KULTUR UND GESELLSCHAFT Organisationseinheit : 46 Reihe : Literatur Kostenträger : P 62 110 Titel der Sendung : Literarische Wegweiser in die Welt von Morgen. Deutschsprachige Neuerscheinungen Autor : Carsten Hueck Redakteurin : Barbara Wahlster Sendetermin : 12.3. 2013 Besetzung : Autor(Spricht selbst) Zitatorin, Zitator Regie : Beatrix Ackers Urheberrechtlicher Hinweis: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig © Deutschlandradio Deutschlandradio Kultur Funkhaus Berlin Hans-Rosenthal-Platz 10825 Berlin Telefon (030) 8503-0 DeutschlandRadio Kultur Literatur: 12.03.2013, 19:30 Uhr Literarische Wegweiser in die Welt von morgen. Deutschsprachige Neuerscheinungen. Von Carsten Hueck Red.: Barbara Wahlster --------------------------------- Musik Autor In den guten alten Sechziger und Siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts, die Landung auf dem Mond war endlich geglückt, stellte man sich die Zukunft noch als Fortschritt vor, als etwas, das gegenwärtige Anstrengungen eines Tages lohnen würde. Autor Doch heute? Utopie adé! Das Ende der Geschichte ist längst ausgerufen, geographische wie zeitliche Grenzen sind beiläufig per Mausklick zu überwinden. Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft ? hat diese klassische Trias überhaupt noch eine Relevanz? Zitator Die Zukunft ? sei es nun eine kristallene Stadt auf einem Hügel oder eine postnukleare, radioaktiv verseuchte Einöde ? ist passé. Vor uns liegen nur?.noch mehr Ereignisse. Ein bunter Blumenstrauß Alltäglichkeiten, Autor ? konstatiert in seinem neuen Buch ?Mißtrauen Sie dem unverwechselbaren Geschmack? der amerikanische Science Fiction Autor William Gibson. Und er findet das gar nicht schlecht: Zitator Dieser neue Zustand der Zukunftslosigkeit ist meiner Ansicht nach positiv zu bewerten. Er ist ein Zeichen der Reife und des Begreifens, dass die Zukunft immer jemandes Vergangenheit und die Gegenwart jemandes Zukunft ist. Nachdem wir nun in der Zukunft angekommen sind, entdecken wir zwangsläufig, dass sie nicht so großartig ist, wie man sie sich vorgestellt hat. Autor Auch etliche deutschsprachige Autoren und Autorinnen beschäftigen sich in ihren neuen Romanen mit der Zukunft. Sie zeichnen das Bild einer Welt von morgen, in der sich Entwicklungen der Gegenwart zugespitzt haben. Sie tun es nüchtern, ohne apokalyptisches Geschrei, gar nicht getrieben von ?German Angst?. Sie präsentieren Landschaften, die uns seltsam vertraut vorkommen,nicht weit entfernt von unserer eigenen Lebenswelt. Zukunft hat literarisch nicht mehr mit großen technologischen Erfindungen oder der Angst vor Invasionen aus dem All zu tun, sondern stellt sich dar als die Verlängerung des Alltags unter unfreundlichen, zugespitzten Bedingungen. Die dreißigjährige Annika Scheffel beschreibt in ihrem neuen Roman ?Bevor alles verschwindet?, wie eine dörfliche Lebensweise untergeht ? stellvertretend für Tradition, Selbstbestimmung und Individualität der Menschen.Und wie deren Beziehungen zerstört werden, weil sie aufgrund einer sogenannten ?Infrastrukturmaßnahme? zur Umsiedlung gezwungen sind. Zitatorin Weinen kann sie immer noch nicht, dafür ist zu viel verloren. Ein Zuviel, das eigentlich alles ist und gegen das kein Hiersein hilft, kein Woanders und kein unermesslichen Sees und wartet. Autor Jula ist eine der Hauptfiguren des Romans. Zehn Jahre nachdem ihr Heimatdorf geflutet wurde, und es in einem großen Stausee versank, kehrt sie an den Ort ihrer Kindheit zurück. Nichts mehr ist wiederzuerkennen, doch sie erinnert sich an das Zusammleben im Dorf und den von vornherein erfolglosen Kampf der Bewohner gegen die drohende Veränderung. Scheffel hat eine Art Heimatroman geschrieben. Sie vermittelt persönliche Geschichten unterschiedlicher Figuren, indem sie ihnen jeweils ein Kapitel widmet. ?Bevor alles verschwindet? erinnert an Wimmelbilder aus den Siebzigern, auf denen man die Metamorphose eines beschaulichen Weilers mit Bauernhäuschen zur Hochhaussiedlung mit Stadtautobahn visuell nachvollziehen konnte. Stark sind Scheffels trockene Dialoge und die atmosphärische Dichte ihres Textes, in dem zivilisationskritische und anti-utopische Motive aufscheinen. Auch in anderen Neuerscheinungen dieses Frühjahrs sind solche Motive zu finden: Der endgültige Verlust vertrauter Lebensformen, Zerrüttung menschlicher Beziehungen, der Kampf einer Minderheit gegen das Diktat einer überlegenen, anonymen Medien-oder Wirtschaftsmacht. Was als Fortschritt gilt, macht in der Schilderung der dreißig- bis sechzigjährigen Autoren und Autorinnen keinen vertrauensvollen Eindruck. Zitator Die Mitglieder des Kandor Clubs sind besessen vom Abriss der Gegenwart. Die Gegenwart bedeutet für sie vor allem Unordnung: zu viele Anblicke, zu viele Anreden, ein Überfluss von bedeutsamen signalgebenden Kombinationen, zu viele Anmutungen. Tief anrührende Wehrlosigkeit eines Menschen oder eines Dinges ? was wäre das? Flausen! Sie rechnen und planen und konzipieren und konstruieren. Autor Heißt es in ?Der Überlebende?, dem Porträt eines entfernten Verwandten Doktor Frankensteins. Der Roman des Autors Ernst-Wilhelm Händler kann ebenso wie der von Annika Scheffel durchaus in der Gegenwart spielen. Und so wecken die literarischen Zukunftsrechercheure dieses Frühjahrs vor allem Erinnerungen ans Heute. Ihre Romane sind zum überwiegenden Teil zeitlich nicht genau markiert. Es scheint, als läge die Zukunft nicht mehr vor uns, sondern habe schon längst begonnen. ?Das gute Neue ist niemals so ganz neu?, stellte schon Ernst Bloch fest. Das schlechte Neue ebenso wenig. Die Österreicherin Eva Rossmann belegt das mit ihrem Öko-Krimi ?Unter Strom?. Zitatorin Es geht um ein grundsätzliches Umdenken. Wir brauchen keine Großkraftwerke, weder solche mit Atomstrom noch solche mit Mega-Wasserkraft, hinter deren Staudämmen ganze Täler verschwinden. Wir brauchen keine Tausende Kilometer langen Gas-und Stromleitungen. Wir brauchen keine Ölförderanlagen im Meer. Wir brauchen??, sie sieht mich begeistert an und macht eine kleine Kunstpause, ?regionale Energieversorgung.? Autor Ich-Erzählerin Mira, eine Journalistin, unterhält sich mit der Pressechefin der Umweltorganisation PRO. Mira möchte herausfinden, warum das Miltär ein großangelegtes Manöver zum Schutz einer Gasstation im österreichischen Weinviertel abgehalten hat. Sie gerät in ein undurchsichtiges Netzwerk von Energieversorgern, Politikern, Umweltaktivisten und staatlichen Behörden. Nach knapp dreihundert Seiten kommt es schließlich heraus: Das Energieunternehmen ?Pure Energy? hat einen Agent Provocateur bei den Umweltaktivisten eingeschleust, um aus deren Reihen Anschläge auf eigene Einrichtungen zu verüben; mit dem Ziel, seine politisch-wirtschaftliche Macht zu vergrößern; um mehr Profit zu machen; undsoweiter undsoweiter. Dieser Krimi wirkt wenig zukunftsträchtig, alles darin ist heutig ? oder fast schon von gestern. Immerhin, die Vorstellung, dass in Zukunft nicht nur religiöse oder nationalistische Fanatiker die Welt noch ungemütlicher machen, als sie ohnehin schon ist, sondern auch angebliche ?Ökoterroristen?, macht diesen Roman zumindest erwähnenswert. Musik Autor Tatsächlich in eine andere Zeit entführen uns Robert M.Sonntag und Reinhard Jirgl. Der 1978 geborene Sonntag mit seinem Romandebut ?Die Scanner?. Der 1953 geborene und vielfach ausgezeichnete Jirgl mit seinem sprachlich experimentellen und düsteren Epos ?Nichts von euch auf Erden?. Robert M.Sonntag wagt sich vor ins Jahr 2035, Reinhard Jirgl gar ins 25. Jahrhundert. Beide Autore schildern Zukunft -und aus der Zukunft retrospektiv, wie die Welt früher aussah. Auch Hannes Stein wirft einen Blick auf die Vergangenheit, originell verspielt, sein Roman endet allerdings schon im Jahr 2001. Das sieht ganz anders aus, als wir es in Erinnerung haben. Stein entwirft seine Zukunftsvision indem er historische Koordinaten ändert: der Erste und der Zweite Weltkrieg sind bei ihm ausgefallen, die Welt nimmt eine Entwicklung, die heute nicht mehr vorstellbar ist ? außer eben in der Literatur. Steins Buch ist vielleicht das einzig wirklich utopische unter den hier genannten. Die Welt, die der Autor beschreibt, vor allem sein Hauptschauplatz Wien, ist tatsächlich ? und vergleichsweise als einziger - ein ?guter Ort?. Vorwärts in die Vergangenheit: Musik Zitator Vor dem inneren Auge von Dudu Gottlieb stiegen die Bahnhöfe in den kleinen Provinzorten auf, wie sie über ganz Österreich-Ungarn verstreut lagen, gelb, winzig, beschützt von dem kristallenen Glasdach des Perrons und überwacht von dem schmalen Doppeladler auf gelbem Hintergrund. Etwas Heimatliches ging von diesen Bahnstationen aus. Überall fand man die gleichen Elektromobile aus dem Haus Steyr-Daimler-Puch; überall die gleichen Almdudler-Reklamen; überall die gleichen Cafés mit zur Dicklichkeit neigenden Kassiererinnen. Wunderbar? Vielleicht war es übertrieben, wenn man dieses Reich geradezu ?wunderbar? nannte, aber gut bewohnen konnte man es allemal: ein Land, das aus Regeln, Herkunft und ein bisschen Fortschritt gemacht war. Ein Imperium, das auf dem Weg in die Zukunft jene Lahmen, Mühseligen und Beladenen nicht zurückließ, die der modernen Entwicklung hinterherhinkten. Reaktionär, fortschrittlich und human. Autor Dudu Gottlieb gehört zur feinen Wiener Gesellschaft, er ist Jude und k.u.k. Hofastronom, eine der Hauptfiguren in Hannes Steins Roman ?Der Komet?. Stein, 1965 in München geboren und seit einigen Jahren in New York lebend, malt mit kräftigen Pinselstrichen das Bild eines friedlichen, von Monarchien geprägten Europas. Das k.u.k. Reich Österreich-Ungarn wird immer noch von einem Habsburger Kaiser regiert, an seiner Seite eine deutschstämmige, dem rheinländischen Karneval verbundene ?Volkskaiserin?. Eine Bilderbuchidylle. Frankreich ist eine der wenigen Republiken auf der Erde; Deutschland hat um die Mitte des 20. Jahrhunderts, unter tatkräftiger Mithilfe seiner jüdischen Wissenschaftler ?die Herrschaft im Luftreiche der Utopie erstritten?. Der Hohenzollernmonarchie gelang als erster Macht die Landung auf dem Mond. Im Jahr 2001 gehören Mondflüge bereits zum Alltag. Für Dudu Gottlieb, den Hofastronom, sind sie dennoch immer wieder erhebend. Musik Zitator Der Mondflieger brauste über die Kronländer der Monarchie hinweg und nahm immer deutlicher Kurs auf den Atlantik. Unterdessen döste Dudu Gottlieb: Amerika, dachte er im Halbschlaf, ach ja, Amerika. Gerade eben hatte er in der Zeitung gelesen, dass Cuba als 52. Bundesstaat in die Union aufgenommen werden wollte. Amerika war leider nicht nur eine Republik, sondern außerdem kulturlos. Auch einen Mondflug hatten die Amerikaner nie zustande gebracht. Am schwersten wog vielleicht, dass sie dort drüben nichts hatten, was es mit den Rosenhügelstudios in Hietzing aufnehmen konnte. Keine Filmindustrie, keinen Samuel Wilder, keine Romy Schneider, keinen Christoph Waltz, keinen Arnold Schwarzenegger. Autor Kaum auf dem Mond angekommen, sieht sich Gottlieb mit einer Hiobsbotschaft konfrontiert: Ein eigenwilliger Komet droht auf die Erde zu stürzen, Weltfrieden und Wiener Gemütlichkeit den Garaus zu machen. Dudu Gottlieb erkennt: Für die Menschheit gibt es kein Entkommen, keine Rettung. Und reist zur Erde zurück, zu Frau und Kind. 253 Tage bleiben noch bis zum großen Knall. Auf Erden brechen weder Panik, noch Anarchie oder Chaos aus. Man fügt sich ins Unvermeidliche und lebt dahin. Aber Wien wäre nicht ? wie Karl Krauss annoncierte ? bloß ?Versuchsstation für Weltuntergänge? und Hannes Stein wäre nicht der humoristisch begabte Autor, der er ist, wenn es tatsächlich zum Schlimmsten käme. Musik Autor Am Morgen des prognostizierten Weltuntergangs platzen die Heurigenlokale aus allen Nähten und auf dem Gipfel des Cobenzel, einem kleinen Berg am Rande Wiens, versammeln sich die Schaulustigen, Liebespaare, Chassiden, bosnische Muslime und die kaiserliche Familie. Zitator Die Stimmung dort oben war beinahe ausgelassen. Eine kleine Kapelle ? Tuba, Elektrogeige, Schlagzeug, Ziehharmonika, Bassgitarre ? hatte ihre Lautsprecher aufgepflanzt; sie spielte jene Art von elektronisch verstärkter Zigeuner-und Balkanmusik, mit der das k.u.k. Reich künstlerisch längst die Weltherrschaft errungen hatte. Autor Kurz vor dem Einschlag wird der Komet von gegenläufigen Gravitationskräften des Mondes und der Erde in einem kosmischen Feuerwerk zerrissen. Astronomen und Physiker hatten sich verrechnet. Lakonisch beendet Stein seinen unterhaltsamen Roman. Verspielt veranschaulicht er die eingangs zitierte These William Gibsons, dass Zukunft immer jemandes Vergangenheit ist. Nimmt man das ernst, so kann man ?Der Komet? als Ausdruck nostalgischer Sehnsucht lesen und auch als Zivilisationskritik: Die Zukunft kann einfach nichts Gutes verheißen, wenn ihre Vergangenheit nur Gebrüll und Geschrei kannte. Musik Autor Mit aller Schärfe und Eindringlichkeit formuliert das auch der 1953 in Ost-Berlin geborene, vielfach und im Jahr 2010 mit dem Büchner-Preis ausgezeichnete Autor Reinhard Jirgl. Sein Roman ?Nichts von euch auf Erden? ist nicht nur sprachlich radikal, sondern präsentiert über weite Strecken auch Bilder, vor denen man sich eigentlich schützen möchte. Gewaltig sind sie, geladen mit der Kraft des Alten Testaments und der Ilias, erbarmungslos in ihrer Umsetzung von Horrorfantasien. Der Mensch bei Jirgl: ein Versuchsobjekt. Zitator Während des 23. Erdzeitjahrhunderts erfolgte in planmäßig umfassender Weise die Besiedlung des Erdmonds und in dessen Folge die des Planeten Mars. Ähnlich der Kolonisation des australischen Kontinents im 17. und 18. Erdzeitjahrhundert durch Sträflinge, geschah die Kolonisation einiger Mondgebiete durch vom Planeten Erde evakuierte Menschengruppen, deren sowohl sozialer als auch psychomentaler Status in problematischen Bereichen rangierte. Autor Jirgls Zukunftsvision beginnt mit der Rückkehr der Nachkommen jener Zwangsumgesiedelten: die Marsbewohner nähern sich der Erde, ausgerüstet mit einer Art Baedeker, dem ?Buch der Kommentare?. Autorin ist eine Zitatorin Ordentliche Beauftragte der Marsdelegation E.S.R.A.I.,der Ersten Expedition zur Sicherung für die Rückkehr der Außerterrestrischen. Autor Sie beschreibt - wir befinden uns in der Mitte des 25. Erdzeitjahrhunderts - Geschichte, Entwicklung, Aussehen und Struktur des Planeten Erde: Sogenannte Imagosphären, bestehend aus elektrisch leitfähigem Glasfaserflechtwerk, überwölben die terrestrische Landschaft. Diese ?Glückshauben? garantieren den Bewohnern Unabhängigkeit von Witterungsverhältnissen. Zitatorin Tag, Nacht, Jahreszeitenwechsel, Himmel, Wolkenformationen, Klimaempfindungen etc. entstehen nurmehr aus den kollektiven Bewußtseinszuständen der unter den jeweiligen Kuppelsegmenten lebenden Bevölkerung. Im europäischen Teil überwiegt als Standard eine orangerote Abendstimmung. Autor Die Erdbevölkerung dort lebt in einem friedlichen Dämmerzustand. Menschliche Restbestände, durch flächendeckende Ausbreitung eines ?Pazifizierungs-Gens? freundliche, ausgeglichene Wesen. Man lebt respektvoll und höflich, in strikt separierten Gemeinschaften, die nichts mehr von einander wissen wollen. Eine Art ewiger Friede ist eingezogen, nachdem an der Schwelle vom 21. zum 22. Jahrhundert noch Kriege um Ressourcen und Energie der Erde wie wir sie heute kennen, den Garaus gemacht hatten. Zitatorin Praktisch jede Lebensäußerung ward sofort von den Kriegsfeuern erfasst und in den sengenden Mahlstrom kriegerischer Totalvernichtung hineingezogen. Die Welt, ein Lazarett aus Krüppeln und Irren, ein Massengrab für den Rest ? zu jenen Zeiten, als die Besiedelungsmaßnahmen von Erdmond und Mars auf weltweite Akzeptanz trafen. Viele wanderten aus, einige blieben. Sämtliche Netzwerke aber wurden zerrissen. Fortan blieben die Völkerschaften in den einzelnen Erdteilblöcken unter sich, getrennt und allein. Autor Reinhard Jirgl schreibt eine klassische Dystopie. Die Apokalypse liegt in der Vergangenheit. Eine schöne neue Welt existiert inzwischen auf Erden - in der es keine Freiheit mehr gibt, keine Individualität. Es gibt kein Privatleben mehr, Sexualität besteht im Speichelaustausch ohne Körperkontakt, individuelle Gelüste entstehen nicht. Die Menschen begegnen einander durch ?Holovision?, dem zentralen Kommunikations-und Informationsmedium der Zukunft. Zitator Sie liefert, in einen Raum projiziert, dreidimensionale Abbilder, die sich bewegen. Zwischen Fiktion und Realität besteht dann bei der Betrachtung kein Unterschied, erst die taktile Prüfung erbrächte die Entscheidung, doch sind unaufgeforderte Berührungen eines Anderen gesellschaftlich verpönt. Die Speicherdaten der Holovision dienen als Hauptinformationsquelle für Nachrichten aus Gesellschaft und Familie, aus Gegenwart und Vergangenheit. Autor Durch die Rückkehr der Marsbewohner auf ihren Ursprungsplaneten Erde aber ändern sich die Lebensbedingungen erneut. Tatmenschen treffen auf Träumer. Auf dem Mars werden neue Arbeitskräfte benötigt, die holt man sich nun von der Erde. Monströse ?Terraforming Programme? sorgen für eine ständige Optimierung der terrestrischen Arbeitssklaven, die in Arbeitslagern auf dem Mars verheizt werden. Am Ende aber erweist sich auch dieses interplanetare Gesellschaftssystem aufgrund menschlichen Größenwahns als nicht überlebensfähig. Es kommt zu einem Inferno, das Erde und Mars zerstört. Irgendwo in den Weiten des Weltraums bleiben ?morphologische Bücher? zurück. Sie schreiben sich selbst fort, nicht mehr angewiesen auf Autoren oder Leser. Musik Zitator Organisches Leben, selbst in seinen allerniedersten Formen, hatte diesen Welten=Ausbrand, solchen Unband aus Lavagluten sengenden Feuer=Stürmen verdampfender Meere u Flüsse, nicht überstanden. Der Planet Erde ein durchs All in Staubstürmen taumelnder Aschenkrug für Alles was verbrennen & zerstürzen kann. Keine Ruinen, keine Überbleibsel, keine Erinnerung. Inmitten der ungeheueren Macht kosmischer Zeitlosigkeit Ausatmen Atemholen im tiefroten Leuchten einer Sonne manchmal Sturzflut Regen Gewitter zerflammen die lichten Himmel den wenigen Chiffren ihres Bauplans gemäß verlöschen Pilze Flechten Sporen Amöben Mikroben Stromatolithen und dunkler Seen Schatten steigen aus den Talschaften Abend von Ewigkeit Autor Reinhard Jirgls Zukunftsvision endet mit der Zurücknahme der Schöpfung. Er widerruft die Genesis, es herrscht wieder Tohuwabohu. Musik Autor Bücher, von realen Autoren geschrieben und von realen Lesern gelesen, stehen im Mittelpunkt des Romans ?Die Scanner? von Robert M. Sonntag. Der 1978 geborene Autor heißt mit bürgerlichem Namen Martin Schäuble und hat sich bislang als Sachbuchautor einen Namen gemacht. ?Die Scanner?, sein belletristisches Debüt, erscheint in der Sparte Kinder-und Jugendbuch. Doch genauso wenig wie ?Der Fänger im Roggen? ist ?Die Scanner? ein bloßes Jugendbuch. Rob, Hauptfigur und Ich-Erzähler der Geschichte, die im Jahr 2035 spielt, hat die Schule beendet, ein Studium aber aus finanzieller Not abgebrochen. Er jobbt jetzt. Der Erzählton ist locker, Rob spricht den Leser direkt an. Er nimmt ihn mit in eine allseits vernetzte Welt, regiert wird sie vom Medienkonzern Ultranetz. Autor In der von Ultranetz beherrschten Welt gibt es kaum noch Druckerzeugnisse. Alles verfügbare Wissen wird von diesem Konzern verwaltet. Rob und sein Freund Jojo arbeiten als Buchagenten. Ihre Aufgabe ist es, noch vorhandene Bücher aufzukaufen, ihren Inhalt zu scannen und sie dann zu vernichten. In einem Metrogleiter, einer Weiterentwicklung heutiger Magnetschwebebahnen, kommt es zu einer folgenschweren Begegnung. Zitator Der alte Mann neben mir packte ein Buch aus. ?Was wollen Sie für das Bündel Papier haben??, fragte Jojo. Wir sagten nie Bücher. Wir sprachen in Altsprech von Wälzern, Schmökern, Schwarten oder Schinken. Das lernten wir bei Nomos in der Zentrale. Dort wiederholte er Seminar für Seminar den Satz: ?Denkt an unseren Traum! Alles Wissen für alle! Jederzeit! Kostenlos!? Der Alte antwortete nicht auf Jojos Frage. Jojo griff in seine Jackentasche und zog ein Päckchen Hunderter heraus. Zwanzig Stück. Das überforderte jeden. So viel Bargeld war nirgends mehr zu sehen.? Autor Der alte Mann reagiert so, wie es in den Seminaren für Scanner nicht durchgespielt wird. Statt den Preis hochzutreiben oder den Handel zu verweigern, nennt er freimütig seinen Namen und schenkt Rob sein Buch. Zitator Jojo beugte sich zu mir über den kleinen Tisch, hielt die Hand vor den Mund und flüsterte:?Der ist verrückt. Wir suchen uns ein anderes Abteil. Melden den Vorfall. Wir brauchen vorher nur noch ein paar Daten.? Autor Es stellt sich heraus, das der Alte einer Untergrundorganisation angehört, der ?Büchergilde?. Sie wird vom herrschenden Konzern Ultranetz als terroristisch eingestuft. Ihre Mitglieder arbeiten den Interessen des Konzerns entgegen: Sie lehnen die ?Mobril? ab, eine elektronische Brille mittels der die Menschen von Ultranetz informiert werden und durch die sie miteinander kommunizieren. Die Mitglieder der Büchergilde bestehen auf ihrem Recht, Bücher zu besitzen, über Wissen und Informationen frei zu verfügen. Es sind zumeist alte Menschen, untergekommen in der sogenannten C-Zone der namenlosen Stadt, in der Sonntag die Handlung des Romans ansiedelt. Zitator Jeder, der in der A-Zone keinen Job fand, zog in die B-Zone. Wer dort nicht Fuß fassen konnte, wollte dennoch bleiben. Und zwar mit allen Mitteln. Die C-Zone galt als der gefährliche Seniorengürtel der Stadt. Gefährlich waren aber nicht die vielen Alten. Um die unzähligen Rentnerheime und Senioren-Schlafsäle hatte sich eine kriminelle Nachbarschaft angesiedelt. Autor Rob trifft in der C-Zone den alten Mann wieder. Und anstatt ihn den Behörden auszuliefern, lässt er sich in dessen Bann ziehen, fasziniert von seiner Persönlichkeit und der Aussicht, ein nicht von Ultranetz ferngesteuertes Leben zu führen.Er wird zum Überläufer und bringt sich selbst damit in höchste Gefahr. Robert M.Sonntag lehnt sich mit seiner Geschichte eng an einen Klassiker der Zukunftsliteratur an, den Roman ?Fahrenheit 451? von Ray Bradbury aus dem Jahr 1953. Und wie bei Bradbury der Feuerwehrmann Guy Montag die Seiten wechselt, unterstützt von einem Mentor in Person des ehemaligen Literaturprofessors Faber, so findet auch der Scanner Rob in dem alten Mann aus dem Metrogleiter und in einer ehemaligen Professorin diejenigen, die ihm die Möglichkeit eröffnen ein authentisches, selbstbestimmtes Leben zu führen. Musik Autor Die Entfremdung des Menschen von seiner menschlichen Seite ist ein Motiv, das in allen Romanen auftaucht, die sich in diesem Frühjahr mit der Zukunft beschäftigen. Ernst?Wilhelm Händler, 1953 geboren, studierter Philosoph und Betriebswirtschaftler, leitet ein metallverarbeitendes Unternehmen. Und schreibt nebenbei erfolgreich Romane. Sie lassen erkennen, dass der Autor mit ökonomischen Abläufen bestens vertraut ist. Sein Blick auf eine mögliche Zukunft erscheint besonders interessant in einer Zeit, die sich immer mehr mit ihrer Anfälligkeit für wirtschaftliche Krisen infolge globaler Vernetzung konfrontiert sieht. Zitator Das neue Werk in Leipzig war ein Fanal: die größte Investition von D?Wolf in eine deutsche Fertigung seit Jahren! Die POWERWOLF W 8 2000 sollte die eiserne Faust unter den speicherprogrammierbaren Steuerungen werden! Die Kapazität des Programmspeichers acht Megabyte, die Zykluszeit betrug vierzehntausend Anweisungen pro Millisekunde, die Anzahl der digitalen Ein-und Ausgänge zweitausendachtundvierzig. Autor Mit Schwung hebt Händlers Roman an. Das Vokabular ist der Arbeitswelt von heute entnommen, es ist die Sprache von Produzenten und Verkäufern, das Marktgeschrei des frühen 21. Jahrhunderts. Händlers Ich-Erzähler leitet in Leipzig das neue Werk der global operierenden Firma D?Wolf. Vorstände, Controller, Marketingexperten, Forschungs-und Entwicklungsingenieure gibt es da, am Rande auch Politiker, die sich bei der Eröffnung wie in einer Castingshow gerieren. Und es gibt ? hier blickt der Autor allerdings weit voraus ? einen funktionierenden Flughafen Berlin-Brandenburg. Händler schreibt am Puls der Zeit, könnte man meinen ? nur hat er ihn beschleunigt. Nach wenigen Absätzen bereits lässt er seinen Protagonisten sagen: Zitator Ich hasse die nutzlos in sich selbst vergaffte Natur der menschlichen Beziehungen. Die Haare würden den Leuten zu Berge stehen, wenn sie wüssten, was ich anstellen muss, um mich mit ihnen über das Wetter oder über ihre Kinder zu unterhalten. Ich muss mich durch Berge graben und Täler aufschütten. Autor Der da spricht ist einer, der eine Mission hat. Ein Perfektionist. Der Zeitverlust und Ablaufstörungen hasst. Zitator Keine Maschine war einfach eine Maschine. Keine Anlage war einfach eine Anlage. Alles in der neuen Fabrik hatte mit mir zu tun. Alles ging mich an, jedes Werkzeug, jede Verrichtung. Ich ging alles an. Der Schöpfer ist der allein Existierende, alles andere Daseiende ist das Werk seines Willens und Wortes. Alles außerhalb des Werks ist der Schrecken. Autor Händler zeichnet das Porträt eines Charakters, dessen Menschlichkeit, Empathie und Emotionalität stark beschädigt sind und der sich dadurch selbst zum Vollstrecker eines unerbittlichen Produktionswillens ermächtigt hat. Er leistet ?Erziehungsarbeit?, fühlt sich dem Universum verbunden, während er selbst immer mehr zum künstlichen Menschen wird. Als er das Projekt duch seine Frau gefährdet sieht, bringt er sie um. Sie stirbt gewissermassen stellvertretend für die Gattung Mensch, diese unvollkommene, unkontrollierbare, hormongesteuerte, von Emotionen beieinflussbare Spezies. ?Der Überlebende? ist derjenige, der sich selbst zum Roboter macht.Das Perfide an dem Roman ist, dass Händler die Logik, aus der heraus sein Ich-Erzähler agiert, nachvollziehbar gestaltet. Und die Handlung eben nicht dezidiert in der Zukunft festschreibt. Er zeigt kein Monstrum, sondern einen, zwischen Größenwahn und innerer Leere geradlinig voranschreitenden Zeitgenossen. Zitator Wir würden es fertigbringen, die Realität zu klonen, sie würde annihilierrt und durch ihre Doppelgängerin ohne Menschen ersetzt werden. Die Wirklichkeit wird nicht mehr gebraucht, sie kann verschwinden, sie muss verschwinden. Neben ihrer Doppelgängerin gibt es keinen Platz für sie. Musik Autor Das Verschwinden von lebenswert empfundener Wirklichkeit beklagen alle Autoren in ihrem Ausblick auf die Zukunft. Alternative Konzepte werden literarisch nicht entwickelt, die Kraft für Utopien fehlt. Die Zukunftsvisionen erscheinen als Einwilligung in die Auflösung eines humanistischen Menschenbildes. Die Sprache, in der das geschildert wird, ist konventionell ? mit Ausnahme von Reinhard Jirgls Roman. Hier spürt man noch Erschütterung, Aufbegehren, eine Sperrigkeit, die sich bereits im Schriftbild zeigt, den Leser fordert, zur Auseinandersetzung animiert und Spuren im Hirn hinterlässt. Immerhin ein Versuch, anders zu denken. Musik 1 1