DEUTSCHLANDFUNK Donnerstag, 7. Oktober 1999 Hörspiel/Hintergrund Kultur 19.15 - 20.00 Uhr Redaktion: Marcus Heumann Wiederholung am: Dienstag, 6. Oktober 2009 19.15 ? 20.00 Uhr TANZ AUF DEM VEB TITANIC Der 40. Jahrestag der DDR im Palast der Republik Von Jürgen Balitzki und Marcus Heumann URHEBERRECHTLICHER HINWEIS Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. ? Deutschlandradio - Unkorrigiertes Manuskript - Musik/Atmo - DDR - Unser Vaterland O-Ton Quermann Da war geplant, wie das immer so am 7. Oktober war, ein großer Unterhaltungsabend im Palast der Republik, und da wurde das ganz plötzlich umfunktioniert in ein Symphoniekonzert, da wußte ich schon, was die Uhr geschlagen hatte. O-Ton Ludwig Güttler Ich habe bei der Probe sofort gesagt im Palast der Republik: "Wir sind zwar hier, aber wir werden nicht auftreten." O-Ton Wolfgang Lippert Es war kein schönes Fest, es war Abgesang. "DDR - Unser Vaterland" - Musik - Refrain "Alle sind Geburtstagskinder" (Monika Herz) Alle sind Geburtstagskinder einmal im Jahr heute wird es, Kinder, Kinder, so wie's niemals war Alle woll'n Geburtstag feiern, was für ein Jahr seht was geschieht, hört Ihr unser Lied, macht mit uns Musik Sprecherin TANZ AUF DEM VEB TITANIC Der 40. Jahrestag der DDR im Palast der Republik Ein Feature von Jürgen Balitzki und Marcus Heumann Musik (1. Strophe) Alle Menschen rings im Land decken einen Tisch von der See bis zur Spree von der Oder bis zum Harz öffnet Tür und Tor für den Gratulantenchor... O-Ton Honecker Neue Anforderungen verlangen neue Lösungen, und wir werden auf jede Frage eine Antwort finden. Wir werden sie gemeinsam mit dem Volk finden für unser Voranschreiten auf dem Wege des Sozialismus in unserer sozialistischen Deutschen Demokratischen Republik. Musik - (Frank Schöbel, Wir brauchen keine Lügen mehr) Seit die Wahrheit in uns wohnt ist ein Wort nicht nur ein Wort und wir lieben uns wie nie vorher denn wir brauchen keine Lügen mehr wir brauchen keine Lügen mehr O-Ton Frank Schöbel Vor dem 7. Oktober, muss man wissen, lag ja noch der Kessel Buntes, der war Mitte September, ich weiß nicht mehr genau, ich denke, der 13. oder so... Sprecherin Frank Schöbel, Popsänger O-Ton Frank Schöbel Und ein Tag vor dem Kessel Buntes, wir hatten - wir, das waren die Rocker und die Liedermacher und ich als einziger Schlagerfuzzi, sage ich mal - ein Papier unterschrieben, und das wurde in der ARD und im ZDF entsprechend gewürdigt, sage ich mal, und Auszüge daraus vorgelesen. Mit diesen Freunden, die über Ungarn weg sind, von mir Freunde und all dem im Gedächtnis, fand der 7. Oktober statt. O-Ton: Resolution der Rocker und Liedermacher Resolution Wir fordern jetzt und hier sofort den öffentlichen Dialog mit allen Kräften. Wir fordern Änderung der unaushaltbaren Zustände, wir wollen uns den vorhandenen Widersprüchen stellen, weil nur durch ihre Lösung und nicht durch ihre Bagatellisierung ein Ausweg aus dieser Krise möglich sein wird. Feiges Abwarten liefert gesamtdeutschen Denkern Argumente und Voraussetzungen. Die Zeit ist reif. Wenn wir nichts unternehmen, arbeitet sie gegen uns. O-Ton Dagmar Frederic Also, meine Erinnerungen an diesen legendären 7. Oktober sind eigentlich nur sekundär... Sprecherin Dagmar Frederic, Entertainerin O-Ton Dagmar Frederic Meine intensivere Erinnerung an diese Zeit ist etwas davor, nämlich 14 Tage davor. Peter Renner, mein damaliger Mann, war Parteisekretär im Bezirk Frankfurt/Oder für die Artisten, das hört sich irrsinnig gut an, das waren vier Mann, einer davon war ein Diskotheker, und der hat ihm Mitte September einen Brief geschrieben, dass er sich außerstande sieht, weiter hier in diesem Land zu leben. Er wird also die Ausreise beantragen, er wird sich absetzen. Ich habe das sehr wohl verstanden und dachte noch zu der Zeit, eigentlich kann man auf so einen guten Kader, wie das früher hieß, nicht verzichten. Ich habe, weil ich die ja durch viele Veranstaltungen kannte, den Brief zu Ursel Ragwitz gegeben mit der Bitte, den an Herrn Hager weiterzuleiten, schnellstens. Ich habe natürlich nichts gehört. Und am 6. Oktober dann bekam ich einen Anruf vom ZK, vom Büro Hager. Er ließ sich mit mir verbinden, was schon mal sehr bedeutend war, nur um mir zu sagen, dass er mich bittet, mir keine Gedanken zu machen, er bedankt sich für den Brief - und: "Wir haben alles im Griff." O-Ton Aktuelle Kamera, Beginn der Feiertagsberichterstattung Guten Abend, meine Damen und Herren, zur Aktuellen Kamera. Der festlich erleuchtete Palast der Republik - auf seine Art Symbol für 40 erfolgreiche Jahre zum Wohle des Volkes. Offizielle ausländische Gäste und verdienstvolle Werktätige folgen der Einladung Erich Honeckers zu diesem Empfang. Musik Sprecherin Neues Deutschland, Organ des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands: "Ein erlesenes Programm mit Schätzen der Weltkultur, dargeboten von international geschätzten Künstlern unseres Landes, erfreute die Gäste des Festempfangs im Großen Saal des Palastes der Republik. In allen Etagen des Hauses wurden abwechslungsreiche Programme gestaltet." O-Ton Michael Höft Man nimmt die Leute, wo man weiß, die sind stressfrei, die machen ihr Programm, die sind nicht laut, die spielen im richtigen Verhältnis und sagen auch keine dämlichen Sprüche auf, was ja nun völlig tödlich wäre bei so 'ner Veranstaltung. Da wurde immer an solchen Tagen darauf geachtet, dass nun nicht der sang, der gerade einen Ausreiseantrag gestellt hat. Die Mitwirkenden und die Reihefolge ist immer ins ZK gegangen bei solchen Veranstaltungen, das war also normal, dass im ZK diese Programme eingereicht und genehmigt wurden, damals von Ursel Ragwitz... Sprecherin Michael Höft, Programmgestalter O-Ton Michael Höft Das wurde als ein bisschen thematisch auch versucht, die Musikauswahl ein bisschen auf den Stil zu bringen, was weiß ich, Altberliner Musik oder besonders volkstümliches Zeug in einer Etage. Das war eine Besonderheit, und die andere Besonderheit, das muss man schon sagen, waren schon ganz verschärfte Sicherheitsbedingungen. Ich habe bei solchen Veranstaltungen das noch nie erlebt, dass ich nicht hinter den Saal gekommen bin. Ich bin als Mitarbeiter der durchführenden Kulturtruppe nicht nach hinten gekommen. Keine Chance. Wenn du da nicht eine bestimmte Karte am Revers hattest, hattest du überhaupt keine Chance, dort irgendwie in die Nähe zu kommen. O-Ton Volker Büttner Es gab ja 'ne Generalkonzeption für das Ganze Haus, die ja eigentlich erprobt gewesen ist, also kam man logischerweise drauf, dass das Hauptfoyer, da es ja ein ziemlich großes überschaubares Areal gewesen ist, die zweite Kategorie zum Plazieren von den Gästen, die erste war ja im großen Saal. Sprecherin Volker Büttner, Regisseur O-Ton Volker Büttner Wenn man in so 'ne Produktion hineingerät, hat man drei, vier Tage voll Stress, man guckt auch nicht nach draußen, ich war ziemlich überrascht, was sich dann alles am 7. Oktober abspielte. O-Ton Jürgen Walter Erstmal hatte ich gar keine Lust, da mitzuwirken. Ich hatte immer ein bisschen so meine Probleme mit offiziösen Geschichten. Seit ich '85 das erste Mal mich verweigert hatte, da mitzuspielen, bei einer ähnlichen Veranstaltung im Palast der Republik, als Honecker seine Kreissekretäre im Februar empfing, und irgendwann gab's dann ein Abschlussfest, und da habe ich aus Gründen, die hier nicht weiter wichtig sind, gesagt: Nein, will ich nicht. Sprecherin Jürgen Walter, Popsänger O-Ton Jürgen Walter Jedenfalls hatte ich vor, 1990 im Palast der Republik, eine Personality-Show zu machen. Da haben sie gesagt, Dr. Jürgen Hagen und andere: "Also, wenn du das nicht machst, wenn du da nicht auftrittst, dann ist das Ding natürlich gestorben." O-Ton Anke Lautenbach Ich bekam die Einladung, weil ich im selben Jahr an diesem internationalen Schlagerfestival in Rostock teilgenommen habe "Menschen und Meer", und ich habe da den Grand Prix gewonnen, und ich denke, das war dann so der letzte Auslöser, dass ich als Leipzigerin, als Leipziger Studentin überhaupt, zu so einem Ereignis eingeladen wurde. Und da ich also jung, Studentin, total froh war, dass ich überhaupt endlich mal in die Berliner Kreise mit rein kam, habe ich im ersten Moment auch nicht darüber nachgedacht. Ich war bloß glücklich und froh, mal neben richtigen Stars zu stehen, so wie IC Falkenberg, Jürgen Walter, Petra Schwerdt, Ines Paulke, das waren ja alles sozusagen die großen DDR-Stars, und ich als kleines Leipziger Würstchen war total glücklich und froh, dass ich mitmachen durfte. Sprecherin Anke Lautenbach, Popsängerin O-Ton Anke Lautenbach Nun bin ich in Leipzig auch immer schon zu Demos gegangen, und wir sind da auch regelmäßig schon zu den ganz schlimmen Zeiten demonstrieren gegangen, in die Nikolaikirche, sodass ich schon mir denken konnte irgendwo, dass da alles Mögliche abgesperrt wird. Dann wußten wir auch alle, dass Gorbatschow kommt an diesem Tag. Es war schon so eine heiße Sache. Es ist so eine Mischung: Man ist Künstler, man ist auf der einen Seite froh, man kann endlich mal seine zwei Lieder singen und ist irgendwo mit beachtet und ist mit im Mittelpunkt, weil man ja auch dafür arbeitet und sich dafür anstrengt, und auf der anderen Seite eben diese doch politisch spannende Situation. O-TON Ludwig Güttler Das Jahr 89 war ja für die Aufmerksamen und auch für die Unaufmerksamen gekennzeichnet durch ein paar Dinge. Das Zitat von Herrn Hager, dass man, wenn der Nachbar tapeziert, nicht auch tapezieren müsse, dann durch den sehr gewachsenen Aufmerksamkeitsgrad unter Beobachtung der Bevölkerung bei den Kommunalwahlen im Mai und dann durch diese ganze Fluchtbewegung Juli/August, wo das dann kulminierte, und auch durch die Feststellung definitiv, dass die Chinesen auf dem Platz des Himmlischen Friedens richtig gehandelt hätten ... Sprecherin Ludwig Güttler, Trompeter O-Ton Ludwig Güttler In Vorausschau auf den 6./7. Oktober hatte ich schon Verträge wohlweislich in der Bundesrepublik abgeschlossen, am 6. in Karlsruhe und am 7. in Westberlin, und als die dann in das ganz normale Antragsgeschehen einflossen, kriegte ich die Mitteilung: Für diesen Tag werden die Verträge nicht genehmigt. Da müssen alle da sein, das ging also nicht, und dann kam von Frau Dr. Ragwitz aus der Abteilung von Herrn Hager, dass also gespielt werden müsse. Ich habe dann Anfang Oktober einen Brief geschrieben an den Staatsratsvorsitzenden Honecker, dass wir keinen Grund zum Feiern hätten und dass es auch nicht stimmt, dass die Leute, die abhauen, kriminelle Elemente wären, sondern ganz im Gegenteil, das sind Leute von uns, wichtige Leute, und ich habe gefordert, dass bis zu dem Jahrestag Reformen eingeleitet werden müßten, dann hätten wir auch Grund zum Feiern. Es war hier dann in Dresden schon die Randale, wie es genannt wurde, am Hauptbahnhof, Sprichwort Züge CSSR, Prag, Deutsche Botschaft, und eigentlich die Kollegen, wir haben uns gesagt, "wollen wir überhaupt noch nach Berlin fahren?" Und wir haben gesagt: "Wir fahren doch." Ich habe bei der Probe sofort gesagt im Palast der Republik: "Wir sind zwar hier, aber wir werden nicht auftreten." Und auch, warum. Und da sagte dann Frau Dr.Ragwitz, die wurde dann geholt: "Sie können beruhigt auftreten, spätestens ein oder zwei Tage nach dem 7. Oktober werden - und das ist jetzt wörtlich - die alten Säcke abgesetzt, und dann kommen die Reformen." Musik O-Ton André Hermlin Wir hatten ja zuvor schon einige Male im Palast der Republik gespielt zu verschiedenen Veranstaltungen, und etwa im März oder April 1989 sprach mich Michael Höft an. Sprecherin André Hermlin, Bandleader O-Ton André Hermlin Und ich hatte dann auch zugesagt, bekam natürlich in den letzten Wochen, im August und September, viel Kritik von meinen Freunden und Bekannten, die mir gesagt haben: "André, das kannst du doch nicht machen. Du kannst doch nicht unter diesen Bedingungen, die wir jetzt hier haben, dort auftreten." Und ich habe mich herausgeredet und habe gesagt: "Ich bin da vertraglich gebunden und ich würde Leuten schaden, wenn ich da absage." Das war natürlich eine Ausrede, in Wirklichkeit hatte ich etwas ganz anderes vor. O-Ton Volker Büttner Das Ballett des Friedrichstadtpalastes verweigerte mir oder, besser gesagt, der Produktion erst mal das Mitarbeiten. In dieser Lage können sie nicht mehr weiterarbeiten. Ich übersetzte das, ich bin zu blöd oder der Boden ist nicht gut genug und so weiter, bis mir dann jemand, der zu mir Vertrauen hatte, ein Freund im Ballett, sagte: "Es geht ums Politische, wir wollen hier nicht mehr auftreten bei den Bonzen." Ich sagte, ach du Scheiße, und ich dachte, dass wer weiß was alles passiert ist. Natürlich mussten die, die da saßen, und auch die Gaukler, die mussten ja dann alle nach der Probe mittags nach Hause und kamen dann alle wieder, und die mussten ja jetzt schon durch die Menge zum Teil durch, ich weiß gar nicht, wer da angeheult kam, ich glaube Anke Lautenbach. Die hatte es quasi nicht mehr geschafft, pünktlich zu ihrem Veranstaltungspunkt zu kommen, weil in der Zwischenzeit waren nun Stasi und Polizei aufgefahren und hatten die Brücke abgesperrt, die wollte aber durch, die wollte nur ihre Arbeit machen, und das war für sie grauenhaft, weil sie musste nun jedem erklären, a) musste sie denen erklären, den wütenden Leuten, dass sie in den Palast will, was schon mal Scheiße war, und dann musste sie den ebenso wütenden Polizisten erklären, dass sie in den Palast will. O-Ton Anke Lautenbach Mein Bruder hatte im Prenzlauer Berg, 4. Stock, Hinterhaus, ein Zimmer, und immer, wenn ich in Berlin war, dann wohnte ich bei ihm, auch wenn er nicht da war, ich hatte einen Schlüssel, und er war nicht da, ich wohnte da also alleine, und man muss dazu sagen, Stargader Straße, schräg gegenüber von der Gethsemanekirche. Da bin ich dann am Nachmittag noch mal in den Prenzlauer Berg, um nicht die Klamotten schon mitzunehmen und so was, und da war da schon so eine ganz eigenartige Stimmung, da wurden schon die Straßen halb abgesperrt und ein Haufen Demonstranten. Und dann ging ich ja zurück zum Palast, und da war schon so ein Menschenauflauf dort. Soweit ich weiß, war Gorbatschow auch schon im Haus, es war nicht mehr durchzukommen. Na ja, ich konnte mich letzten Endes nur durchdrängeln und war immer froh, wenn ich dann doch einen Polizisten traf, in dem Fall schon, weil ich hatte ja irgendwo einen Vertrag zu erfüllen. Es gab keine Handys und nix, man konnte letztendlich sich nur an die Ordnungsmacht wenden. Ich habe dann meinen Ausweis gezeigt und habe gebeten, dass sie mich da irgendwie durchziehen. Die waren auch ganz nett, obwohl man merkte ihnen an, sie waren auch total aufgeregt. So richtig wußten manche auch nicht, was sie jetzt machen sollten. O-Ton André Hermlin Wir haben dann aufgebaut im Palast der Republik, und ich bin dann essen gegangen mit meiner Sängerin im Nikolaiviertel. Und dann habe ich gesagt, nachdem wir da gegessen hatten: "Lass uns doch mal zum Alexanderplatz gehen, lass uns doch mal gucken, was da los ist." Wir kamen dort an, und ich erinnere mich noch, wir standen in der Nähe der Weltzeituhr. Da war so ein Podium aufgebaut, und ein Sänger sang die ganze Zeit Berliner Lieder. Das war eine schizophrene Szene. Davor sehr sehr viele Kameraleute, vor allem natürlich aus dem Westen, einige kannte man auch, ich erinnere mich noch an Horst Hano, den Journalisten. Atmo O-Ton ZDF, 7. Oktober (Horst Hano) Berlin, Alexanderplatz, heute Nachmittag um 5. Etwa 150 vorwiegend junge Leute hatten sich versammelt am Rande des großen Volksfestes in Berlin-Mitte. "Neues Forum, Neues Forum", riefen sie und immer wieder, "Wir bleiben hier". Und: "Freiheit für die Inhaftierten!" Uniformierte Polizei zeigte sich nicht. Die Staatssicherheitsbeamten in Zivil waren zahlreich erschienen, griffen aber auf dem Platz nicht ein. O-Ton André Hermlin Zwei Männer fingen an, lautstark miteinander zu diskutieren, und im selben Moment standen ganz viele Leute um die herum. Aber das war blitzartig, und ich traf einige Leute aus der Kirche von unten, mit denen ich in den letzten Monaten vorher zu tun hatte, und die sagten gleich zu mir: "Du, die kennen wir gar nicht. Was sind denn das für Leute?" Aus diesem Pulk entwickelte sich eine richtig größere Ansammlung, die lautstark diskutierte und skandierte: "Gorbatschow, Gorbatschow, Perestrojka, Perestrojka". Und dann teilte sich der Pulk, es wurden plötzlich zwei Pulks, und die wuchsen rasch an und wurden natürlich sozusagen noch zusätzlich motiviert von den Scheinwerfern der Kameras, die aufleuchteten. Das guckte ich mir eine Weile an, ich erinnere mich noch, ich hatte auch damals schon diese Sachen an, wie ich sie heute auch trage, aus den 30er-Jahren, ich hatte einen langen Mantel an und einen Hut auf und neben mir stand eine Plaste-Jacke, also ein Mitarbeiter offenkundig der Staatssicherheit, und der machte plötzlich zu mir so eine Handbewegung: "Siehste, das sind die angekündigten Provokationen", offenkundig in der Annahme, dass ich ein Kollege von ihm bin. Da habe ich mir das angeschaut, und mit einem Mal gab es dann Verhaftungen. Da wurden Leute rausgegriffen, und da riefen die Leute "Stasi raus", und es gab Unruhe, und plötzlich hörte ich den Ruf: "Zum Palast!" Und wie auf Kommando wogte diese Menge herum und fing an, auf den Palast zuzulaufen. Ich bin mitgelaufen mit der Sängerin, mit der Susanne, ich bog am Nikolaiviertel kurz ab, suchte mir eine Telefonzelle, rief meine Mutter an und rief: "Der 17. Juni ist da." Und meine Mutter sagte nur: "Du übertreibst." Und im Nachhinein hat sich herausgestellt, ich habe gar nicht so übertrieben. Jedenfalls, kurz vor der Brücke war dann Schluss, da hatte die Staatssicherheit in großer Eile einen Bus aufgefahren und zwei Lastwagen dahinter und sperrte damit die Straße, da waren Polizeiketten, und wir mussten ja allmählich zum Auftritt, und da sind wir rumgelaufen, hintenrum zum Palast der Republik. Und dann habe ich zu Susanne gesagt: "Geh doch schon mal hoch, ich guck mir das noch an" und bin von hinten durch die Stasicordons durch. Kein Mensch hat mich aufgehalten, mit einem Mal stand ich im Niemandsland, vor mir waren der Bus und die Lastwagen, dahinter waren die Demonstranten, die laut skandierten, und hinter mir waren die Stasireihen. Und mit einem Mal kommen zwei Männer auf mich zu, beide im Smoking und Lackschuhen, der eine läuft so etwas hinter dem anderen. Ich denke, den vorne Laufenden, den kennst du doch irgendwoher, guck den genau an und denke: Verdammt noch mal, das ist ja der Mielke. Und der bleibt genau drei Meter neben mir stehen - ich wurde überhaupt nicht angesprochen - und brüllt sofort: "Wer ist hier der ranghöchste Offizier?" Und irgendeine Plaste-Jacke schlägt die Hacken zusammen, hinter mir: "Hier, Herr Minister!" und kommt auf ihn zugerannt. "Was ist hier los? Fahren Sie Panzer auf! Machen Sie hier zu!" Und brüllt da rum, da wurde mir dann doch etwas mulmig. Die ganze Szenerie spielte sich drei Meter neben mir ab, ich stand da völlig losgelöst von allen, es hat kein Mensch gesagt: "Wer sind Sie? Machen Sie, dass Sie wegkommen. Was tun Sie hier überhaupt?" Gar nichts. O-TON Collage AKTUELLE KAMERA/Tagesschau : Guten Abend, meine Damen und Herren. In den Abendstunden des 7. Oktober versuchten in Berlin Randalier die Volksfeste zum 40. Jahrestag der DDR zu stören. Im Zusammenspiel mit westlichen Medien rotteten sie sich am Alexanderplatz und Umgebung zusammen und riefen republikfeindliche Parolen. Der Besonnenheit der Schutz- und Sicherheitsorgane sowie der Teilnehmer an den Volksfesten ist es zu verdanken, dass beabsichtigte Provokationen nicht zur Entfaltung kamen. Die Rädelsführer wurden festgenommen.// Am 40. Gründungstag der DDR haben mehrere tausend Demonstranten in Ostberlin, Leipzig und Potsdam eine demokratische Erneuerung im Land gefordert. In Ostberlin waren zunächst einige hundert junge Leute auf dem Alexanderplatz zusammen gekommen ... O-Ton Volker Büttner ... Ich weiß gar nicht mehr, welches Orchester da im Großen Saal spielte. Die hingen alle an den wenigen zu öffnenden Fenstern und guckten da raus und riefen den Menschen aufmunternde Worte zu, während sie sich auf ihren Auftritt im großen Saal für den großen Staatsempfang vorbereiteten. Es war schon eine sehr dubiose Situation. O-Ton Honecker Unser Anliegen ist, dass die Bürger sich immer aktiver und konkreter an den Staatsangelegenheiten beteiligen. Atmo Gorbi-Rufe O-Ton Anke Lautenbach: Im Haus war das ganz komisch, das war so eine Mischung zwischen "Psst-Nur nicht drüber reden", und wir vergessen das immer wieder. Wir machen jetzt nur unseren Job hier. Ich merkte auch, manche kamen sich dann doch so wie die Privilegierten vor: Und da sind wir aber froh, dass wir hier drinnen sind, na ja, wir gehören ja auch nicht zu diesen da draußen, was da jetzt abläuft. Es war eine ganz, ganz komische Stimmung. O-Ton Ludwig Güttler Ich habe dann in diesem Zeitraum zwischen der Probe und dem abendlichen Auftritt Christine und Sebastian Pflugbeil vom Neuen Forum aus dem Hotel Stadt Berlin angerufen, die Leitung ging, und habe sie zu mir ins Hotelzimmer gebeten und habe sie zu überzeugen versucht, dass sie sofort ein Zehn- oder Zwölf-Punkte-Programm herausgeben müßten, weil schon absehbar war, dass in Rostock jemand anders im Namen des Neuen Forums sprach als in Zwickau, die sich gar nicht kannten, und dass also eine ganz diffuse Angelegenheit entstehen würde. Sie sagten, sie wollen keine Partei sein, sie wollen das nicht, sie wollen das alles dem spontanen Lauf überlassen ? was ich sehr bedauert habe. O-Ton Michael Höft Irgendwann am Abend, ich stand fast immer nur an der Scheibe und habe rausgeguckt, denn draußen vom Nikolaiviertel näherten sich die Leute, die schrien: "Gorbi hilf!" Unten standen Ordnungsgruppen der FDJ in diesen blauen Anzügen rum, und dann sah ich, wie mehrfach Mielke unten aus dem Palast schoß und selber bis in die vorderste Reihe ging, um mit denen zu reden, zu diskutieren. Es wurde auch geschubst und geschmissen, war aber eigentlich sonst eine friedliche Atmosphäre. Und irgendwann tauchte neben mir eine Dame auf, das ist wirklich für mich der Eindruck vom 7.10.1989, hielt ein Glas in der Hand, das war die Ehefrau eines Funktionärs, den ich nicht kannte. Ich kannte überhaupt keinen. Und sagte zu ihm: Guck mal, wieviele Leute heute hier herkommen wollen, um mit uns zu feiern. Die stand da eine ganze Weile, die wurde dann ganz still. Im ersten Moment dachte die wirklich, da unten kommen die, um zu jubeln. Das hat die überhaupt nicht gerafft. O-Ton André Hermlin Jedenfalls hingen die alle an den Fenstern und guckten raus, was da unten los ist. Verunsichert, des Ernstes der Lage wohl bewusst. Von fröhlicher Feierstimmung war dort überhaupt nichts zu merken. Ich erinnere mich noch, dass ich den Wolfgang Lippert traf, und mit dem unterhielt ich mich, der war ganz verwirrt. Und ich sagte ihm: Nun ja, das ist nun wohl so langsam jetzt das Ende. O-Ton Wolfgang Lippert Mein Eindruck war dann auch schon bei den Proben, dass wir alle sehr sensibilisiert waren auf den Gorbatschow-Besuch. Gorbatschow sollte, so war es verabredet, Unter den Linden eine Rede halten. Sprecherin Wolfgang Lippert, Entertainer O-Ton Wolfgang Lippert Und auf diese Rede waren natürlich alle unendlich neugierig, weil diese leichten Bemerkungen und diese durch die Blume gesprochenen Hinweise auf Veränderungen hier aus dieser Ecke kamen. Und auf der anderen Seite eben die Arroganz, die Verbote des Sputniks zum Beispiel. Also dieses Land, was abgöttisch an den Lippen der Sowjetunion gehangen hat, wurde dann plötzlich bockig gegenüber dem großen Bruder, der ja irgendwo diese Wendung machte, zumindest auf internationalem Parkett, dank Gorbatschow. Und all diese neuen Informationen, diese Stimmungen und diese Neugierde und dieses Hoffen, eigentlich auf Öffnung, war in uns. Und mit all sovielen Zweifeln und soviel Fragezeichen im Detz ist man nicht gut auf einer Bühne, man muss sich auf seine Arbeit konzentrieren. Aber immer wieder huschten die Leute zurück und sagten: "War er schon da, hat er geredet, was hat er gesagt?" O-Ton Gorbatschow (mit Übersetzung) Ich bin sicher, dass dieses Volk selbstbestimmen wird und bestimmen wird, was in seinem eigenen Land notwendig ist. - Meinen Sie, dass die Situation jetzt in der DDR gefährlich ist? Ich denke nicht. Ich glaube, Gefahren warten nur auf jene, die nicht auf das Leben reagieren. O-Ton Wolfgang Lippert Eigentlich hatten alle erwartet, er sagt jetzt: "Hör mal zu, Kollege Honecker, pack mal deine sieben Sachen ein, war ja alles nett, aber wir machen's jetzt mal ein bisschen anders." Und so funktionierte es ja nicht, ich sag's mal so banal, lass uns uns mal öffnen und die Dinge tun, die schon längst anstehen. Musik O-Ton Wolfgang Lippert Ich weiß nur, dass ich gefühlsmäßig an diesem Abend bedrückt war. Das hört sich natürlich lächerlich an gegen andere Leute, die wirklich vielleicht sogar misshandelt oder gedemütigt worden sind in dieser Nacht. Es war kein schönes Fest, es wurde nicht etwas gefeiert, wo alle sagt, "Hey prima, dass wir das jetzt endlich feiern", sondern es war Abgesang. Musik O-Ton Dagmar Frederic Und dann kam ich in eine große Garderobe, wo alle Weiber zusammen waren, Anke Garden und ich weiß nicht mehr wer, wenigstens fünf, sechs Kolleginnen noch, Singezähne so wie ich auch. Anke war total in Tränen aufgelöst, und ich bekam eigentlich gar nicht so richtig raus aus ihr, was los war, und dann, kurz bevor sie raus musste, hat sie ihre ganze Last und ihr ganzes Leid abgeladen, indem sie mir erzählt hat, was eigentlich los war. Ich habe das überhaupt nicht gewusst, dass draußen diese Demo war, dass draußen so die Flamme schon unterm Tisch gebrannt hat. Und da sind wir natürlich alle neugierig rum an die Fenster und haben geguckt, ich habe das als sehr gruselig empfunden, weil wir 14 Tage vorher in Goslar waren und dort uns die Westfrauen gefragt haben. "Warum geht ihr zurück, da kann man doch nicht leben und wieso macht ihr keine Revolution?" Und da hat Peter Renner noch gesagt, "das geht nicht in dem Land, jeder Dritte ist bei der Stasi, wenn sich zehn zusammentreffen, man kann in dem Land keine Revolution machen" ? also so naiv waren wir alle. O-TON HONECKER-Rede (Ausschnitt) Liebe Freunde und Genossen, meine Damen und Herren des Diplomatischen Korps, liebe Gäste. Es ist mir eine große Freude, Sie anläßlich dieses festlichen Empfangs zu Ehren unseres Nationalfeiertages recht herzlich zu begrüßen. Nehmen Sie die Gewißheit mit nach Hause, dass unsere Republik auch im fünften Jahrzehnt ihrer Existenz ein bedeutender, zuverlässiger Friedensfaktor im Zentrum Europas sein wird. Ich bitte Sie, mit mir das Glas zu erheben und zu trinken. Auf die internationale Solidarität und Zusammenarbeit, auf den Frieden und das Glück aller Völker, auf den 40. Jahrestag der Deutschen Demokratischen Republik! O-Ton Heinz Quermann Ich weiß nur noch, wir waren in der Garderobe, und Dagmar Frederic guckte aus dem Fenster und sagte: "Oh Gott, wir sind umzingelt." Aus den Nebenstraßen damals, da stand so ein Haufen junger Leute, "wir sind umzingelt". "Da sagte ich: "Na, ist ja prima, da haben wir wenigstens einen schönen Abend." Sprecherin Heinz Quermann, Conferencier O-Ton Heinz Quermann Dann haben wir angefangen, um 8 war ich fertig, ich habe eigentlich nur erzählt: "Mein Gott, dass der Gorbatschow so schnell weg ist, der wollte mich doch noch begrüßen" und so auf die Tour, alle haben gelacht. Der andere Gag war eben der, der auch umjubelt wurde. Ich sagte: "Der einzige, der hier noch arbeitet, ist Mielke, die anderen sind alle weg." Da war natürlich auch großer Jubel, irgendwie war es eigentlich alles ganz unterhaltsam, aber irgendwie hatten wir alle irgendwo Angst, wie wird es denn weitergehen. Das ist ja ganz logisch und ganz klar. O-Ton Michael Höft Der am frühesten ging, war Gorbatschow, der also wirklich mit krachenden Türen aus dem Saal stürzte. O-Ton Volker Büttner Er ist ja dann auch nur bis zur Suppe geblieben und dann gegangen, der arme Axen musste ihn dann wegbringen... Musik Sprecherin Menü Zuchtwachtelbrüstchen auf Maispüree Forellenröllchen mit Dillsoße und Lachskaviar Schaumbrot von Räucherzunge mit Spargelspitzen Weißgebäck Extra starke Putensuppe mit Pistazienklößchen und Tomatenroyal Filetensemble Trianon Kalbsfilet mit Schinkenduxelles Rinderfilet mit Gemüsebukett Hühnermedaillon mit Pfirsichhälfte Madeirasoße und Kartoffelspezialitäten Dessert Surprice Verschiedene Eisspezialitäten auf Schokoladen-Marzipan-Biskuit Mokka Rotkäppchen-Sekt "Cabinet Cuvee" extra dry, Freyburg/Unstrut Rotkäppchen-Sekt "Cuvee 40" halbtrocken, Freyburg/Unstrut 1988er Weißburgunder, Saale/Unstrut 1988er Gutedel, Weißwein, Saale/Unstrut 1988er Portugieser, Saale/Unstrut, Kasoff Wodka, Wilthen, Feiner Alter Weinbrand, Wilthen Edelliköre und Spezialbiere der DDR O-Ton Michael Höft Es muss nach den Tischreden gewesen sein. Er hat noch 'ne kurze Tischrede gehalten, und dann hat er die alleine gelassen. Das war also diplomatisch der größte Faux pas, den der Honecker da erlebt hat. Der kam 'raus, stürzte 'raus, rechts und links je ein Mann, und dann waren die weg. Aber blitzartig. Also es kamen auch welche hinterher aus dem Saal, aber da war nichts mehr aufzuhalten. Er hat in dem Moment die DDR, die Führung, verlassen, ganz eindeutig. O-Ton Aktuelle Kamera: Am Abend trat Michail Gorbatschow die Heimreise an. Auf dem Flugplatz Berlin-Schönefeld wurde er von den Mitgliedern des Politbüros des ZK der SED, Hermann Axen, Günter Mittag und weiteren Persönlichkeiten verabschiedet. Dieser zweitägige Besuch hat erneut die brüderliche Gemeinschaft zwischen der DDR und der UdSSR bekräftigt. O-Ton Jürgen Walter Gorbatschow verließ die Veranstaltung ziemlich früh, und der musste durchs Foyer durchlaufen, und dann standen sie alle Spalier und applaudierten und bei Gorbatschow besonders heftig. Nicht nur die Mitwirkenden, sondern auch die, die da noch saßen. Als dann die Mitglieder des Politbüros, die das auch nicht länger aushielten, dort vorbei kamen, dann ebbte das ab. Ich erinnere mich noch an jemanden, ich kann das Gesicht mir nicht mehr vorstellen, aber die Figur als solche sehe ich noch. Da gibt es so Claqueure, und da stand einer, der ganz allein wie verrückt, also beifallheischend, die Menge ermunternd, dass alle applaudieren. Das war nicht so doll mit dem Applaus, der dann so kam. Die Leute drehten sich auch zum Teil weg. Und Schabowski kam auf mich zu und sagte den eigentlich typischen Satz: "Behalten sie Ihren intelligenten Charme." Was sagt man auf so einen Satz? Nichts. Ich sag: "Hmmm." Da wusste ich nichts zu berichten an der Stelle. Das war auch so komisch, das ist so, als ob jemand im Sterben liegt, so 'n Satz zu sagen, also die wussten schon ganz genau, was los ist. O-Ton Volker Büttner Es war zwischen der riesigen Bühne und den vielen Tischen, wo Hochwild zweiter Kategorie saß, eine Glaswand. Du merktest: Sie machen es nur für sich. Also die Nummern, die berühmten Schlagersänger-Nummern ran an den Tisch und diesen oder jenen Prominenten mal anzuzwitschern ? alles fand nicht statt, die kamen, machten ihr Ding, machten es mit den Musikern, machten es mit dem Ballett zusammen und fanden es toll, was sie machten, aber es war nicht für die Leute gedacht, und das spürte man. Musik (Jürgen Walter: Schallala-Schallali) O-Ton Jürgen Walter Als ich das Lied gesungen habe, das kriegte mit einmal eine ganz andere Dimension. Von "Schallali" angefangen (es tut nicht mehr weh), fiel mir sofort ein: Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben. Dieser damalige Satz von Gorbatschow, den er da gesagt hat. Das fiel mir ein. Oder "Clown-Sein": Clown-Sein, frag doch mal, wer von den Größen, hätt nicht gern so große Schuh. Wer denn möcht nicht sein Herz mal entblößen, schaut ernst und lachend zu. Also das sind Sätze, die ich da gesungen habe, jeder Clown braucht ein eigenes Gesicht. Es ist unglaublich. Eigene Schwächen erkennen, zeigen, dass es sie gibt. Solche Sätze, die kriegten mit einem Mal durch den Zusammenhang eine ganz andere Dimension. Musik O-Ton André Hermlin Wir spielten im Spreerestaurant, wenn ich mich richtig erinnere. Das ist kein Restaurant gewesen, sondern auch ein großer Saal. Und ich hatte mich ja immer rausgeredet auf Verträge, weswegen ich da spielen musste, um die wahren Absichten zu verbergen aus vielen Gründen. Ich wollte eine Rede halten. Und wenn ich vorher etwas gesagt hätte, man weiß nie, wie die Dinge spielen. Es hätte halt doch jemand erfahren können, und dann wären wir da nicht aufgetreten. Also habe ich meiner Band drei Minuten vorher gesagt: "Paßt auf, ich werde euch jetzt was sagen, ich werde hier eine Rede halten." Und dann bin ich also ans Mikrophon und habe gesagt: "Schönen guten Abend. Ich begrüße Sie ganz herzlich zum 40. Jahrestag der DDR hier im Palast der Republik. Aber bevor wir für Sie Swing-Musik spielen, möchte ich einige Worte an Sie richten." Und in dem Moment wurde es totenstill, vorher war noch Gemurmel. "Sie haben sicherlich aus dem Fenster gesehen, Sie haben gesehen, was da draußen vor sich geht. Und es wird sicherlich auch dem Letzten klar sein, dass es so in unserem Land nicht mehr weitergehen kann. Wir sind an einem Endpunkt angekommen, niemand kann sagen, ob die DDR überhaupt gerettet werden kann, aber wenn sie gerettet werden kann, dann nur, wenn wir spätestens morgen Früh mit radikalen Reformen anfangen in der DDR, im Sinne von Gorbatschow, also im Sinne von Perestrojka und Glasnost. Anderenfalls haben wir keine Chance. Ich wünsche Ihnen also einen schönen Abend. Feiern Sie, aber morgen spätestens müssen wir damit beginnen." So ungefähr. Und daraufhin geschah etwas sehr Merkwürdiges. Die Hälfte des Saales ungefähr applaudierte, und der Rest, fast wie auf Kommando, stand auf, verließ den Saal und kam nicht wieder. Das heißt, wir spielten den Rest des Abends vor halb leerem Saal. Später hat man mir dann gesagt, dass am Tag danach im Palast der Republik die Telefone klingelten. "Wer war dieser antisozialistische Provokateur? Wer hat diese Rede gehalten? Dem muss man doch sofort die Spielerlaubnis entziehen. Wer war das?" Und daraufhin sagte man dem: "Das war der Sohn von Hermlin." Daraufhin am anderen Ende: "Na, dann ist ja alles klar." Dann wurde aufgeknallt. O-Ton Volker Büttner Wir saßen auf einer etwas erhöht gebauten Kanzel, wo Ton, Licht und Regie saßen, um den Überblick zu behalten, und ein relativ sanfter Tonmeister, der an sich wirklich ohne jede Aggression ist... - Gelegentlich wurde man auch selber angekarrt, das sei zu laut oder so. Und da kam zu allem Überfluss Karl-Eduard von Schnitzler und beschwerte sich über die Lautstärke und überhaupt. Und das "Überhaupt" war, er hatte das Gefühl, irgendwas stimmt hier nicht, irgendwie wollen die uns nicht. Und als der sich da beschwerte, kriegte er dermaßen einen Rüffel von dem Tonmeister, dass er hier nicht die Klappe aufreißen soll, er solle froh sein, dass überhaupt was stattfindet. Musik (Frank Schöbel ? Wir brauchen keine Lügen mehr) O-Ton Frank Schöbel Ich durfte nicht im Großen Saal singen, weil ich ja "Wir brauchen keine Lügen mehr" im Repertoire hatte und die Resolution mit unterzeichnet hatte und wurde verbannt in den 4. Stock und sang dann abends, komischerweise habe ich auch nichts von draußen mitgekriegt, warum, weiß ich nicht. Wahrscheinlich lag unser Auftritt gerade so, dass das nicht möglich war für mich. Ein Teil hat mich freundlich angeguckt, ein anderer Teil relativ reserviert. Und nachdem ich "Wir brauen keine Lügen mehr" gesungen hatte, gab's 'ne heftige Diskussion, es kam ein Oberst oder sowas in der Richtung, der war ja nicht in Uniform da, der stellte sich vor und sagte, wie ich dazu komme, sowas zu singen, das sei doch unmöglich, und fing an, mit mir zu diskutieren. Wieder andere hörten einfach nur zu, nickten so versteckt, mit den Augen mehr, alles andere war ja schon zuviel, weil die waren ja eingeladen im Hohen Haus, und keiner wußte, wie geht das Stück aus, und keiner wollte auch nur zuviel weggeben. Also es war eine sehr prekäre Situation. Musik O-Ton Andrè Hermlin Später am Abend, es muss so gegen gegen zehn oder elf gewesen sein, ist es mir gelungen, in den Großen Saal zu kommen, der ja eigentlich hermetisch abgeriegelt war. Da standen noch Staatssicherheitsleute direkt an den jeweiligen Türen, aber es hielt mich niemand auf, das ist natürlich absurd. Ich bin reingekommen, es hat mich keiner aufgehalten. Und ziemlich im Zentrum stand dieser große Tisch, an dem die Staatsführer saßen. Aber sie saßen da gar nicht mehr. An diesem großen Tisch nach meiner Erinnerung saß überhaupt nur ein einziger Mann, nämlich Erich Honecker. Er guckte etwas versonnen so Richtung Bühne, wo irgend jemand sang, ich weiß gar nicht mehr, wer das war. Und er war ganz allein an diesem Tisch. Ich hatte leider keinen Fotoapparat dabei, das wäre ein historisches Foto geworden, wenn man das fotografiert hätte. O-Ton Dagmar Frederic Gorbatschow war längst weg zu der Zeit, und dann haben die Verantwortlichen oben gesagt, wir sollen uns über das Büfett hermachen, so ein gutes Büfett hat's noch nie gegeben im Palast der Republik, das war denn so ein bißchen Titanic-Stimmung. In jeder Etage spielte irgendeine Band, nirgendwo war Stimmung, keiner tanzte, keiner hat applaudiert, wir sind wirklich da rum wie die überflüssigsten Menschen an diesem Abend, und dann hinterher haben wir noch sehr lange zusammengesessen und haben uns alle angerufen, die mir nahestanden und auch umgekehrt, Quermann und so, wie wir gegenseitig nach Hause gekommen sind. O-Ton Heinz Quermann Ich war heilfroh, dass ich dann weg war, ich war dann hier in meinem Karolinenhof, und hier war noch Friede, Freude, Eierkuchen, hier hatte noch keiner eine Ahnung, dass irgendetwas ist. Der mir gegenüber wohnende Stasi-Onkel, den habe ich gleich rausgeklingelt. Ich sage: "Weißt du nicht, was los ist?" - "Ne, wieso, was soll denn los sein?" - "Fahr mal in die Stadt, da wirste gebraucht." O-Ton Anke Lautenbach Ja, und dann bin ich in den Prenzlauer Berg zurück, das war dann schon eine Situation, wo ich richtig Angst hatte. Da war alles abgesperrt. Ich hatte natürlich in meinem Personalausweis nicht stehen, dass ich da wohne, logisch. Und die wollten mich nicht durchlassen. Da habe ich gesagt: "Also, es tut mir leid, ich wohn da jetzt, ich weiß nicht, wo ich hin soll." Jeder weiß ja noch die Situation mit Hotel, das war nicht so. Schließlich und endlich bin ich dann einfach durch so eine Lücke durch und bin dann in meine Toreinfahrt gerannt. Und da kam jemand hinter mir her, ich glaube, ich bin noch nie in meinem Leben so schnell im Dunkeln vier Treppen hoch gelaufen, zitternd den Schlüssel ins Schloß, aufgeschlossen, zugemacht, ich traute mich nicht, Licht anzumachen. Ich hörte auch, wie im Flur rauf und runter gelaufen wurde, wie sie mich gesucht haben. Das war richtig Angst. Als ich am nächsten Tag hörte, wie viele sie da verhaftet haben, wie viele sie einfach tagelang eingesperrt haben, verhört haben, Mütter, wo die Kinder plötzlich allein zu Hause waren ? da habe ich gedacht, da habe ich ein großes Glück gehabt. O-Ton Volker Büttner Stunden später rief Jürgen Walter an, der im Prenzlauer Berg wohnte. Der ist richtig in das Getümmel geraten. Und der war am Telefon und weinte, weil er das überhaupt nicht mehr bewältigen konnte, was da vor sich ging. Er hatte sich zwar mit großer Mühe in seine Wohnung in der Dunckerstraße gerettet, aber er musste ja durch die ganzen Zentren der Auseinandersetzung. Es war wohl wieder Ruhe am Palast der Republik. Dass das nun sich anderswo fortsetzte, war zwar zu vermuten, aber dass es mit dieser Heftigkeit stattgefunden hatte, wussten wir nicht. Atmo (Schreie, Demostrant:) Wir sind hier alle nur, weil wir friedlich demonstrieren, wir wollen nichts Schlechtes ... GORBI-Rufe O-Ton Jürgen Walter Dann haben sich da auch die Polizei und Leute geprügelt auf der Schönhauser, wo ich da losgesaust bin, Hilfe rufen, damit die Leute nicht geprügelt werden. Und dann merkte ich: das i s t die Polizei, ich konnte es gar nicht fassen, dass das die Polizei war. Ich meine, es war auch ein bisschen naiv von mir. Warum sollte sie das nicht sein. O-TON ERKLÄRUNG DES MdI ZU POLIZEIEINSÄTZEN (Ausschnitt) Wahr ist, dass Randalierer aufgeputschte Störer und kriminelle Elemente staatsfeindliche Parolen riefen und die im Ordnungseinsatz befindlichen Volkspolizisten tätlich angriffen. Tatsache ist, dass die Volkspolizei äußerst zurückhaltend und erst, nachdem sie angegriffen wurde, gegen Unruhestifter unter Anwendung polizeilicher Hilfsmittel vorging und nicht, wie westliche Medien behaupten, blindlings und rücksichtslos auf unbeteiligte Bürger einschlug. Was westliche Medien auch immer gegen die Deutsche Volkspolizei an Verleumdungen übelster Art vorbringen, wird diese nicht daran hindern, den Dienst zum Schutz der Bürger für den sozialistischen Staat jederzeit standhaft zu erfüllen. O-Ton André Hermlin Die Demonstranten waren ja dann abgezogen, das hatten wir noch beobachtet, Richtung Prenzlauer Berg, und als ich dann losfahren wollte, stellte ich fest, dass die ganze Stadt praktisch im Militärzustand war. So was hatte ich vorher nie in der DDR gesehen, überall Mannschaftswagen der Polizei, und ich bin dann zur Schönhauser Allee gefahren auf Umwegen, direkt zum Bahnhof dort, da habe ich dann zum ersten Mal auch diese Wagen gesehen mit diesen Gittern vorne und auch, was ich nie vorher gesehen hatte, Wasserwerfer. Das kannte man nur aus Westberlin. Ich weiß noch, es war sehr ulkig, ich bin dann an dem Abend fast noch verhaftet worden, weil ich in eine Art Falle hinein gelaufen bin in der Wichertstraße. Es gab so Diskussionen an der Ecke. Und die Diskussionen wurden offenkundig geführt zwischen Demonstranten und Leuten der Staatssicherheit. Und plötzlich brachen, aber das war offenkundig eine Ablenkung, plötzlich brachen von hinten Einsatzkräfte durch, die hatten keine Schilder, die hatten nur Knüppel, hatten wie eine Art Polizeihelm, wie Motorradhelm, auf dem Kopf und eine Kampfuniform. Und die haben mich dann auch so ein bisschen abgeriegelt, und ich bin zwischen zweien durchgeratscht. Die haben nach mir gegriffen, aber sie haben mich nicht gekriegt, wobei ich mir später immer gesagt habe, ich hätte mich eigentlich verhaften lassen sollen, aber das weiß man ja immer erst hinterher, da ist man ja viel schlauer, weil es wäre sicher eine sehr interessante Erfahrung gewesen, die vielleicht auch mein Bild ein bisschen verändert hätte. Aber ich bin da natürlich auch gerannt und hatte Angst und wollte natürlich nicht verhaftet werden. O-Ton Ludwig Güttler Ich bin dann an dem Abend gleich nach Westberlin gefahren, um am nächsten Tage das Konzert mit dem Leipziger Bachkollegium vorzubereiten. O-Ton Anke Lautenbach Es war einfach nur eine gruselige und unfassbare Atmosphäre für mich. O-Ton Jürgen Walter Ich war also psychisch richtig fertig. Ich hab mir auch geschworen: Das machst du nie wieder. Nie wieder. Atmo/Musik Sprecherin Tanz auf dem VEB TITANIC Der 40. Jahrestag der DDR im Palast der Republik Ein Feature von Jürgen Balitzki und Marcus Heumann Sie hörten eine Produktion des Deutschlandfunks. Es sprachen: Volker Büttner Dagmar Frederic Michail Gorbatschow Ludwig Güttler André Hermlin Michael Höft Horst Hano Erich Honecker Anke Lautenbach Wolfgang Lippert Doris Plenert Frank Schöbel Heinz Quermann Jürgen Walter Ton und Technik: Karl-Heinz Stevens, Beate Braun und Dagmar Schondey Redaktion: Marcus Heumann Musik O-Ton Dagmar Frederic Aber wenn einer behauptet, dass er an diesem Abend schon gewusst hat, dass wir vier Wochen später eine offene Mauer haben, dann muss ich einfach mal sagen: der lügt. 4