COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Deutschlandradio Kultur, Zeitfragen 11. Januar 2010, 19.30 Uhr Jeder für sich und alle gemeinsam Sinn und Unsinn des Föderalismus Eine Sendung von Brigitte Schulz 1. O-Ton (Münch) Es ist leider so, dass eben in der Bundesrepublik wir zwar auf dem Papier uns Föderalisten nennen und auch die Bevölkerung durchaus so etwas wie Regionalbewusstsein, wie Landesbewusstsein hat. Wir pflegen dieses Bewusstsein bei Heimatfesten, aber wir haben wenig Bereitschaft, das auch in unseren Alltag hineinzulassen und zuzulassen - da zugegebenermaßen mangelt es ein bisschen dran. 2. O-Ton (Große Hüttmann) Man ist genervt in Brüssel, man ist genervt in Berlin, man ist auch genervt in den Landeshauptstädten. Es gibt immer wieder Beispiele, die auf den ersten Blick sehr absurd klingen. Da muss man sich im Einzelfall immer ganz genau ansehen, wer der politisch Schuldige ist. Sprecher Jeder für sich und alle gemeinsam - Sinn und Unsinn des Föderalismus Eine Sendung von Brigitte Schulz Sprecherin Föderalismus in der Bundesrepublik - das bedeutet in vielen Bereichen 16-mal Deutschland. So zahlt ein Student in Baden-Württemberg und Hessen 500 Euro Studiengebühr pro Semester, in Berlin und Brandenburg dagegen nichts. In Bayern entscheidet der Notendurchschnitt der vierten Klasse, ob ein Kind das Gymnasium besucht, in Hamburg sind es allein die Eltern. Und ein Asylbewerber lebt in dem einen Bundesland in der eigenen Wohnung und erhält Geldleistungen, während man ihm in einem anderen Teil Deutschlands Lebensmittelpakete und eine Sammelunterkunft zuweist. Das ist möglich, weil im deutschen Föderalismus die Kompetenzen verteilt sind: Über Schule und Bildung entscheiden die Länder, Außenpolitik und Verteidigung ist allein Bundesangelegenheit. Andere Bereiche wie Ausländer- und Zuwanderungsrecht unterstehen zwar der Hoheit des Bundes, die Gesetze werden jedoch von den einzelnen Ländern umgesetzt - ihre Spielräume sind groß. Wer wofür zuständig ist, diese Frage bleibt ein politischer Dauerbrenner, so Föderalismusforscher Martin Große Hüttmann: 3. O-Ton (Große Hüttmann) Die Frage ist immer, was soll in Stuttgart, in Hamburg, in Wiesbaden und München entschieden werden, darüber gibt es immer wieder diesen politischen Grundsatzstreit. Sprecherin Dem einzelnen Bürger erscheint das föderale System kompliziert und undurchsichtig, manchmal treibt es ihn gar zur Verzweiflung: Eltern zum Beispiel, die aus beruflichen Gründen öfter das Bundesland wechseln, oder mittelständische Firmen mit Deutschland-weitem Filialnetz. Sind europäische Geschäftsleute oder Forscher mit unserem Föderalismus konfrontiert, schütteln sie verständnislos den Kopf über so viele unterschiedliche Gesetze in einem Land- die meisten europäischen Staaten sind zentral organisiert. Dabei ist es gerade das erklärte Ziel des Föderalismus, Transparenz und Bürgernähe zu schaffen. Politische Entscheidungen sollen vor Ort getroffen werden, um die regionalen Besonderheiten zu berücksichtigen. 4. O-Ton (Münch) Dass eben zum Beispiel die Republik ne viel buntere Beschaffenheit hat, dass es nicht ein Zentrum gibt, wie London oder Paris, dass es eben nicht nur Berlin ist, das den Ton angibt, sondern wir Landeshauptstädte haben, die eben auch Hauptstadt sind. Dass wir in den Landeshauptstädten Bibliotheken haben, die eben auch eine Staatsbibliothek oder eine Landesbibliotheken sind, und nicht irgendeine kleine Bücherei nur, dass wir Museen haben, die eben Landes- und Staatsmuseen sind, die Landesgeschichte und vieles andere in den Vordergrund rücken, dass wir Symphonieorchester haben, nicht nur in Berlin und vielleicht noch einer anderen Stadt, sondern in jeder Landeshauptstadt mindestens. Sprecherin Ursula Münch ist Politikwissenschaftlerin an der Universität der Bundeswehr in München und eine entschiedene Befürworterin des deutschen Föderalismus. Obwohl sie einräumt, dass er vieles komplizierter macht und Entscheidungsprozesse hinauszögert. Denn alle 16 Bundesländer haben Mitspracherechte bei der Europäischen Union und beeinflussen die deutsche Politik. Die Mitglieder der einzelnen Landesregierungen bilden den Bundesrat, der die Interessen der Länder vertritt. So wird jedes neue Gesetz auch dem Bundesrat vorgelegt, einige treten nur in Kraft, wenn er zustimmt: 5. O-Ton (Münch) In der Bundesrepublik kann man nicht durchregieren, und ich muss sagen, man kann Gott sei Dank nicht durchregieren, aufgrund des Mitwirkens des Bundesrates an Entscheidungen, dass eine Bundesregierung immer auch Rücksicht nehmen muss auf die Länder einerseits als föderale Einheiten und auf die Länder eben in ihrer unterschiedlichen parteipolitischen Zusammensetzung, also das ist einer der ganz zentralen oder der zentrale Vorteil von Föderalismus, dieses: Nicht eine Mehrheit entscheidet auf Kosten aller anderen, sondern die Mehrheit muss zwangsläufig durch die verschiedene Prozesse bedingt auch Minderheiten mit einbeziehen, das ist der zentrale Vorteil. Sprecherin Der Föderalismus als Eckpfeiler der deutschen Demokratie: Man kann ihn verändern, aber nicht abschaffen, denn 1949 wurde er fest im Grundgesetz verankert. Dass die Bundesländer so eigenständig sind, hängt eng mit der deutschen Geschichte zusammen: 6. O-Ton (Münch) Ein ganz wichtiger Wunsch war eben der, dass man gesagt hat, man möchte ein System der Machtentzerrung, nicht nur, aber vor allem aufgrund der Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus. Eine der ersten Entscheidungen 1933, nach der so genannten Machtübernahme durch die Nationalsozialisten, war aus gutem Grund die Zerschlagung der deutschen Länder. Weil im Grunde in der Weimarer Republik man gesehen hat, einige der wenigen Horte, wo es im Grunde noch demokratisches Bewusstsein und Parlamentstradition wirklich gelebt worden sind, waren in einzelnen deutschen Ländern, z.B. in Preußen. Wenn man ein straffes, ein diktatorisches System aufbauen will, muss man Länder zerstören und das haben die Nationalsozialisten sofort gemacht und das DDR-Regime hat es genauso gemacht. Sprecherin Die Macht der Länder wird oft als Blockadepolitik kritisiert: Ihr Veto im Bundesrat kann Gesetzentwürfe kippen, Reformen verzögern oder die Regierung zu Zugeständnissen zwingen. Um diese Blockadepolitik einzudämmen und die Kompetenzen zwischen Bund und Ländern zu entflechten, arbeitete man jahrelang an einer Föderalismusreform: 2006 trat sie in Kraft. Das Ergebnis: Die Kompetenzen sind neu verteilt und sowohl Bund als auch Länder wurden unabhängiger in der Gesetzgebung: So ist etwa die Erzeugung und friedliche Nutzung der Kernenergie nun Bundessache, während der Strafvollzug den Ländern untersteht. Verfassungsrechtliche Neuheit der Föderalismusreform ist das Abweichungsrecht, nämlich die Möglichkeit der Länder, eigene Gesetze zu erlassen, auch wenn es zu einer Materie schon Bundesgesetze gibt. Das gilt beispielsweise für Naturschutz, Jagdwesen und Hochschulzulassungen. Musikakzent Sprecherin Die Föderalismusreform hat die Zahl der zustimmungspflichtigen Gesetze im Bundesrat reduziert: Von 60 auf 40 Prozent. Dabei hat der Bundesrat innerhalb von 50 Jahren nur etwa ein Prozent aller Gesetze endgültig blockiert, denn meistens wird bei einer Gesetzesablehnung der Vermittlungsausschuss angerufen. Dieser bemüht sich um einen Kompromiss, so dass eine Reform nach erneuter Abstimmung meistens doch noch in Kraft treten kann. Eine viel größere Rolle bei der Gesetzgebung spielt die Macht, die die Länder allein durch die Möglichkeit ihres Vetos haben: So versprach die Bundesregierung ihnen erst vor einigen Wochen Geld für den Bildungsbereich, nachdem einige Länder gedroht hatten, im Bundesrat gegen das so genannte Wachstumsbeschleunigungs- gesetz zu stimmen. Außerdem kann parteipolitischer Druck ein Gesetz schon stoppen, bevor es Bundestag und Bundesrat überhaupt erreicht. So wird Bayern vorgeworfen, vor einem Jahr das lang geplante Umweltgesetzbuch verhindert zu haben, indem es die Unionsfraktion unter Druck setzte. Daraufhin blieb der Gesetzentwurf schon im Kabinett stecken - nachdem man rund 20 Jahre daran gearbeitet hatte. Das Umweltgesetzbuch sollte die 10 000 unterschiedlichen Umweltgesetze bündeln und ihre Umsetzung in den Bundesländern vereinheitlichen. Der Föderalismusforscher Martin Große Hüttmann von der Universität Tübingen: 7. O-Ton (Große Hüttmann) Vor allem Bayern hat sich dafür stark gemacht, das in der Form nicht umzusetzen. Zum einen ist es eine gewisse Form von politischem Widerstand, dass man sagt, wir lassen uns in unsere innere Angelegenheiten nicht reinreden. Aber ich denke, gerade im Bereich Umweltpolitik ist es ein politisches Versäumnis, weil ja bekanntlich Umweltbelastung und Umweltschäden an den Grenzen nicht Halt machen, also da gibt es immer wieder Grundsatzstreit. Musik, darauf: Sprecher Schule und Bildung Sprecherin Schulpolitik ist seit Bestehen der Bundesrepublik Ländersache, und so gibt es heute die unterschiedlichsten Schulformen, Lehrpläne, Bücher und Leistungs- anforderungen. Alle Versuche, den Bildungsbereich zu zentralisieren, schlugen fehl. Dabei zeigen Umfragen, dass die meisten Deutschen sich mehr Einfluss des Bundes auf die Schulpolitik wünschen. Wie verworren das deutsche Bildungssystem ist, merken Eltern erst, wenn sie umziehen. Oft kann das Kind dann die gewünschte Schule im neuen Bundesland nicht besuchen, weil es die Voraussetzungen nicht mitbringt: etwa Fremdsprachen- kenntnisse. Denn der Englischunterricht zum Beispiel beginnt in einigen Bundesländern schon in der ersten Klasse, in anderen erst in der fünften. 8. O-Ton (Vogeler) Beim Thema Fremdsprachen und Wechsel der Bundesländer kommt es dann teilweise zu sehr abstrusen Situationen, wenn die Eltern nicht besonders kampferprobt sind und das dann durchfechten. Wir kennen einen Fall, das ging nach Bayern, da hatten die Eltern dann überlegt, den Umweg über Frankreich zu machen, dort das Kind erst mal in die 10. Klasse nach Frankreich einzuschulen, dort einen Abschluss machen zu lassen, der dann wieder in Bayern anerkannt wird. Letztlich hat man sich dann in langen intensiven Diskussionen doch in Bayern durchsetzen können, dass die Sprachkenntnisse dieses Kindes dann in der betreffenden Schulform akzeptiert wurden und das Kind dort zur Schule gehen konnte. Sprecherin Hans-Peter Vogeler ist Vorsitzender des Bundeselternrates, der die Interessen der Eltern in puncto Schulpolitik vertritt. Er kennt viele Beispiele, in denen die Schulkarriere von Kindern nicht kompatibel war - auch, weil jedes Bundesland unterschiedliche Lehrpläne hat. Bei der Stoffvermittlung kann es Differenzen bis zu einem Jahr geben - ein Zustand, der sich unbedingt ändern muss, so Hans-Peter Vogeler: 9. O-Ton (Vogeler) Der Bundeselternrat kämpft ja seit Jahren für eine Einführung von Mindeststandards in der Bildung, von Kerncurricula und weg von Lehrplänen, weil Lehrpläne schreiben ja Inhalte vor, und der Inhalt in Hamburg wird sicher ein unterschiedlicher sein als in Bayern, und dann ist ein solcher Wechsel eher möglich, als wenn man das an Inhalten festmacht. Sprecherin Unbestritten sind die Anforderungen in bayerischen und baden-württembergischen Schulen höher als in Berlin oder Hamburg, und der Freistaat liegt bei der Pisa-Studie im Ländervergleich auf Platz 1. Dafür macht in Bayern nur rund ein Drittel aller Schüler das Abitur - in Hamburg ist es fast die Hälfte. Produktive Konkurrenz zwischen Schulsystemen ist ein Grundgedanke des Föderalismus: Die Schulen können experimentieren und ausprobieren; was sich bewährt hat, sollte übernommen werden. So sucht man zurzeit nach Modellen, wie mehr Schülern einen höheren Bildungsabschluss erreichen können. Die frühe Selektion in der 4. Klasse wird von Experten scharf kritisiert. Hans-Peter Vogeler vom Bundeselternrat: 10. O-Ton (Vogeler) In Berlin gibt es ja schon seit Langem die Grundschule von der 1. bis zur 6. Klasse und danach gehen die Kinder dann in die weiterführenden Schulen. Aus Berlin weiß man jetzt, dass dieses längere gemeinsame Beschulen bis Ende der 6. Klasse keinerlei Nachteile für die Leistungsspitze hat, also die leistungsstarken Kinder werden dadurch überhaupt nicht in ihrem Fortkommen behindert, ganz im Gegenteil. Aber - und das ist extrem interessant - die Leistungsschere geht bei Weitem nicht so weit auf, die entwickeln sich homogener in ein höheres Leistungsniveau, als es sonst der Fall ist. Und Hamburg wird jetzt die so genannte Primarschule einführen, d.h. dort werden Kinder von der Vorschulklasse bis zum Ende der 6. Klasse in der Primarschule sein und dann entweder auf eine Stadtteilschule oder auf ein Gymnasium gehen, wobei beide, Gymnasium und Stadtteilschule, zum Abitur führen werden. Sprecherin Die Idee des produktiven Wettbewerbs werde viel zu wenig genutzt, sagen Kritiker. So hätten sich in Baden-Württemberg berufliche Gymnasien und berufsnahe Hauptschulen bewährt - übernommen wurden sie bislang nur von wenigen Bundesländern. Dafür fasste der Konkurrenzgedanke Fuß, wo die meisten Bundesländer ihn nicht wollten: Als Baden-Württemberg dringend Lehrer brauchte, warb es mit großen Plakaten um Personal: "Sehr guten Morgen, Frau Lehrerin", war dort zu lesen, was suggerierte: Im Ländle sind die Schüler noch höflich und lernwillig, die Welt ist in Ordnung. Doch Baden-Württemberg versprach noch mehr: ein vergleichsweise hohes Gehalt und Verbeamtung - Bedingungen, die finanzschwache Bundesländern nicht bieten. Die protestierten auch prompt, und Berlin erhöhte sogar die Anfangsgehälter, um die Abwanderung von Lehrern zu stoppen. Musik , darüber Sprecher Migration und Flüchtlinge Sprecherin Bei vielen Asylbewerbern hängen die Lebensumstände davon ab, welchem Bundesland sie zugeteilt werden - sie dürfen ihren Wohnort nicht frei wählen. Der Bund ist zuständig für die Flüchtlingspolitik, doch hat er den Ländern große Spielräume gelassen, die Bundesgesetze umzusetzen: 11. O-Ton (Mesovic) Manchmal zugunsten der Betroffenen, oft zu ihren Lasten. Insbesondere betrifft das das Thema der Unterbringung. Es gibt eine bundesgesetzliche Grundregelung, demnach sollen Flüchtlinge im Regelfall in Lagern untergebracht werden, aber es gibt völlig unterschiedliche Umsetzungen in den einzelnen Ländern: Wir haben in der Folge Quoten von 15 Prozent in einem Bundesland Lagerunterbringung, wir haben in einem anderen Land an die 90 Prozent. Das sind insbesondere die beiden Bundesländer der Südschiene, Bayern und Baden Württemberg, das sind dann weiter eine ganze Reihe von Bundesländern im Osten, die überwiegend auf Lagerunterbringung setzen und dies auch vertreten als Bestandteil einer Abschreckungspolitik. Sprecherin Bernd Mesovic ist Referent der Menschenrechtsorganisation Pro Asyl: Er benutzt das Wort "Lagerunterbringung", weil er findet, der offizielle Begriff "Sammelunterkünfte" beschönige die Situation der Flüchtlinge: Zusammenleben auf engstem Raum unter schlechten hygienischen Bedingungen, häufig umgeben von Zäunen oder Stacheldraht. In Rheinland-Pfalz finden Asylbewerber die humansten Bedingungen, so Bernd Mesovic: Dort leben die meisten in eigenen Wohnungen und erhalten Geld für ihren Lebensunterhalt, obwohl das Bundesgesetz Sachleistungen vorsieht. 12. O-Ton (Mesovic) Es gibt aber sehr wohl Ausnahmemöglichkeiten und verschiedene Bundesländer machen von dem Gebrauch, weil sie einfach sagen, das Sachleistungsprinzip ist in seiner Umsetzung unglaublich verwaltungsaufwändig, die Bürokratiekosten sind sehr hoch. Auf der anderen Seite gibt es Bundesländer, die weiterhin ganz rigide entweder Lebensmittelpakete anliefern oder die Leute an der Gemeinschaftsverpflegung teilnehmen lassen. Was nach unseren Feststellungen auf Dauer völlig unerträglich ist, zumal auf die kulturellen Besonderheiten der Menschen in keiner Weise Rücksicht genommen werden kann. Sprecherin Städte und Kommunen haben wiederum eigene Möglichkeiten, um die Regelungen Ihrer Landesregierung umzusetzen: So leben auch in Bayern und Thüringen an verschiedenen Orten Flüchtlinge in Mietwohnungen. Bernd Mesovic von ProAsyl: 13. O-Ton (Mesovic) Es hat einige Städte gegeben, die sich nicht gängeln lassen wollten von der Landesregierung. Die Kommunen haben natürlich örtlich unterschiedliche Verhältnisse. Wenn sie ne Aufgabe übertragen bekommen zur Erfüllung nach Weisung, dann gibt es natürlich eine Kompetenz des Landes, Vorgaben zu machen, aber in der Regel müsste eigentlich das Land örtliche Besonderheiten berücksichtigen, also in einem Landkreis werden sich viele Fragen anders darstellen als in einer Stadt, in einer kreisfreien Gemeinde usw., so dass um die Frage, wie weit der Gestaltungsspielraum dann ist, oft sehr lange diskutiert worden ist. Sprecherin In Bayern gibt es seit einiger Zeit massive Proteste von Flüchtlingen und Bürgern gegen die Sammelunterkünfte: In München wurden daraufhin zwei von ihnen geschlossen. Und die Politiker des Landkreises Neuburg-Schrobenhausen forderten die bayerische Regierung auf, die Auslegungsspielräume der Bundesgesetze zu nutzen, damit möglichst viele Flüchtlinge in eigenen Wohnungen leben könnten: 14. O-Ton (Mesovic) Bei der Umsetzung der Bleiberechtsregelung zeigt sich, dass die Quoten, nach denen Aufenthalterlaubnisse erteilt wurden, von Bundesland zu Bundesland doch relativ unterschiedlich sind, wobei man die Länder der Südschiene, insbesondere die Bayern, nicht so sehr auf der Negativseite findet. Musik, darauf Sprecher Naturschutz und Landschaftspflege Sprecherin Im März dieses Jahres tritt das neue Bundesnaturschutzgesetz in Kraft - es verwirklicht zumindest Teile des gescheiterten Umweltgesetzbuches. Damit gibt es zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik ein einheitliches Naturschutz- und Wasserrecht - an sich eine gute Sache. Die Praxis wird damit aber nicht unbedingt einfacher, denn die Länder bekommen erstmalig auch die Möglichkeit zur abweichenden Gesetzgebung, d.h. sie können eigene Gesetze erlassen. Markus Wessel vom Naturschutzbund bezweifelt, dass das sinnvoll ist für Bürger und Natur. Einige Länder hätten schon Abweichungen angekündigt, etwa bei der so genannten "Eingriffsregelung". Diese schreibt vor, wie bei größeren Bauvorhaben Eingriffe in die Natur zu entschädigen sind: 15. O-Ton (Wessel) Das wäre einer der Punkte gewesen, wo wir uns natürlich gewünscht hätten, wenn der Bund da stärker geregelt hätte und ein für ganz Deutschland ein einheitliches Regelwerk geschaffen hätte. Das macht ja die Arbeit nicht nur einfacher für den Naturschutz und gibt für alle verbindliche Regeln vor, die sie sich dann anschauen und berücksichtigen können, sondern das ist auch für die Leute, die beispielsweise eine Fabrik errichten möchten, die über mehrere Bundesländer hinaus arbeiten, die müssen natürlich jetzt weiterhin ein sehr komplexes Regelwerk beachten und schauen, wie ist zum Beispiel die so genannte Eingriffsregelung in jetzt Hessen, Niedersachsen und Nordrhein Westfalen, je nachdem, wo gerade gearbeitet wird. Und da gibt es ganz viele mittelständische Unternehmen, die haben keine große eigene Rechtsabteilung, die sich damit beschäftigen kann. Aber gerade der Mittelstand, von dem CDU/CSU gesagt haben, sie wollen ihn besonders entlasten, ist dort wieder einer viel komplexeren Situation ausgesetzt worden. Sprecherin Das gescheiterte Umweltgesetzbuch hätte diese Situation verhindert - mit ihm wäre eine abweichende Gesetzgebung einzelner Bundesländern nicht möglich. Doch mit der Föderalismusreform wurden den Ländern auch Kompetenzen genommen: So sind Arten- und Meeresnaturschutz nun ausschließlich Bundessache: 16. O-Ton (Wessel) Im Artenschutz und im Meeresnaturschutz hat der Bund die Möglichkeit bekommen, bis in die Umsetzung hinein sehr fein selbst zu regeln. Davon hat er aber leider in vielen Punkten Abstand genommen und hat bei der sehr emotionalen Diskussion um dieses Gesetz darauf verzichtet, an vielen Punkten ein wirklich vollziehbares Gesetz zu schaffen, d.h. ein Verwaltungsbeamter vor Ort oder gar ein Bürger vor Ort, der einfach das Gesetz in die Hand nimmt und wissen möchte, was muss ich denn jetzt zum Artenschutz tun, ist mittlerweile genau so schlau, wie er es vorher war und ihm fehlen noch ganz viele Handreichungen. Sprecherin Trotz allem ist Markus Wessel überzeugt: Das föderale System macht Sinn beim Naturschutz, denn nur Behörden und Bürger vor Ort kennen die Landschaft genau und können deshalb adäquat reagieren. So passt man Gesetze und Maßnahmen an: Schilfbestände etwa werden dort besonders geschützt, wo es nur wenig Schilf gibt. 17. O-Ton (Wessel) Es macht keinen Sinn, wenn ich den Ländern vorschreibe, sie müssen Wattenmeer in Bayern schützen, weil es das da einfach nicht gibt. Und da braucht man nicht übermäßig Bürokratie zu schaffen, nur weil man ein bundeseinheitliches Gesetz hat. Also, auf die Spezifika der Länder einzugehen ist grundsätzlich nicht falsch, und es sind in der Vergangenheit auch sehr viele innovative Ideen aus den Bundesländern gekommen, wo gesagt wurde, die und die Lebensräume müssen noch besser geschützt werden, die haben wir vom Bund aus noch nicht so bedacht. Aber eine gewisse einheitliche Linie muss letzen Endes gefunden werden, und dem muss man auch gerecht werden. Musik, darauf Sprecher Streitpunkt: Europäische Union Sprecherin Durch den Europäisierungsprozess mussten Bundestag und Bundesrat Hoheitsrechte an die Europäische Union abgeben. Vor allem die Bundesländer wehrten sich jahrelang gegen diesen Machtverlust: mit Erfolg, denn mittlerweile arbeiten Länderexperten in den unterschiedlichsten EU-Gremien mit. Um Interessen optimal einzubringen, hat jedes Bundesland seine eigene Vertretung in Brüssel. Die kleineren Länder haben sich zu Bürogemeinschaften zusammenschlossen. Martin Große Hüttmann, Föderalismusforscher an der Universität Tübingen: 18. O-Ton (Große Hüttmann) Auch ein kleineres ostdeutsches Land wie Sachsen-Anhalt ist da sehr erfolgreich in bestimmten Teilbereichen - gerade in der Chemiepolitik ist Sachsen-Anhalt sehr aktiv. Da ist es so, dass ein Vertreter aus diesem Büro in eine Expertengruppe entsandt worden ist, weil in Sachsen-Anhalt traditionell Chemie sehr stark ist als Standort, und dort wird die Frage formuliert und diskutiert, ob hier gewissermaßen eine gemeinsame Chemiepolitik betrieben werden kann. Und es ist schon ein großer Erfolg für das Land Sachsen-Anhalt, dass es hier gewissermaßen für ganz Europa sprechen kann und hier europäische Chemiepolitik mit beeinflussen kann. Sprecherin Vor allem finanzstarke Länder wie Baden-Württemberg und Bayern ließen sich ihre Vertretungsbüros einiges kosten und schickten hoch qualifizierte Mitarbeiter nach Brüssel. "Schloss Neuwahnstein" nannten die Medien das bayerische Länderbüro aufgrund der pompösen Ausstattung und exklusiven Lage. Anlässlich der Eröffnung im Jahre 2004 sagte der damalige Ministerpräsident Edmund Stoiber: "Brüssel ist heute in manchen Bereichen für Bayern wichtiger als Berlin". 19. O-Ton (Große Hüttmann) Von daher ist es eben auch wichtig, dass Bayern gleich in Brüssel vorstellig werden kann, wenn z.B. die Europäische Kommission den CO²-Ausstoß von Personenkraftwagen beschließt, weil Bayern, BMW, natürlich Interesse daran hat, dass seine Produkte dann trotzdem noch europaweit verkauft werden können. Von daher ist die Aussage von Herrn Stoiber durchaus berechtigt: Ich muss gewissermaßen ganz vorne mit dabei sein, und das Wichtigste ist natürlich, dass ich der EU-Kommission als bayerischer Vertreter deutlich machen kann, dass es jetzt nicht ein bayerisches Interesse ist, sondern dass es ein gemeinsames EU-Interesse ist, dass ein bestimmter Richtwert festgelegt wird. Sprecherin Vor allem zu Anfang des Europäisierungsprozesses gab es Machtkämpfe zwischen Bund und Ländern: "Nebenaußenpolitik" warf der Bund seinen Gliedstaaten vor. Ihm war auch ein Dorn im Auge, dass einige Länder ihre EU-Büros offiziell "Vertretung" nannten, so Martin Große Hüttmann: 20. O-Ton (Große Hüttmann) In dieser frühen Phase Mitte der 80er Jahre gab es einen heftigen politischen Streit, weil das Auswärtige Amt auf der Position besteht, dass eine Vertretung Deutschlands eben nur durch die Bundesregierung in Brüssel gegeben werden kann, d.h. man hat hier einen Streit um Namen geführt: Vertretungsbüro oder Vertretung des Landes Baden-Württemberg oder Bayerns in Brüssel, das wurde so nicht akzeptiert. Da gab es immer wieder Streit, dass Briefe mit diesem Briefkopf von der Bundesregierung so nicht angenommen worden sind, zurückgeschickt worden sind. Sprecherin Auf der anderen Seite fühlen die Bundesländer sich immer wieder von der EU bevormundet und zu unnötiger Bürokratie gezwungen. Ein Beispiel: die so genannte Seilbahnrichtlinie, die Sicherheitsstandards für alle EU-Länder festlegt. Um für Deutschland gültig zu werden, musste jedes Bundesland die Richtlinie in ein eigenes Gesetz umwandeln: Verwaltung, Ausschüsse und Landtage wären damit beschäftigt gewesen. Da Flachländer wie Schleswig-Holstein gar keine Seilbahnen haben, versuchten sie diesem Aufwand zu entgehen und schlugen vor, der Bund solle ein einheitliches Gesetz für alle schaffen. Bayern und Baden-Württemberg stellten sich quer, was wiederum die Flachländer in Rage versetze: 21. O-Ton (Große Hüttmann) Aber in Schleswig Holstein, in Hamburg, da gibt es bekanntlich keine Seilbahn. Da hat die Regierung in irgendwelchen norddeutschen Ländern gesagt, wir können, müssen und wollen das nicht umsetzen, weil wir keine Seilbahnen haben. Und das führt zu Verzögerungen. Das Problem ist, es ist immer der Bund verantwortlich, wenn europäische Gesetze, Richtlinien nicht rechtzeitig umgesetzt werden. Dann muss der Bund, wenn es hart auf hart kommt, dafür Strafzahlungen leisten. Da gibt es einfach auch Grundsatzstreite auf Seiten der Länder, die dann einfach damit ihren Widerstand dokumentieren und manchmal mehr oder weniger bewusst die Bundesregierung da ins europäische Messer laufen lassen. Sprecherin Solche Situationen will die Föderalismusreform vermeiden: Nun müssen die Länder teilweise selbst zahlen, sollten sie EU-Fristen überschreiten. Mittlerweile hat sich in Brüssel allerdings eine gewisse Arbeitsteilung eingespielt: Länder, die Wein anbauen, kümmern sich etwa um die Gesetze für die Weinproduktion, während die nördlichen Länder die Bundesrepublik vertreten, wenn es um den Schutz des Wattenmeeres geht. Auf diese Weise kann der Bund von der föderalen Struktur auf Europaebene profitieren, so Martin Große Hüttmann: 22. O-Ton (Große Hüttmann) Inzwischen ist es so, dass die Bundesregierung auch interessiert ist an einer guten Kooperation, weil die Länder sehr wichtige Expertise einbringen, d.h. der Sachverstand, den die Länder haben, weil sie bei der Umsetzung von EU-Recht wissen, wie das in der Praxis funktioniert oder nicht funktioniert, ist der Bund wirklich auch angewiesen auf die Länder. Der hat seine Experten in den ganzen Rats- Arbeitsgruppen. Der Ministerrat, die Vertretung der EU-Regierungen oder die Kommission hat Expertenrunden. Dort sitzen häufig in bestimmten Bereichen Länderbeamte, die einfach wissen, wie das vor Ort konkret umgesetzt werden kann. Darauf ist der Bund angewiesen. Man hat heute doch ein deutlich entspannteres Verhältnis Musikakzent Sprecherin Bund und Länder müssen sich zusammenraufen, denn am Ende müssen beide Seiten mit den neuen Regelungen leben. Daran wird sich auch in Zukunft nichts ändern, so Ursula Münch: 23. O-Ton Münch Jeder Föderalismus ist auf Zusammenarbeit angewiesen, aber der bundesdeutsche eben noch mehr, weil eben die Länder für einen großen Teil des Vollzugs der Bundesgesetze zuständig sind - das geht nicht ohne Zusammenarbeit. Sprecher Jeder für sich und alle gemeinsam - Sinn und Unsinn des Föderalismus Eine Sendung von Brigitte Schulz Es sprach: Viola Sauer Ton: Inge Görgner Regie: Rita Höhne Redaktion: Stephan Pape Produktion: Deutschlandradio Kultur 2010 Manuskripte und weitere Informationen zu unseren Zeitfragen-Sendungen finden Sie im Internet unter www.dradio.de 16