COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Deutschlandradio Kultur Kultur und Gesellschaft Reihe: Literatur "Ich denke die Poesie dreidimensional." Die französische Dichterin und Performance-Künstlerin Michèle Métail Von Clarisse Cossais Redakteurin: Barbara Wahlster Sendetermin: 30.7.2013 Regie: Friederike Wigger Besetzung: Autorin spricht selbst, Zitatorin/Voice Over Gong - Atmo Garten 1. O-Ton Michèle Métail (Garten) 23'27"Alors dans ce bassin, dont on entend la cascade, il y a aussi des lotus (...)les emplacements se sont dessinés à la suite de nos passages. Sprecherin In diesem Bassin, dessen Wasserfall wir hören, sehen Sie Lotus-Blumen. In unserem Klima wachsen Blumen, die es auch in China gibt. Im Moment erleben wir die volle Pracht der Iris... es ist die Zeit, wo wir den Garten genießen, mit all seinen Blumen, diesen Rosenkaskaden. Autorin: Wir sind in Südfrankreich an einem schönen Maimorgen, im "Smaragd-Tal", am Fuße der blauen Cevennen, am Ufer des Flusses Salindrenque. Und wir sind im Garten der Dichterin und Performance-Künstlerin Michèle Métail. Hier lebt sie seit elf Jahren, mit ihrem Mann, dem Komponisten Louis Roquin. Hinter dem imposanten und von außen eher streng und düster wirkenden Haus mit der roten Tür befindet sich eine Oase, ein Garten, in dem sich mediterrane und asiatische Botanik vereint haben. 2. O-Ton Michèle Métail (Garten) Il faut toujours attendre un petit peu avant d'aménager un jardin (...)à quel endroit on va planter. Sprecherin ich kann einen Garten nicht nach Plan - also abstrakt - gestalten. Man sollte das machen wie ich Bücher schreibe, indem man läuft und sich in dem Raum bewegt, in dem nichts ist. Und dann stellt man sich vor, wo man zukünftig langlaufen wird, wo man Büsche hinpflanzen könnte.... Flöte Auszug aus "Weg, fünf Füße breit" Autorin Man kann sich in diesem Garten verstecken und entdeckt ständig etwas Neues. Hier zum Beispiel ist der Entwurf eines ihrer dreidimensionalen Texte entstanden. Diese Texte nennt sie "Gigantextes", "Riesentexte", weil sie den Rahmen eines Buchdeckels sprengen, sich verschiedener Kommunikationsformen bedienen und viel Raum für sich einnehmen. Sie sind "gigantesques", gigantisch. In dem Fall arbeitet Michèle Métail mit Bohrproben aus dem Strassenbau: verschieden hohen Zylindern aus Asphalt, im Französischen werden sie "carottes" genannt: 3. O-Ton Michèle Métail (Garten) 21'05" Ca ce sont des carottes que j'ai trouvées, un petit stock que j'ai trouvé au bord de la route(...) et donc il sera à lire selon l'alphabet braille. Sprecherin Das sind Bohrproben, die ich am Straßenrand gefunden habe. Wenn die Straße neu belegt wird, bohrt man Löcher, um Pfeiler einzulassen. Die Bauarbeiter holen dann diese Zylinder heraus und schmeißen sie weg. Ich arbeite mit diesen Zylindern, weil sie mich stark an einen trockenen Garten in Kyoto, den Tofukuji, erinnert haben. Es wird also ein Text im Freien sein, wo die Zylinder Braille-Buchstaben darstellen. So wird der Text gelesen. Atmo - Vom Garten ins Haus - Glocken - 32'18" - 31'31" + 35'05 - 35 ,17" + 37'11-37'25" Autorin Wir begeben uns in das Haus, das Michèle Métail "Palast der Erinnerung" nennt. Wenn man vom Garten kommt, geht man zuerst auf dunkelroten Terrakottafliesen durch die Sommerküche. Im langen Flur: Sammlungen von Spielkarten, von Bildern. In den großen, dunklen gewölbten Räumen zur Straße hin lagern Michèle Métail und ihr Mann Louis Roquin ihre Bilder, Leinwände mit Teilen der Riesentexte und Plakate. Atmo - Garten 38'29" belle porte 4. O-Ton Michèle Métail (2St.) 1'51'20 Alors, c'est ce que j'appelle un palais de mémoire, parce qu'il se trouve que j'ai bon hérité de mes parents (...) dans un immeuble à Pékin, il y a les pipes de mon grand-père... Sprecherin Ich nenne das einen "Palast der Erinnerung". Ich habe von meinen Eltern und von meinen Großeltern unendlich viele Sachen geerbt. Es gefällt mir, einen Palast der Erinnerung zu organisieren. Für mich hat es Nichts von einem Museum, es öffnet auf etwas, denn diese Objekte werden wieder etwas Anderes werden, wenn wir uns von ihnen trennen, wenn wir sterben werden. Sie werden verteilt werden. Einer meiner Großväter war ein großer Pfeifenraucher und Sammler. Er hatte Pfeifen aus der ganzen Welt. Als ich in China war, hat ein Freund von mir angefangen, Pfeife zu rauchen und ich habe mir gedacht, die Pfeifen meines Opas müssen unbedingt nach China und so habe ich ihm mehrere Pfeifen von seiner Sammlung, alte elsässische Pfeifen mit langem Hals, gebracht und es hat ihn sehr gefreut. Jetzt weiß ich, dass es in einem Haus in Peking Pfeifen von meinem Großvater gibt. Musik Stockhausen Autorin Michèle Métail war die Reibung mit einer anderen Sprache und Kultur immer wichtig. In einem kurzen Prosatext aus dem Buch "Toponyme-Berlin" sucht sie nach einer Erklärung. 5. O-Ton Michèle Métail - Auszug aus Galvanistrasse (aus Toponymie: Berlin, Verlag Tarabuste éditeur, Saint-Benoît-du Sault, 2002(Take 28'20) 10'32" - 11'38" "Abonnés au théâtre, au concert, nourrice jusqu'à leur retour, une bretonne à grande coiffe, bigouden, autoritaire. des enfants élevés par dizaine. je ne dormais que dans mon landau et dans l'entrée. ils avaient bien fini par le comprendre. le bigouden ne voulut rien savoir. elle eût gain de cause au premier soir. anecdote rapportée. souvenir forgé. faux souvenir. mais alors, ce goût de l'entre-deux - près de la porte de sortie toujours - en contact avec l'extérieur. ce plaisir d'aller dormir ailleurs, e goût de l'entre-deux, était-ce déjà cela? Sprecherin (Auszug aus "Gehen und Schreiben" , aus dem Französischen von Elfriede Czurda, Daad Berliner Künstlerprogramm, 2002, Seite 84) Theaterabonnement, im Konzert, bis zu ihrer Rückkehr ein Kindermädchen, eine Bretonin mit Trachtenhut, autoritär. zig Kinder aufgezogen. ich schlief nirgendwo anders als in meinem Kinderwagen und im Flur. sie haben es schließlich kapiert. die Bretonin wollte nichts davon wissen, am ersten Abend (...) (setzte sie sich durch). berichtete Anekdote, geschmiedete Erinnerung. falsche Erinnerung. aber dennoch, diese Vorliebe für den Zwischenraum - immer nahe der Tür - in Kontakt mit der Außenwelt. dieses Vergnügen, anderswo schlafenzugehn, diese Lust auf Zwischenraum, war es schon dieselbe? Autorin Diese "Lust auf Zwischenräume" gab ihr jedenfalls den Impuls, als junge Studentin nach Wien zu gehen, um eine Magisterarbeit über das Verhältnis zwischen Musik und Text in der Oper "Lulu" von Alban Berg zu schreiben. 6. O-Ton Michèle Métail (Take 23'28" bei ca. 6'00") Un jour j'ai vu une petite affichette qui annoncait, (...) tous les membres dans des festivals, dont j'ai fait la connaissance peu à peu après. Sprecherin Eines Tages sah ich in einer Buchhandlung ein kleines Plakat, es kündigte eine Lesung von Friederike Mayröcker an. Sie sollte in einem kleinen Salon lesen. Ich bin zu dieser Lesung gegangen und es war das erste Mal, dass ich einen lebendigen Dichter sah... Als Studentin hatte ich natürlich viel über Lyrik gelernt aber für mich war ein Dichter hauptsächlich ein toter Mann und hier war es auch noch eine Frau! Es ist für mich eine sehr wichtige Begegnung gewesen. Ich habe in Wien angefangen, Lyrik zu schreiben. Mein Lebensgefährte Louis Roquin ist Komponist und Trompeter und er spielte damals mit Stockhausen in Bonn. Ich hatte ihn besucht und die Persönlichkeit von Stockhausen, seine Anweisungen an die Musiker, die Struktur des Stückes, das sie aufnahmen, all das hat mich sehr beeinflußt. Mein Eintritt in die Lyrik ist also unter dem Einfluß der zeitgenössischen Musik entstanden und unter dem Einfluß der deutschen Sprache mit Dichtern wie Franz Mon, der visuellen Poesie von Eugen Gomringer, der Lautdichtung der Wiener Gruppe, deren Mitglieder ich später auf Festivals kennengelernt habe. Musik Stockhausen Autorin Wenn Michèle Métail von ihrem Leben und ihrer Lyrik erzählt, fällt einem auf, wie selbstvertsändlich sich die erstaunlichsten Zufälle ereignen. Ein kleines Plakat hier, Karl- Heinz Stockhausen da. Sie selber macht daraus kein Aufhebens, sondern sieht ihre Arbeit sehr pragmatisch. Und bei ihr fängt fast alles mit einem Spaziergang an. So auch 1972, als sie an der Donau entlangging. 7. O-Ton Michèle Métail (2St. - ab 4'00) D'un seul coup j'ai découvert... la compagnie de navigation sur le Danube (...) j'ai tout de suite considéré ce travail, ce poème, comme une modulation musicale. Sprecherin Auf einmal entdeckte ich "Die Donaudampfschifffahrtsgesellschaft" und plötzlich fiel mir dieses Wort ein, das ich während meines Germanistik-Studiums gelernt hatte (frz O-Ton). Und dann habe ich mir gedacht: Mit diesem Wort kann ich eine Geschichte erfinden, kann ich etwas erzählen. Und als ich abends in mein kleines Zimmer ging, habe ich angefangen die ersten 30 Verse auf Deutsch zu schreiben... was ich Verse genannt habe und dann habe ich dieses Wort auf Französisch übersetzt: (O-Ton rauskommen lassen bei 5'19). Auf Französisch bildet das 6 Einheiten, es ist ein Vers und von da an habe ich angefangen, die Welt der Substantive, der Nomina zu erkunden. Denn es waren ja nur Substantive... Und ich werde versuchen, alle Nomina aus allen Sprachen zu verwenden, aus den toten Sprachen, aus den lebendigen Sprachen, aus erfundenen Sprachen... Esperanto... Das wurde mir nicht gleich beim ersten Abend klar aber dieses Projekt hat sich entwickelt und sehr schnell war die Lust da, von einem Wort zum anderen zu springen. Aber ich sollte eine Einheit behalten und habe mir gedacht: Der Kapitän hat eine Frau... Die Frau des Kapitäns der Dampfschifffahrtsgesellschaft... aber um 6 Einheiten zu behalten, mußte das Wort "Donau" wegfliegen... und dieser Mann und diese Frau, die haben eine Tochter bekommen: Die Tochter der Frau des Kapitäns der Schifffahrtsgesellschaft...so daß innerhalb von 6 Versen, mit 6 Wörtern, die man hinzugefügt hat, der erste Satz komplett verschwunden ist. Flöte Ich habe diese Arbeit, dieses Gedicht sofort als eine musikalische Modulation betrachtet. Autorin Sie wollte, daß dieser Text unmittelbar durch die Stimme wahrgenommen wird. Mit der Konsequenz, daß Michèle Métail sich zwanzig Jahre lang weigerte, ihre Texte zu veröffentlichen. Sie hat nie aufgehört, an diesem "Unendlichen Gedicht" zu schreiben. Inzwischen hat sie zwar Teile davon veröffentlicht, 2888 Verse, die die Kilometerlänge der Donau symbolisieren sollten. Und dennoch hält sie an dem Spruch fest: 8. O-Ton Michèle Métail (2 St. 8'50) La projection du mot dans l'espace représente le stade ultime de l'écriture. Sprecherin Der Wurf des Wortes in den Raum stellt die höchste Stufe des Schreibens dar. Autorin Und es hört sich so an: 9. O-Ton Michèle Métail Gedicht (Take 1'20 gelb - Anfang vom Gedicht auf Französisch - unveröffentlicht - ca. 0'50") Musik Stockhausen Autorin Michèle Métail hatte, ohne es zu wissen, einen oulipotischen Text geschrieben und wurde als erste Frau von der Schriftstellergruppe Oulipo aufgenommen. Mit "Complément de nom" - wie sie ihr Gedicht nannte - entsprach sie voll und ganz dem Ziel von Oulipo: Zur Spracherweiterung durch formale Zwänge zu gelangen. Oulipo wurde 1960 von Raymond Queneau und Francois Le Lionnais gegründet und trifft sich jeden Monat. Einer ihrer berühmtesten Vertreter war Georges Perec, der 1969 mit "La disparition" - ins Deutsche von Eugen Helmlé unter dem Titel: "Anton Voyls Fortgang" übertragen, einen kompletten Roman ohne den Buchstaben E schrieb. Längst hat sie sich von der Gruppe distanziert, auch wenn sie ihr kostbare Lehrstunden bescherte: 10. O-Ton Michèle Métail (2 St. ca 1'09'00) La réunion mensuelle de l'oulipo a un ordre du jour très très précis (...) donc c'était dévorer des bouquins, dévorer... Sprecherin Die monatliche Sitzung hat eine sehr genaue Tagesordnung und der erste Punkt ist immer "Gelehrsamkeit", das heißt, jeder trägt etwas vor, was er entdeckt hat, worüber er forscht. Ich war glücklich, denn ich lernte sehr viel. Diese "Gelehrsamkeit" hat mir die Augen geöffnet und mich empfindlich gemacht für viele Sachen und ich glaube, ich hätte nie in dem Bereich der Sinologie die Forschungen anstellen können, die ich gemacht habe, wenn ich nicht bei Oulipo gewesen wäre. Es war fabelhaft, mit Gelehrten zu verkehren, die so viel auf so verschiedenen Gebieten wußten... Dann hieß es: Bücher verschlingen! Autorin Bücher verschlingen, mit ihnen leben, sich von ihnen inspirieren und leiten lassen. So geschah es, als sie nach dem Tod von Georges Perec verzweifelt nach Hause kam: 11. O-Ton Michèle Métail (2 St. ca 28'00 - 28'22) Je rentre à la maison et... (...) je ne savais pas où j'irai... Sprecherin Ich kam nach Hause und war zutiefst erschüttert, es war schwer. Ich dachte, ich muß auf andere Ideen kommen und ging in meine Bibliothek... und es fällt mir ein Buch in die Hand, ein Buch von Francois Cheng, " Die chinesische Dichtkunst ", und der erste Satz, den ich lese, heißt: Im Chinesischen kann man wegen der Struktur der Sprache so viele Palindrome machen wie man will und dass das sehr einfach sei. Ich dachte mir : Es ist unglaublich, Georges Perec hat das längste Palindrom auf Französisch geschrieben... das muß ein Zeichen von Georges sein, ich muß Chinesisch lernen! Mein Leben lang war es so, die Entscheidungen wurden immer von einer Anekdote, einer Begegnung, von etwas Verrücktem ausgelöst und ich wußte nicht, wohin sie mich führen würden. Musik Stockhausen Autorin Das Palindrom ist ein Stilmittel, bei dem die Buchstaben eines Wortes oder eines Satzes von links nach rechts gelesen das Gleiche ergeben wie von rechts nach links. Beispiel gefällig? " Reliefpfeiler " oder etwas länger: " Eine treue Familie bei Lima feuerte nie. " Michèle Métail nahm jedenfalls diesen Wink des Schicksals als Anlaß, Chinesisch zu studieren und weil sie alles gründlich macht, ging sie bis zur Promotion. Das Thema ihrer Arbeit waren Chinesische Gedichte, die man in verschiedene Richtungen lesen kann, sogenannte Kettengedichte, chinesische Palindrome. 14. O-Ton Michèle Métail (2 st. ) après 28'22" Ca a été quand même un moment décisif la découverte de la Chine parce (...) à partir de ce moment là, j'ai beaucoup travaillé avec la photo, j'ai beaucoup travaillé sur le paysage. Sprecherin Die Entdeckung Chinas ist ein entscheidender Moment, denn mein Schreiben ist ins Wanken geraten aber nicht nur das, meine Auffassung des Lebens... In China habe ich mit dem Taoismus und all den philosophischen Strömungen eine Ansicht gefunden, bei der der Platz des Menschen in der Natur völlig dem entsprach, was ich mir vorstellte. Ich war mit der französischen und europäischen Sicht der Dinge überhaupt nicht zufrieden, die den Menschen als Herrscher über die Natur sieht. In den japanischen und chinesischen Gärten kann man nie mit einem einzigen Blick alles erfassen. Man geht auf Entdeckung und der Mensch fügt sich in die Natur, er ist ganz klein in einem immensen System. Und ich glaube, daß sich mein Schreiben zu diesem Zeitpunkt verändert hat. Ich habe mich sehr auf die Frage der Landschaft konzentriert, ich habe viel mit Fotografien gearbeitet. Akzent Flöte Autorin Auf Deutsch ist ein Gedichtband erschienen, in dem Michèle Métail Notizen aus vielen Reisen in China zwischen 1985 und 2006 in Form gebracht hat. Sie hat sich für Fünf- Silben-Verse entschieden, eine Form, die häufig in der chinesischen Lyrik vorkommt und die sie mit den fünf Elementen der chinesischen Kosmologie Holz, Feuer, Metall, Wasser und Erde in Verbindung bringt. Die Schriftstellerin Ulrike Draesner hat diesen Text genial übersetzt und dafür ebenso fünfsilbige Verse verwendet, eine Meisterleistung mit dem Titel: "Weg, fünf Füße breit". 15. O-Ton Michèle Métail - Gedicht aus "Weg, fünf Füße breit" - aus dem Französischen von Ulrike Drasener und der Autorin, Verlag Edition Korrespondenzen, Wien, 2009 - Verse 1982 bis 2027 (Take de 8'54 - saumon bei 1'28" - Vers 1982) Limite provinciale du Gansu-Qinghai minorité Hui femmes en foulard noir les hommes, bonnet blanc portant, inusable la fameuse vareuse facon timmonier ..... Musik Stockhausen Sprecherin (ab Vers 2002) ...dies falsche Glatteis macht den Weg rutschig der Wagen bricht aus eine Staubwolke erste Tibeter erste Banner im Wind der Gebete die ersten Stupas Reliquien, in einer Mulde von Pflanzen verborgen Himmel kraftvoll tief vom Blau der Höhe die Hängebrücke aufs kalte Wasser geworfen, Reise in ein fremdes Land 16. O-Ton Michèle Métail (2St, ca 46'00") Le vers de cinq syllabes, il impliquait de rendre un effet dans la perception du voyage (...)une composante essentielle dans la philosophie et la représentation chinoise. Sprecherin Der fünf-silbige Vers entsprach meiner Wahrnehmung der Reise, dieser langen Durquerung des Landes. Als ich diese Reisen machte gab es noch alte Dampflokomotiven. Ich fuhr mit denen bis zum Ende der Wüste Gobi. Man sieht lauter Bilder, die wie Blitze aufeinander folgen und alles geht ineinander über, manchmal ohne Verbindung. Es entspricht der Brutalität mit der ein Blitz einbricht, etwas, was man ganz schnell wahrnimmt und hop! Es verschwindet und wird von einem anderen Bild ersetzt. Es ist ein sehr langes Gedicht, ohne Unterbrechung, in dem die Jahre sich aneinanderreihen, neun Reisen werden beschrieben und 9 das ist auch das magische Quadrat, auch das eines der wesentlichen Elemente der chinesischen Philosophie. Autorin Ihr Interesse gilt nicht nur der Vergangenheit Chinas, Michèle Métail ist auch heute in Kontakt mit chinesischen Autoren und übersetzt () die Texte einiger von ihnen, unter anderen von Xiao Kaiyu. 17. O- Michèle Métail - (2 St. après-midi bei 29'42" + 33'08") Aujourd'hui parce que aujourd'hui on est poète (...)...bon c'est aussi valable dans les pays arabes, bien sûr, où on emprisonne des poètes Sprecherin Heutzutage haben viele chinesische Dichter was man im Deutschen "Die Schere im Kopf" nennt, ein Ausdruck, den ich sehr mag. Sie praktizieren Selbstzensur, sie wissen in etwa, bis wohin sie ohne allzu viel Gefahr gehen dürfen. Das weiß man hier gar nicht, denn wir dürfen hier alles schreiben, wir können alles ansprechen. Aber der Text, den ich über China geschrieben habe, den kann ich in China gar nicht lesen, undenkbar! Es ist sehr interessant, darüber nachzudenken, daß die poetische Sprache in Diktaturen Gewicht hat. Das ist doch unglaublich. Sie hat in der Demokratie ihre Bedeutung verloren, man kann alles sagen aber in der Diktatur wird sie als gefährlich empfunden. Das gilt auch für die arabischen Länder, wo man Dichter ins Gefängnis steckt. Musik Klavier Luis Roquin Autorin Im Jahr 2000 bekam Michèle Métail eine Einladung vom Daad, () machte sich auf den Weg nach Berlin und lebte dort ein Jahr lang. Ihre Art, sich eine Landschaft anzueignen ist überall die gleiche: 18. O-Ton Michèle Métail (2 St. 31'11") Le point commun, dans toute cette démarche... c'est la marche ! (...) j'ai commencé à travers mes promenades, à photographier ces reflets, puis voilà ! 34'55 " Sprecherin Bei mir hat alles mit dem Gehen zu tun! Ich habe nachgerechnet, daß ich in Berlin zwischen 10 und 15 km pro Tag gelaufen bin. Ich muß zwischen 2000 und 3000 km gelaufen sein während des ganzen Jahres. Ich habe alles erforscht. Ich wußte überhaupt nicht, ob ich über Berlin schreiben würde und was ich über Berlin schreiben würde, aber ich mußte mich vollsaugen. Es geht um die Durchdringung, darum, daß man eintaucht - wie man ins Wasser taucht. Die Komposition gibt es nicht vorab, sie entsteht. Vorher muß Material vorhanden sein und sich plötzlich kristallisieren. Es passiert etwas. Als ich nach Berlin kam, sind mir die vielen Spiegelungen der Stadt aufgefallen, sie haben mich neugierig gemacht. Da Berlin stark zerstört wurde gibt es dort viele Neubauten mit großen Fensterfronten, so daß die Stadt sich ständig widerspiegelt aber es gibt auch diesen philosophischen Gedanken:"Wo ist das Reale?", den man sowohl im Taoismus als auch im Buddhismus findet. Die Realität existiert nicht. Im Buddhismus wird das Bild der Spiegelung verwendet, um die Illusion der Realität zu zeigen. Autorin Aus diesen Spaziergängen ist der Band "Toponyme Berlin"entstanden, auf Deutsch "Gehen und schreiben", in der Übersetzung von Elfriede Czurda. Michèle Métail hat hier ihre fragmentarische Vision der deutschen Hauptstadt in kurzen Texten gesammelt und die Stadt fotografiert: 19. O-Ton Michèle Métail ( Auszüge aus "Toponyme Berlin", Verlag Tarabuste Editeur, Saint-Benoît du Sault, 2002 Seite 25- Take 28'20" bei 3'37") Sprecherin 12. April 2000: Kastanienbaum im Hof o-Ton Métail: effeuillé d'hiver se dresse là entre des murs, triangle angles sombres où s'étagent à mi-bois des rameaux épais quand aux pointes un bourgeon fendu jour, jour suivant éclose l'éclosion Sprecherin (Auszug aus "Gehen und Schreiben" von Michèle Métail - aus dem Französischen von Elfriede Czurda, Verlag: Daad Berliner Künstlerprogramm, 2002, Seite 13) Blattlos vom Winter steht er da, zwischen dem Gemäuer, Dreieck finstre Ecke wo sich holzmittens stapln aufstaun dicke Äste wo an den Spitzen auf springt eine Knospe tags, folgenden Tags aufbricht's, Öffnung 20. O-Ton Michèle Métail (2 St. ca 35'10") J'observais cet arbre et j'avais envie d'écrire sur cet arbre (..) ce que j'appelle depuis... j'ai développé l'idée du cadrage ! Sprecherin Ich beobachtete diesen Baum und hatte Lust, über ihn zu schreiben. Und so fing ich an, Worte zu schreiben aber es funktionierte nicht. Ich ging raus und fotografierte und irgendwann dachte ich mir: Mein Gedicht muß wie ein Bild sein! Damals arbeitete ich mit Filmen also brachte ich die belichteten Filmen zum Fotografen und ich fragte immer nach Abzügen im Format 10x15 und ich sagte mir: Mein Gedicht muß auch dieses Format haben! Meine Bilder haben ein Format, meine Gedichte müssen auch eins haben. Und so habe ich entschieden, Zehn- Verse-Gedichte zu schreiben, jeder Vers mit 15 Buchstaben. So kam das! Ich konnte dann das Gedicht über die Kastanie schreiben, nachdem ich den Rahmen abgesteckt hatte, wie ich es nenne. Autorin Neben den Zehn-Verse-Gedichten hat Michèle Métail eine Passage in Prosa geschrieben. Sie ist der Galvanistrasse gewidmet, die sie zufällig auf einem Spaziergang entdeckte. Michèle Métail fühlt sich der Berliner Galvanistrasse sehr verbunden, weil sie in der Pariser Rue Galvani im 17. Arrondissement aufgewachsen ist. Die kurzen Texte unter dem Titel "Jumelag" scheinen wie weitere Spiegelungen ihrer Erinnerungen an die Rue Galvani. Sie sind befreit von dem Zwang der 15 Buchstaben und zehn Zeilen, befreit von Interpunktion, Klein- oder Großschreibung. Es sind Gedankenblitze voller Zärtlichkeit. Musik Stockhausen 23. O-Ton Michèle Métail - (Toponyme Berlin Verlag Tarabuste Editeur, Saint-Benoît du Sault, 2002, Seite 96-Toponyme Berlin + Galvanistrasse bei 9'38") Cinquante ans, j'ai l'âge de la photo. elle est assise dans un fauteuils pose de femme enceinte, proche de l'accouchement.les cheveux relevés et ramenés sur l'avant dans une coiffure qui paraît si démodée. l'air doux. présence sans corps. Hunieng, j'ai lu le koan de Huineng, sixième patriarche du zen. voir le visage qu'on avait avant même la naissance. et je vois, je revois la photo, surtout la double porte vitrée, côté droit, petits carreaux biseautés, 10x10. la lumière s'y décomposait, faisant naître les couleurs. naissance des couleurs. Sprecherin (Auszug aus Toponyme Berlin Verlag Tarabuste Editeur, Saint-Benoît du Sault, 2002, Seite 84) 50 Jahre, ich bin so alt wie das Foto. sie sitzt auf einem Sessel in der Haltung einer Schwangeren, der Niederkunft nahe. die Haare hochgesteckt und nach vorne gezogen. mit einer so altmodisch wirkenden Frisur. (...) (sanfter Ausdruck). Gegenwart ohne Körper. Huineng, ich habe den Koan von Huineng gelesen, dem sechsten Meister des Zen. das Gesicht sehen, das man hatte, noch vor der Geburt. ich schaue das Foto immer wieder an, vor allem die doppelte Glastür zur Rechten, kleine geschliffene Rechtecke, 10x10. das Licht brach sich darin, brachte Farben hervor. Geburt der Farben. Autorin In ihren Arbeiten verschieben sich die Grenzen der Genres und der Materialen beständig. So kann ein Text aus Asphaltzylindern entstehen. Dialekte können Farben bekommen und den Klang eines unendlichen Gedichtes modulieren. Als sie in Berlin lebte, wurde Michèle Métail mit den Klängen von eingedeutschten französischen Wörtern konfrontiert. Sie übernahm sie in ihr Poème infini. 25. O-Ton Michèle Métail - Auszug aus dem poème infini - nicht veröffentlicht - (Take de 14'50 bleu ciel - bei 0'51" ab 1'32" Allemand puis en alternance) Das Quatrain des... Autorin Während einer Lesung vor zwei Jahren im Centre Beaubourg in Paris lachte das Publikum so herzhaft, daß Michèle Métail fast angesteckt wurde. Die Akzeptanz für ihre Texte ist im Laufe der letzten 40 Jahre enorm gestiegen, die Leute lassen sich auf die Performance ein, sie sind neugierig und werden nicht enttäuscht. Etwa wenn sie aus ihren Papierrollen liest, die sie in akribischer Arbeit wochenlang mit Tusche beschriftet und bemalt hat. 25. O-Ton Michèle Métail (2 St. Bei 20'10 ) Et alors en fait, ca génère quelque chose de très particulier, ces publications (...) + Take 25 - (aus 1'32'14 - bei 8'30 : je pense la poésie en trois dimensions) ... très important comme mode de diffusion Sprecherin Diese mündlichen Veröffentlichungen erzeugen etwas Besonderes im Kontakt mit dem Publikum. Es ist Licht im Saal und ich lese sehr leise, ich flüstere, die Leute setzen sich hin, achten nicht darauf, unterhalten sich und ich fange an, etwas lauter zu lesen und plötzlich richtetjemand aus der ersten Reihe seine Aufmerksamkeit auf mich und plötzlich macht einer " Sh..." Die Energie, die ich in die Lesung, in die Stimme, in meine Anwesenheit reinstecke, ist wichtig, das gehört zu meiner Arbeit und dann gibt es eine Energie zurück, es gibt diese Spannung, die man in der Stille spürt. Manchmal höre ich nicht mehr, was ich lese, sondern ich höre, wie das Publikum hört. Für mich ist das etwas absolut Wunderbares. Es ist ein Geschenk, es passiert etwas Außergewöhnliches ! Ich denke die Poesie dreidimensional. Ich lebe, ich bin hier, ich sehe die Leute, ich tausche das mit ihnen und das ist eine sehr wichtige Art und Weise, Lyrik zu verbreiten. Atmo - Geräusche der Rolle , dann weiter Gedicht QUATRAIN Musik Stockhausen Ende bei 28'23'' 14