Deutschlandfunk GESICHTER EUROPAS Samstag, 14. Mai 2016 / 11:05 - 12:00 Uhr Weit über den Suppentellerrand hinaus - Geschichten aus französischen Küchen Mit Reportagen von Suzanne Krause Redaktion und Moderation: Norbert Weber Musikauswahl und Regie: Babette Michel Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. (c) - unkorrigiertes Exemplar - Opening: (Stimmen) Musik Was ich mit meinen Schulen erreichen möchte, ist, Jungen und Älteren zu helfen, in ihrem Alltag eine gewisse Erfüllung zu finden. Denn wer ewig in Frustration stecken bleibt, hat der Gesellschaft keine positive Energie zu vermitteln. Mod Ein 2-Sterne-Koch über seine Kochschulen für sozial Benachteiligte. Und eine Jungunternehmerin, die Touristen in ihrer Wohnung bekocht. Die Essenskultur interessiert mich ungemein. Und VizEat hat da fast eine kleine Revolution bewirkt. Ich finde es super, dass Privatleute nun ihre Tür öffnen, um Wildfremde zum Essen zu empfangen. Das gibt mir Gelegenheit Touristen wirklich Einblick in das hiesige Leben zu erschaffen. Mod Gesichter Europas. Weit über den Suppentellerrand hinaus - Geschichten aus französischen Küchen. Eine Sendung mit Reportagen von Suzanne Krause. Am Mikrofon begrüßt Sie Norbert Weber. Musik Mod Das Essen spielt eine große Rolle im Leben der Franzosen und hat in Frankreich eine lange Tradition. Schon seit dem 16. Jahrhundert gilt die cuisine francaise als die einflussreichste Landesküche Europas. Sie ist untrennbar mit der französischen Kultur verbunden. 2010 wurde sie - als bisher einzige Landesküche - von der UNESCO als immaterielles Kulturgut zum Weltkulturerbe ernannt. Die französische Küche, die sowohl für ihre Qualität als auch für ihre Vielseitigkeit bekannt ist, steht für Genuss, für Geselligkeit und für ein eigenes Ritual, das man mit anderen teilt, und für das man sich Zeit nimmt. Atmo Küche Allein in Paris arbeiten 87 Sterne-Köche. Oberbürgermeisterin Anne Hidalgo hat ihnen kürzlich die höchste Auszeichnung an den Kittel geheftet. Sie, so Hidalgo, verkörpern die Seele der französischen Hauptstadt - mit handwerklichem Talent und unablässigem Einfallsreichtum. Und sie engagieren sich: gegen Lebensmittelverschwendung zum Beispiel, für den Erhalt familiärer Landwirtschaft oder für soziale Anliegen. Paradebeispiel und Vorbild für viele ist der 2-Sterne-Koch Thierry Marx. Vor vier Jahren eröffnete er in Paris eine Kochschule für sozial Benachteiligte: Jugendliche ohne Schulabschluss, Langzeitarbeitslose, Haftentlassene mit Bewährungsauflage. Sie residiert im 20. Arrondissement, einem Kleine-Leute-Viertel am östlichen Stadtrand. Rep 1 ATMO Küche AUT Um den Edelstahl-Block mit mehreren Kochplatten scharen sich zwei Männer und sechs Frauen, zwischen Mitte Zwanzig und Ende Vierzig. Alle tragen weiße Kittel, schwarze Schürzen und hohe Kochmützen. Mittendrin steht Chefkoch Aurélien Haruntel und gibt das heutige Programm vor: ein französischer Klassiker - Canard à l'Orange. Haruntel, hager, rasierter Schädel und Lachfältchen in den Augenwinkeln, lässt keinen Zweifel daran, woran sein Herz hängt. Die Ente wird am Tisch vor dem Gast tranchiert und dekoriert. Das ist das Markenzeichen traditioneller französischer Restaurants. Diese Sitte gehört wirklich ein bisschen zur alten Schule. Aber ich denke, all das wird wieder aufkommen, denn es handelt sich um eine klassische französische Speise. ATMO Küche AUT Haruntels Eltern betrieben früher ein kleines Lokal in der Provinz mit klassischer Menükarte. Alle Speisen wurden frisch zubereitet. Heute würden doch immer mehr Gaststätten zu vorgefertigter Industrieware greifen, klagt der Küchenchef mit angewidertem Blick. Behutsam schiebt ein Schüler den gusseisernen Bräter in den Ofen. Gleich geht es weiter mit Navarin, Lammragout, was auch zu den Klassikern der französischen Küche zählt. Erfreut reibt sich Patrick, Ende 20 und afrikanischer Abstammung, die Hände. Ich finde die Ausbildung super! Wir sind voll drin in der Arbeit. Der Lehrer steht uns zur Seite, aber wir machen alles selber. ATMO Küche AUT Der Küchenchef teilt zackig Befehle aus: Fleisch anbraten! Mit kaltem Wasser ablöschen! Zerdrückten Knoblauch und Gewürzbouquet zugeben! Es klingt wie auf dem Kasernenhof. Patrick grinst: Das sei der ganz normale Ton in einer Küchenbrigade. Ich habe schon immer in der Küche gearbeitet. Als Küchenhilfe. Mit der Ausbildung will ich mir nun die Grundlagen der französischen Küche aneignen, um beruflich weiter zu kommen. Der Schulunterricht dauert zwei Monate, danach geht's für einen Monat Praktikum in ein Restaurant. Schneller kann ich gar nicht in den Job kommen. Ich wollte schon immer Koch werden. Ich esse gern, deswegen. (Lachen). ATMO weiter AUT Die Ausbildung ist kostenlos. Kaum einer hier hat einen richtigen Schulabschluss. Mancher seit Jahren keinen Job. Grundkenntnisse werden hier keine verlangt, dafür aber Motivation. Viel Motivation. Um in nur drei Monaten als Koch einsatzfähig zu sein, absolvieren die Schüler einen Crashkurs. Wer einmal schwänzt, der fliegt. Doch neun von zehn Absolventen der Kochschule finden sofort einen Job. Zugang zur Karriereleiter. Thierry Marx formuliert es anders: Seine Schule helfe sozial Benachteiligten, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen. Freie Menschen zu werden. Diesbezüglich gilt Marx vielen als leuchtendes Vorbild. Seine Großeltern, Juden, wanderten aus Polen ein. Die Kindheit verbrachte er in Menilmontant, einem traditionelles Pariser Armenviertel. Die Kochschule, die er 2012 eröffnete, liegt zwei Ecken weiter. Als Wandergeselle absolvierte er eine Konditor-Ausbildung, ging dann als Fallschirmspringer zur Armee, diente als Blauhelm-Soldat im Libanon-Krieg und verdingte sich dann nach seiner Heimkehr als Wachmann und als Lieferfahrer. Bis er dann eines Tages seine Liebe zur Küche neu entdeckte. Heute führt Thierry Marx die Restaurants in einem 5-Sterne-Hotel, im Zentrum von Paris. ATMO Hotelhalle AUT Der Marmorboden im hohen Hotel-Foyer ist auf Glanz poliert, im überdachten Innenhof dahinter wuchert viel Grün. Es ähnelt mehr einem Dschungel als einem Garten. Mit federndem Schritt biegt Thierry Marx um die Ecke, ein durchtrainiert wirkender Mittfünfziger mit Vollglatze in Kochkluft. Er hat sich für ein Viertelstündchen aus der Küche schleichen können; sein Nobelrestaurant, zwei Michelin-Sterne, hat er 'Sur Mesure' getauft, was übersetzt 'Maßgeschneidert' heißt. Der Starkoch lässt sich in einen tiefen Ledersessel sinken und bestellt einen Café beim herbeigeeilten Kellner. Marx blickt hellwach um sich: Der Weg war weit vom armen Menilmontant bis zur Luxusmeile der Rue Saint-Honoré. Es entspricht nicht meinem Naturell, mir zu sagen: Dir geht's gut, du bist aus dem Glasscherbenviertel herausgekommen, alles ist in Butter. Ich bin da rausgekommen, weil ich damals, in den siebziger, achtziger Jahren, dort auf Erwachsene gestoßen bin, die sich noch erfüllt fühlten. Darunter waren Gewerkschaftsführer, Fabrikarbeiter, Soldaten, Beamte; sie hatten zwar ganz andere Vorstellungen als ich, aber in der Endzeit des Wirtschaftswunders führten sie ein sozial erfülltes Leben. Danach gings damit bergab. Was ich mit meinen Schulen erreichen möchte, ist, Jungen und Älteren zu helfen, in ihrem Alltag eine gewisse Erfüllung zu finden. Denn wer ewig in Frustration stecken bleibt, hat der Gesellschaft keine positive Energie zu vermitteln. ATMO Halle AUT Die Schule nahe Menilmontant wurde 2013 vergrößert. Sie bildet nun neben Köchen auch Bäcker und Bedienungspersonal aus. In mehreren französischen Städten entstanden Ableger - betreut von Kollegen und Freunden des Sternekochs. Allesamt mitgerissen von Marxs Idee, dass auch Köche als Motor für gesellschaftliche Veränderung agieren können. Kerzengerade hält sich Thierry Marx und wirkt doch mönchhaft entspannt. Wären da nicht die Finger, die unablässig das Brillengestell in seiner Hand kneten. Als ich meine Schule als soziale und solidarische Einrichtung eröffnete, fragten mich viele, warum ich dies tue. Und ich hatte keine Antwort darauf. Bis mir eines Tages ein Unternehmenschef, der das Projekt finanziell unterstützt, sagte: 'Weißt du, da geht es um Umweltschutz, das ist ebenso notwendig, wie die Gewässer und den Wald zu schützen!" ATMO Halle AUT Thierry Marx nippt kurz an seinem Kaffee. Ökologisch handeln, das beginnt für ihn beim Menschen. Mit den Sozialbau-Ghettos geht es seit vierzig Jahren nur bergab. Die Menschen dort sind frustriert und haben keinerlei Zugang zu einer anspruchsvollen Ausbildung, weil man ihnen dies einfach nicht anbietet. Wenn wir das weiter zulassen, wird die Lage explodieren. Es reicht. Die Leute müssen wieder einen Sinn in ihrem Leben finden. Dafür müssen sie die richtige Ausbildung, die richtige Bildung erhalten. ATMO Handy AUT Per Handy meldet sich die Assistentin: der Chefkoch wird in der Küche gebraucht. Thierry Marx eilt zurück an seinen Arbeitsplatz. Musik Mod Der weltbekannte französische Meister-Koch Paul Bocuse verglich das Kochen einmal mit den Vorbereitungen zup einer Opernaufführung. Ganz so festlich geht es in der Realität allerdings nicht zup in den Küchen feiner Restaurants. In ihrem jüngsten Werk "Un chemin de tables" schildert die mehrfach ausgezeichnete französische Schriftstellerin Maylis de Kerangal die Geschichte von Mauro, einem Studenten aus gutem Haus, der schon immer gern kochte und sich, obgleich Autodidakt, in der Pariser Gastronomie-Szene einen Platz erkämpft. Die Schilderung von Mauros Alltag ist eine Mischung aus Fiktion und Dokumentation. Mit der Geschichte von Mauro taucht de Kerangal tief in den Koch-Alltag ein. Musik Lit 1 Lit 1 Mauro ist also 10 Jahre alt, als er beginnt Kuchen zu backen. Allabendlich geht er in die Küche, sobald er den Schulranzen in eine Ecke seines Zimmers geschmissen hat. Zu dieser Stunde ist er allein zuhause, Herr im Haus. Er erforscht den Inhalt der Schränke, schaut, was im Kühlschrank zu finden ist, öffnet dann das Kochbuch und wählt ein Rezept aus, das den Zutaten entspricht, über die er verfügt. Und die er so auf dem Tisch platziert, dass er sie gut sehen kann. Dann liest er das Rezept durch und stellt sich vor dem inneren Auge den Arbeitsprozess vor. Bald gießt er ein, schlägt auf, wiegt ab, rührt um, zermahlt, erhitzt, misst ab, füllt um, knetet, schneidet, schält, kocht, vermengt. Und die Gesten eines Erwachsenen reproduzierend, bereitet er den Seinen das Essen zu. Denn von vornherein beruft das Kochen die Anderen herauf, steckt die Präsenz der Anderen im Kuchen wie der Geist in Aladins Lampe. Musik hoch Mod Nahrungsmittel sind ein kostbares Gut. Dennoch werden - vor allem in den reichen Länder - täglich tonnenweise noch essbare Lebensmittel einfach weggeworfen oder vernichtet. In Deutschland sind es 800 Kiliogramm pro Jahr und Haushalt. Auch in Frankreich ist das so. Jeder Franzose entsorgt jährlich im Durchschnitt 20 bis 30 Kilogramm Lebensmittel, was einem Wert von 12 bis 20 Milliarden Euro pro Jahr entspricht. Damit soll nun Schluss sein, denn die sozialistische Regierung in Paris hat sich mittels eines neuen Gesetzes zum Ziel gesetzt, die Lebensmittelverschwendung bis 2025 zu halbieren. Das beschlossene Maßnahmenbündel sieht vor, dass die Händler jegliche Verschwendung vermeiden müssen: Unverkaufte Ware soll gespendet, als Tiernahrung genutzt oder als Kompost für die Landwirtschaft verwendet werden. Supermärkte mit einer Fläche von mehr als 400 Quadratmetern wurden verpflichtet ein Abkommen mit einer karitativen Organisation für Lebensmittelspenden zu schließen. ATMO Markt Umwelt- und Ressourcenschonend arbeitet auch Pierre Sang in seinen beiden Pariser Restaurants. Sie befinden sich Wand an Wand mitten im 10. Arrondissement. Seine Inspirationen findet er nicht nur in der klassischen französischen Küche, sondern auch in asiatischen Traditionen, genauer: koreanischen, denn er ist gebürtiger Koreaner. Sang zelebriert Fusion-food, mit ausgeprägtem Öko-Bewusstsein. Rep. 2 ATMO Spargelstand AUT Für einen spontanen Abstecher auf den nahegelegenen Wochenmarkt hat Pierre Sang nur schnell eine Windjacke über den schwarzen Küchenkittel gezogen. Nun steht der großgewachsene stämmige Mittdreißiger mit dem 5-Tage-Bart vor einem Stand und ordert Spargel und Nüsse. Eine Handvoll reiche völlig, ruft Sang dem Händler zu: Das gehört zu einem nachhaltigen Konsum dazu: dass man nur soviel einkauft, wie man gerade braucht! So wird nichts verschwendet. ATMO Markt AUT Solche Tipps hat Pierre Sang zuhauf parat. Vor einigen Monaten hat der Küchenchef bei einer Veranstaltung zur Kreislaufwirtschaft demonstriert, was sich aus Resten alles zaubern lässt: wenn er Gemüse schält, frittiert er die Haut zu Chips. Mit Gemüsesamen verfeinert er Saucen. Bei Sang wird alles verwertet, was nur irgend möglich ist. Er kratzt sich kurz am Hinterkopf. In Frankreich gibt es den Verein Disco Soupe, der gegen Lebensmittelverschwendung vorgeht. Da sammeln Freiwillige vor Marktschluss unverkäufliches Gemüse ein und kochen daraus eine Suppe für jedermann. Ähnliche Aktionen habe ich schon vor Urzeiten mit meinen Eltern gemacht. ATMO Markt AUT Mit seinen französischen Eltern. Denn als Pierre Sang sieben Jahre alt war, gaben seine leiblichen Eltern ihn zur Adoption frei - ihnen fehlten die Mittel, das Kind zu ernähren. So kam Pierre aus Korea in die ziemlich abgelegene Auvergne, im tiefen Südosten Frankreichs. Seine Adoptiveltern gaben ihm eine umfassende Erziehung, weckten seine Liebe zur Natur, zu traditionellen Werten. ATMO Käseladen AUT Auf dem Heimweg macht der Chefkoch noch Halt bei einem Käseladen. Die Besitzerin Michelle beliefert sein Restaurant, das direkt gegenüber liegt, mit Butter und Käse. Der Franko-Koreaner schnuppert am Cantal. Er erinnert sich an seine Anfänge in der neuen Heimat. Um Ihnen meine Berufswahl zu erklären: Als ich als Adoptivkind in die Auvergne kam, sprach ich kein einziges Wort Französisch. Sobald wir jedoch alle am Esstisch saßen, gelang es uns, miteinander zu kommunizieren. Ich habe beim Essen Grimassen geschnitten, gelächelt, um mitzuteilen, wie das fremde Essen mir schmeckt. Und auch ohne Worte haben wir in diesen Momenten viel miteinander teilen können. ATMO Restaurant AUT Sangs Restaurant ist winzig: 15 Sitzplätze an der langen hohen Bar, auf deren Rückseite die Köche hantieren. Die polierten Stahlplatten an den Wänden versprühen industriellen Charme. Eine Karte sucht der Gast vergeblich. Wenn der Kellner die Bestellung aufnimmt, fragt er lediglich: Haben Sie irgendwelche Allergien, Unverträglichkeiten? Gibt es etwas, was Sie nicht essen? ATMO weiter AUT Was Sascha Cohen, der Kellner, dann aufträgt, ist meist ein kulinarischer Überraschungscoup. Die Vorspeise besteht heute aus zarten Spargel-Stängelchen, weißlichen Kügelchen, einem Klecks brauner Sauce und drei Crevetten. Aber nein, korrigiert Sascha Cohen, als der Teller leer, quasi abgeleckt ist: Es sind Gambas, die 24 Stunden lang in Sojasauce und Gewürzen mariniert wurden. Die Sauce besteht aus Bananen und schwarzen Qualitätsoliven aus Griechenland. Der Spargel wird begleitet von Quinoa und Misona, also vergorenem Soja-Teig sowie Silberzwiebelchen. Die werden mindestens 24 Stunden in Reis-Essig mit einer Prise Zucker eingelegt - je länger, desto feiner der Geschmack. AUT Für seine Zutaten deckt sich Pierre Sang am liebsten bei den Händlern in der Nachbarschaft ein: die Rue Oberkampf zählt vier Bäcker, zwei Fischhändler, einen Fleischer, einen Obst- und Gemüseladen und das Käsegeschäft von Michelle. Der Jungchef fühlt sich als Partner der kleinen Einzelhändler. Und Sang träumt von einer noch lokaleren Versorgung für seine Küche. Er weist den Weg hinaus auf die Straße. Gegenüber steht ein älterer niedriger Bau, im Erdgeschoss residiert ein Supermarkt. Der Chefkoch deutet mit ausgestrecktem Zeigefinger auf das dortige Flachdach. Dies sei der richtige Ort für einen urbanen Gemüsegarten, sagt er. Während meiner Ausbildung war ich auch bei einem flämischen Sterne-Koch. Der schickte uns in seinen Nutzgarten neben dem Restaurant, um frisches Gemüse zu holen. Die Kunden staunten nicht schlecht. Das war vor 20 Jahren. Damals hielt ich ihn für verrückt. Heute träume ich davon, es ihm gleich zu tun. ATMO Restaurant AUT Zurück an der Essbar, klappt Pierre Sang einen großformatigen Band auf. Griffig in Wort, Bild und Zahlenkolonnen aufgemacht, resümiert das Werk seinen aktuellen Herzenswunsch. Ein Ort, wo Essbares angepflanzt, zu Speisen verarbeitet und feilgeboten wird. Sei es direkt auf dem Restaurant-Teller oder an der Ladentheke. Alles unter demselben Öko-Dach. Begeistert erzählt der Koch von der geplanten Experimentierstation und der Recycling-Abteilung für die Reste. Ein Projekt ganz im Zeitgeist, denn die Stadtverwaltung will in Paris 25 Hektar Grünfläche für urbane Gemüsegärten anlegen. Pierre Sang hebt seine Kaffeetasse wie zum Prost: Dieser Ort solle offen sein für alle, die auf nachhaltige Entwicklung, neueste grüne Energie-Technologie und traditionell erprobtes Wissen rund um Essbares setzen. Ein Ort, dessen Geist auf die Nachbarschaft abstrahlt. Zum Gemeinwohl. Sang nickt zufrieden mit dem Kopf und blättert gedankenverloren in dem Band. Musik MUSIK Lit 2 LIT 2 Eines Morgens, mitten in der Arbeitsschicht in der Restaurantküche, fliegt Mauro ein Metalllöffel voll ins Gesicht . Er hatte die falsche Löffelgröße gewählt. Der Stoß überrascht ihn. Er schreit kurz auf, schwankt ; seine Nase blutet ; sein Blick streift rundum. Die Anderen arbeiten still vor sich hin. Kein Blick kreuzt den seinen. Von seinem Platz aus brüllt der Chef ihn an, er solle sich jetzt bloss nicht aufspielen, sondern sofort mit seiner Arbeit weitermachen wie befohlen. Das sei doch wirklich nicht zu schwierig. Mauro entkrampft seinen Kiefer, lässt den Kartoffelschäler fallen, putzt sich die Nase mit dem Handrücken ab, wischt sich die Handflächen in Brusthöhe am Kittel ab, schnappt dann seine Messer, säubert sie sorgfältig, steckt sie in ihr Futteral, knöpft seinen Arbeitskittel auf, während um ihn herum einige nun langsamer machen, ihm von unten Blicke zuwerfen, aber ohne aufzumucken, ohne mit der Arbeit innezuhalten. Dann greift er ganz ruhig zu seiner Messertasche und durchquert die Küche Richtung Tür, geht am Chef vorbei, der ihm nun den Rücken zukehrt und weitermacht, als ob er nichts gesehen habe, als ob er nichts sähe. Während Mauro in dem Moment, in dem er den Raum verlässt, mit einer Hand beiläufig über eine Arbeitsfläche wischt und dabei eine große Edelstahlschüssel mitreisst, die scheppernd auf dem Boden landet, genau dann, als die Tür hinter ihm zufällt. Musik hoch Mod Die schweren und stabilen Haustüren, fast überall mit elektronischen Schlössern gesichert, also Zahlenkombinationen, sprechen eine deutliche Sprache: Pariser Wohnungen sind, mehr denn andernorts, privates Terrain. Ein Rückzugsort mit sehr beschränktem Zutritt für jene, die nicht direkt zur Familie oder zum engsten Freundeskreis gehören. Allerdings: Die 2.0-Wirtschaft, also neue Internet-Dienste, haben in den letzten Jahren diesbezüglich einiges verändert. Ausgelöst wurde das hauptsächlich von dem amerikanischen 'Dienstleister' AirBnB: Privatleute vermieten ihre Wohnung an Touristen. Paris steht diesbezüglich weltweit an der Spitze. Hier sind Angebot und Nachfrage am größten. VizEat ist gewissermaßen die französische Antwort auf AirBnB - Privatleute laden zum selbst gekochten Essen in ihre Wohnung. Social dining nennt sich das. Seit knapp drei Jahren sorgen VizEat und ähnliche Webdienste dafür, dass die Türen in Paris - oder auch andernorts - für völlig Fremde aufgehen. Für die Seine-Metropole ist das geradezu eine kulturelle Revolution. ATMO Straße 17.000 Gastgeber in 100 Ländern zählt VizEat zurzeit. Letztes Jahr waren es lediglich 2.000. Seit einem guten Jahr bekocht auch Sophie Burgarella immer mal wieder Unbekannte in ihrer Wohnung in Paris. Ein Mittagsmenü kostet bei ihr 23 Euro - 20 erhält die Köchin, drei Euro sind Vermittlungsgebühr. Gerade ist sie unterwegs, um die heutigen Gäste an der Metrostation abzuholen. Rep 3 ATMO Begrüßung AUT Zielstrebig und mit ausgestreckter Hand steuert Sophie Burgarella auf zwei Personen am Métro-Ausgang zu. Aus deren etwas verlorenem Blick hat die junge Frau geschlossen, dass es sich wohl um ihre Gäste handelt: Deborah Sansom, eine schüchtern wirkende Endsechzigern und ihr Sohn Anoush. Die beiden Australier leisten sich drei Wochen Frankreich-Urlaub. Sie haben ein Mittagessen bei Sophie Burgarella gebucht, um voll ins Pariser Leben einzutauchen. Da sind sie genau an die Richtige geraten. Die Mittdreißigerin, mittelgroß, sportliche Figur, graues Sweatshirt, schwarze Jeans, Turnschuhe, die blonden Haare am Hinterkopf hoch gezwirbelt, nimmt sie gleich zu ihrem Bäcker mit. Der residiert in einem Eckladen nahe der Place Félix-Eboué im 12. Arrondissement, im Pariser Osten. Das Viertel ist bürgerlich, die Bevölkerung buntgemischt. Bis auf die Straße hinaus duftet es aus der liebevoll eingerichteten Bäckerei nach warmen Croissants und frischer Baguette. Drinnen stellt die junge Frau dem Ladenpersonal vergnügt ihre Gäste vor. Dies ist die beste Bäckerei im Viertel. Hier holen wir das Brot für unser Mittagessen. AUT Nach kurzem Plausch greift die junge Frau die knusprigen Baguettes und macht sich mit ihren Gästen auf den Weg zur Wohnung. Draußen trifft Sophie Burgarella einen Bekannten, dem sie gleich mit strahlendem Blick von ihrer Rolle als Gastgeberin erzählt. Die Leidenschaft fürs Kochen wurde mir sozusagen in die Wiege gelegt. Meine Großeltern haben die Tradition der großen Familienessen hochgehalten. Wir waren vier Kinder bei uns zuhause. Allabendlich saßen wir alle lange beim Essen zusammen. Außerdem stamme ich ja aus Lyon, der Gastronomie-Hauptstadt. Kurzum: die Essenskultur interessiert mich ungemein. Und VizEat hat da fast eine kleine Revolution bewirkt: ich finde es super, dass Privatleute nun ihre Tür öffnen, um Wildfremde zum Essen zu empfangen. Das gibt mir Gelegenheit, Touristen wirklich Einblick in das hiesige Leben zu verschaffen. ATMO Wohnung AUT Fröhlich bittet die Wahlpariserin ihre Gäste in die Wohnung. Ein schmaler Flur, an dessen Ende ein winziges Büro, links davon das Wohnzimmer, das gerade mal Platz für Sofa, Bücherregal und Esstisch für vier Personen bietet. Es ist alles ziemlich klein hier, aber für Pariser Verhältnisse okay. Hier ist die Küche. ATMO weiter AUT Sophie Burgarella serviert den Apéritif in der Sofaecke und eilt in die Küche. Als Vorspeise gibt es einen gemischten Salat mit Ruccola und Pimpinelle, gerösteten Kirschtomaten und einigen Stangen grüner Spargel. ATMO Ofen Die junge Köchin holt die Hauptspeise aus dem Ofen, eine salzige Gemüsetorte. Über den Küchentisch gebeugt, löst sie mit einem Messer den Blätterteig aus der Form. Das ist eine Pilz-Tarte. Dazu habe ich braune Champignons de Paris genommen. Den Boden habe ich mit in Milch verquirlten Eiern begossen und Mandeln und Nüsse beigegeben. Natürlich ist der Blätterteig hausgemacht. AUT Ihre Kochkünste verdankt Sophie Burgarella ihrer Mutter. Und einem Volkshochschul-Kurs. Denn letztes Jahr hat sie beschlossen, aus ihrem Hobby einen Beruf zu machen. Lebhaft untermalen ihre Hände jedes ihrer Worte. Mehr als zehn Jahre habe ich als Buchhalterin gearbeitet, in schicken französischen Betrieben. Bis ich dann mein eigenes kleines Unternehmen aufgemacht habe: einen Frühstück-Lieferdienst. Mit Bio-Ware, hauptsächlich aus französischer Produktion. Dass ich beruflich umgesattelt habe, entspringt einem Herzenswunsch. Früher habe ich ungeheuer viel gearbeitet. Und dabei ein bisschen vergessen, was im Leben eigentlich wesentlich ist. Das Wesentliche, das ist doch, sich mit ganz simplen Dingen Vergnügen zu verschaffen. Dazu gehört auch, Zeit zu haben, sich mit anderen auszutauschen, schöne Augenblicke zu teilen. Das ist heute mein Rezept für ein glückliches Leben. ATMO Tisch AUT Jetzt aber warten Deborah und Anoush Sansom nebenan auf ihr 'Déjeuner so frenchy', wie die Gastgeberin ihr Mittagessen bewirbt. Dafür hat sie den Wohnzimmertisch schlicht, aber sehr geschmackvoll gedeckt. Wie ein Sternekoch kündigt Sophie Burgarella ihre Speisen an. Und weist ihre Gäste auf einheimische Spezialitäten hin wie den Fleur de sel - weiße Salzkristalle mit delikatem Geschmack, die oberste Schicht bei der Meersalz-Gewinnung. Überhaupt wird bei Tisch vor allem übers Essen gesprochen. In Australien sei das ganz anders, sagt Deborah Sansom kopfschüttelnd: da schlinge man alles einfach so runter, um satt zu werden. Wir waren dank VizEat schon in drei Pariser Wohnungen. Es ist einfach nett, so zu verstehen, wie Franzosen und speziell Pariser leben. Zu sehen, was sie gerne essen und wie sehr sie das Essen lieben. Alles ist so schön hergerichtet. ATMO ESSEN AUT Schwungvoll hat Sophie Burgarella die Käseplatte auf den Tisch gestellt. Anoush Sansom beugt sich schnuppernd vor. Ich liebe es, hier auf den Markt zu gehen; manche Stände bieten an die hundert Käsesorten an. Und alle sind erschwinglich. In Australien ist das definitiv ganz anders. AUT Erneut verschwindet die Gastgeberin in der Küche und kommt mit Feigenmarmelade zurück, die sie zum Cantal-Käse empfiehlt und einem Glas Honig, der zum Ziegenkäse passt. Sophie lacht viel und gerne. Charmant erkundigt sie sich nach typischen Gerichten aus der Heimat ihrer Gäste, gibt ihre Lieblingsrezepte preis. Dazu zählt auch der heutige Nachtisch: Eine Schüssel roter Beeren, verfeinert mit braunem Zucker und einigen Tropfen Balsamico. Deborah Sansom und ihr Sohn Anoush lehnen sich auf ihren Stühlen zufrieden zurück. Ich bin entzückt, zu entdecken, wie warmherzig und freundlich die Pariser doch sind - ganz anders als ihr Ruf! Gemeinsam ein schönes Menü zu genieß, das reißt einfach Mauern nieder. Über das Essen kommt man ins Gespräch und findet schnell Kontakt zu seinem Gegenüber. ATMO Küche AUT Auch Sophie Burgarella ist entzückt: dank ihrer Gäste hat sie heute auch etwas von deren Australien kennengelernt. Musik Musik Lit 3 Lit 3 Eines Abends, ein, zwei Monate nach seinem Job in einem familiären Speiselokal, sehen wir zusammen fern. Mauro und ich. In seinem kleinen Appartement. Es läuft 'Top Chef'. Dieser Kochwettbewerb ist ein Renner, genau wie all die anderen Sendungen, die ihm ähneln und deren Einschaltquoten ständig steigen. Der Koch ist in der modernen Gesellschaft zu einer wichtigen Person geworden, ein Medienstar, Lichtjahre entfernt von dem griesgrämigen und geheimnisvollen Typ, der Speisen aus dem Inneren seiner Höhle herausreichte. Und die Küchen haben sich nun in Fernsehstudios verwandelt. Mauro zählt all die Sendungen auf : 'MasterChef ; Ja Chef !; Ein fast perfektes Diner ; Der Beste Konditor der Welt' und ich entdecke erstaunt, wie viele es sind. Mein Freund zuckt mit den Schultern: " Da siehst du es doch, solange man vom Kochen spricht, redet man nicht vom ganzen Rest, von all dem, was in der Welt schief läuft. Das Interesse an der Gastronomie ist immer dann am stärksten ausgeprägt, wenn die Leute voller Sorgen sind. Sich für das Kochen zu interessieren, wirkt beruhigend, bringt die Leute zusammen, das spricht die Sinne an, bereitet Vergnügen, bietet Gelegenheit, etwas miteinander zu teilen. Kochen sorgt für ein gewisses Spektakel und hat immer auch eine tiefere Bedeutung. Musik ATMO Hof MOD Rund 14.000 Speiselokale und weit über 100.000 in der Gastronomie Beschäftigte zählte Paris im Jahr 2014. Wie immer mehr andere Städte setzt auch die Seine-Metropole beim weltweiten Wettbewerb um Touristen mehr und mehr auf ihre 'gastronomische Identität'. Vor allem den Lokal-Politikern ist natürlich daran gelegen, den Ruf von Paris als weltweiter Trendsetter im Ernährungsbereich zu stärken, zum Beispiel mit Hilfe eines Inkubators, also eines Gründerzentrums für Jung-Unternehmer. Auf einem ehemaligen Industriehof im Pariser Osten haben sich mit Unterstützung der Stadt Startups angesiedelt, die Innovationen rund um Küche und Feinschmeckerei entwickeln. Als Partner fungieren große Lebensmittelkozerne. Bei 'Smart Food Paris', so der Projektname, verlinken sich alte und neue Ökonomie. Rep 4 ATMO Hof AUT Am frühen Nachmittag ist es eher ruhig auf dem schmalen gepflasterten Hof. U-förmig darum gruppieren sich dreistöckige Klinkerbauten, jüngst schick renoviert. Eine kleine, eigene Welt, die ein hohes Metallgitter von der heruntergekommen wirkenden Nachbarschaft abtrennt. Clément Chevrette sitzt mit lang ausgestreckten Beinen auf einer Holzbank, blinzelt in die Sonne und lauscht mit einem Ohr den Gesprächsfetzen, die durch einige offene Bürofenster nach aussen dringen. Chevrette, ein Endzwanziger im saloppen Jacket, ist der Direktor des Gründerzentrums für Jung-Unternehmer. Mit der rechten Hand bürstet er mechanisch die kurze Haartolle hoch. Früher waren das hier Industrie-Werkstätten, die Werkzeug für Hufschmiede herstellten. Aber die Anlage war lange Jahre verwaist. Angesiedelt hatten sich hier auch Künstler. ATMO Hof AUT Für seine neue Bestimmung sei der Ort geradezu prädestiniert, sagt Chevrette: im Kleine-Leute-Viertel rundherum reiht sich ein Lokal an das andere. Um die Ecke kauften früher Pariser Restaurantbetreiber en gros Obst und Gemüse. Im Gründungszentrum werden demnächst zwanzig Startups Innovationen im Bereich Ernährung, Küche, Lebensmittel-Industrie entwickeln. Und da Paris urbanen Gemüseanbau massiv fördert, kommt vielleicht einmal noch ein weiterer Sektor hinzu, sagt Clément Chevrette. Er kratzt sich am glattrasierten Kinn. Zwar gibt es heute in Paris nicht gerade viele Felder, aber das kann sich ja noch ändern. Langfristig möchten wir auch Jungunternehmen aus dem Sektor Landwirtschaft anlocken. Sowie ausländische Startups. Denn wir wollen Paris weltweit als Ort der Innovation positionieren. Das macht ja auch Sinn. Das Restaurant wurde in Paris erfunden, hier arbeiten viele Starköche. Für alle Welt trägt die Gastronomie zur Attraktivität von Paris bei. Also ist unser Gründerzentrum mehr als gerechtfertigt. ATMO Hof AUT Clément Chevrette zeigt auf die Uhr und erhebt sich von seiner Holzbank. Beinahe hätte er seine Verabredung mit einem Jungunternehmer vergessen. Mit breitem Lächeln öffnet ihm Sébastien Vassaux die Tür. Er wirkt sehr beschäftigt, mehrere Männer sitzen an Computern und schauen nur flüchtig vom Bildschirm auf. Wir stellen gerade die neue Version unseres Webdiensts online. Das ist ein ziemlich heikler Moment. Zu dieser Tageszeit sind sicherlich einige Nutzer unseres Dienstes eingeloggt, da müssen wir schauen, dass alles glatt läuft. AUT Seit einem halben Jahr bieten Sébastien Vassaux und seine Mitarbeiter Köchen einen originellen Online-Service, 'FoodMeUp' getauft. Das Programm kalkuliert für jedes x-beliebige Menü die Kosten und damit auch die Rentabilität, erstellt pro Kochrezept den Küchenarbeitsplan und übernimmt zudem die Waren-Bestellung und die Lagerverwaltung. Der junge Betriebschef reibt sich zufrieden lächelnd die Hände. Wir helfen Profiköchen bis zu einer Stunde am Tag zu gewinnen. Zeit, die sie nun in ihre Küchenarbeit stecken können. ATMO Raum AUT Früher war Sébastien Vassaux mal als Strategie-Berater tätig. Dann sattelte er auf Konditor um. Sein Wunschtraum: Er wollte in Brasilien eine Bäckereikette eröffnen. In seinem jungenhaften Antlitz steigt ein schwärmerischer Ausdruck auf. Als ich mein Unternehmensprojekt ausarbeitete, wollte ich wie früher als Consulter sämtliche Betriebskalkulationen mit Excel durchführen, aber es war einfach viel zu schwierig. Daraufhin habe ich ein anderes Programm entwickelt. Der Chef der Konditorschule, wo ich meine Ausbildung absolvierte, hat mich dazu beglückwünscht. Und als ich merkte, dass es mit der Finanzierung meines Bäckerei-Projekts nicht recht klappte, dafür aber mein Computer-Programm auf rege Nachfrage stieß, bin ich umgeschwenkt. Geplant war das keineswegs. ATMO Raus AUT Ein Mitarbeiter braucht Unterstützung. Clément Chevrette verabschiedet sich. Im Hof stößt er auf einen anderen Jung-Chef, Quentin Bassi. Der lädt ihn gleich in sein Büro gegenüber unterm Dach ein. Auch dort kleben die Mitarbeiter vorm Computer-Bildschirm. Schnell rückt Bassi zwei Stühle zusammen, zieht dann sein Smartphone aus der Hosentasche und hält es seinem Besuch vor die Nase. Unsere Applikation ist nun komplett einsatzfähig. Ich zeig sie Dir mal. Schau, Du klickst auf "Wine on demand", dann erscheinen drei virtuelle Knöpfe. Du drückst den großen hier und der Apparat fotografiert das Etikett der Weinflasche. Dank der automatischen Erkennung wird dann gleich der Preis für den Wein angezeigt. Per Knopfdruck kannst Du unmittelbar einen 6er-Karton davon bestellen und Dir nach Hause liefern lassen. Super! Wie viele Referenzen habt ihr denn schon im Programm? Bislang konnten wir mehr als vierhundert Lieferanten gewinnen. Weingüter, Grossisten und Einzelhändler, mit insgesamt 17.000 verschiedenen Weinen. Mit vielen guten französischen Weinen? Aber sicher doch! Denn in den Restaurants kommen exklusive Weine wieder mehr in Mode, Lagen mit kleiner Produktion, die nicht leicht aufzutreiben sind. Da ist unsere Anwendung überaus nützlich. AUT Gespeichert würden im Programm auch Weine aus dem Ausland, aus Spanien, Italien, Deutschland und Österreich, erklärt Quentin Bassi und versenkt sein Smartphone wieder in der Hosentasche. Aber dennoch: 17 Prozent der weltweiten Weinproduktion stamme aus Frankreich! Bassis Mundwinkel verziehen sich zu einem breiten Grinsen. Wir sagen uns: Wenn jemand so ein automatisches Weinbestellungsprogramm auf den Weltmarkt bringen kann, dann ein Franzose! Musik Musik Lit 4 Lit 4 Mauro erwähnt eine andere Gewalt im Alltag von Restaurantküchen, hinterhältiger, psychologischer Natur. Wenn der Anspruch zur Tyrannei wird, zur Obsession. Wenn der in der Küche ausgeübte Druck von genau denen verbreitet, ausgelöst wird, die ihn erleiden, weil sie die perverse Mechanik in Gang bringen, ihr teils vorgreifen und den Druck damit noch verstärken. Bei diesem Management, das auf Druck basiert, legt, von der Rivalität beflügelt, jeder noch richtig einen drauf, wie Mauro erzählt: " Wenn du zum Beispiel wie erbeten morgens um acht zur Arbeit erscheinst und dann mitbekommst, dass alle schon seit sieben Uhr da sind und voll reinhauen. Was machst du dann am nächsten Tag? Da trittst du auch um sieben Uhr an. " Musik Mod Ausländischen Reisenden war es immer ein Rätsel, wie das möglich sei, dass im Feinschmeckerparadies Frankreich das Essen in Betriebskantinen zumeist alles andere als ein Genuss war. Dass sich dies geändert hat, hängt unter anderem mit den Lebensmittelskandalen der letzten 20 Jahre zusammen. Und auch damit, dass manche Betriebskantine von Dienstleistungskonzernen übernommen wurde, die ihre Kundschaft zufrieden stellen müssen. Denn die Franzosen lassen sich mittlerweile nicht mehr einfach so mit allem abspeisen. ATMO Kaffeemaschine Einer der Weltmarktführer ist die französische Elior-Gruppe. Vor 25 Jahren gegründet, bedient sie heute Betriebs- und Schulkantinen im In- und Ausland, liefert Krankenhaus-Kost, betreibt Verpflegungs-Stände an Bahnhöfen und Raststätten sowie Schnellimbissketten. Täglich macht sie vier Millionen Menschen satt. Im Pariser Firmensitz hat man ein sehr waches Auge auf die heimatlichen Essgewohnheiten. Rep 5 ATMO Kaffeemaschine AUT Einen Becher mit dampfendem Kaffee in der Hand, zieht sich Pascale Abecassis mit ihrer Kollegin Delphine Villaret in das Besprechungszimmer am Ende des Großraumbüros zurück. Die zwei Frauen sind um die Mitte Vierzig. Sie wirken aufgeschlossen, sehr sympathisch. Pascale Abecassis, in der Unternehmensgruppe verantwortlich für die Kundenentwicklung, packt eine Kladde aus. Ein Studienbericht, für den kürzlich in Frankreich über 8.000 Angestellte zu ihren Mittagspause-Gewohnheiten befragt wurden. Auf dem Cover prangt der Titel: "Macht Essen glücklich?" Die Antwort ist eindeutig, sagt Pascale Abecassis schmunzelnd. Die Mittagspause ist eine ganz besondere Zeit! 84 Prozent der Befragten wollen keine einzige Minute davon missen. Denn die Mittagspause, sagt die Mehrheit der Befragten, erhalte die Funktionstüchtigkeit im Job. Während weltweit drei von fünf Angestellten für das Mittagessen nie die Arbeit niederlegen, eine angelsächsische Angewohnheit, leistet die 'french pause' da heftig Widerstand. Die französische Mittagspause dauert im Schnitt 52 Minuten und zwei Drittel dieser Zeit widmen die Franzosen dem Essen. ATMO Blättern AUT Am wichtigsten ist und bleibt ihnen eine gesellige Stimmung am Tisch. Die Zeiten allerdings, als die Franzosen mittags noch gute eineinhalb Stunden lang auftankten, bei Vorspeise, Hauptspeise, Käse und Nachtisch, die sind jedoch vorbei. Pascale Abecassis liegt mit ihren Essgewohnheiten heute voll im Trend. Ein Hauptgericht, ein Nachtisch - am liebsten ein fettarmer Joghurt. Der Gesundheit, dem Wohlbefinden zuliebe, sagt sie. Dann blättert sie weiter, bis zur Hitparadenliste der Kantinen-Speisen. Das reicht vom Sauerkrautteller über Paella, Couscous bis hin zum Grillhuhn. Das ist heute wirklich eine der französischen Lieblingsspeisen. Zudem sind Nudeln sehr beliebt, Quiches, Lasagne. Und natürlich das so genannte Streetfood: Hamburger, Bagels, Fajitas und ähnliches. Im Aufwind sind auch vegetarische Gerichte, speziell bei Frauen: Jede dritte Berufstätige bevorzugt vegetarisches Essen. ATMO Blättern AUT Delphine Villaret nickt zustimmend mit dem Kopf. Die Chefin der hauseigenen Innovationsabteilung hat schon erste Lehren aus der Studie umgesetzt: Vegi-Corners, Stände mit vegetarischen Lebensmitteln, sind mittlerweile Kantinen-Standard. Die Köche haben rund 50 vegetarische Rezepte parat und beherrschen auch die Resteverwertung aus dem FF. Kredenzt werden gleichfalls so genannte 'Free-From'-Speisen: Lebensmittel, die frei von Gluten, Laktose, Salz und Zucker sind. Die Studie geht auch der Frage nach, wie die Kantine im Jahr 2050 aussehen könnte. Da ist die Rede von 3-D-Druckern, die ganze Menüs produzieren. Pascale Abecassis gestikuliert abwehrend mit beiden Händen. Dies sei derzeit noch weit weg, wendet sie ein. Allerdings gäbe es erste Lokale, in denen Roboter schon Küchen-Dienste übernommen haben. Innovationsexpertin Delphine Villaret schaut sehr amüsiert. Derzeit brutzeln sie noch kein Fleisch. Aber erste Versuche laufen. Haben Sie das noch nicht gesehen? Roboter, die Rezepte von Sterneköchen umsetzen! (Lachen) ATMO Aufbruch AUT Mittagszeit - Pausenzeit. Pascale Abecassis packt die Kladde wieder ein und steuert mit ihrer Kollegin die hauseigene Kantine an. Am Eingang wird das Tages-Angebot unter Glasglocken präsentiert. Der Ausgabebereich hat das Ambiente eines feudalen Buffets. Quer durch den Raum sind Spezialitätenstände verteilt. An der Geflügeltheke duftet es verführerisch. Leider aber hat die Köchin die Hähnchenspieße eben erst auf den Grill gelegt. Die Wartezeit hätten sie sich ersparen können, kommentiert Delphine Villaret trocken und zückt ihr Handy, um ihrer Kollegin die Applikation 'Timechef' vorzuführen. Die wurde kürzlich im Haus entwickelt. Dank 'Timechef' zahlt man an der Kasse nun direkt mit dem Handy. Man kann sein Essen per Klick vorbestellen und abfragen, welche Speisen potentiell allergieauslösende Zutaten enthalten. Super finde ich, dass man seine Mahlzeit wie in sozialen Medien 'liken' kann. Und die Funktion, Kollegen in der Kantine ausfindig zu machen, die hat mir schon mehrmals das Suchen erspart. ATMO Bedienen AUT Endlich sind die Spieße gar, die beiden Frauen passieren die Kasse und suchen sich einen freien Tisch. Der Speisesaal ist über mehrere Ebenen verteilt, das Mobiliar dezent schick. An der Wand steht eine Wasserbar, zum Auffüllen der Trinkflaschen aus Recycling-Material, die das Haus allen Mitarbeitern zur Verfügung stellen. Pascale Abecassis wirft einen kurzen Blick in die Runde. Heute seien viele weibliche Angestellte da, trotz der Schulferien, wo die Schulkantinen natürlich dicht sind, sagt sie. Beim Gedanken an ihre Kinder zuhause seufzt sie kurz. In den Schulferien machen sich die Kinder mittags Fertiggerichte. Wenn ich am Wochenende mal Zeit habe, koche ich vor und friere das ein. Ich warte darauf, dass die Kantine endlich Essen zum Mitnehmen anbietet. Dieses Angebot ist gerade in Planung. Damit könnte ich daheim fürs Abendessen viel Zeit und Energie sparen. Ich bin oft sehr lange im Büro, da kann ich zuhause kein komplettes Menü mehr herzaubern. Mein bester Freund - das ist die Ladenkette für Tiefkühlkost! AUT Delphine Villaret lacht herzlich mit. Dann schweift ihr Blick träumerisch ab. Mir fehlt nur eins in unserer Kantine: Eine Ecke für den Mittagsschlaf! Musik Weit über den Suppentellerrand hinaus - Geschichten aus französischen Küchen. Das waren die Gesichter Europas an diesem Samstag. Eine Sendung mit Reportagen von Suzanne Krause. Die Literatur entnahmen wir dem Buch " Un chemin de tables " von Maylis de Kerangal , erschienen im Verlag Seuil Paris im März 2016. Sprecherin war Susanne Reuter. Musik und Regie: Babette Michel; Ton und Technik: Ernst Hartmann und Caroline Thon. Redakteur am Mikrofon war Norbert Weber Musik