löste der brennende Berg in der Nacht vom 16. zum 17. Dezember 1631 Angst und Schrecken aus. Eine Katastrophe stand unmittelbar bevor, die durch eine Prozession verhindert werden sollte. 5. O-Ton Dieter Richter, CD 7:30 "Der Vesuvausbruch sowohl des Jahres 79 als des Jahres 1631 hat sich durch Erderschütterungen angekündigt. Wir sind in einem Zeitalter, das durch Religion, durch Glauben geprägt ist und nicht nur ein Vesuvausbruch, sondern jede Naturkatastrophe wurde als Zeichen des göttlichen Zorns verstanden. [...] Und wie kann man den göttlichen Zorn abwenden? Den göttlichen Zorn kann man durch Buße abwenden. In Neapel finden nun gewaltige Bußprozessionen statt und darüberhinaus gibt es im katholischen Bereich natürlich den Nothelfer. Der Nothelfer wird bei solchen schrecklichen Ereignissen von den Menschen auf die Probe gestellt. [...] Hilfst Du mir, dann sorge ich dafür, dass du entsprechend verehrt wirst. Und was in Neapel passiert: Man stellt den Heiligen Gennaro auf die Probe. Kannst du den Ausbruch stoppen? Man macht eine Prozession, man trägt die Reliquien des Heiligen Gennaro dem Berg entgegen. Das funktioniert zunächst noch nicht, nach der ersten Prozession geht der Ausbruch weiter. Man veranstaltet eine zweite Prozession, das ist übrigens nicht nur eine kirchliche Angelegenheit, wie man sich häufig denken kann, da spaziert der spanische Vizekönig [...] mit und dann wird ein zweiter Versuch gemacht und dieser zweite Versuch gelingt. Die Wolke, die drohend auf Neapel zukommt, zieht ab." Musik: Jan Garbarek Erzähler: Dass der Berg im 18. Jahrhundert ein beliebtes Reiseziel war, lag am Nebeneinander von Schönheit und Schrecken. Das dürfte auch das Interesse des Fürsten von Anhalt Dessau geweckt haben. Majestätisch thronte der Gefahr bringende Berg über einer außergewöhnlich schönen Landschaft am Golf von Neapel. Doch es bedurfte nur einer Laune der Natur, um das Paradies in die Hölle zu verwandeln. Das "häßliche Ungethüm" aber, wie Goethe den Vesuv nannte, hielten die Aufklärer des 18. Jahrhunderts durchaus auch für nützlich. 6. O-Ton Dieter Richter, CD 27:40 "Aristoteles hat die Theorie aufgestellt, Erdbeben - und Vulkanausbrüche hat man immer mit Erdbeben zusammengedacht - Erdbeben sind die Folge von unterirdischen Winden. Es ist eine Art von organologischer Vorstellung. Aristoteles nimmt ja immer den menschlichen Organismus als Modell für das, was in der Natur passiert. Und so wie der menschliche Organismus Luft speichern kann, die sich dann auf diese oder jene Weise entlädt, so versteht er auch Erdbeben und Vulkanausbrüche als Blähungen des Organismus Natur. Das kommt uns heute sehr seltsam vor, aber [...] Aristoteles entwickelt deswegen eine Theorie, die schlüssig ist, weil sie mit dem menschlichen Organismus arbeitet und deswegen zieht sich diese Theorie bis ins 18. Jahrhundert hin. Man geht davon aus, dass die Erde verbunden ist durch Kanäle, auch durch Wasserkanäle, das glaubt noch Immanuel Kant in seinen frühen naturwissenschaftlichen Schriften [...]. Das ist auch die Meinung der großen französischen Philosophen. In der Enzyklopädie beispielsweise kann man noch lesen von Diderot und D´Alembert: Vulkanausbrüche seien eine Wohltat der Natur, weil sich die Erde auf diese Art erleichtern könne, sonst würde sie insgesamt explodieren. Erzähler: Noch im Allerschrecklichsten zeigte sich, wie in der Natur die göttlichen Gesetze der Vernunft walten. Dies war ein Grund, weshalb der Fürst von Anhalt Dessau zwischen 1788 und 1794 eine Nachbildung des Vesuvs in seinem Wörlitzer Gartenreich errichten ließ. Er sah den Vulkan als Sinnbild der Erneuerung und nicht allein als Ausdruck der Zerstörung. Diese Ansicht vertrat auch William Hamilton, an den in Wörlitz mit einer Nachbildung der Villa Emma erinnert wird. In der in Neapel gelegenen Villa hatte der Fürst von Anhalt Dessau Lady Emma, Hamiltons Muse getroffen, die ihm als ein "Muster von Liebenswürdigkeit" in Erinnerung geblieben war. Von der Villa aus hatte man einen einzigartigen Blick auf den Vesuv. Musik: Jan Garbarek Erzähler: Eine Frau und ein Vulkan. Auf die Verbindung zwischen Vulcanus und Venus spielt das Bild "Die Grotte des Porsilipo mit Aussicht auf den Golf von Neapel und den Vesuv" von Pietro Fabis an, das im Schlafzimmer der Fürstin im Wörlitzer Schloss hängt. Während es sich hierbei um einen Hinweis auf die Beziehung zwischen dem Fürsten und seiner Gemahlin handelt, kann das Miniaturmodell des Vesuvs als eine indirekte Anspielung auf das Liebesbegehren des Fürsten gedeutet werden. Als die Nachbildung des Vesuvs errichtet wurde, hatte der Fürst ein Verhältnis mit der Tochter seines Gärtners. In den Wörlitzer Anlagen finden sich viele erotische Zeugnisse, zu denen auch die Nachbildung des Vesuvs passt. Bereits in der Barockliteratur wurde der Vesuv mit einem feurigen Liebhaber verglichen. Ein Liebender, der vor Liebe glüht und der aus Liebe "feurige Seufzer" ausstößt: Zitator: "Der Vesuv als glühender Liebhaber, die Flammen des Berges als Flammen der Liebe: Die in der zeitgenössischen Literatur immer wieder auftauchende Metaphorik verweist im übrigen auf das populäre ,vulkanologische' Verständnis der Zeit: der Vesuv ,entzündet' sich, er ,brennt', er steht ,in Flammen'. (Vesuv, 64) Erzähler: Der Fürst von Anhalt Dessau, der den fleischlichen Genüssen nicht abgeneigt war, hat den Vesuv nicht nur als Symbol einer gütigen und zugleich auch Furcht und Schrecken verbreitenden Natur in den Wörlitzer Anlagen errichten lassen, sondern auch, um seinem erotischen Liebesverlangen Ausdruck zu verleihen. Der Vulkan verkörpert das Ungestüme, Wilde, Unberechenbare. Den Parkbesuchern präsentierte Fürst Franz ein Naturphänomen. Aber der Vulkan ist zugleich ein Symbol seines wilden Liebesverlangens. Zitator: ,Das Tier in uns will auch sein Recht haben.', Erzähler: pflegte der Fürst zu sagen. Dass er ein aufgeklärter Landesherr und ein feuriger Liebhaber war, der wie ein Vulkan vor Liebe brannte, diese Parallele zu ziehen, überließ er seinen Gästen, die den Vesuv, als pyrotechnisches Wunderwerk, bei Gartenfesten bestaunen konnten. Musik: Jan Garbarek: In praise of dreams, Track 10 Erzähler: Hundert Jahre nachdem sich der Fürst von Anhalt Dessau als Andenken an den Vesuv eine Nachbildung des Vulkans im Wörlitzer Gartenreich errichten ließ, wurde eine andere Erinnerungskultur gepflegt. Hans Meyer, Sohn einer Leipziger Verlegerfamilie, deren Name für Meyers Konversationslexikon steht, gelang 1889 die Erstbesteigung des Kilimandscharo. Das war ein nationales Ereignis und so wurde es auch gefeiert. 7. O-Ton Alexander Honold, Track 28: "Es wird eine deutsche Fahne gehisst, es wird ein deutscher Name für das Kilimandscharo-Massiv auf seiner Spitze deponiert. Erzähler: Alexander Honold ist Mitautor des Buches "Kilimandscharo. Die deutsche Geschichte eines afrikanischen Berges". Forts. 7. O-Ton Alexander Honold, Track 28: Ab Hans Meyer soll der Gipfel des Berges Kaiser-Wilhelm-Spitze heißen. Das findet dann seinen Ausdruck in der Trophäe, die aus dieser Gipfelbegegnung dann nach Deutschland ins deutsche Reich zurückkehrt. Hans Meyer nimmt eine Gesteinsprobe, ein Felsstück mit von dieser Kaiser-Wilhelm-Spitze und übereignet es stolz dem Namenspatron, dem Kaiser himself. In Potsdam wird das feierlich übergeben und dann wird dieses Gesteinsstück, das dem Kilimandscharo-Gipfel entnommen wurde, zu einem Teil des Muschelsaals im Neuen Palais. Und es wird damit ein Stück afrikanischer Erde symbolisch ins Machtzentrum des preußisch-wilhelminischen deutschen Reiches integriert." Erzähler: Mitte des 19. Jahrhunderts erkundeten Forschungsreisende den afrikanischen Kontinent, Abenteurer suchten ihr Glück in Afrika, Handelsbeziehungen wurden geknüpft. Zwei Missionare aus dem Württembergischen machten eines Tages eine erstaunliche Entdeckung. Sie sahen einen Berg mit einer seltsam anmutenden weißen Kappe. Die Eingeborenen, die sie befragten, bezeichneten das Weiße als Kälte, also als Schnee oder Gletscher. 8. O-Ton Alexander Honold, Track 23 "Das sind die Missionare Rebmann und Krapf [...]. Sie stellen fest, dass hier mitten in Afrika auf der Höhe des Äquators, das heißt in Breitenregionen, die eben von tropischen, subtropischen Bedingungen geprägt sind, dass es hier Berge gibt, auf denen Schnee, ewiger Schnee, ewiges Gletschereis sich befindet. Und das war nun so unwahrscheinlich, auch als bildliche Vorstellung, dass man fast von einer vertikalen Fata Morgana sprechen könnte, die sich da vor den Augen und auch in den Köpfen dieser Missionare festgesetzt hat." Erzähler: Heftiger Widerspruch kam von dem berühmten Geographen William Desbeorough Cooley, der den Bericht der Missionare für eine phantastische Erzählung hielt, die nichts mit der Wirklichkeit zu tun hätte. Eine kühne These, denn während Rebmann und Krapf vor Ort waren und also mit eigenen Augen gesehen hatten, was in ihrem Bericht stand, war Cooley als "armchair geographer" ein Forscher, der die Welt aus dem bequemen Lehnstuhl betrachtete. Dass die beiden recht hatten, bestätigte Baron Carl Claus von der Decken. Er versuchte 1861 und 1862 den Kilimandscharo zu besteigen, musste aber den Aufstieg beide Male weit unterhalb des Gipfels abbrechen. Als Hauptergebnis seiner Reise hielt er fest: Zitator: "Rebmann's Angaben in Betreff der Natur des Berges [wurden] von mir volkkommen richtig befunden. Der Schnee des Kilimandscharo ist deutlich zu sehen." (Klimandscharo, S. 68) Erzähler: Der Kilimandscharo war lange Zeit ein deutsches Projekt. Durch Hans Meyers Bergbesteigung wurde daraus schließlich deutscher Besitz. Afrika weckte Begehrlichkeiten und als sich die europäischen Mächte in Stellung brachten, um den Kontinent unter sich aufzuteilen, rückte auch der Kilimandscharo ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Seine Besteigung durch einen Deutschen war nicht nur eine alpine Leistung - sie war Bestandteil eines kolonialen Unternehmens. 9. O-Ton Alexander Honold, Track 26 "Das zeichnet sich ab in den 1880iger Jahren. Es gibt eine ganze Reihe von Exkursionen, die versuchen, diesen Berg in [...] in Besitz zu nehmen. Und mit Hans Meyer gibt sich ein deutscher Kolonialgeograph den Auftrag, hier der erste sein zu wollen. [...] Das aber wiederum bedeutet, dass neben der geographischen Erkundungsseite und der wissenschaftlichen Seite, auch etwas von einem kolonialen Unternehmen dabei ist. Das heißt, eine Aneignung nicht nur der Region, nicht nur der Natur, sondern die Ankömmlinge, [...] nehmen wie selbstverständlich auch das Recht für sich in Anspruch, als Kolonialherren aufzutreten [...]. Und da zeichnet sich in diesen mehreren Erkundungen, die Meyer unternommen hat, insgesamt braucht er drei Anläufe, bis die Bergbesteigung dann gelingt, immer wieder auch als Thema durch: der herrschaftliche Blick, der verächtliche Blick auf die einheimische Bevölkerung, die hier als Menschenmaterial nur in Frage kommt. " Erzähler: Diese Form der Bergeroberung gehört zu den Schattenseiten in der Geschichte eines Berges, der in Mehrteilern malerisch ins Bild gesetzt wird, wenn das Fernsehen Afrikaromantik verbreiten will. Andrea Berg hat den Kilimandscharo in einem Schlager besungen, und ein deutscher Kaffeehersteller wusste das Konterfei des Berges geschickt zu vermarkten. Es besteht in der deutschen Kultur gegenüber dem Berg eine gewisse Affinität. Allerdings fehlt es an einem Zeugnis wie Ernest Hemingways Erzählung "Schnee auf dem Kilimandscharo". Vergleichbares über den schneebedeckten Berg in Ostafrika sucht man in der deutschen Literatur vergeblich. Doch ein Sehnsuchtsobjekt ist der Kilimandscharo geblieben. Musik: Jan Garbarek: In praise of dreams, Track 1, möglichst bis zum Ende des Beitrags, kann am Ende auch einige Sekunden noch frei stehen Zitator: Ararat - Berg Sinai - Himalaja - Montblanc - Vesuv - Kilimandscharo: 10. O-Ton Alexander Honold, Track 30: "Das Besondere der Berge ist, dass sie eigentlich nicht in dieser Allgemeinheit vorkommen, sondern immer individuell sind. Wir sind an Bergen dann interessiert, wenn sie einen Namen haben, wenn sie wiedererkennbar sind, wenn sie so etwas wie eine Geschichte aufweisen. Und wir reden, glaube ich, bevorzugt über solche Berge, ich denke 90 Prozent der Bergliteratur beziehen sich auf ganz wenige Berge, nämlich auf die Berge, die so etwas wie ein individuelles Schicksal haben [...]. Also es geht bei Bergen immer um etwas, wo wir die Natur als menschenförmig, nämlich individuell wahrnehmen. Und die Individualität der Berge, die Unverwechselbarkeit auch eines Berges, spornt natürlich dann die Phantasie an und spornt auch die kulturelle Bedeutungsgebung an." Zitator: Drinnen in den Alpen ists noch helle Nacht und die Wolke, Freudiges dichtend, sie dekt drinnen das gähnende Thal. Dahin, dorthin toset und stürzt die scherzende Bergluft, Schroff durch Tannen herab glänzet und schwindet ein Stral. Erzähler: Friedrich Hölderlin. Heimkunft. Musik Verwendete Literatur: Natascha Adamowsky: Das Wunder in der Moderne. Eine andere Kulturgeschichte des Fliegens. Wilhelm Fink Verlag. München 2011. Christof Hamann/Alexander Honold: Kilimandscharo. Die deutsche Geschichte eines afrikanischen Berges. Wagenbach Verlag, Berlin 2011. Der Vulkan im Wörlitzer Park. Hrsg. v. Vorstand der Kulturstiftung Dessau. Nicolai Verlag. Berlin 2005. Dieter Richter: Der Vesuv. Geschichte eines Berges. Wagenbach Verlag. Berlin 2007. Aurel Schmidt: Die Alpen. Eine Schweizer Mentalitätsgeschichte. Verlag Huber Frauenfeld. Zürich 2011. Karl Gottlob Schelle: Die Spatziergänge oder die Kunst spatzierenzugehen. Hrsg. v. und mit einem Nachwort versehen von Markus Fauser, Reprint der Ausgabe Leipzig 1802, Olms Verlag, Hildesheim, Zürich, New York 1990. Jacek Wozniakowski: Die Wildnis. Zur Deutungsgeschichte des Berges in der Neuzeit. Suhrkamp Verlag. Frankfurt am Main 1987. 6 1