COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Deutschlandradio Kultur Länderreport Spuren des Terrors Ein Jahr nach der Aufdeckung des Nationalsozialistischen Untergrunds Autorinnen Altmann, Claudia (Beitrag 1- 4'50'') van Laak, Claudia (Beitrag 2- 14'38'') Redaktion Stucke, Julius Sendung 02.11.2012 (13 Uhr 07) Am 4.11.2011 kommt der Stein ins Rollen. Mit der Selbsttötung von Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt. Jahrelang soll der von den Beteiligten so genannte Nationalsozialistische Untergrund - Mundlos, Böhnhardt und Beate Zschäpe - mit Sprengstoffanschlägen, Raubüberfällen und Morden eine grausame Spur durch das ganze Land gezogen haben. Erst an jenem Tag beginnt die Wahrheit Stück für Stück ans Licht der Öffentlichkeit zu gelangen. Bis heute hinterlässt das Spuren, bei den Sicherheitsbehörden, die in der Kritik stehen und deren Arbeit Gegenstand von Untersuchungsausschüssen ist - ebenso wie in der rechtsextremen Szene in Deutschland. Beitrag 1: Zwickau - Ein Jahr nach der Aufdeckung des Nationalsozialistischen Untergrunds (Claudia Altmann) Der Stadtteil Weißenborn im Nordwesten Zwickaus. Eine ruhige Gegend. Schmucke Einfamilienhäuser, gepflegte Vorgärten. Auch in der Frühlingsstraße. Aber dort wo bis vor einem Jahr das Doppelhaus mit der Nummer 26 gestanden hat, ist jetzt eine freie Fläche. Die Wiese ist bepflanzt mit Lebensbaum, Zierbüschen und Rhododendron. Nichts erinnert mehr daran, dass hier das Nazitrio bis November vergangenen Jahres seinen Unterschlupf hatte. Fünf Monate nach der Zerstörung durch Beate Zschäpe wurde das Gebäude im April abgetragen. Es sollte kein Wallfahrtsort für Rechtsextremisten entstehen, entschieden Stadt und Freistaat und gaben dafür 300.000 Euro aus. Aber mit dem Haus ist nicht das Problem verschwunden. Nach wie vor wird der Name der Stadt in einem Atemzug mit dem Terrortrio genannt. Zu Recht? Zu Unrecht? Die Meinungen der Zwickauer sind gespalten. Also ich finde, das mit der Terrorzelle wird zu medial aufgebauscht. Ich muss manchmal zur Arbeit Eckersbach hoch laufen und da seh ich ab und zu neue Hakenkreuze und neue NSU-Schriftzüge. Also es gibt schon gewisse Leute, die also schon noch stellvertretend für dieses Image hier stehen. Ich finds Scheiße, aber Zwickau tut sich auch nicht großartig bemühen, um da rauszukommen. Dem widerspricht Oberbürgermeisterin Pia Findeiß. Wenige Tage nach Bekanntwerden der NSU-Morde hatten sich 2500 Bewohner der Stadt zu einer Kundgebung zusammengefunden. (Pia Findeiß) Wir haben dort unsere Betroffenheit zum Ausdruck gebracht, aber natürlich auch unsere Entschlossenheit, dass dieses rechte Gedankengut bei uns keinen Platz hat. Mit dem Image, das der Stadt und ihren gut 90.000 Einwohnern seitdem anhängt, gehe man offen um. (Pia Findeiß) Uns ist es sehr wohl bewusst. Dass es ein Zufall war, dass die drei Rechtsterroristen ihren Wohnsitz in Zwickau gesucht und gefunden haben. Wir wollen das rechtsradikale Gedankengut in keiner Weise verharmlosen und es ist in unserer Gesellschaft, mitten in unserer Gesellschaft, also auch in der Stadt Zwickau. Das Problem ist nicht kleiner und größer wie in anderen Städten. Es hilft uns hier kein Aktionismus, sondern es hilft nur Nachhaltigkeit, Nachhaltigkeit in der Unterstützung demokratischer Bündnisse, Nachhaltigkeit in der Bildungspolitik, in der Chancengleichheit für junge Menschen und in der Chancengleichheit auch für die ältere Generation. Seit 1995 gibt es das Bündnis für Demokratie und Toleranz. Etwa 50 Vereine, Institutionen und Privatpersonen engagieren sich seitdem für ein menschenwürdiges Miteinander in der Stadt. Koordinatorin Sabine Hietzke hat in den vergangenen Monaten jedoch festgestellt: (Sabine Hietzke) ... dass das Thema Rechtsextremismus ein stückweit auf der Prioritätenliste nach oben gerutscht ist. Nicht, dass das Thema prinzipiell nie angegangen wurde, aber ich glaube, dass es jetzt ein stückweit als wichtiger als vorher erachtet wurde. Dass Zwickau den Ruf einer Hochburg von Rechtsextremisten hat, empfindet sie als ungerecht und falsch. Auch René Hahn, Stadtrat der Linken, teilt diese Ansicht. Aber es war seiner Meinung nach auch kein völliger Zufall, dass das Terrortrio gerade hier abtauchen konnte. Schon lange habe es enge Kontakte zwischen der rechtsextremistischen Szene und den Freien Kräften Thüringen gegeben. (René Hahn) Es sind auf jeden Fall ein harter Kern von zehn, zwanzig Leuten, die da die Arbeit gemacht haben. Die im Augenblick aber auch etwas ruhiger auftreten. Also wir haben es immer noch, dass Übergriffe passieren, aber ein wenig habe ich schon das Gefühl, dass jetzt zur Zeit aufgrund dieses Themas NSU mehr zurückhalten, weil sie schon auch merken, dass der Fokus mehr auf sie gerichtet ist. Knapp ein Dutzend gewalttätige Übergriffe registriert das Antifa-Recherche-Team Zwickau, dem auch Hahn angehört, jährlich. Ende August wurden ein Türke und ein Iraner von Rechtsextremisten schwer verletzt, als sie das Tanzcafé "Eden" im Stadtzentrum besuchten. (René Hahn) Also da ist direkt eine Gruppe gezielt hierhergekommen, mit einem Kleinbus vorgefahren. Man geht dort von sechs bis zehn jungen Männern aus, die die Personen rausgerufen haben, dabei rechtsradikale Rufe auch verwendet haben wie "Ausländer raus" und so was. Und die zwei jungen Männer sind dann hier auf der Straße zusammengeschlagen worden. Der 31jährige Politiker meint, dass die Stadt seit November vergangenen Jahres viel mehr hätte tun müssen, um dem Problem die Stirn zu bieten. (René Hahn) Auch was den Jahrestag betrifft, ist bisher nur eine Podiumsdiskussion in Vorbereitung gewesen von der Stadt. Da sind an uns vor allem junge Menschen aus Zwickau aber auch aus Städten aus der Umgebung herangetreten und haben gesagt: Da müsste man schon noch irgendwie was anderes auch machen. Dementsprechend bereiten wir jetzt eine Demo mit mehreren Kundgebungen vor. Auch mit dem Abriss des Hauses ist er nicht glücklich und sieht die Gefahr, dass hier ein rechter Wallfahrtsort entstehen könnte, keineswegs gebannt. (René Hahn) Effektiver wäre vielleicht sogar gewesen, da einen Ort zu machen, an den Rechte nicht gehen wollen, dass da weiter diese griechische Gaststätte ist. Ich denke, das hätte die auf jeden Fall eher abgeschreckt, als eine leere Wiese. Beitrag 2: Spuren des Terrors - Ein Jahr nach der Aufdeckung des Nationalsozialistischen Untergrunds (Claudia van Laak) Das Paul-Löbe-Haus im Berliner Regierungsviertel. Draußen traumhaft sonniges Herbstwetter. Vor den Fenstern leuchtend rot und gelb gefärbtes Laub, eine Spree voller Ausflugsboote. Doch diejenigen, die im Saal Nummer 4900 Fragen stellen, selber befragt werden oder zuhören, sie haben keinen Blick für die herbstliche Idylle da draußen. Es tagt der Bundestags-Untersuchungsausschuss zur NSU-Affäre. Als Zeuge vorgeladen: Klaus-Dieter Fritsche, CSU, Staatssekretär im Bundesinnenministerium. Die Besuchertribüne ist voll. In der ersten Reihe, meist über die Brüstung gebeugt, verfolgt ein dunkelhaariger Mann im schwarzen Anzug aufmerksam die Befragung unten im Saal. Ab und zu schüttelt er den Kopf, macht sich Notizen. Yavuz Narin, Rechtsanwalt aus München. Er vertritt die Familie des mutmaßlichen NSU-Mordopfers Theodorus Boulgarides. (Yavuz Narin) Nach jeder Ausschusssitzung berichte ich regelmäßig meinen Mandantinnen über die neuen Erkenntnisse aus den Sitzungen der Untersuchungsausschüsse. Jedes Mal sind meine Mandantinnen erneut schockiert über die tatsächlich vorgefallenen Dinge, sind aber gleichzeitig nicht mehr überrascht. Theodorus Boulgarides wurde am frühen Abend des 15. Juni 2005 mit drei Schüssen in den Kopf getötet - auf offener Straße vor seinem Laden, einem Schlüsseldienst in München. Der gebürtige Grieche ist das mutmaßlich siebte Todesopfer der Zwickauer Terrorzelle. (Yavuz Narin) Die Familienangehörigen der Mordopfer wurden über viele Jahre öffentlich diskreditiert. Man hat ihr Privatleben, teilweise auch ihr Intimleben, zum Gegenstand der Boulevard- Presse gemacht und die Behörden haben sehenden Auges, obwohl man angeblich auch in die rechtsextremistische Szene ermittelt haben wollte, der Öffentlichkeit gegenüber kundgetan, die wahren Täter seien im Umfeld der Mordopfer zu finden. Yavuz Narin will Aufklärung. Der Sohn türkischer Einwanderer reist seit Monaten durch die Bundesrepublik, von einer Sitzung eines NSU-Untersuchungsausschusses zur nächsten - Dresden, Erfurt, München, Berlin. Das bin ich meinen Mandantinnen schuldig, sagt der 34jährige Rechtsanwalt, der die Witwe Yvonne Boulgarides und ihre beiden Töchter vertritt. (Yavuz Narin) Selbstverständlich möchte ich meinen Mandantinnen früher oder später die versprochene umfassende Aufklärung auch entsprechend präsentieren können. Ich wurde ja hierzu beauftragt und ich denke, zumindest soweit ich bis zum heutigen Tage durch die Bundesanwaltschaft informiert wurde, kann ich meinen Mandantinnen nach wie vor keine schlüssige Erklärung liefern, warum Theodorus Boulgarides ermordet wurde. Pause im Untersuchungsausschuss. Der Vorsitzende Sebastian Edathy hat die Sitzung unterbrochen. Der Zeuge Klaus-Dieter Fritsche, früherer Vizepräsident des Bundesamts für Verfassungsschutz, hielt langatmige staatspolitische Vorträge, warf den Abgeordneten vor, einen Skandalisierungswettstreit zu betreiben, antwortete nicht auf gestellte Fragen. Jetzt geben die Ausschussmitglieder Statements vor Kameras und Mikrophonen ab, Yavuz Narin hört zu. (Yavuz Narin) Man kann wohl zusammenfassend sagen, dass das Vertrauen meiner Mandantinnen wie auch das Vertrauen vieler Opferangehöriger in die staatlichen Institutionen nicht nur durch die Nichtaufklärung der Taten über viele Jahre gelitten hat, sondern insbesondere auch die Art und Weise, wie der Untersuchungsausschuss von Teilen der Exekutive hier behandelt wird, verheerende Eindrücke bei den jeweiligen Opferangehörigen hinterlässt. Die Hinterbliebenen haben sich mittlerweile zurückgezogen, werden von ihren Anwälten abgeschirmt. Die Eltern und Geschwister, die Witwen, Söhne und Töchter der Ermordeten versuchen, in ein normales Leben zurückzufinden. Für sie war es ein doppelter Schock: jahrelang blieben die Morde unaufgeklärt. Mehr noch, sie selber wurden verdächtigt. Dann plötzlich im November letzten Jahres die Wende: die Mörder sollen Rechtsterroristen sein. Semiya Simsek, die Tochter des in Nürnberg ermordeten Blumenhändlers Enver Simsek, sagte Anfang des Jahres: (Semiya Simsek) Das war der Schock! Nach elf Jahren kam es raus, dass das Nazis waren. Die Enttäuschung war dann da, dann kamen die Fragezeichen, ob man überhaupt dazugehört oder nicht, inwieweit man dazugehört, warum diese Ermittlungen so lange gedauert haben, warum das so versagt hat. Man hat das Vertrauen verloren in dieses Rechtssystem. Einige Hinterbliebene haben Deutschland verlassen, sind in ihr Herkunftsland zurückgekehrt. Semiya Simsek pendelt derzeit zwischen der Türkei und Deutschland, schreibt ein Buch. (Semiya Simsek) Ich hatte bis heute eigentlich nie die Frage: gehöre ich in diese Gesellschaft dazu oder nicht? Solche Frage hatte ich gar nicht bis dahin. Aber mittlerweile denke ich, wir gehören gar nicht dazu, die wollen uns gar nicht. Einige Hinterbliebene verfolgen wütend, andere resigniert die Nachrichten aus den Untersuchungsausschüssen in Bund und Ländern. Die Liste der Pannen, Versäumnisse, Unzulänglichkeiten und Peinlichkeiten wird immer länger. Hunderte geschredderter Akten. Polizisten, die Mitglieder im rassistischen Kluklux-Klan sind. Ermittler, die eine Hellseherin befragten, um die Mordserie aufzuklären. Die Liste ist so lang, dass einige mittlerweile ein System dahinter vermuten, weiß Barbara John, Ombudsfrau für die Angehörigen der NSU-Mordopfer. (Barbara John) Das ist eine Enttäuschung, das ist auch ein Vertrauensverlust, ich höre auch ab und zu, dass so Gedanken hochkommen wie - "Das kann kein Zufall mehr sein, dazu läuft hier zuviel durcheinander, es kann auch sein, dass bestimmte V-Leute, also Zuträger irgendwie mit den Tätern zusammengearbeitet haben" - und das wäre natürlich eine schreckliche Erkenntnis. Rufe nach einer Abschaffung des Verfassungsschutzes hörte man bislang eher aus den Reihen der Linkspartei. Doch mittlerweile zweifelt selbst ein CDU-Mitglied wie Barbara John an der Notwendigkeit eines Inlandsgeheimdienstes. Die bisherigen Ergebnisse der Untersuchungsausschüsse zeigen ein Nebeneinander von Landesämtern und Bundesamt für Verfassungsschutz sowie dem Militärischen Abschirmdienst MAD. Auch Landeskriminalämter führen V-Leute in der rechtsextremen Szene - von denen der Verfassungsschutz wiederum nichts weiß. Im Falle des NSU wurde aus dem Nebeneinander ein Durcheinander, zum Teil ein Gegeneinander. Föderale Eitelkeiten behinderten die Ermittlungen genauso wie institutionelle. Als erste Maßnahme hat Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich eine Verbunddatei Rechtsextremismus und ein Abwehrzentrum gegen Rechtsextremismus gegründet, bei dem Bund und Länder, Polizei und Verfassungsschutz an einem Tisch sitzen. Bei der Eröffnung sagte der CSU-Politiker: (Hans-Peter Friedrich) Dass es wichtig ist, dass wir gemeinsam jetzt eine Struktur schaffen, in der es möglich ist, diese Aktivitäten, Informationen und Aufklärungsmöglichkeiten zu bündeln und eine Gesamtgefährdungslage jeweils auch aufzeigen zu können. Das Bundesamt für Verfassungsschutz stärken, die Landesämter auflösen oder zu größeren Einheiten fusionieren - das waren erste Vorschläge der Bundesregierung zur Reform des Inlandsgeheimdienstes. Doch die Länder wiesen dies sofort weit von sich, wollen keine Kompetenzen an den Bund abgeben. Doch: Hat das Versagen der Sicherheitsbehörden im Fall NSU nur strukturelle Ursachen? Weist es nicht auch auf ganz andere Defizite bei Polizisten, Verfassungsschützern, Staatsanwälten hin? Ja, meint der Opferanwalt Mehmet Daimagüler - er vertritt die Familie des ermordeten Halit Yozgat aus Kassel. (Mehmet Daimagüler) Wir müssen auch einmal über das Thema sprechen institutioneller Rassismus bei den Sicherheitskräften. Ja, ich weiß nicht, warum sich alle davor drücken und scheuen, wir müssen das jetzt offensiv ansprechen. Wieso scheuen wir uns da, dass R-Wort in den Mund zu nehmen? Wir haben Rassismus in der Gesellschaft, wir haben auch Rassismus in den Sicherheitskräften. Und solange wir das nicht lösen, kann ich mir nicht sicher sein, dass das nicht wieder passiert. Ähnlich argumentiert der grüne Bundestagsabgeordnete Hans-Christian Ströbele, stellvertretendes Mitglied im NSU-Untersuchungsausschuss: (Hans-Christian Ströbele) Der Geist, das Denken, die Haltung zu Rechtsextremismus, zu Rassismus, der ist das Grundproblem. Deshalb reicht es auch nicht aus, wenn jetzt ein Präsident oder ein Vizepräsident zurücktreten als Konsequenz aus diesem ungeheuren Skandal, sondern es muss der gesamte Dienst, die Leute, die so kläglich versagt haben mit so dramatischen und schrecklichen Folgen, die können doch nicht einfach so weitermache, sondern da ist der falsche Geist drin, das falsche Denken. Und solange das da ist, glaube ich auch nicht, dass sich etwas verbessert. Innerhalb eines Jahres sind die Verfassungsschutzchefs dreier Bundesländer zurückgetreten: Sachsens, Thüringens, Sachsen-Anhalts. Außerdem ging der Chef des Bundesamtes für Verfassungsschutz Heinz Fromm im Sommer dieses Jahres frühzeitig in den Ruhestand. Die Reaktionen bei den Sicherheitsbehörden schwanken zwischen Scham und Trotz. Scham über das eigene Versagen. Trotz, weil momentan das Kind mit dem Bade ausgeschüttet und jeder Vermerk, jede Analyse, jedes Telefonat von damals mit dem Wissen von heute beurteilt wird. Doch die Verfassungsschützer in Bund und Ländern wissen - sie müssen etwas tun, um verloren gegangenes Vertrauen zurückzugewinnen. Eine Konsequenz: die Behörden sollen sich stärker öffnen. Wir haben uns zu lange nach außen abgeschottet - bilanziert Brandenburgs Verfassungsschutzchefin Winfriede Schreiber. (Winfriede Schreiber) Wenn Einrichtungen der Verwaltung zu lange abgeschlossen sind, besteht immer die Gefahr, dass ein Corpsgeist entsteht, in dem man mehr nach innen geschaut als nach außen. Diesen Dingen muss überall vorgebeugt werden, durch Hospitation, durch Rotation, durch Personalwechsel. Insofern ist es auch ungeheuer wichtig, dass wir unsere Mitarbeiter aus unterschiedlichen Bereichen rekrutieren. Und sie dann auch wieder in unterschiedliche Bereiche zurückgehen und sie dann das Wissen mitnehmen, was der Verfassungsschutz braucht. Der Verfassungsschutz nicht als Geheimdienst, sondern als Frühwarnsystem für die Demokratie, als Dienstleister für die Gesellschaft. "Der Verfassungsschutz muss seine Aufgaben und Arbeitsweise offensiv begründen und sich nicht unnötig auf Geheimschutzargumente zurückziehen." So steht es in einem Reformpapier für die Innenministerkonferenz, verfasst von der Hamburger Innenbehörde. An diesem Leitbild eines modernen Verfassungsschutzes orientieren sich einige Bundesländer nicht erst seit dem NSU-Skandal. So gehören für Winfriede Schreiber die Kontakte mit Bürgermeistern, Schulleitern, Sportvereinsvorsitzenden zum Alltag. (Winfriede Schreiber) Dass wir die Zusammenarbeit mit der Polizei intensivieren, aber dass wir auch auf Bündnisse und die Zivilgesellschaft zugehen und regelmäßig mit der Gemeinde, mit den Gemeindevertretern sprechen, mit den mobilen Beratungsteams. Dass wir immer, wenn wir sehen, hier ist ein Problem, hier braut sich etwas zusammen, immer mit denen, die lokal zuständig sind oder fachlich zuständig sind, sofort das Gespräch suchen. Ortswechsel. Berlin-Kreuzberg, zweiter Hinterhof, vierter Stock. Eine abgewetzte Holztreppe führt zum antifaschistischen Pressearchiv apabiz. Seit mehr als 20 Jahren sammeln die Mitarbeiter alles, was sie zum Thema Rechtsextremismus finden. Besonders wertvoll: interne Papiere aus der Szene. Mitarbeiter Ulli Jentsch beobachtet auch die einschlägigen Internetforen und Sozialen Netzwerke, weiß, wie die rechtsextreme Szene auf die Enthüllungen rund um den NSU reagiert hat. (Ulli Jentsch) Es gibt für einen momentan Inhaftierten eine Solidaritätskampagne, aber beispielsweise für Beate Zschäpe gibt es keine öffentliche Unterstützung, da ist die Szene sehr zurückhaltend. "Freiheit für Wolle" lautete der Versuch einer Kampagne bei Facebook - eine Solidaritätsaktion sollte es werden für den in U-Haft sitzenden mutmaßlichen NSU-Helfer Ralf Wohlleben aus Jena. Die Resonanz blieb gering. Seit den NSU-Enthüllungen geht der Staat massiv gegen Neonazi-Kameradschaften vor, es gab Verbote, Hausdurchsuchungen, Anklagen. Zwei wichtige rechtsextreme Internetforen wurden vom Netz genommen. Vielleicht ist der verstärkte Druck ein Grund für die fehlende Heroisierung des Zwickauer Trios durch die Szene. Eingeschüchtert sind die Neonazis allerdings nicht, hat Ulli Jentsch vom linken antifaschistischen Pressearchiv beobachtet. (Ulli Jentsch) Das wird in vielen Bundesländern beobachtet, dass die harte neonazistische Szene, also die freien Kameradschaften und die Autonomen Nationalisten, auf diese Enthüllungen des NSU nicht so reagiert haben, wie man es erwarten konnte, nämlich mit eigener Verunsicherung, sondern in mehreren Regionen sehr aggressiv reagiert haben. Es ist teilweise zu einem sprunghaften Anstieg von Bedrohungen vor allen Dingen der linken Szene gekommen. Die NPD allerdings, sie ist seit dem Bekanntwerden des NSU-Skandals klar in der Defensive. Zwar war die Zwickauer Terrorzelle nicht der bewaffnete Arm der NPD - wie anfangs manche vermuteten - aber einige Helfer und Helfershelfer des Trios waren Mitglied der rechtsextremistischen Partei. Die Debatte um ein NPD-Verbot hat durch die Morde der Zwickauer Terrorzelle neuen Auftrieb erhalten. Die Innenminister von Bund und Ländern haben eine umfangreiche Datensammlung erstellt und wollen im Dezember über einen Verbotsantrag entscheiden. - ENDE SENDUNG - 1