COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Deutschlandradio Kultur Länderreport Next Generation (7) - Die Jugend im Ruhrgebiet auf Zukunftssuche - Autorin Schulz, Friederike Redaktion Stucke, Julius Sendung 05.07.2010 - 13.07 Uhr Moderation Next Generation - Jugendliche im Ruhrgebiet arbeiten in zehn sogenannten Zukunftshäusern an ihren Visionen für die Metropole Ruhr. Sie fragen nach ihrer Zukunft, nach der Zukunft der Stadt. Sie arbeiten an Theaterstücken, machen Musik, drehen Filme und vieles mehr. Next Generation ist ein Projekt im Rahmen der Kulturhauptstadt Ruhr 2010. Initiiert von Schauspiel Essen und Schauspielhaus Bochum - unterstützt durch die Bundeszentrale für politische Bildung. - Wir im Deutschlandradio Kultur geben diesem Projekt, geben den Jugendlichen eine Stimme. Im Länderreport berichten wir jeweils am Monatsanfang aus den Zukunftshäusern. -folgt Manuskript Beitrag- Manuskript Beitrag Atmo 1 (Wochenmarkt) "Echter Waldecker Spargel, 1,90 das Kilo ... " AUTORIN Obwohl es in Strömen regnet, stehen die Kunden Schlange am Gemüsestand von Wilhelm Holzapfel. Der Wochenmarkt auf dem Ehrenzeller Platz in Essen- Altendorf ist auch bei Regen gut besucht - dicht an dicht stehen die Verkaufswagen und Stände: Ein Fisch-Verkäufer preist eingelegten Matjes an, an der Wursttheke gibt es Salami im Angebot, der Käsestand wirbt mit Gouda aus Holland - eine gute Adresse, um frische Lebensmittel einzukaufen. Die Kunden suchen nach günstigen Angeboten, füllen ihre Körbe, kramen nach Kleingeld. Kaum jemand beachtet das merkwürdige Gefährt mitten auf dem Platz: Eine Art Handwagen mit Deichsel aus weißem Metall: darauf in großen Lettern "Gedächtnis des Ruhrgebiets". Eine zierliche Frau zieht den Wagen. Braune Haare, Regenjacke, klobige Wanderschuhe: Mirjam Strunk, 35. Ein Jahr lang ist die Regisseurin und Theaterautorin mit ihrem "Memo-Mobil" im Ruhrgebiet unterwegs und sammelt Erinnerungen. Mirjam Strunk stellt sich am Gemüsestand von Wilhelm Holzapfel in die Schlange. Atmo 2 (Wochenmarkt) "Den können Sie empfehlen, den Spargel?" "Ja, den kann ich empfehlen. Der kommt aus dem Klostergarten von Waldeck." "Aha, ich komme nicht aus dem Klostergarten. Ich komme aus dem Ruhrgebiet und suche nach Erinnerungen. Ich bin ein Jahr lang unterwegs mit diesem Mobil, das Sie her sehen und bin auf der Suche nach Menschen, die mir eine Erinnerung schenken, damit ich die ins Gedächtnis des Ruhrgebiets legen kann. Und jetzt bin ich heute hier bei Ihnen in Altendorf und würde Sie gerne fragen, ob Sie zwischen Kirschen und Spargel kurz Zeit haben, mir eine Erinnerung zu erzählen, die Sie gern im Gedächtnis des Ruhrgebiets archiviert haben möchten." AUTORIN Mirjam Strunk schiebt ihren Wagen unter die Markise des Gemüsestands, streift die Kapuze ihres Parkas ab. Sie trägt ein kleines Ansteckmikrofon an der Jacke, das dazugehörige Aufnahmegerät steckt in Ihrer Jackentasche. Damit zeichnet Sie Erinnerungen auf, wie die des Gemüsehändlers Wilhelm Holzapfel, Jahrgang 1945. O-Ton 1 (Holzapfel) "Da müsste ich einen Moment überlegen - die Nachkriegszeit, die wir mitgemacht haben ... dass das Ruhrgebiet nach dem Krieg in Schutt und Asche lag, dass wir als Kinder noch in Trümmern gespielt haben und noch Steine gepickelt haben für diese Leute, die angefangen haben zu bauen, und wir kriegten dann für jeden Stein fünf Pfennig. Und das war für uns ein schönes Taschengeld, denn ein Eisbällchen kostete damals noch zehn Pfennig." AUTORIN Mirjam Strunk nickt, blickt Wilhelm Holzapfel aufmerksam an. Der erzählt, wie sein Vater Ende der 40er-Jahre sein Geschäft aufzog und mit Pferd und Wagen die Märkte in der Umgebung besuchte. Das "Gedächtnis des Ruhrgebiets" ist Teil des Jugendprojekts "Next Generation". An zehn verschiedenen Orten sollen Jugendliche darüber nachdenken, wie ihr Leben in einigen Jahren im Ruhrgebiet aussehen könnte. Auf den ersten Blick passt das Memo-Mobil nicht so ganz zu dieser Idee. Doch Mirjam Strunk ist überzeugt: Eine Vision für die Zukunft kann nur entstehen, wenn man weiß, wie es früher war. O-Ton 2 (Strunk) "Die Erinnerungskultur in unserer Gesellschaft, auch in meinem eigenen Leben kommt zu kurz. Ich habe einen alten Schuhkarton von meiner Großmutter geerbt, und wenn ich den durchgehe, weiß ich zu den wenigsten Bildern, welche Erinnerungen sich dahinter verbergen. Da habe ich einfach gemerkt, dass ich dazu ein Projekt machen möchte." AUTORIN Mirjam Strunk hat in den vergangenen Jahren bereits ähnliche Projekte umgesetzt. Ihre Spezialität ist das dokumentarische Theater: Sie sammelt Geschichten auf der Straße und bringt sie mit den Leuten, die sie erzählen, später auf die Bühne. So soll es auch diesmal sein - die gesammelten Erinnerungen des Gedächtnisses sollen im November im Schauspielhaus Bochum aufgeführt werden. Wie das Stück genau aussieht, weiß die Autorin noch nicht, dafür muss sie erst noch weiter Geschichten wie die von Wilhelm Holzapfel sammeln. Atmo 3 (Wochenmarkt) "Glauben Sie, dass Ihre Kinder Ihre Erinnerungen für ihre Zukunft brauchen?" "Ich glaube schon. Was ich jetzt so feststelle ist, dass meine Tochter jetzt auch diese Geschichten, die der Vater oder der Opa erzählt. Dass selbst meine Enkelkinder jetzt noch interessiert zuhören, wie das früher war mit Pferd und Wagen." AUTORIN Für das Gedächtnis des Ruhrgebiets kann man Erinnerungen nicht nur erzählen, sondern auch aufschreiben. Der Wagen lässt sich aufklappen wie ein Nähkasten mit lauter Fächern und Schubladen. Darin: Erinnerungskarten, auf denen jeder, der möchte, festhalten kann, was ihm wichtig ist. Etwa 1000 Karten sind schon voll. Zitat 1 "Die rauchenden Fabrikschlote, der aufsteigende Dampf der großen Kühltürme und der Rußstaub als Smog über der Region an der Ruhr, Zeichen einer mächtigen, alles beherrschenden Kohle- und Stahlindustrie, brachten dem Gebiet an der Ruhr Wohlstand. Ich hoffe, dass der Strukturwandel wieder ein lebenswertes Leben ermöglichen wird. Ich hoffe, dass die Zeit der zugeklebten Schaufenster in den Einkaufsstraßen bald vorbei ist. Dann kann ich wieder befreit die schönen neugeschaffenen Naherholungsgebiete auf den Arealen der früheren Zechen- und Stahlwerksgelände besuchen." Zitat 2 "Am 6.November 1944, ich war 16, wurden wir in Gelsenkirchen in der Münchnerstraße ausgebombt. Da war ich im Bunker, der steht heute noch. Meine Mutter, mein Vater und ich, das war so knappe 5 Minuten zu gehen und als wir wiederkamen, stand zwar unser Haus noch, aber nur das Äußere, da waren wir ausgebombt. Und am 23. März nach dem letzten großen Angriff auf Gelsenkirchen hat mich mein Vater dann weggeschickt zu meiner Mutter. Das war keine schöne Jugend." AUTORIN Es sind vor allem Kriegs- und Nachkriegsgeschichten, die Mirjam Strunk von älteren Leuten zu hören bekommt, Die wollen wenn sie einmal angefangen haben, oft stundenlang in ihren Erinnerungen kramen. O-Ton 3 (Strunk) "Bei den Älteren ist es dann auch schwer, wieder einen Punkt zu finden, um sich wieder zu verabschieden, weil ich ja auch meine Strecken einfach wandern möchte und nicht nur stehen und zuhören. Und das finde ich auch manchmal schwierig an diesem Projekt, dass ich etwas anstoße, jemanden einlade sich zu erinnern und dass ich aber irgendwann auch sagen muss, jetzt muss ich aber weiterziehen. Dass ich die Leute mit ihren Erinnerungen, die ich hochgeholt habe, auch wieder alleine lassen muss." AUTORIN 371 Kilometer ist Mirjam Strunk schon gewandert - und ein paar hundert sollen noch dazukommen. Also setzt sie die Kapuze wieder auf, greift die Deichsel ihres "Memo-Mobils" und schüttelt dem Gemüsehändler Wilhelm Holzapfel die Hand. Atmo 4 (Wochenmarkt) "Schönen Tag noch und guten Verkauf." Atmo 5 (Schrottplatz) AUTORIN Zwei Wochen später und ein paar Kilometer weiter: Auf dem Schrottplatz von Altendorf transportiert ein Gabelstapler einen verbeulten alten Ford ohne Kühlerhaube und Reifen, stellt ihn neben einem verrosteten Mercedes-Kombi ab. Mehr als 1000 schrottreife Autos stehen auf dem staubigen Platz. Ein schmaler Weg zwischen den Wagen führt ans Ende des Geländes: zur Theater- Bühne eines anderen Projekts von "Next Generation": Ein rechteckiger Platz, an zwei Seiten eingerahmt von aufeinandergestapelten verrosteten Autos in allen Farben. Auf der Bühne verteilt: drei weitere Autos - ein weißer Mercedes aus den 60ern ohne Motorhaube, ein roter Käfer ohne Räder, ein rostiger Porsche. Obwohl die Kulisse anderes vermuten lässt: Hier wird nicht in die Vergangenheit geblickt - hier geht es um Zukunftsvisionen für Altendorf. Auf der Zuschauerbank am Rand der Bühne sitzt die Regisseurin Ines Habich und wischt sich den Schweiß von der Stirn. Es ist früher Nachmittag, die Sonne knallt auf den Platz. Langsam schlendern die Schauspieler zur Bühne. Elf Jugendliche aus dem Stadtteil. Ein halbes Jahr lang haben sie mit Ines Habich ein Theaterstück ausgearbeitet. "Alles außer Abhauen - ein Stück aus, über und für Altendorf". Eine Momentaufnahme, die das Viertel und seine Bewohner portraitiert und fragt, welche Zukunft Altendorf hat. Atmo 6 (Schrottplatz, Gespräch) "Hello zusammen! Was war das für ne Mittagspause?" "Entspannt, angenehm." AUTORIN Ein kurzer Blick zurück: Ines Habich war im Januar an Schulen und in Jugendzentren unterwegs und hatte Werbung für ihr Projekt gemacht. Sie stammt selbst aus dem Ruhrgebiet, kannte Altendorf aber bis dahin auch nur vom Durchfahren. Dann fiel ihr die riesige Baustelle am Rande des Viertels auf. Dort baute ThyssenKrupp seine neue Konzernzentrale, direkt daneben ist eine riesige Parkanlage mit Teich entstanden. Die Firma Krupp hatte bis Ende der 50er-Jahre ihren Sitz hier in Essen, zog dann aber nach Düsseldorf. Nun will der inzwischen fusionierte Großkonzern zurück zu seinen Wurzeln. O-Ton 4 (Habich) "Die Baustelle war so extrem aufgezogen, es war nicht nur eine Baustelle, die extrem groß war, sondern mit Aussichtsplattform, von der aus man die Baustellenarbeiten genau beobachten konnte. Es gab bunt besprühte Wände mit Mega-Zukunftsvisionen, was dieses Unternehmen für diesen Stadtteil plant. So eine komische Cyberwelt war da auf den Plakaten. Da bin ich dann mit dem Auto weitergefahren und komme dann in den wirklichen Stadtteil und habe gedacht: Irgendwie komisch, dass das jetzt so direkt nebeneinander liegt, beziehungsweise miteinander verbunden werden soll. Und ist den Leuten hier überhaupt klar, dass direkt nebenan so eine Cyberwelt entsteht?" AUTORIN Ein Spannungsfeld, das den perfekten Hintergrund für ihr Projekt bietet, dachte sich Ines Habich damals. Schließlich geht es bei "Next Generation" darum, gemeinsam mit den Jugendlichen darüber nachzudenken, in was für einem Umfeld sie leben wollen. O-Ton 5 (Habich) "Was mir jetzt schon klar ist nach den ersten Gesprächen mit den jungen Leuten hier, ich habe sie gefragt, ob sie wissen, wer Alfried Krupp ist. Wirklich wissen sie es alle nicht. Ja, ja, da sind irgendwie Schulen nach dem benannt. Oder: gar keine Ahnung, wer das ist. Und die Baustelle, ja ... Es ist eigentlich kein Thema. Das finde ich auch interessant. Da sind Leute, die haben für diesen Stadtteil so konkrete Zukunftsideen, die haben genaue Vorstellungen davon, wie das aussehen soll, mit Radweg, See und so weiter. Und dann sind hier junge Leute, die haben damit gar nichts zu tun, und die haben, wenn sie überhaupt Vorstellungen von Zukunft haben, wahrscheinlich ganz andere. Was denken die? Das ist so der Anfangspunkt meiner Reise, das, was ich rauskriegen will." AUTORIN Das war die Idee vor einem halben Jahr. Die Regisseurin mietete ein ehemaliges Ladenlokal direkt neben dem alten Hochbunker mitten im Viertel. Der fensterlose Bunker sieht aus wie ein Wasserturm - und ist bemalt mit bunten Fabelwesen. "Am Bunker rechts", die Adresse - ein Ort, den jeder kennt. Ines Habich wählte elf Jugendliche aus und traf sich jeden Samstag mit ihnen. Am Anfang stand ein Stadtrundgang, die Teilnehmer sollten für einen Reiseführer über Altendorf recherchieren: Altendorf für Verliebte, für Verbrecher, für Spießer. Sie besuchten einen Schützenverein und ein Altersheim, erinnert sich die 19jährige Rihan. O-Ton 6 (Rihan) "Die haben uns auch viel erzählt, wie das hier im Krieg aussah. Und der Bunker zum Beispiel, wenn wir da immer vorbeilaufen. Wir wissen jetzt zum Beispiel, dass auf den Bunker sehr viel geschossen wurde und dass er aber nicht eingestürzt ist, weil er sehr stabil war. Zu wissen, dass der Bunker schon so lange dasteht. Da muss dann dran denken. Wenn man den Bunker jetzt so sieht, der ist ja schön bemalt, da denkt man, der existiert noch nicht lange. Da denke ich manchmal: Wie sah das hier vor 80 Jahren aus?" AUTORIN So bekamen die Jugendlichen nach und nach ein detailliertes Bild von dem Viertel, in dem sie aufgewachsen sind, für dessen Geschichte und Besonderheiten sie jedoch vorher keinen Blick hatten. Der Höhepunkt war für alle ein Besuch auf dem neuen Firmengelände von Thyssen-Krupp. Noch vor der offiziellen Eröffnung, streng geheim, ohne Reporter, keine Fotografen. Die Manager zeigten den Jugendlichen die neuen Gebäude, nahmen sich Zeit für ein ausführliches Gespräch, erzählt der 17jährige Omar. O-Ton 7 (Omar) "Das sind ziemlich nette Typen, ich dachte immer, dass das Perfektionisten sind und ziemlich hart sind, ihre Arbeit genau machen und streng sind. Dabei waren das die nettesten Menschen, die ich je in Altendorf kennengelernt habe." AUTORIN Und so war klar: auch Thyssen-Krupp soll im Theaterstück vorkommen. Der 19jährige Arslan spielt zum Beispiel einen Jungen, der unbedingt bei dem Stahlkonzern arbeiten will - genauer gesagt im 9. Stock, das hat er sich so in den Kopf gesetzt, weil man von da so einen schönen Ausblick auf Altendorf hat. Ines Habich hat die Jugendlichen immer wieder ausführlich zu ihrer Geschichte und ihren Wünschen befragt. Arslan ist zum Beispiel in der Schule sehr ehrgeizig, und so spielt er den Karriere-Typen. Rihan, breite Schultern, lange braune Haare, kam mit ihrer Familie im Alter von sechs Jahren aus der Türkei nach Essen. Sie spielt die "Chefin". Immer gestresst, weil sie unbedingt Abi machen will und neben der Schule im Dönerladen jobbt, um zum Familienunterhalt beizutragen. Wie im wirklichen Leben, sagt die 19jährige, die vier Geschwister hat. Rihan hilft ihnen bei den Hausaufgaben. Denn ihre Mutter ist alleinerziehend, spricht nur gebrochen Deutsch und arbeitet den ganzen Tag in einer Dönerfabrik. O-Ton 8 (Rihan) "Meine Eltern haben sich vor neun Jahren getrennt. Da habe ich auch viel gesehen. Ich habe meine Mutter leiden gesehen. Sie hat viel gelitten, weil sie war in Deutschland, sie hatte keine Deutschkenntnisse, sie hatte auch keinen Job, mein kleiner Bruder war noch ein Säugling. In meinem Prolog sage ich: Ich bin zwar 19, aber meine Erfahrungen sind wie 50." AUTORIN Rihan will nach dem Abitur einen medizinischen Beruf ergreifen, am liebsten als Altenpflegerin arbeiten und: eigene Kinder haben, da ist sie ganz sicher. Wenn da nur nicht die Zukunftsangst wäre, sagt sie, und: wenn sie ihr Abi schafft. Aber eines ist klar: Auch wenn das Projekt von Ines Habich irgendwann vorbei ist - sie will weiter Theater spielen. O-Ton 9 (Rihan) "Durch das Theater habe ich was ganz großes gelernt, was mir früher sehr schwer fiel: Selbstbewusstsein. Ich bin eigentlich eine sehr schüchterne Person, ich hatte auch zwei Vorstellungsgespräche, eines beim Kieferorthopäden und einmal beim Zahnarzt. Ich habe die beiden Vorstellungsgespräche nicht geschafft. Und durch das Theater habe ich gelernt, wie man selbstbewusst ist. Ines hat uns gezeigt, wie man zeigen kann, dass man stark ist. Auf jeden Fall habe ich gelernt, wie man selbstbewusst ist, das ist das Wichtigste." AUTORIN Ferdi, dessen Eltern aus dem Iran stammen, war von Anfang an der Anführer der Gruppe - er spielt einen Jungen, der für das Amt des Bürgermeisters von Altendorf kandidiert, weil ihm die Veränderungen im Viertel nicht gefallen - zum Beispiel, dass der Fußballplatz abgerissen wurde. O-Ton 10 (Ferdi) "Ich spiele den Boss, so einer, der alles führt, der so für jeden da ist. Der Boss hat schon vieles erlebt in Altendorf, dass sich vieles zum Schlechten verändert. Aber er weiß halt, dass er vieles verändern kann, wenn er Bürgermeister wird, ja, das versucht er halt." AUTORIN Inzwischen trägt jeder aus der Gruppe ein Headset mit Mikrofon, die Probe kann beginnen. Im Gänsemarsch gehen alle elf auf die Bühne, stellen sich im Halbkreis auf - die Chefin hat als erste das Wort. O-Ton 11 (Theaterprobe) Chefin: "Altendorf fängt da an, wo Ikea aufhört." Eisman: "Altendorf ist da, wo es anfängt nach Döner zu riechen." Alle: "In Altendorf kann jeder Tag dein Letzter sein. Altendorf ist da, wo ihr nie hingeht. Altendorf ist da, wo mein Zuhause ist." AUTORIN Trotz einiger Versprecher kommt die Gruppe gut durch den Text - nur die Headsets stören. Die jungen Schauspieler sind es nicht gewohnt, ein Mikrofon so dicht vor dem Mund zu haben. Deswegen entscheidet Ines Habich: Es muss auch ohne gehen, die Dinger stören. Außerdem geht es nicht um eine perfekte Performance, sondern um Authentizität, betont die Regisseurin: O-Ton 12 (Habich) "Wir sagen ja nicht, dass das Schauspieler sind. Es würde mich auch nicht interessieren, dann hätte ich es ja mit Schauspielern machen können. Das Tolle ist, dass da Persönlichkeiten auf der Bühne stehen, die etwas erzählen, was sie sich selber überlegt haben, was ich zusammen mit denen entwickelt habe. Und das kommt so pur und direkt, und das ist genau das, wonach ich auf der Suche bin, wenn ich mit Laien arbeite." Atmo 7 (Premiere, Publikum) AUTORIN Zwei Tage später, 20 Uhr: Die Premiere auf dem Schrottplatz. Die Karten sind ausverkauft, 120 Zuschauer drängen sich auf den Holzbänken. Die meisten sind Eltern und Freunde. Die Schauspieler stehen hinter der Bühne, reden nervös durcheinander. Omar reibt sich die verschwitzten Hände an der Jeans ab. O-Ton 13 (Omar) "Ich bin richtig aufgeregt. Gerade kamen auch die ersten Bauchschmerzen. Ich dachte, irgendwas stimmt mit mir nicht, dabei war es die Nervosität, in dem Gedanken, dass was schief geht." AUTORIN Doch viel Zeit für weiteres Lampenfieber bleibt nicht. Omar muss mit den anderen zum Prolog auf die Bühne, der 17jährige strafft die Schultern und marschiert hinter seinen Kollegen her. Atmo 8 (Applaus & Musik) AUTORIN Es folgen anderthalb Stunden rasantes Theater - ein Portrait des Jugendalltags in Altendorf: Rumhängen bei IKEA, Leute beobachten, Fußballspielen, Jobben, Freunde treffen, die erste Liebe. Gespielt auf einem Schrottplatz. Eine bessere Bühne könnte man sich als Kontrast zu einem Stück über die Zukunft eines Stadtviertels kaum vorstellen. In präzisen eingängigen Dialogen erzählen die Jugendlichen von ihrem Leben, von der Zukunft aber auch von der Perspektivlosigkeit. Es ist ihre eigene Sprache, die Ines Habich in die Form eines Stücks gebracht hat und die die Texte so natürlich wirken lässt. O-Ton 14 (Theatermonolog) "Ich bin hier geboren, in Altendorf, ich bin hier schon von klein an. Ich bin verrückt, ich habe keine Pläne, ich bin eine Lady, eine Lady aus Altendorf." AUTORIN Am Ende kämpfen sie alle für Altendorf, unterstützen den Boss bei seinem Kampf gegen die Abrissbirne. Atmo 9 (Applaus) AUTORIN Mit strahlenden Gesichtern verbeugen sich die Schauspieler vor dem Publikum - eine gelungene Premiere. Glaubwürdige Dialoge. Frei gesprochen. Die Charaktere gehen aufeinander ein - man merkt den Jugendlichen an, dass sie im vergangenen halben Jahr ein echtes Team geworden sind. Besonders begeistert klatscht ein Herr in der letzten Reihe, der wegen seiner Kleidung so gar nicht auf den Schrottplatz passt: schwarzer Maßanzug, rote Krawatte, Designerbrille: Alexander Wilke, Pressesprecher von Thyssen Krupp. O-Ton 15 (Wilke) "Es war wunderbar - die Mischung aus Bodenständigkeit, Professionalität und Spontaneität, das war eigentlich so das Schönste. Wir haben die Schauspieler ja auch alle kennengelernt, wir haben sie eingeladen, haben eine Baustellenführung gemacht. Da konnte man schon merken, welche Bedeutung das für die Altendorfer hat, dass sie in ihrer Nachbarschaft jetzt unseren Konzern haben. Ich finde das eigentlich schön, dass man sich damit beschäftigt. Wir freuen uns auf solche Nachbarn, weil man sich mit denen gut auseinandersetzen kann. Ich bin mir ganz sicher, dass wir die noch öfter einladen werden." AUTORIN Dann geht Alexander Wilke zu den Schauspielern, schüttelt ihnen nacheinander die Hand. Arslan drückt ihm ein Bier in die Hand - prostet ihm zu: auf die Zukunft im 9. Stock! -ENDE- 9